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Mutterboden entrückten Gewächse die räumliche Trennung aufhebt, so bedeutet das Pantheon der Weltliteratur, das .....

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Idea Transcript


Hinweis: Dieser Text, der im Rahmen des Projekts ePoetics (gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung) digitalisiert wurde, enthält Annotationen zu Textstellen, in denen der Autor auf das theoretische Konzept der Metapher eingeht und Sekundärliteratur dazu sowie Beispiele aus der Primärliteratur diskutiert. Diese Textstellen sind in der HTML-Ansicht des Textes farblich markiert, die Annotationen können per Klick auf entsprechende Buttons ein- oder ausgeblendet werden (hierzu muss Javascript aktiviert sein; die Funktion ist kompatibel mindestens mit Google Chrome 52.0.2743.82+ und Firefox 47.0+). Wenn die entsprechenden Quellen identifizierbar und digital verfügbar sind, enthalten die Annotationen außerdem Links zu Primär- und Sekundärliteraturstellen, auf die in der jeweiligen Textstelle verwiesen wird. Die Annotationen sind des Weiteren in der XML-Version des Textes sichtbar. Eine genaue Erklärung der in den Annotationen benutzten Kategorien findet sich in den Annotationsguidelines des Projekts ePoetics: [link].

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J ULIUS PETER SEN DIE WISSENSCHAFT VON DER DICHTUNG |#f0006 : RII| |#f0007 : RIII|

DIE WISSENSCHAFT VON DER DICHTUNG SYSTEM UND METHODENLEHRE DER LITERATUR- WISSENSCHAFT. Von JU L IU S P E T E R S E N 2. AUFLAGE Mit Beiträgen aus dem Nachlaß herausgegeben von ERICH TRUNZ o. Professor an der Universität Prag 1944 JU N K E R U N D D Ü N N H A U P T V E R L A G / B E R L IN |#f0008 : RIV|

Einband: D o r o t h e a S u f f r i a n Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1939 by Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin. Printed in Germany Clemens Landgraf Nachf., W. Stolle, Dresden-Freital |#f0009 : RV|

EINLEITUNG BEGRIFF UND ENTWICKLUNG DER LITERARHISTORISCHEN METHODEN Seite 1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre120 a) Begriff der Literaturwissenschaft. Universalgeschichte und allgemeine Literaturgeschichte / Literaturgeschichte als Nationalwissenschaft / Literaturvergleichung / Übersetzung als Notbehelf / Weltliteratur / Literaturwissenschaft im Verhältnis zur Literaturgeschichte 113 b) Begriff der Methodenlehre. Bestimmung der Methode durch Zielsetzung / Vielheit der Methoden / Stoffhuber und Sinnhuber 1320 2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben2052 a) Anfänge der Literaturwissenschaft. Sammlung, Kritik und nationale Selbstbesinnung 2022 b) Zweite Runde: Reformations- und Barockzeit. Anfänge einer Gliederung / Kulturpatriotische Rechtfertigungstendenz 2224 c) Dritte Runde: Aufklärung und Sturm und Drang. Kritik und Hermeneutik: Lessing und Herder 2427 d) Vierte Runde: Klassik und Frühromantik. Allgemeine Literärgeschichte / Beteiligung der Dichter / Die älteren Romantiker als Herders Diadochen 2830 e) Anfänge der Nationalwissenschaft. Die jüngere Romantik / Die erste Germanistentagung / Gervinus / Die Schule Hegels 3035 f) Positivismus. Hettner / Taine / Scherer / Kritische Ausgaben und Monographien / Goethe-Philologie / Poetik / Dilthey 3541 g) Geisteswissenschaft. Philosophische und soziologische Einflüsse / Neue Grundsätze / Umwertungen / Sammelwerke 4147 h) Neue Ziele. Nationale Biologie und Anthropologie / Vorgeschichte / Gegenwartsliteratur / Existentielle Literaturwissenschaft 4751 |#f0010 : RVI|

Seite ERSTES BUCH: DAS WERK ERSTER HAUPTTEIL: ÜBERLEITUNG UND AUSWAHL. a) Wesen und Umfang. Schwebezustand des Wortkunstwerkes / Konkretisierung / Ungleichheit und Ordnung des Überlieferten / Doppelte Zuordnung übersetzter Werke 5260 b) Beschränkung der Überlieferung. Dichtung und Literatur / Croces und Ingardens Abgrenzungen / Dichter und Literat / Abhängigkeit des Wertes vom Reichtum der Überlieferung / Überlieferung als Kennzeichen des Zeitgeschmacks 6070 c) Hilfsmittel zur Sichtung der Überlieferung. Handschrifteninventarisation / Literaturarchive / Volksliedarchiv / Goedecke / Kritische Ausgaben 7073 ZWEITER HAUPTTEIL: TEXT UND VERFASSER. a) Kritik der Überlieferung. Gefälschte Urschrift / Zuverlässigkeit fremder Aufzeichnung / Indirekte Überlieferung 7481 b) Kritik des Textes. Aufgaben der Philologie / Form- und Sachwissenschaft / Aufgaben des Herausgebers / Stammbaum und Lesarten 8189 c) Datierung und Zuverlässigkeit. Nachdrucke und Doppeldrucke / Textverderbnisse / Grundlagen des Shakespeare-Textes / Datierung 8997 d) Ermittlung des Verfassers. Anonyme und Pseudonyme / Mittel der Aufhellung 98103 e) Gemeinschaftsarbeit und Überarbeitung. Gemeinschaftsarbeit und Widersprüche 103105 f) Versteckspiel des Verfassers. Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ / Identifikation durch Schallanalyse / Fingierte Chroniken 105108 DRITTER HAUPTTEIL: DIE ANALYSE. 1. Grundbegriffe109112 Gliederung in drei Stufenreihen 2. Erste Stufe: Grundriß112120 a) Stoff und Erlebnis. Der Stoff / Gestalteter Stoff als Quelle / Erlebnis / Stoff als Baugrund 112118 b) Form. Beziehung von Stoff und Form 118120 |#f0011 : RVII|

Seite 3. Zweite Stufe: Innere Form120136 a) Gattung. Die Gattungen / Schematisches Verhältnis der drei Gattungstypen / Unterarten und Übergänge der Gattungen 120128 b) Stimmung. Stimmung als innere Form / Tragische, komische, humoristische Wirkungsart 128131 c) Situation. Situation als fruchtbarer Moment / Beschränkte Zahl möglicher Situationen 131136 4. Dritte Stufe: Plan136157 a) Fabel. Rationale Elemente des Kunstwerkes / Fabel als Abstraktion von stofflichen Fakten 136140 b) Absicht. Planloses und planmäßiges Schaffen 141142 c) Technik. Begriff der Technik / Gattungstechnik des Dramas / Typen dramatischer Technik / Technik der Lyrik / Epische Gattungstechnik / Icherzählung und Zeitform / Standort und Gesichtskreis des Erzählers 142157 5. Vierte Stufe: Menschengestaltung157169 a) Psychologie und Selbstdarstellung. Psychologischer Gehalt / Selbstdarstellung / Psychologische Wissenschaft und Dichtung 157162 b) Charaktere und Vorbilder. Vorbilder / Innere Urbilder der Charaktere / Masken 162169 6. Fünfte Stufe: Verknüpfung169195 a) Motive. Begriff des Motivs / Stufenfolge: Bild, Zug, Motiv, Problem, Idee / Abhängigkeit der Motive / Motive der Lyrik / Gegenüberstellung zweier motivgleicher Gedichte / Leitmotive 169180 b) Wirklichkeitsauffassung. Wirklichkeitsschichten im Drama / Wirklichkeitsschichten in Epos und Roman / Drei Reiche: sichtbare Wirklichkeit, symbolische Welt, Allegorie / Wirklichkeitsschichten in Goethes „Faust“ Realitätsstufen der Lyrik 180190 c) Sprachform. Gattungscharakter der Versarten / Tonhöhe, Tonstärke und Rhythmus 191195 7. Der Stil195232 a) Begriffliche Grundlagen der Stilforschung. Entwicklung des Stilbegriffs / Kunstgeschichtlicher, soziologischer, geistesgeschichtlicher Stilbegriff / Stilwandlungen 195200 b) Methodische Richtlinien. Bestimmungen der Stilelemente durch Lebensraum und Zeitwandel / Personalstil, Heimatstil, Generationsstil, Zeitstil, Stammesstil / Nationalstil, Rassestil, Erdteilstil 200207 |#f0012 : RVIII|

Seite c) Wege der literarischen Stilforschung. Eingleisiger Sammelverkehr / Zwei- und mehrgleisiger Verkehr / Stiltypen 207214 d) Ordnungsgrundriß. Wechselwirkung zwischen Ausdrucksform und Ausdrucksinhalt / Stilbedeutung des Einzelwortes / Nominalstil, Verbalstil, Beiwortstil / Wortzusammensetzungen / Wortstellung / Wortfolge, Satzgliederung und Periode / Rhythmische Gliederung und Aufbau / Stilphysiognomik 214232 8. Sechste Stufe: Das Persönliche232243 a) Weltanschauliche Haltung. Parallele zwischen Weltanschauung und Stilrichtung / Weltbild / Darstellung von Weltanschauungsgegensätzen 232239 b) Problemstellung. Das Problem als Fragestellung / Die Grundprobleme des Lebens in der Dichtung / Unterschiede dichterischer und philosophischer Problemstellung 239243 9. Siebente Stufe: Geist und Idee244247 Aussprache der Idee in der Dichtung 10. Synthesen247249 Verhältnis von Analyse und Genesis / Literaturgeschichtliche Zusammenfassung VIERTER HAUPTTEIL DEUTUNG UND WERTUNG. 1. Das Verstehen250258 Bestimmung für verstehende Leser / Geschichtliches Verstehen / Hermeneutik / Beschwören des Geistes 2. Wertung258263 Das Verstehenswerte / Wert des Unverständlichen / Überästhetische Werte 3. Wandel der Werte263270 Wachstum / Aufstieg und Niedergang der Bewertung / Wirkungsgeschichte 4. Wertmaßstäbe270276 a) Echtheit 271272 b) Größe 273274 c) Sinnbildhaftigkeit 274275 d) Geltung 276 |#f0013 : RIX|

Seite ZWEITES BUCH: DER DICHTER ERSTER HAUPTTEIL: DAS LEBEN. 1. Grundsätzliches277282 Persönlichkeit und Werk / Dichteranalyse 2. Ererbtes283287 Rasse, Stamm und Sippe a) Rasse. Bildmaterial / Rassischer Zwiespalt / Erbanlagen / Genealogie 287293 b) Stamm. Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ / Stammeseigenschaften / Stamm und Rasse / Stamm und Landschaft 293297 c) Konstitution und Charakter. Erworbene Eigenschaften / Familienerbteil und Berufstradition / Kretschmers Konstitutionslehre / Vererbbarkeit der Dichtergabe 297303 d) Genialität. Väterliches oder mütterliches Erbteil 303306 3. Lebensgang und Schicksal306322 a) Daten 306308 b) Hilfsmittel 308310 c) Dichtungen als biographische Quellen 310313 d) Selbstbekenntnisse. Autobiographien / Tagebücher und Briefe / Reiseeindrücke / Lebenswirklichkeit und Dichtung 313317 e) Schicksal. Geburts- und Todesdatum / Periodizität und Lebensrhythmus 317322 4. Anpassung und Beeinflussung322336 Erbgut und Umwelt a) Familie 324325 b) Heimat. Kindheitseindrücke und Landschaft 325328 c) Lehrer und Leiter. Schule und Hochschule 328330 d) Einfluß und Nachahmung. Persönliche Abhängigkeit und Stileinflüsse 331334 e) Belesenheit. Bibliotheksbenutzung und Bücherbesitz 334336 |#f0014 : RX|

Seite ZWEITER HAUPTTEIL: SEELENLEBEN. 1. Eindrucksfähigkeit337351 a) Sinneseindrücke. Visuelle und auditive Anlage / Motoriker 338343 b) Experimentalpsychologische Typenlehren. Statistik der Sinneseindrücke / Form- und Farbseher Eidetiker / Integrationstypen 343348 c) Menschenkenntnis und Lebenserfahrung. Jungs Typenlehre / Introversion / Antizipation / Verschmelzung von Wirklichkeitsbeobachtung und Phantasie 348351 2. Das Erlebnis352372 a) Leben und Erleben 352353 b) Strukturpsychologische Typenlehren. Diltheys Weltanschauungstypen und ihre Weiterbildung 354358 c) Erlebnisinhalt. Urerlebnis und Bildungserlebnis / Begriffserlebnis und Ideenerlebnis 358361 d) Erlebnisqualität. Eindruckserlebnisse / Ausdruckserlebnisse / Erlebnisse des immanenten Schicksalsbewußtseins 361367 e) Erlebnis-Verlauf. Erlebnis des Ichbewußtseins / Du-Erlebnis der ersten Liebe / Erwachen des Natursinnes / Durchbruchserlebnis der religiösen Selbstbesinnung / Zentralerlebnisse / Dauererlebnisse / Umschwungserlebnisse / Kurzerlebnisse 367370 f) Erlebnisbild. Goethes „Harzreise im Winter“ und „Willkommen und Abschied“ / C. F. Meyers „Schlacht der Bäume“ 370372 3. Weltbild372388 a) Einstellung 372373 b) Bedingtheit. Rassenpsychologie / L. F. Clauß / H. F. K. Günther / v. Eickstedt / Religiöse und gesellschaftliche Bedingtheit 373379 c) Horizont. Inhalte und Stufen des Weltbildes nach Jaspers / Wille und Schicksalsgedanke 379382 d) Persönliche Prägung. Ich und Es / Das Unbewußte / Goethes Weltbild / Lessings Weltbild / Kleists Weltbild 382388 4. Phantasie, Traum- und Gefühlsleben388406 a) Phantasie. Anschauliche und kombinatorische Phantasie (Wundt und Elster) / Plastische und zerfließende Phantasie (Ribot) 388391 b) Anschaulichkeit. Goethe / Balzac und Flaubert / Turgeniew und Gontscharof / Otto Ludwigs Bekenntnisse über sein Verfahren beim poetischen Schaffen 391394 c) Erfindung. Motivverknüpfung / Veranschaulichung / Ausgemalte Wunschträume 394398 |#f0015 : RXI|

Seite d) Traumleben. Theorien des Traumes / Psychoanalyse / Hebbel / Traumleben des Kindes / Dichterische Traumeinkleidung 398403 e) Gefühlsleben. Analyse der Gefühle nach Dilthey und Elster / Erlebnisechtheit / Liebe 403406 DRITTER HAUPTTEIL: DER SCHAFFENSVORGANG. 1. Lösung von der Wirklichkeit407411 Aussagen der Dichter / Zeitliches Fernbild / Selbstopferung und Selbstbefreiung 2. Produktive Stimmung und Konzeption411421 Konzeption als Verschmelzung von Stoffwille, Erlebnis, Weltbild und Sinnbildern der Phantasie / Typen der Inspiration und intuitiven Konzentration / Meditative und reaktive Konzeption / Produktive Kritik 3. Plan und Gestaltung421434 a) Plan. Aufzeichnung / Goethes „Faust“ / Schillers Entwürfe / Hebbel / Fontane 421428 b) Wandlungen des Planes. Schillers „Don Carlos“ / Lessings „Emilia Galotti“ / Theaterrücksichten / Goethes „Wilhelm Meister“ / Fortsetzungen 428432 c) Ausführung. Prosa und Vers / Arbeitstempo 432434 4. Arbeitsweise434440 Klima und Jahreszeit / Tageszeit / Stimulantien / Arbeitsraum / Schaffensbedingungen und Arbeitsgewohnheiten VIERTER HAUPTTEIL DIE EXISTENZ DES DICHTERS. 1. Spektrum441444 Wort, Sinn, Kraft, Tat 2. Sprache444448 a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit 3. Gesetz448451 a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit 4. Glaube452456 a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit 5. Sendung456462 a) Echtheit / b) Größe / c) Sinnbildhaftigkeit 6. Widerhall462464 |#f0016 : RXII|

FRAGMENTE UND VORARBEITEN ZUM DRITTEN UND VIERTEN BUCH AUS DEM NACHLASS EINLEITUNG ZU BUCH III UND IV: SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT. Seite 1. Werke und Gattungen465479 a) Gattungsgeschichte 468475 b) Bedingtheit der Gattung 475477 c) Überwindung der Gattung 477479 2. Dichtertypen479508 a) Typenreihen 480491 b) Methoden der Typenbildung 492497 c) Geschichtliche Typenfolge 497500 d) Rasse- und Schicksalstypen 500508 3. Dichtung und Dichtkunst508519 a) Unterscheidung 508510 b) Überblick über die Dichtung 510519 4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes und der Zeit519524 DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN. 1. Bedeutung der Generationen für die Literaturgeschichte525527 Das Problem der Periodisierung / Die Bedeutung der Generationen 2. Begriff der Generation527534 Generation und Jahrhundert / Generationsfolge 3. Die Generationstheorien534552 Lorenz / Pinder / Dilthey / Wechßler 4. Die generationsbildenden Faktoren552577 Vererbung / Geburt / Bildungselemente / Persönliche Gemeinschaft / Generationserlebnisse / Führertum / Generationssprache / Erstarren der alten Generation 5. Die Reichweite des Generationsbildes577582 Generation als zeitliche Ordnung, Stamm und Landschaft als räumliche / Generation als Schicksal PLAN ZU BUCH III UND IV583585 ANMERKUNGEN586645 PERSONENREGISTER646663 |#f0017 : RXIII|

V O R W O R T D E S H E R A U S G E B E R S ZUR 2. AUFLAGE Julius Petersen starb unerwartet und plötzlich am 22. August 1941 in seinem Landhaus bei Murnau. Auf seinem Schreibtisch lag das fragmentarische Manuskript zum zweiten Band seines Werkes „Die Wissenschaft von der Dichtung“, das ihn in den letzten Jahren dauernd beschäftigt hatte. Zwar hatte er einige kleinere Arbeiten dazwischengeschoben, die Ausgabe des Fontane-Lepel-Briefwechsels und des Ifflandschen Regiebuches der ersten Berliner „Wallenstein“- Aufführung, einen Grimmelshausen-Aufsatz u. a. m., und das ganze letzte Lebensjahr hatte fast völlig den Arbeiten an der großen Schiller-Nationalausgabe gehört, mit der er seine lebenslänglichen Schiller-Studien krönen wollte. Mit Freude zeigte er mir deren erste Korrekturfahnen, als ich ihn am 13.15. August 1941 eine Woche vor seinem Tode in Murnau besuchte. Er war wie immer mitten in Plänen und Arbeiten: es drängte ihn jetzt zur Vollendung der Methodenlehre, und als fernes Ziel leuchtete vor ihm sein seit langem gehegter und vorbereiteter Plan einer Literaturgeschichte der deutschen Klassik. Seines Herzleidens nicht achtend, stürzte er sich, nachdem das mühereiche Berliner Kriegssemester zu Ende gegangen war, in die neue Arbeit mit jugendlicher Frische und männlicher Tatkraft wie immer. Und so ist er ganz, wie er immer war und sein wollte, mitten in der Arbeit, uns entrissen. „Die Wissenschaft von der Dichtung“ bleibt nun Fragment. Niemand kann es vervollständigen, zu sehr ist es eine ganz persönliche Leistung, die in dieser Art nur Petersen möglich war. Daraus ergab sich der leitende Grundsatz für die neue Auflage: Sie enthält kein Wort, das er nicht geschrieben hat. Die Gattin des Verstorbenen gab mir die ehrenvolle Aufgabe, die Methodenlehre zu betreuen, und ich sichtete aus dem Nachlaß alles diesbezügliche Material: Ein Handexemplar des gedruckten Bandes enthielt Hunderte von kleinen Einschüben und Verbesserungen; zu dem geplanten 2. Band lagen Manuskripte vor; sodann bestand eine Sammlung früherer methodologischer Aufsätze Petersens mit handschriftlichen Korrekturen für einen Neudruck; schließlich riesige Mappen mit Materialsammlungen. Daraus ergab sich die Gestaltung der Neuauflage. Die schon 1939 erschienenen |#f0018 : RXIV|

Teile sind in ihrem Aufbau unverändert geblieben, haben aber in den Einzelheiten zahlreiche kleine Änderungen und Erweiterungen erfahren. Neu kommen die für den 2. Band bestimmten Teile hinzu. (Seite 465 des vorliegenden Bandes.) Während ihr Text sich aus den Handschriften lückenlos herstellen ließ, hat Petersen die Anmerkungen zu den Seiten 465479 und 508524 nicht mehr geschrieben, sondern nur bezeichnet, wo Anmerkungen hinkommen sollten. Ich habe die bibliographischen Notizen von mir aus hinzugefügt. Sodann lag ein Plan des weiteren Gesamtwerks vor, der dessen umfassende und großzügige Architektonik erkennen läßt; er ist ebenfalls zum Abdruck gebracht (Seite 583) und ergänzt das, was Petersen im Vorwort der 1. Auflage sagt. Damit waren die unmittelbar druckreifen Teile der Methodenlehre erschöpft, und es ergab sich die Frage, was mit dem weiteren Material zu geschehen habe. Als nicht druckfähig erwiesen sich die ungeheuren Materialsammlungen, deren Fülle auch den, der mit wissenschaftlichen Arbeiten umzugehen gewohnt ist, in Erstaunen und Bewunderung setzt. Es sind Tausende von Exzerpten und bibliographischen Notizen, aber noch keine ausgeführten Partien. Und so ist mit dem Verfasser, der uns genommen ist, auch dieses ungeheure Material für uns verloren, denn nur er allein vermochte es lebendig zu machen und daraus zu formen, was ihm vorschwebte. Petersen selbst hat in früheren Jahren die wissenschaftlichen Nachlässe von Köster und Weltrich betreut und hat mit Recht nur das herausgegeben, was abgerundet und reif war. Er hat sich aber nicht gescheut, an Kösters Literaturgeschichte einen sachlich hinzugehörigen Aufsatz anzuhängen, der früher und als Einzelwerk geschrieben war. Ein ähnlicher Weg schien nun auch bei seinem eigenen Werk möglich. Es war also die Frage, ob etwas von Petersens früheren Aufsätzen sich einem Druck der fragmentarischen Methodenlehre anfügen lasse. In Frage kommen die Baseler Antrittsrede „Literaturgeschichte als Wissenschaft“ (1913), sein Bekenntnis zur Einheit der Literaturgeschichte und der Germanistik Jacob Grimmscher Prägung, die Aufsätze „Literaturwissenschaft und Deutschkunde“ (Ztschr. f. Deutschkunde 1924), „Nationale und vergleichende Literaturwissenschaft“ (Deutsche Vierteljahrsschr. 1928) und „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“ (Festschr. f. Sauer, 1926), sodann die Methodenlehre im Kleinen, das Buch „Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ (1926) und schließlich die Schrift „Die literarischen Generationen“ (1930). Es zeigte sich, daß mit Ausnahme der Schrift über das Generationsproblem die früheren Arbeiten alle bereits als Ganzes oder |#f0019 : RXV| zerstückelt in die ausgeführten Teile der Methodenlehre aufgegangen und außerdem durch die Gesichtspunkte dieses Werks überholt waren. Denn Petersen hatte und das war das Lebendige, Fruchtbare in seinem Schaffen sich in dem jahrelangen Nachdenken über methodische Fragen entwickelt und verfeinert. So sind also nur „Die literarischen Generationen“ dem vorliegenden Werke angefügt und in der Handhabung der Anmerkungstechnik dessen übrigen Teilen angeglichen. Freilich hätte Petersen selbst den Aufsatz nicht unverändert übernommen, so wie er auch die Abhandlung „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“ nur in umgebildeter Form in die Methodenlehre aufnahm (S. 120 ff.). Doch steht der Aufsatz über die Generationen unter allen früheren methodologischen Arbeiten in seiner Schreibweise der „Wissenschaft von der Dichtung“ am nächsten, und noch nichts von ihm ist in deren ausgeführten Teilen vorweggenommen. Dagegen wären alle anderen früheren Aufsätze hier nur Wiederholungen und nicht Ergänzungen gewesen. An sich aber sind jene Aufsätze als gerundete klare Zusammenfassungen über einzelne Probleme von bleibendem Wert, und wertvoll sind sie uns auch als Stationen von Petersens Werdegang und der Entwicklung unserer Wissenschaft überhaupt. Aus diesem Grunde aber gehören sie nicht in die Methodenlehre, sondern in Petersens „Kleine Schriften“, deren Herausgabe in mehreren Bänden Wieland Schmidt vorbereitet, und welche ein reiches Bild von Petersens geistiger Weite und methodischer Strenge geben werden. Dort sind sie geradezu unentbehrlich, um in dem Gesamtbild, das die Literaturgeschichte vom späten Mittelalter bis zur Gegenwart, Theaterwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte umfaßt, das für Petersen so wichtige Gebiet der Methodenlehre nicht fortfallen zu lassen. Die „Kleinen Schriften“ und die „Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ bleiben also auch weiterhin heranzuziehen: Sie bringen gleichfalls einerseits methodische Fragen und andererseits ein Bild von Petersens wissenschaftlichem Weitblick und Ethos. Es würde den Rahmen einer Einleitung sprengen, hier von Petersen als Menschen und Wissenschaftler ein Bild geben zu wollen. Die zahlreichen Nachrufe haben es getan und haben erkennen lassen, wie viele ihn liebten und verehrten. In der als Privatdruck erschienenen Schrift „Julius Petersen zum Gedächtnis“ hat Eduard Spranger in ergreifenden Worten den geistigen Menschen und sein reiches Leben und Forschen geschildert, Alfred Bertholet hat seine Persönlichkeit gewürdigt, Anton Kippenberg seine Verdienste um Goetheforschung und Goethegesellschaft und Wieland Schmidt sein wissenschaftliches |#f0020 : RXVI|

Ethos und seine Berliner Lehrtätigkeit. In zahlreichen Zeitschriften erschienen Aufsätze über Petersen (in der Ztschr. „Goethe“; „Dichtung und Volkstum“; „Dt. Vierteljahresschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgesch.“ u. a. m.). Und Herbert Cysarz gewiß ein unvoreingenommener Beurteiler, da er der Schule Scherers und Erich Schmidts immer kritisch gegenüberstand hat im Jahrbuch der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (1941, S. 32 ff.) weitblickend Petersens Leistung in den Rahmen der wissenschaftlichen Gesamtsituation seiner Zeit hineingestellt: „Petersen war der stärkste Pfeiler der Überlieferung ... Ja es kann und muß bündig festgestellt werden: Er war am Ende die einzige umfassende und unbestrittene Autorität seines Faches ... Noch gibt es keinen, der mehr „alte“ Tugend mit innigerer Aufgeschlossenheit, Aufnahmefähigkeit und -neigung für alles schöpferisch Neue und Junge vereinte, keinen, der aus so abgeklärter Distanz so gewaltige Fülle der Sichten und Überfülle der Sachen so leibhaft zu heben vermöchte. Keinen gerechteren Mittler ...“ Eben diese hier genannten Eigenschaften machten Petersen fähig, eine Methodenlehre zu schaffen. Ihn beseelte in der Nachkriegszeit, den Jahren der Methodenkämpfe und der intellektuellen Überspitzungen, im Gegensatz zu vielen anderen seines Faches der Glaube, daß die deutsche Wissenschaft nicht eine Gruppierung feindlicher Fronten, sondern ein gegliedertes Ganzes sein müsse, er sprach es 1926 in der „Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ aus, und die Folgezeit zeigte, wie sehr er auf rechtem Wege war. In dieser seiner Art, an große gemeinsame Aufgaben statt an individuelle Gegensätze zu denken, lebt auch Petersen, der Mensch. Und er lebt auch darin, daß er jeden Menschen unbedingt ernst nahm, in jedem zunächst das Brauchbare und Tüchtige suchte und für jeden seinen sinnvollen Platz innerhalb großer überindividueller Zusammenhänge und Aufgaben zu erkennen strebte. In solchem Sinne geht seine Methodenlehre an Hunderte und aber Hunderte von Werken heran. Sie will weniger Programm und Forderung sein als vielmehr Zusammenschau aller vorhandenen Kräfte und Wege. Was hier zum Ausdruck kommt, kennzeichnet auch Petersen als Lehrer: Er verstand die Kräfte seiner Schüler richtig anzusetzen, sie auf ihren Wegen zu fördern, und indem er zur Forschung anleitete, damit auch wiederum der Sache zu dienen. Aber so reich Petersen als Wissenschaftler war, das, was seine Schüler, die ihm persönlich nahestanden, vor allem an ihn band und was ihnen sein Andenken unvergeßlich und leuchtend macht, ist seine |#f0021 : RXVII|

Menschlichkeit, das gütige Herz, die selbstlose Liebe, die unwandelbare Treue. Er war ein wahrhaft väterlicher Freund, und sehr verborgen, fast scheu war seine tiefe stille Herzlichkeit, die aus seinen Augen, aus seinem Gespräch, auch aus seinen Briefen strömte. Wer sie erfahren hat, ist ihm immer zu eigen. Darum werden seine Schüler und Freunde die Herausgabe der Methodenlehre und der Kleinen Schriften nicht nur als förderliche Leistung für die Wissenschaft, sondern auch als Erinnerungswerk an den geliebten Lehrer empfinden. Er hat in seiner bescheidenen Art nicht für sich und seine Bücher ein Nachleben gewollt, wohl aber für den Geist der Wissenschaft, den er seinen Schülern als lebendiges Erbe mitgab: Der Sache ergeben, ehrfurchtsvoll, unbestechlich, genau im Kleinen, hochzielend im Großen, fest wurzelnd in deutscher Art und weit ausblickend in die Welt der Geist, in dem Jacob Grimm die Berliner Germanistik begründete und in dem Petersen diese große geistige Überlieferung weiterführte. Immer, wenn wir diesen Geist weiterhin zu verwirklichen suchen, werden wir auch zu ihm, dem Lehrer und Menschen, zurückkehren.

Erich Trunz. |#f0022 : RXVIII| |#f0023 : RXIX|

VORWORT ZUR 1. AUFLAGE Genau ein Vierteljahrhundert ist dahingegangen seit der Antrittsvorlesung über „Literaturgeschichte als Wissenschaft“, mit der ich im Sommer 1913 mein Lehramt an der Universität Basel aufnahm. Die Ausarbeitung erschien im folgenden Jahr als kleine Schrift, die ebenso schnell vergriffen als überholt war. Der oft an mich herangetretene Wunsch nach Erneuerung traf zusammen mit dem eigenen Bedürfnis nach Rechenschaft über weiterführende Erfahrungen und Zielsetzungen in Forschung und Lehre, die im Gleichschritt mit dem Fortgang der Wissenschaft und der Dichtung, der Zeitentwicklung und der politischen Schicksale sich ergeben mußten. Nach der Behandlung von Teilgebieten in den Arbeiten über „Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ (1926), „Nationale oder vergleichende Literaturgeschichte?“ (1928) und „Die literarischen Generationen“ (1930) wage ich jetzt eine Zusammenfassung, die sowohl Klärung der wissenschaftlichen Grundbegriffe als Ausgleich zwischen den vielfach widerstreitenden Richtungen erstrebt und einen kritischen Überblick bringen will über alle Methoden, die an literaturwissenschaftliche Aufgaben anzusetzen sind. Rückschau, Umschau und Ausschau sind vereint. Zwecks Einführung ist an der Veranschaulichung durch Beispiele und Ergebnisse wie an Literaturangaben, die zu den wichtigsten Hilfsmitteln geleiten, nicht gespart. Der gegenwärtige Stand der Wissenschaft spiegelt sich in Auseinandersetzungen, die auf Verständigung zielen. Die Ausführung und Weiterführung liegt bei der Zukunft, der auch dieses Buch dienen möchte. Von den vorausgegangenen Werken Elsters, Walzels, Ermatingers u. a., die entweder die Psychologie des dichterischen Schaffens oder das Erlebnis des Kunstwerkes zum einheitlichen Ausgangspunkt nahmen, unterscheidet sich dieser Versuch durch den doppelten Blick auf Werk und Dichter, die in einer sich steigernden Folge analysiert werden. Die Zusammenfassung von Philologie, Literaturgeschichte und Poetik mit Anthropologie, Volkstumsgeschichte und Völkerpsychologie eröffnet die Perspektive auf weitere Synthesen. Die organische Grundauffassung soll in den drei Büchern des zweiten Bandes ihre Weiterführung finden: das dritte soll unter der Überschrift |#f0024 : RXX|

„Ordnungen“ die Kategorien von Raum, Zeit, Gesellschaft und Geist behandeln; das vierte Buch „Völker und Zeiten“ wird in die vier Hauptteile „Nationale Literaturgeschichte“, „Geistesgeschichte und Stilgeschichte“, „Literaturvergleichung“ und „Weltliteratur“ zerfallen. Die durchgehende Viergliedrigkeit mag im fünften Buch „Darstellung“ ein Dach finden, das nach den vier Himmelsrichtungen „Standort“, „Einfühlung und Intuition“, „Aufbau“ und „Sinn der Literaturwissenschaft“ den wissenschaftlichen und künstlerischen Aufgaben Grenzen setzt. Mein Dank kann nicht alle einzelnen, die im Lauf vieler Jahre an der Entstehung dieses Buches wissentlich oder unwissentlich mitgewirkt haben, erreichen. Er gilt den einstigen Lehrern wie den Freunden und Kollegen und nicht in geringem Maße auch den ehemaligen und jetzigen Schülern, mit denen die Fragen dieses Buches in praktischer Arbeit durchgesprochen und erprobt worden sind. Unter den Kollegen, bei denen ich mir in letzter Zeit für die Zusammenhänge mit benachbarten Gebieten Rates erholen durfte und von denen ich wichtige Hinweise erhalten habe, nenne ich Ludwig Deubner, Eugen Fischer, Paul Kluckhohn, Hermann Oncken, Robert Roessle und Eduard Spranger. Für technische Hilfe bin ich Herrn Bibliothekar Dr. Wieland Schmidt und seiner Frau Annemarie, geb. Dahlke sowie Dr. Günter Skopnik in Berlin verpflichtet. Was ich den Bibliotheken in Berlin und München wie der Bücherei des Nachbarn Walter v. Molo im Murnauer Sommersitz schulde, kann allein durch die Hoffnung aufgewogen werden, daß dieses Buch nicht nur die Unzahl von Schriften, die ihm zugrundeliegen, um eine weitere vermehren, sondern daß es für Bewältigung und zielbewußte Handhabung des zu einer schwer übersehbaren Masse herangewachsenen Arbeitsstoffes sich von Wert und Nutzen erweisen möge. Berlin-Nikolassee, November 1938. Julius Petersen. |#f0025 : E1|

EINLEITUNG: B EGR IFF UND ENTW IC KLUNG DER LITER AR HISTOR ISC HEN M ETHODEN 1. L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t a l s M e t h o d e n l e h r e . „Nicht w a s er treibt, sondern w i e er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist ihnen verwandt und nahe durch einen harmonischen Verstand; er begegnet ihnen, wo alle helle Köpfe einander finden.“ S c h ille r. a) Begriff der Literaturwissenschaft „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte?“ Gegen diese Nachbildung der berühmten Schillerschen Fragestellung meldet sich sogleich ein sachliches Bedenken: es ist unbestreitbare Tatsache, daß man gar nicht Literaturgeschichte studieren kann in demselben Sinne, wie die Universalgeschichte als Gebiet wissenschaftlichen Studiums betrachtet werden darf. Freilich ist nicht zu verkennen, daß auch auf die eigentliche Beziehung der Schillerschen Frage heute ein anderes Licht fällt als damals, da sie gestellt wurde. Inwieweit kann man heute überhaupt noch Universalgeschichte studieren oder gar erforschen? Die Ausbreitung selbsterworbener Kenntnisse eines einzelnen über das ganze Gebiet der Weltgeschichte ist durch die Unermeßlichkeit des Raumes wie durch die nach vorwärts und rückwärts reichende Ausdehnung des zeitlichen Umfanges neuerdings weit mehr behindert als vor 150 Jahren. Hinzugewachsen sind vielleicht ebensoviel Jahrtausende am Anfang als Jahrzehnte am Ende, und mindestens ebenso viel alte Kulturen sind entdeckt, deren Sprachen teilweise noch der Entzifferung harren wie sollte solche Unendlichkeit aus einem Blickpunkt zu überschauen sein? Die schwere Zugänglichkeit und der verschiedenartige Charakter der primären Quellen, sowohl was äußere

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Erreichbarkeit als sprachliches Verständnis betrifft, macht die Aufteilung in einzelne Forschungsgebiete unerläßlich. Es gibt Geschichten der Zeitalter, der Erdteile, der Kulturkreise, der Völker, der Staaten, der Städte, der Stände. Wenn deren Ergebnisse zusammengetragen werden, so bleibt dem universalen Überblick eigentlich nur die Feststellung gleichartigen oder gegensätzlichen Verlaufs, die Beobachtung typischer Entwicklungsstufen und die Erkenntnis historischer Gesetze als ein Knäuel von Forschungsaufgaben übrig, so daß Universalgeschichte in Geschichtsphilosophie übergeht. Wenn nun eine universale Literaturbetrachtung denselben Weg gehen will, so gelangt sie zu gleichem Ziel: Literaturgeschichtsphilosophie. Vermißt sie sich wirklich, die ganze Menschheitsliteratur in geschichtlichem Zusammenhang schauen zu wollen, so tritt sie vor viel unüberwindlichere Schwierigkeiten, als sich der Universalgeschichte entgegenstellen. Einmal muß sie für die Erschließung der Zusammenhänge eine Universalgeschichte voraussetzen oder deren Arbeit noch einmal leisten; weiter aber sind es auf ihrem eigenen Gebiet nicht allein die Quellen, sondern die Ereignisse selbst, die verschiedenste Sprache reden. Die Ereignisse sind auf diesem Gebiet nicht Taten und Begebenheiten, sondern Texte, die wiederum ihre Quellen haben. Diese Texte sind nicht kurzgefaßte Urkunden, deren Wert bei kritischer Schulung verhältnismäßig rasch zu durchschauen ist; sie sind auch keine Gemälde, die von geübten Augen schon mit einem Blick in charakteristischen Wesenszügen erfaßt werden können. Der Totaleindruck jedes großen literarischen Kunstwerkes, der für persönliche Beurteilung nicht entbehrt werden kann, braucht für seine erste Herstellung schon Wochen und Monate des Lesens, ohne daß von tieferdringendem Verstehen die Rede ist, und das letzte Durchdringen kann die Aufgabe eines ganzen Lebens bilden. Vor allem setzt die Aufnahme des Inhalts wie der Form bei jedem einzelnen literarischen Werk die Beherrschung seiner Sprache voraus, der Sprache eines Volkes, eines Zeitalters, einer Persönlichkeit. Die Literaturdenkmäler sind nicht allein eingebettet in eigene Kulturzusammenhänge, aus denen allein ihr Werden und Wesen zu verstehen ist, sondern das Wortkunstwerk offenbart das Geheimnis seiner Form in vollem Umfange nur dem, der das Wort in seinem ursprünglichen Schöpfungsgehalt zu vernehmen und zu deuten vermag. So kommt es, daß das, was man studieren kann, nicht allgemeine Literaturgeschichte heißt, sondern Altertumswissenschaft oder Orientalistik, und daß es für die neuere Zeit in Germanistik, Romanistik, Anglistik, Slavistik und andere Gebiete zerfällt. Jedes der genannten |#f0027 : 3|

kulturkundlichen Fächer schließt eine oder mehrere Literaturgeschichten in sich. Die Teilung aber bedeutet nicht etwa erstarrte, durch äußere Bedingungen wie Prüfungszwang und Berufsrücksicht am Leben erhaltene Hochschulüberlieferung, sondern sie ist naturgegeben durch die Bindung jeder Literatur an eine bestimmte Sprache, die für sie Mutterboden, Werkstoff, Lebensform, Daseinsgrundlage darstellt. Wenn man mit außerordentlicher Anspannung mehrere dieser philologischen Fächer im Studium vereinigen will, so können sie doch kaum zu gleichem Recht kommen. Noch weniger ist es dem Forscher gegeben, auf allen Gebieten eigene vorwärtsdringende Arbeit zu leisten. Schon der Sprachkenntnis und noch mehr der Literaturbeherrschung sind physische Grenzen gesetzt. Wohl gab es einmal das Wunder Giuseppe Mezzofanti, der am Ende seines 75jährigen Lebens einer Kenntnis von 58 Sprachen mächtig war; er konnte sie sprechen und ihre Grammatik verstehen; aber in ebenso vielen Literaturen sich Belesenheit erworben zu haben, dieser Leistung konnte er sich nicht rühmen. Es gab eine philologische Genialität wie die von Eduard Sievers, der sich zutraute, auch in Sprachen, die er nicht verstand, das Echte und Verfälschte einer Überlieferung herauszuhören mit den von ihm entwickelten Mitteln der Schallanalyse; aber den Geist dieser Sprachen und Literaturen zu ergründen, dazu hätte nicht so sehr die Fähigkeit als die Einstellung und Lebensdauer gefehlt. In dem betagten Münchener Anglisten Josef Schick gibt es einen Forscher, der alle Sprachen und Schriften des Orients, in denen etwas von der Hamlet-Sage Zusammenhängendes überliefert ist, eigens erlernt, um diese Texte in ihrer ursprünglichen Form mit philologischer Gewissenhaftigkeit seinem „Corpus Hamleticum“ einzuverleiben; aber diese Energie verschwendet ihre Stoßkraft in einseitiger Richtung. Es gibt französische Literaturhistoriker elsässischer Herkunft und Schweizer von interkantonaler Zugehörigkeit, die durch mehrere Muttersprachen begünstigt sind. Auch in Arturo Farinelli haben wir einen Forscher, den der Gang seines Lebens und seine Begabung befähigten, sowohl die germanischen als die romanischen Literaturen in ihren Sprachen mit bewundernswertem Gleichmaß zu beherrschen. Aber das ist der höchste heute erreichbare Umfang, und gerade Farinelli hat sich aufs entschiedenste gegen die Möglichkeit einer Weltliteraturgeschichte erklärt: „Alles Wirkliche hat ja sein Maß, all unser Forschen eine Beschränkung. Nicht nach der Weite, sondern nach der Tiefe müssen wir streben; nicht die unbegrenzte äußere Welt, sondern das unbegrenzte Individuum sollen wir ergründen. Wozu die endlosen Gräberstätten der

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Menschenkultur mit neuen Gerippen bereichern? Richten wir getrost unseren Blick nach dem Innern. Nur im Labyrinth der Menschenbrust regen sich die Fluten des ewigen Lebens.“ Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als die sogenannte Neuphilologie erst im Entstehen war, gab es Lehrstühle an den deutschen Universitäten und in kleineren Ländern gibt es sie wohl heute noch , die mit Deutsch, Englisch und den romanischen Sprachen zugleich belastet waren. Bei Erfüllung dieser Lehrverpflichtung konnte es sich eigentlich nur um die verschiedenen Grammatiken und damit zusammenhängende Textinterpretation, aber nicht um Literaturgeschichte handeln. Je mehr sich aber nun die Literaturgeschichte von der Sprachwissenschaft loslöste, indem sie eigene Forschungsaufgaben in Angriff nahm, desto mehr mußte so paradox es zunächst klingt ihre Bindung an die Sprache, nämlich an ein bestimmtes Sprachgebiet sich festigen. Und diese naturgegebene philologische Bindung scheint das weitere wesentliche Hindernis einer allgemeinen Literaturgeschichte zu bilden. Es gibt allerdings einen Weg des Vorwärtskommens zwischen den einengenden Gattern, wenn man sich auf den großen Verkehrsstraßen hält, die den Austausch zwischen den voneinander getrennten Gebieten vermitteln. Man kann den Verkehr selbst zum Gegenstand der Beobachtung machen, wenn man das Übersetzungswerk der verschiedenen Nationen und die damit verbundene Vermittlung von Ideen, Motiven und Stilformen als besonderes Forschungsgebiet betrachtet. So wäre, wenigstens in gewissen Zeitaltern, im Mittelalter, in Renaissance, Barockzeit und Aufklärung, zu einer europäischen Geistesgeschichte auf dem Boden gemeinsamer Literaturgeschichte zu gelangen. Eine völlige Gleichschaltung aller Gebiete in einer Hand ist indessen nicht nur durch den Umfang des Stoffes ausgeschlossen, sondern auch durch die Lagerung der verschiedenen Ebenen. Jene Vogelschau ist nicht durchführbar, die einmal der junge Herder von dem Geschichtsschreiber verlangen wollte, „er schreibe als auf einer Wolke, von welcher er die Nationen vor sich wegziehen lasse“. Der Geschichtsschreiber kann nicht in Wolkenkuckucksheim wohnen; er kann sich so wenig wie die Kunst, die er erforscht, losreißen von den Wurzeln der Volks- und Zeitgebundenheit; er kann nicht allem gleich nahekommen oder gleich fernbleiben; der archimedische Punkt dafür ist nicht zu finden. Das Gebiet der Altertumswissenschaft ist räumlich und zeitlich entlegen; die alten Sprachen sind, wenn nicht tot, so doch in sich abgeschlossen. Wenn ein Einleben in die Welt des |#f0029 : 5|

Altertums von der Gegenwart aus möglich ist, so können die ewigen Menschheitsideen, die von da aus in die moderne Welt übergingen, Führer sein auf dem Weg in ihre Heimat; aber diesem Abhängigkeitsverhältnis fehlt jede Gegenseitigkeit, es sei denn, daß in rassischer Urverwandtschaft eine gleichartige Disposition erblickt werden darf. Die neueren europäischen Sprachen dagegen stehen nicht nur in Verwandtschaft, sondern in zeitlicher Gemeinschaft, bewegt von den gleichen geistigen Strömungen, die in ihnen zu verschiedenartigem Ausdruck gelangen. Bei der Wechselwirkung des lebendigen Austausches von Ideen, Erlebnissen und Formen ist ein Reisepaß, der den Zugang in die Nachbargebiete eröffnet, leichter beschaffbar. Dem steht endlich die freie Bewegung im Bezirk der eigenen Sprache und des eigenen Wesens gegenüber. Das Bürgerrecht im geistigen Raum des eigenen Vaterlandes ist eine Gnade, die jedem in den Schoß wirft, was er im anderen Lande erst mühevoll erwerben müßte, aber es schließt zugleich die Pflicht strengeren Arbeitsdienstes in sich. Wird der lange Anmarsch erspart, so kann um so unmittelbarer der Aufstieg zu den Gipfeln erfolgen und zu den Quellen, aus denen die Ströme des geistigen Lebens herniederfluten. Es ist freilich ein Weg, der wie alles Steigen das Herz in Anspruch nimmt. Hat die Nationalwissenschaft von vornherein im Gegensatz zu den anderen Philologien ihren Ansatzpunkt mehr im Innern, so hat sie dafür auch die Pflicht, um so tiefer ins Innerste vorzudringen. Das letzte Ziel, die Erschließung des eigenen Menschentums aus seiner geistigen Welt, ist nur dem Bewußtsein eigener Zugehörigkeit erreichbar; an der Deutung der Dichtung als höchsten Ausdruckes nationalen Lebens und an der Erkenntnis ihres Zusammenschlusses zu einer rassisch gegründeten und im Lauf der Geschichte schicksalsmäßig vollendeten Einheit muß nicht nur Kenntnis, sondern Selbsterkenntnis beteiligt sein. Das gilt für die Arbeit des deutschen Germanisten ebenso wie für die des englischen Anglisten, der französischen, italienischen, spanischen Romanisten oder der polnischen, tschechischen, russischen Slavisten. In keiner Weise soll damit die erprobte Leistung deutscher Anglisten, Romanisten, Slavisten oder englischer, französischer, italienischer Germanisten herabgesetzt werden. Ihnen liegen in vieler Hinsicht weit schwerere Aufgaben ob, die vielleicht hie und da noch größeres Verdienst in sich schließen. Die Erforschung fremder Literaturen hat andere Ansatzpunkte schon dadurch, daß die Grundvoraussetzungen sprachlichen Verstehens mühsamer zu erarbeiten sind. Der

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Gast des fremden Landes, der sein wesentliches Arbeitsmaterial dort findet, kann durch Einleben und Einfühlen in Kultur und Denkweise künstlich oder sollen wir sagen: auf wissenschaftliche Weise? sich einen Ersatz jenes liebevollen Heimatgefühls verschaffen, das natürliche Voraussetzung des Verstehens bildet. Der gleichwohl auferlegte Abstand befähigt wieder in mancher Beziehung zu einer umfassenderen Sicht. Aus der Ferne können Einheiten, Zusammenhänge und charakteristische Züge erkannt werden, die nationaler Befangenheit vielleicht verborgen bleiben. Das Verhältnis ist ungefähr das gleiche, wie das zwischen menschlichem Sichselbstverstehen und Fremdverstehen, wobei eines die Voraussetzung und den Maßstab des andern darstellt. Wie man fremde Sprachen nur von der Muttersprache aus lernen kann, so ist auch ein Eindringen in fremde Literaturen nur von der eigenen aus möglich. Beidemal aber schärft sich Gehör und Blick sowohl für das Fremde als für das Eigene. Entwickelt sich vom Boden der eigenen Kultur aus eine strengere Kritik am Fremden und umgekehrt von der fremden Kultur aus am Eigenen, so verdient das, selbst wenn es Mißverstehen bedeutet, auf der anderen Seite Beachtung, und wenn es zu richtigem Verstehen gelangt, bringt es um so höheren Gewinn. Das Bewußtsein, von anderer Seite verstanden zu werden, reizt und steigert die Selbsterkenntnis, so daß sich ein fördernder Ausgleich zwischen der fremden und der eigenen Beurteilung herzustellen vermag: Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz. Ein Beispiel solcher Wechselwirkung ist etwa Lessings Kritik an der französischen Tragödie, die nicht nur die Absicht erreichte, Deutschland von einer lähmenden Überschätzung zu befreien und zur Selbsterkenntnis zu bringen, sondern die auch in Frankreich für die folgenden Perioden starken Eindruck erzielte, etwa bis zu Victor Hugos „Préface de Cromwell“ hin. Die Gegenkritik, die sich schließlich dort durchsetzte, hat dann wieder die deutsche Wissenschaft zu einem gerechten Verstehen der Formkunst, die aus dem französischen Geiste zu begreifen ist, führen können. Es bleibt aber dabei, daß die maßgebende nationale Literaturgeschichte jedes Volkes, das eine große lebendige Literatur besitzt, nur in seiner eigenen Sprache geschrieben werden kann; sie weist der Wissenschaft sowohl für fremde Betrachtung der eigenen als für eigene Betrachtung der fremden Literaturen den Weg. Es ist indessen |#f0031 : 7|

auffallend, wie selten solche Darstellungen bester Kenner, die in ihrem eigenen Lande klassische Geltung besitzen, in fremde Sprachen übersetzt werden. Ganz anders ist es bei philosophischen oder geschichtlichen Werken und vor allem bei den Dichtungen selbst. Die nationalen Literaturgeschichten fremder Völker leisten den Ansprüchen der Leserkreise, die jene fremde Literatur vom eigenen Standort aus sehen wollen, nicht Genüge. Damit erledigt sich auch der Gedanke, etwa eine Geschichte der Weltliteratur dadurch zu gewinnen, daß jede Nationalliteratur von einem Forscher dieser Nation dargestellt würde. Auch wenn das polyglotte Sammelwerk schließlich in eine einheitliche Sprache übersetzt würde, wäre es doch keine Einheit, sondern das, was Ernst Troeltsch einmal „Buchbindersynthese“ genannt hat: ein Nebeneinander verschiedener Literaturgeschichten, die keinen Organismus bilden und nicht ineinander gefügt werden können, weil sie alle von verschiedenem Standort aus geschrieben sind. Der Standort, der den Mittelpunkt bildet, ist der des Eigenerlebnisses. Das ist der Sinn des Goetheschen Ausspruches: „Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen. Die Deutschen können erst über Literatur urteilen, seitdem sie selbst eine Literatur haben.“ Jede Darstellung einer fremden Literatur ist eine Art vergleichender Literaturgeschichte, indem sie bewußt oder unbewußt Maßstäbe des eigenen Geisteslebens zur Beurteilung heranzieht. Die „allgemeine Literaturgeschichte“ oder „Literaturvergleichung“, die in den meisten außerdeutschen Ländern neben den Philologien als eigenes Hochschulfach gelehrt wird, will mehr. Sie wird in der Regel als ein Überblick über das zeitgenössische Schrifttum aller Kulturländer betrieben, also als Literaturkritik und angewandte Ästhetik. Oder sie erscheint als europäische Literaturgeschichte der Neuzeit, wobei die eigene Nationalliteratur als gebend und empfangend so sehr im Mittelpunkt steht, daß das Gebiet sich beinahe mit Geschichte der Nationalliteratur und ihren Ausstrahlungen deckt. Beispielsweise überträgt die französische „littérature comparée“ das Prinzip des Völkerbundes auf die Wissenschaft, wobei die Geltung des Französischen als Verhandlungssprache und die Anerkennung der französischen Literatur als Repräsentantin des europäischen Geistes Voraussetzung ist. Gleiches können andere nationale Literaturgeschichten von ihrem Felde aus ebenfalls leisten, z. B. hat Adolf Bartels für eine allgemeine Literaturgeschichte die Beziehungen Goethes zur Weltliteratur als Leitfaden benutzt, wodurch |#f0032 : 8|

ihm eine stoffliche Beschränkung auferlegt war. Wieder nach einer anderen Methode hat das Ehepaar Chadwick in Cambridge ein riesig angelegtes Werk „The growth of literature“ begonnen, das die typischen Entwicklungsstufen der griechischen, irischen und altgermanischen Dichtung vom heroischen Zeitalter an in Parallele setzt, um dann auf russische, jugoslawische und altindische Literatur zu kommen. Der vorläufig unübersehbare Plan beschränkt sich (unter Verzicht auf Ostasien) auf die den Bearbeitern bekannten Literaturen und verzichtet damit auf den Anspruch universaler Literaturbetrachtung. Bei der allgemeinen Literaturbetrachtung, die sonst vornehmlich in den angelsächsischen Ländern unter dem Namen „literary criticism“ als eigene Wissenschaft betrachtet zu werden pflegt, ist die Übersetzung fremder Dichtungen den Originalen der eigenen Literatur gleichgeordnet. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit eine Auslese, für die die Existenz von Übersetzungen, seien es gute oder schlechte, überhaupt maßgebend ist. So leugnete z. B. vor 25 Jahren ein als Literaturkritiker angesehener Professor der Columbia-Universität die Existenz einer neuen deutschen Lyrik von Bedeutung, weil ihm keine Übertragungen ins Englische bekanntgeworden seien. Mit gleicher Logik könnte man behaupten, es gebe in Deutschland keinen Frühling, weil die amerikanische Reisezeit erst im Juni beginnt. Wie weit Übersetzungen als wissenschaftliches Material oder als Bildungsmittel zu betrachten sind, steht dahin. Das Arbeiten mit ihnen genügt nicht dem fundamentalen Grundsatz, nach dem jedes Werk in seiner ursprünglichen Gestalt auf Wirkung, Sinn und Wert befragt werden muß. Aber es ermöglicht wenigstens persönliche Teilkenntnis und läßt das allerunwissenschaftlichste Verhalten, nämlich das genügsame Weiterschleppen fremder Urteile und toter Inhaltsangaben, vermeiden. Es gibt allerdings Fälle, in denen Hilfsmittel letzterer Art auch von der Wissenschaft in Anspruch genommen werden müssen, falls nämlich ein Original verloren ging. Wenn nichts anderes als der unvollkommene Ersatz zur Hand ist, so bedeutet das für den Literarhistoriker ungefähr dasselbe und stellt dieselben kritischen Aufgaben wie für den Historiker der angezweifelte Quellenbericht über ein unbezweifelbares geschichtliches Ereignis. Auch Übersetzungen und Bearbeitungen können in solchem Fall Lückenbüßer sein: man ist dankbar für die arabische Überlieferung des Aristoteles und für die koptische Übersetzung des Mani als Inhaltsvermittlung von Lehren, die uns sonst nur entstellt überliefert |#f0033 : 9| oder ganz verloren wären. Für die Literaturgeschichte im besonderen bedeutet es noch etwas mehr, wenn Sievers aus der angelsächsischen Genesis die Existenz der altsächsischen Grundlage, einen späteren Fund vorausnehmend, erschließen konnte, wenn Heusler in Analogie zur Eddadichtung die deutschen Vorstufen des Nibelungenliedes rekonstruierte oder wenn Bédier für die französische Literaturgeschichte das großenteils verlorene Tristan-Epos des Thomas aus Gottfried von Straßburg zurückzugewinnen suchte. Für ästhetische Beurteilung aber bietet solcher Ersatz keine Handhabe. Nun mag sprachliche Unzugänglichkeit des Originals in manchen Fällen gleichviel bedeuten wie Verlust. Die Inanspruchnahme der Übersetzung ist dann ein Notbehelf wie für den Kunstforscher Gipsabguß und Photographie. Aber der Besuch Griechenlands, Spaniens, Italiens, Frankreichs bleibt dem, der über die Kunst dieser Länder arbeitet, unentbehrlich, ebenso wie der Geograph nicht mit Landkarten, der Geologe nicht mit Steinsammlungen, der Botaniker nicht mit Herbarien und botanischen Gärten sich begnügen kann. Nur vom Astronomen kann man nicht verlangen, daß er die Sterne, die er erforscht, selber bereist; er muß sich mit dem Teleskop begnügen. Für den Literaturhistoriker aber heißt es: „Wer den Dichter will verstehn, muß in Dichters Lande gehn.“ Das Land des Dichters ist seine Sprache, und die Sprache ist Ausdruck seiner Volkheit. Als Organismus ist jede Nationalliteratur nur innerhalb der Sprache, in der sie west und wirkt, der sie eingeboren ist und die in ihr geboren wird, zu fassen. Wohl können einzelne Stücke verpflanzt werden wie die Ableger eines Baumes, der in fremdem Boden sein verjüngtes Ebenbild erlebt; aber der urwüchsige Baum bleibt da stehen, wo er in Jahrhunderten gewachsen ist; er ist mit seinen weitgreifenden Wurzeln durch kein Übersetzungswerk übertragbar. Noch weniger ist es der ganze Wald, dem er angehört. Wenn man den Blumenmarkt aufsucht, der die Austauschprodukte aller Länder zur Schau stellt, gelangt man auf das Gebiet, das Goethe zuerst als „Weltliteratur“ bezeichnet hat. Der Schöpfer des Wortes hat keinen Zweifel gelassen, daß er darunter nicht die Gesamtheit des literarischen Schaffens der Menschheit verstand, sondern die jeweilige Zusammenstellung der edelsten und charakteristischsten Gewächse aller Zonen, verpflanzt auf den gemeinsamen Boden einer Übersetzungssprache: Laßt alle Völker unter gleichem Himmel sich gleicher Gabe wohlgemut erfreu'n. |#f0034 : 10|

Es handelt sich um keinen Wald, sondern um einen botanischen Garten, der die Fülle vielfältigsten Wachstums in einem alle geographische Trennung überwindenden Überblick zu genießender Anschauung und vergleichender Betrachtung übermittelt. Wenn dabei nach Möglichkeit die Daseinsform jeder Pflanze in einer ihrem ursprünglichen Wesen entsprechenden Gestalt erhalten wird, so ist es das Ergebnis eines Zusammengehens von Kunst und Wissenschaft. Je fremdartiger das Gewächs, desto mehr ist die gärtnerische Pflege (und ihr entspricht die Kunst des Übersetzers) auf das vorausgegangene wissenschaftliche Studium der geologischen, physiologischen und klimatischen Lebensbedingungen, die an Ort und Stelle zu erforschen sind, angewiesen. Wie der botanische Garten in Zusammenstellung der ihrem Mutterboden entrückten Gewächse die räumliche Trennung aufhebt, so bedeutet das Pantheon der Weltliteratur, das Museum der Übersetzungskunst eine Überwindung der zeitlichen Trennung. Mit dem Verlust ihrer ursprünglichen Sprachform sind die literarischen Denkmäler dem geschichtlichen Zusammenhang, dem sie entwachsen waren, entzogen. Sie gehören in dieser Form nicht mehr der Geschichte ihrer eigenen Literatur an, denn sie tragen das Kleid fremden Schrifttums, innerhalb dessen sie nun gleichfalls ihre geschichtliche Wirkung ausüben können. Eigentlich aber sind sie durch Vervielfältigung ihres Sprachgewandes, durch die Zwischenschaltung zwischen zwei oder mehr Literaturen, durch ihre Erklärung zum übernationalen Gemeingut überhaupt dem Gebiet der Geschichte entrückt. Sie sind in ein neues Sein verpflanzt, dessen ewige Dauer indessen keineswegs verbürgt ist. Die Hauptsache ist die Vergegenwärtigung. Jede Übersetzung stellt das übertragene Werk auf die Probe der Gegenwartswirkung seines Gedankengehalts und seiner sprachlichen Form. Am wenigsten tritt die damit verbundene Umdeutung in Erscheinung, wenn das übertragene Werk der eigenen Zeit und einem verwandten Kulturkreis angehört. Je weiter das Original dagegen räumlich und zeitlich entlegen ist, desto mehr bedeutet die Arbeit des Übersetzers eine gewaltsame Aktualisierung, die trotz oder wegen ihrer Gegenwartsnähe in ihrer Willkürlichkeit schneller veraltet als die Urform, die den ihr eignenden Ewigkeitswert unveränderlich bewahrt. Übersetzungen müssen im Laufe der Zeit immer revidiert und erneuert werden und können, weil ihnen nie die Identität mit dem Original erreichbar ist, immer nur eine relative Geltung beanspruchen. Schon Cervantes hat die Übersetzung mit der Rückseite eines flämischen Gobelins verglichen, und Wilhelm |#f0035 : 11|

v. Humboldt bezeichnete alles Übersetzen als Versuch zur Lösung einer unmöglichen Aufgabe. Wenn ästhetische Kritik, ideelle Deutung der Probleme, Beobachtung der Technik und des Stils sowie vergleichende Betrachtung gegenüber Übersetzungswerken ihres Amtes walten, so kann es immer nur mit dem Vorbehalte geschehen, daß zwischen der Ursprünglichkeit und dem Betrachter ein fremdes Mittlertum steht, ein mehr oder weniger durchsichtiger Schleier, dessen Dämpfung vielleicht durch grellere Beleuchtung aufgehoben wird, der aber notgedrungen eine verfälschende Färbung mit sich bringt. Wir wiederholen: alle Literaturgeschichte hat es mit Nationalliteratur zu tun; sie hat entweder auf dem vaterländischen Boden oder innerhalb eines bestimmten Kulturkreises einzusetzen. Trotz dieser Beschränkung darf sie keine Scheuklappen tragen; sie hat das Auge nicht zu verschließen vor der gleichartigen Arbeit, die auf anderen Gebieten geleistet wird. Ihr Blickfeld muß viel weiter sein als ihr begrenztes Arbeitsgebiet. Isolierung würde geistige Verarmung bedeuten. Die ideelle Möglichkeit eines Zusammenschlusses der verschiedenen Literaturgeschichten zu einer Gesamtschau, die dann allerdings nicht mehr rein geschichtlich sein kann, bleibt im Auge zu behalten. Das wäre gewissermaßen eine Literaturgeschichte des „Als ob“. Man lese, man studiere, man forsche, man stelle dar, als ob eine universale Literaturgeschichte zu schaffen sei. Das imaginäre Ziel, das wie der Blickpunkt einer ins Unendliche führenden Perspektive im Hintergrund steht, beherrsche von allen Standorten aus die Einzelforschung. Sie hat sich einzuordnen einem System, das den strategischen Grundsatz des Getrenntmarschierens und Vereintschlagens verkörpert, das in seinen Signalen allen am Werk Befindlichen verständlich ist, das Generalbaß, Harmonielehre und Notenschrift der wissenschaftlichen Komposition bedeutet. Dieses System muß seiner Idee nach allgemeine Literaturwissenschaft heißen; es muß Gültigkeit haben für das Nächste wie das Fernste, muß jedem einzelnen gerecht werden und darüber hinaus der Dichtung in ihrer höchsten Ganzheit verschrieben sein. Keine Wissenschaft ist ohne Forschung denkbar; aber Forschung allein macht nicht die ganze Wissenschaft aus. Man muß auch Bildung, Darstellung, Kritik und Lehre dazu rechnen, die Voraussetzung, Begleitung, Richtung und Auswertung der Forschung bedeuten. Ohne den Hintergrund weltliterarischer Umschau, ohne ästhetisches Urteil, ohne künstlerischen Sinn und Gestaltungskraft, ohne Klarheit |#f0036 : 12|

über den Sinn der Arbeit, ohne sich mitteilende Liebe und erwärmende Überzeugungskraft, die mit der Anleitung neue Aufgaben stellt, ist alle literarische Forschung zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Dieser ganze belebende Umkreis muß in dem gekennzeichneten System eingeschlossen sein. Zusammenfassend können wir sagen: es gibt so viele Literaturgeschichten, als es Literatursprachen gibt; aber es gibt nur eine Literaturwissenschaft. Man hat sich zwar in Deutschland daran gewöhnt, das Wort Literaturgeschichte ganz durch den neuen Ausdruck zu ersetzen und die „deutsche Literaturwissenschaft“ als Forschungsgebiet zu betrachten. Man müßte folgerichtigerweise dann auch von französischer und englischer Literaturwissenschaft sprechen, aber man tut es höchstens im Sinne der Zunft, nicht des Gegenstandes. Wie kam es zu diesem Widerspruch? Man wollte der vielverkannten Poetik einen ebenbürtigen Platz neben der Literaturgeschichte erobern, indem man beide vereinte. Man glaubte, mit dem ängstlichen Gebrauch des neuen Wortes eine Abkehr vom Historismus zu vollziehen und der Deutung des Seienden, des lebendigen Kernes in seinem ewigen Wert gegenüber der Überbewertung des Gewesenen, der äußeren Umstände des Entstehungsvorganges und der geschichtlichen Zusammenhänge zu ihrem Rechte zu verhelfen. Als ob nicht alle Geschichtswissenschaft der Vergegenwärtigung diente und jede wissenschaftliche Gegenwartsbetrachtung Geschichte würde! Man konnte wohl versuchen, eine wissenschaftliche Betrachtung der Gegenwartsliteratur zu rechtfertigen, indem man die in Anwendung gebrachte ästhetische, formale, stilistische Kritik als Mittel der literaturwissenschaftlichen, nicht der literarhistorischen Methode ausgab. Aber wenn auch Sammlung und Kritik mit durchaus wissenschaftlichem Ernst betrieben wurde, änderte sich nichts daran, daß die Eingliederung des Gegenwartswertes bereits den Anfang geschichtlicher Betrachtung bedeutet, und daß sich in deren Fortschreiten bald eine andere Beurteilung einstellt. Man braucht bloß einmal die verschiedenen Auflagen vielgelesener Darstellungen der Gegenwartsliteratur zu vergleichen, um zu sehen, wie sich nicht Stoff und nicht Methode, sondern der Standort desselben Betrachters verändert hat. Früher, und zwar in Jahrhunderten, in denen es noch keinen Historismus gab, hat man auch von „Naturgeschichte“ als Fach gesprochen. Nachdem die Bezeichnung „Naturwissenschaften“ sich durchgesetzt hatte, sind die „Geisteswissenschaften“ gefolgt, aber sie haben dann wieder einen Zusammenschluß zur „Geistesgeschichte“ vollzogen. Der Ausdruck „Literaturwissenschaft“ kam genau in dem |#f0037 : 13|

Zeitpunkt auf, als die großen methodologischen Auseinandersetzungen zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung begannen und soviel Raum einnahmen, daß die Literaturgeschichte selbst fast dahinter zurücktrat. Literatur- w i s s e n s c h a f t wurde die Methodenlehre genannt, die aus jener großen kritischen Selbstbesinnung hervorging, und wenn das, was an Literatur g e s c h i c h t e übrig blieb, nun gleichfalls jenen Namen erhielt, so wurde es als angewandte Methodenlehre gekennzeichnet. Manche literarhistorische Untersuchung der letzten Jahrzehnte ist in der Tat nichts anderes gewesen. Es ist aber nun wohl an der Zeit, die Begriffe dahin zu klären, daß die einzelnen Literaturgeschichten als Forschungsgebiete ihren Namen behalten, weil jede Nationalliteratur als Ganzes allein der geschichtlichen Betrachtung ihren organischen Zusammenhang erschließt. Die allgemeine Literaturwissenschaft dagegen stellt die durchsichtige Kuppel eines Mittelbaues dar, auf den sie alle hinlaufen. Sie gibt ihnen als gemeinsame Methodenlehre Richtung und Licht. b) Begriff der Methodenlehre Wenn die Methodologie der Literaturgeschichte in letzter Zeit, in Deutschland mehr als in anderen Ländern, beinahe ein eigenes Wissenschaftsgebiet wurde, das zeitweilig die Forschung selbst aus dem Vordergrund des Interesses zu verdrängen drohte, so war es ein Krisenzustand, der kein normales Verhältnis darstellt und nicht von Dauer sein kann. Indem wir von Prinzipien einer Wissenschaft sprechen, erwecken wir den Anschein, als ob Zielsetzungen, Wege zur Erkenntnis und Anfangsgründe bereits vor der Forschung da wären. Das sind sie gewiß als Idee: als Forderung und Wille zur Erkenntnis der Wahrheit. Aber diese Idee wird materialisiert im Stoffe der Forschung; sie hat erst Gelegenheit, in Erscheinung zu treten in praktischer Arbeit. So entfaltet sich Methode erst innerhalb der gestellten Aufgaben; sie wird diktiert durch die Ziele der Wissenschaft und erprobt sich in ihrer Wirksamkeit durch den Erfolg der Annäherung an das gestellte Ziel. Methodenlehre ist deshalb in erster Linie Rechenschaftsbericht der Forschung; sie kann es in dem Maße sein, daß ein Philosoph der Gegenwart, Nicolai Hartmann, die Methodologie als Epigonenarbeit bezeichnet hat, die nicht geeignet sei, Wege zu weisen. Daran ist richtig, daß die Methode von sich aus keine Ziele setzt; wohl aber ist sie ein Wegweiser, der sinnlos wäre |#f0038 : 14|

ohne gebahnte Straßen, und diese wiederum hätten keinen Sinn ohne Ausgangspunkt und Ziel. Jedes neue Ziel verlangt, daß neue Wege eingeschlagen werden, die aber mit den bisher begangenen Straßen in irgendeinem Zusammenhang stehen müssen. Das Ziel bedingt die seiner Beschaffenheit angemessene Einstellung. Die Methode wird durch das Ziel bestimmt, während eine Bestimmung des Ziels von der Methode aus höchstens in sekundärer Übertragung durch Analogie erfolgen kann. Der Philosoph Hegel nannte zwar die Methode die schlechthin unendliche Kraft, die alle Objekte widerstandslos durchdringt. Eine alleinseligmachende Methode kann es indessen in keiner Wissenschaft geben. Es gibt vielmehr ebenso viele Methoden, als es Standorte und Zielsetzungen gibt; aber alle diese Wege müssen das eine gemeinsam haben, daß sie der Arbeit eine planmäßige Richtung geben und eines Ergebnisses sicher sind, dessen Wert in einem gewissen Verhältnis zur aufgewandten Mühe steht. Methode ist Denkordnung in der Arbeit. Methode ist der sicherste Weg vom Standort zum Ziel; es braucht nicht der kürzeste zu sein, sondern die Flugbahnkurve kann auch durch indirekte Zielbestimmung errechnet werden. Man kann die Methode deshalb der Wahl des richtigen Visiers für den Schützen vergleichen. Je näher das Ziel liegt, desto größer die Treffsicherheit; je größer die Tragweite, desto stärker die Wirkung. Aber Geschütz und Ladung müssen der Aufgabe entsprechen. Ebenso kindisch ist es, mit Kanonen nach Spatzen zu schießen als mit einem Blasrohr den Mond herunterholen zu wollen. Methode ist nicht gleichbedeutend mit Fleiß. Man könnte sie sogar den Gegensatz des bloßen Fleißes nennen, insofern sie überflüssigen Arbeitsaufwand erspart. Wenn man gesagt hat, Genie sei Fleiß, so kann doch keineswegs mit Umkehr dieses Satzes jeder Fleiß genial genannt werden. Aber wohl trägt das wahre wissenschaftliche Ingenium sowohl Fleiß als Methode in einem Antrieb, der kaum der Anleitung bedarf, in sich. In diesem Sinne hat ein großer Gelehrter wie Adolf v. Harnack einmal gesagt, Methode sei nichts anderes als Mutterwitz. Wiederum wollte ein Darstellungsvirtuos wie Friedrich Gundolf Methode mit unübertragbarer Erlebnisart gleichsetzen. Beides bezeugt, daß Methode sich aus der Gelegenheit herausbildet. Bloßer Fleiß ohne planmäßige und zielbewußte Anwendung wäre Kraftverschwendung, daher überflüssig und geradezu schädlich. Bloße Methode ohne praktischen Einsatz des Fleißes wäre Leerlauf der Reflexion, ein bloßes Stimmen der Instrumente ohne Musik. Methode ist Rationierung der Arbeitskraft; sie ist das ökonomische |#f0039 : 15|

Prinzip in der Wissenschaft, das unter Nutzbarmachung aller bisherigen Erfahrungen und Hilfsmittel eine Kraftersparnis zum Zwecke erhöhter Leistung bedeutet. Köstliche Beispiele sinnlos angewandten Fleißes hat Jean Paul in seinem aus fünfzehn Zettelkästen gezogenen „Leben des Quintus Fixlein“ dem Spott überantwortet. Der armselige Pedant, der sämtliche Druckfehler der deutschen Literatur sammelt, eine Statistik der Vokale in Luthers Bibelübersetzung anlegt und außerdem errechnet, welches der mittelste Buchstabe oder das mittelste Wort der Bibel ist, stellt die idyllische Karikatur eines sportlichen Geduldspiels dar, das man beileibe nicht philologisch nennen darf, weil es nichts von Logos an sich hat. Aber es ist nicht zu leugnen, daß literarhistorische Statistik nach naturwissenschaftlichen Methoden gelegentlich ähnlich seltsame Früchte verschwendeten Fleißes gezeitigt hat, die wiederum zu Unrecht das Sitzfleisch überhaupt in Mißkredit brachten. Ob Fleiß methodisch angewandt ist, ergibt sich erst nach erreichtem Ziel. Entscheidendes Kriterium für die Richtigkeit der Methode ist der fruchtbare Erfolg. Ist kein Ziel erreicht und kein Ergebnis gewonnen, so war die ganze Mühe umsonst. Der Wert des Ergebnisses hängt davon ab, ob wenigstens eine Etappe auf dem Weg zum Ziel gewonnen ist, von der aus andere weiter vordringen können, denn alle wissenschaftliche Forschung ist Gemeinschaftsarbeit in der ablösenden Aufeinanderfolge des Stafettenlaufes, der sich von Zeit zu Zeit wiederholt. Die Richtigkeit des letzten Ergebnisses hängt jedesmal von der Folgerichtigkeit des ganzen durchlaufenen Weges ab und von der zwingenden Beweiskraft der Schlüsse, die der letzte Fackelträger zu ziehen hat. Er überbringt als Darsteller des Ganzen die Meldung ans Ziel. Im Ziel rechtfertigt sich erst die angewandte Methode; alle wissenschaftliche Kritik ist daher Prüfung der Methode, und alle Methodenlehre kann nichts anderes sein als Kritik des Ganges der Wissenschaft. Nicht nur die Forschung selbst und der Weg der Untersuchung müssen planmäßig sein, sondern auch die Darstellung des Ergebnisses muß Überzeugungskraft haben. Erste Voraussetzung dieser Überzeugungskraft wie der ihr gegenübergestellten Kritik ist Logik: es kommt auf Klarheit der Begriffe und auf Schlüssigkeit ihrer Anwendung an sowohl für die Darlegung als für das Verstehen. Das Collegium logicum, das Mephistopheles dem ersten Semester empfiehlt, ist elementare Methodenlehre, wie sie in der mittelalterlichen Scholastik das vollständige wohlgeordnete Wissenschaftssystem des |#f0040 : 16|

trivium und quadrivium in sich schloß. Ein deutscher Philosoph, dessen Wirkung noch in unsere Zeit hineinreicht, Wilhelm Wundt, hat als letzter den Versuch gemacht, die gesamte Wissenschaftslehre in einer dreibändigen „Logik“ zusammenzufassen, deren Vollendung die Methodenlehre als Rechenschaft über alle bei der wissenschaftlichen Erkenntnis wirksamen Denkgesetze sein sollte. Wenn schon vor ihm John Stuart Mill unter demselben Titel eine moderne Klassifikation der Wissenschaften aufgestellt hatte, so geschah es in der Blütezeit des Positivismus, der kaum einen Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methode anerkannte und auf beiden Gebieten die Erkenntnis von Gesetzen mechanischen Geschehens als letztes Ziel ansah. Mechanisch war jedenfalls die Beweisführung, bei der logische Schlüsse wie Identität und Kausalität, Methoden wie Statistik, Vergleich und Analogie in erster Linie angewendet wurde. Die idealistische Gegenbewegung, die in Deutschland um die Jahrhundertwende mit Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert in Erscheinung trat, grenzte die Geisteswissenschaften von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ab und leugnete die Möglichkeit unabänderlicher Gesetze im geistigen Geschehen. Da die Geschichte es mit Individuen, die Naturwissenschaft mit Gattungen zu tun hat, entstehen verschiedenartige Kausalreihen und andere Begriffe des Wertes, die eine Umstellung der logischen Denkens bedingen. Hier wurde Erleben und innere Schau zur Methode. Seitdem mußte noch eine stärkere Differenzierung der Grundbegriffe bei allen Einzelfächern eintreten, wodurch einheitliche Wissenschaftsmethode überhaupt in Frage gestellt und ein geradezu chaotischer Zustand herbeigeführt wurde. Einesteils nahm man den Kampf auf gegen das Spezialistentum, gegen die Einengung des Horizontes auf beschränkte Gebiete, gegen die Anwendung mikroskopischer Analyse in den Geisteswissenschaften, für synthetische Betrachtung, für Universalismus, lebendige Totalität und Wechselwirkung aller Wissenschaften in einem Organismus. Andererseits stellte sich die Erkenntnis her, daß die verschiedenartigsten Blickpunkte wesentlich andersgeartete Einstellungen und Zielrichtungen bedingten, so daß die entgegengesetzten Methoden, die durch besondere Lagerung der Arbeitsgebiete gegeben sind, sich gegenseitig zu fördern und zu berichtigen haben. In der Literaturwissenschaft, die in die Mitte dieses Strudels gezogen wurde, gab es statt einer Methode auf einmal zwei Dutzend.

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Neben die altbewährte, aber beschränkte philologische Praxis, die man nicht ganz aufgeben konnte, traten die neuen Richtungen, mit deren Namen vom Anthropologischen, Biologischen, Charakterologischen, Deskriptiven, Ethnologischen, Formanalytischen, Geopsychischen, Historischen, Ideengeschichtlichen, Kosmischen bis zum Zentralproblematischen man ein ganzes Alphabet ausfüllen konnte. Die Programme begannen zuweilen mit radikaler Bankrotterklärung aller bisherigen Wissenschaftsbemühung und mit Ankündigung einer aus dem Zusammenbruch phönixgleich aufsteigenden Neubildung, bis dann den kreißenden Bergen ein Wesen entkroch, das man eigentlich schon kannte, wenn es auch noch nicht den großartigen Namen getragen hatte. Ein Forscher schien nichts zu gelten, wenn er nicht eine neue Methode benamst hatte, die an der Wissenschaftsbörse gehandelt wurde. Es war nicht nur in Deutschland eine Inflationszeit der Methoden, die inzwischen einer beruhigenden Stabilisierung der Kurse gewichen ist, nachdem erkannt wurde, daß die Unterschiede zum guten Teil weniger in der Forschungsweise als in der Darstellungsart lagen, in der persönlichen Bestimmung des Standortes und Blickpunktes, in der Gewichtsverteilung der Akzente, also in Fragen der künstlerischen Gestaltung. Die Freiheit künstlerischer Darstellung, die von der auf streng sachliche und unpersönliche Mitteilung ihrer Forschungsergebnisse eingeschränkten Wissenschaftlichkeit des Positivismus oft verschmäht worden war, hat den neue Wege suchenden Richtungen eine öffentliche Wirkung zurückgegeben, auf die alle Lehren sowohl der Kunstwissenschaft wie insbesondere der Nationalwissenschaft gemäß ihren Bildungsaufgaben Anspruch haben. Die Nationalliteratur kann nicht ein Reservat exklusiver Gelehrsamkeit sein, sondern sie ist ein allgemein zugängliches Eigentum der Nation. Die ihr dienende Wissenschaft hat nicht nur dem eigenen Gewissen zu folgen, sondern sie hat dies zu verantworten vor Volk und Gemeinschaft. Die Verwaltung des höchsten geistigen Besitzes darf sich nicht in zunftmäßiger Enge einkapseln, sondern muß heraustreten zu persönlichem Führertum, zu Werbekraft und gemeinverständlichem Unterricht. Lagen die Gefahren dieser Aufgabe früher in seichter Popularisierung, so drohte, sobald tiefdringende Darstellung selbst zum Wortkunstwerk werden und gleichwohl Wissenschaft bleiben wollte, die Wendung in das Gegenteil. Der Subjektivismus einer oft mehr verdunkelnden als erhellenden, geistreichen Künstelei, das Selbstgefühl fesselnder schriftstellerischer Originalität und der Wagemut eigenwilliger Konstruktion entgingen nicht immer der Versuchung, den Boden der Tatsachenforschung, über den man sich erheben wollte, |#f0042 : 18|

unter den Füßen zu verlieren und das Gewissen für unumstößliche Zuverlässigkeit zu verdrängen. Hier lag der Boden der kritischen Auseinandersetzung. Das starke neue Leben, das auf allen Gebieten der Geisteswissenschaft erwachte, das vom naturwissenschaftlich beengten Positivismus zu einem metaphysisch gerichteten Idealismus hindrängte, das den Übergang von der analytischen Methode zur synthetischen, von der Einzelbeobachtung zu großen Überblicken erstrebte und das zugleich der Möglichkeit tieferen Einblickes auf dem Wege der Intuition sich bewußt war, begründete sein Dasein zunächst mit schonungsloser Kritik an dem bisherigen Gange der Wissenschaft, also mit Methodologie, d. h. Prüfung der bisher eingeschlagenen Wege und des Wertes der bisher errungenen Ergebnisse. Ein großer Aufwand schien schmählich vertan, und kein anderes Zitat wurde lieber angewandt als die mephistophelische Ironie: Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist herauszutreiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider nur das geistige Band. Aber man brauchte nur ein paar Seiten in der Dichtung zurückzublättern, so stieß man auf das Faustwort, das der sich so absurd gebärdenden Jugend von den Alten entgegengehalten werden konnte: Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. Was in diesem Zeitpunkt als Generationsgegensatz in Erscheinung trat, war im Grunde ein uralter, im Wesen des Gegenstandes gegebener Unterschied. Schon Friedrich Theodor Vischer hat zu einer Zeit, als noch kaum von literarhistorischer Disziplin die Rede war, jene spöttische Gruppierung der Faustausleger in die Stoffhuber Scharrer, Karrer, Brösamle und die Sinnhuber Deuterke, Grübelwitz, Hascherl vorgenommen, die künftige Spannungen vorausahnte. Das größte Werk der deutschen Dichtung, das zugleich überzeitliches Denkmal der Menschheit ist, kann nicht allein aus dem nationalen, zeitlichen und persönlichen Zusammenhang seiner Entstehung erklärt werden, sondern fordert eine absolute Deutung seines Sinnes. Wenn nun die philologischen Stoffhuber nach Kritik des Textes, Quellennachweisen und Einzelerklärungen, die den Wortgebrauch des Dichters und seiner Zeit zu Rate zogen, die Entstehungsgeschichte unter Datierung jeder einzelnen Szene und unter Erkenntnis aller |#f0043 : 19|

Lebenszusammenhänge feststellten, so unterlagen sie der Neigung, Widersprüche in Form und Stil aufzuspüren und als Niederschlag verschiedener Arbeitsphasen zu erklären. Das Ganze war als persönliche Bekenntnisdichtung in entwicklungsmäßigem Zusammenhang mit besonderen Lebensproblemen Goethes und seiner Zeit zu sehen, wobei in relativierter Betrachtung die unbedingte Einheitlichkeit des Sinnes entschwand. Den philosophischen Deutern dagegen kam es immer auf das Ganze an, auf seinen Ewigkeitsgehalt, auf die von Goethes persönlichem Leben loszulösende metaphysische Idee, in deren Gestaltung kein Widerspruch zu finden war, wenn man nur den richtigen Schlüssel der Deutung besaß. Zu Vischers Zeiten glaubte man ihn mit der Hegelschen Philosophie in der Hand zu halten, später in anderen Systemen, und wo der Gedankengehalt nicht auszulegen war, gebrauchte man von außen herangebrachte Unterlegung, so daß der Wandel der philosophischen Faustdeutungen in seiner Art ebenfalls einen Relativismus darstellt, der durch die jeweilige persönliche Einstellung des Deuters und seine Bindung an die Weltanschauung des Zeitalters bedingt ist. Beide Parteien pflegten sich mit Geringschätzung zu mustern: die einen blickten von der Höhe ihres Siebenmeilenstiefelfluges mit Verachtung auf die Steinklopferarbeit des Wegebaus und den kleinlichen Kram nebensächlicher Tatsachen, durch die das Verständnis des Wesentlichen nur verbaut und zugeschüttet wurde; die anderen blickten mit Ingrimm auf die leichtfertige Anmaßung des Nichtwissenwollens, mit der offenkundliche Tatsachen beiseite geschoben oder umgebogen wurden, während blauer Weihrauchdunst das Ganze umnebelte. Und doch war die Möglichkeit des Zusammengehens da, wenn man den Schlüssel suchte in Goethes eigener Philosophie und Lebensidee, die in allen erfahrungsmäßigen Wandlungen doch einen ihm selbst bewußten einheitlichen Kern darstellt, und wenn man den Mut aufbrachte zu kritischem Verständnis und verstehender Kritik sowohl an dieser Lebensidee als an der künstlerischen Ausprägung, die sie in den äußeren Wandlungen des Werkes gefunden hat. Vischers Meinung war jedenfalls, daß beide Parteien, die aneinander vorbeiredeten, sich auf dem Holzwege befanden, und daß beide Methoden in ihrer einseitigen Zielsetzung falsch seien. Wenn er schon in seiner früheren Parade über die ersten Faustkommentatoren die späteren Stoffhuber als die Nationalgarde des gesunden Menschenverstandes, die Sinnhuber aber als das Linienmilitär der Philosophen

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bezeichnet hatte, so konnte er beide Truppen als die zwei Flügel einer Armee betrachten, die unter einheitlichem Kommando stehen sollte. Ihre gegensätzliche Bewegung erweist sich in diesem Bilde als Mangel strategischer Führung. Aber auch die Strategie bedeutet nichts Unveränderliches. Als ein System von Lehren, die durch jeden Feldzug auf neue Proben gestellt und bereichert oder berichtigt werden, ist sie unter dem Fortschritt der Technik, der Verbesserung der Waffen und dem Anwachsen des Materials im Wandel der Zeiten einer Umstellung, nicht zwar ihrer letzten Ziele, wohl aber ihrer Mittel unterworfen. Ebenso ist die Methodenlehre in ständigem Fluß der Entwicklung Gegenstand eines geistesgeschichtlichen Prozesses, in dessen rhythmischem Wechsel die stoßende Gegensätzlichkeit den Motor des Fortschreitens bedeutet. Jedes längere Beharren in einer einseitigen Richtung würde Erstarrung nach sich ziehen, und Stillstand bedeutet den Tod der Wissenschaft.

2. G e s c h i c h t l i c h e E n t w i c k l u n g d e r A u f g a b e n „Es gibt meines Erachtens keine bessere Methodologie als die Geschichte jeder Wissenschaft.“ A. H. L. Heeren (1797) a) Anfänge der Literaturwissenschaft Angesichts des chaotischen Bildes, das die methodologischen Streitigkeiten der letzten Jahrzehnte ergaben, glaubte Erich Rothackers „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ die Geschichte der neueren Literaturwissenschaft nicht anders darstellen zu können „denn als eine ziemlich diskontinuierliche Folge ungleich miteinander verbundener Versuche, sich polyhistorisch, philosophisch, kritisch, politischhistorisch, religionspolitisch, ästhetisch, schließlich philologisch und neuerdings wieder ‚ideengeschichtlich‘ des literarischen Stoffes zu bemächtigen, wobei erst ganz allmählich eine Tradition sich herausbildete“. Wir glauben gleichwohl, in der Entwicklung dieser Wissenschaft eine gesetzmäßige Folge wahrzunehmen, und vergleichen sie der Wendeltreppe eines Turmes, die sich spiralförmig emporschraubt und die gleichen Ausblicke unter Öffnung eines immer weiteren Horizontes wiederholt. Der Turm wächst erst von einer gewissen Höhe ab aus den Grundmauern der Gesamtwissenschaft heraus. Wenn heute bereits ein bequemer Aufzug zur Arbeitsstätte emporführt, so ist der Bau doch erst in mühsamer Arbeit von Jahrhunderten schrittweise |#f0045 : 21|

gefördert worden. Im Aufstieg überblicken wir die Stufenfolge und sehen ringsum bald auf das noch nicht bearbeitete Baumaterial herab, bald auf die Stätte, wo es behauen wird, bald erkennen wir die Fügung des Mauerwerkes, die Konstruktion der Träger und das Verhältnis zu den Nachbarbauten. Die geschichtliche Darstellung von Sigmund von Lempicki läßt die Literaturwissenschaft aus drei Quellen hervorgehen, die Literärhistorie, ästhetische Literaturkritik und Geschichtswissenschaft genannt werden. Wir können diese Entwicklungsgeschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung in allen ihren Zusammenhängen als paradigmatisch für die Entstehung der europäischen Literaturwissenschaft überhaupt übernehmen, um so mehr als das weniger bedeutende englische Parallelwerk von O'Leary denselben Weg geht. Nur werden wir statt Literärhistorie lieber Bücherkunde sagen und die Steigerung der geschichtlichen Betrachtung zur Erkenntnis des eigenen Wesens, zu nationalem Selbstbewußtsein und politischem Bildungswillen als vierte Tendenz hinzufügen. Dann ergibt sich ein Nacheinander von vier Gesichtspunkten: Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung. Fangen wir mit dem klassischen Altertum an, so hat es bereits seine Denker geschichtlich geordnet, aber nicht seine Dichter. Zur Erkenntnis entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge drang die Betrachtung der Dichtung nicht vor. Dagegen wurden der ästhetischen Kritik und der Stilkunde in Poetik und Rhetorik Grundlagen gegeben, und für Bücherkunde sorgte der berüchtigte Alexandrinismus.

Im Mittelalter stehen sich wiederum Bücherkunde und ästhetische Literaturkritik gegenüber. In deutschen Klöstern und Schulen wurden biographische Kataloge nach bibliothekarischem Bedürfnis hergestellt. Mönche wie Notker der Stammler von St. Gallen und Konrad von Hirschau, Schulmeister wie der Bamberger Hugo von Trimberg, Sammler wie Püterich von Reichertshausen reihen Namen von Dichtern und Titeln ohne Gruppierung und Zusammenfassung aneinander. Dagegen blüht die literarhistorische Umschau kritischen Charakters in weltlichen Chroniken, epischen Dichtungen (Gottfried v. Straßburg) und lyrischen Totenklagen. Geschichtlicher Rückblick wird weiter gepflegt in der Herleitung des Meistersanges von den zwölf alten Sängern, die vor Kaiser und Papst in Pavia Proben ihrer Kunst abgelegt haben sollen. Diese Legende pflanzt sich nun fort in Liedern und Berichten des 16. Jahrhunderts zu einer Zeit, da historische Kritik bereits entwickelt war. |#f0046 : 22|

Die Kritik ist eine Errungenschaft des Humanismus, dem allerdings weniger die Fragen der Literaturgeschichte als die nach dem Wesen der Dichtung, ihren Gesetzen, ihren Formen, ihrer Lehrbarkeit am Herzen lagen. Immerhin unternahm der berühmteste Renaissancepoetiker Julius Caesar Scaliger einen Vergleich zwischen den Alten und Modernen, der auf eine Rechtfertigung der poetae recentiores hinauslief und zu dem Grundsatz geschichtlichen Verstehens führte, nach dem jede Dichtung mit dem Maßstab ihres Zeitalters zu beurteilen sei. In Deutschland aber ließ schließlich der Wettbewerb mit den italienischen Humanisten den Stolz nationaler Selbstbesinnung ins Bewußtsein treten. Schon Conrad Celtis als Entdecker der ältesten deutschen Dichterin hat die Dramen der Hrotsvith von Gandersheim nicht nur in bibliophiler Sammlerfreude, sondern in patriotischer Begeisterung für die Vergangenheit des eigenen Volkes veröffentlicht. Als sein Nachfolger hat der Schweizer Joachim von Watt (Vadianus) an der Wiener Universität im Wintersemester 1512/13 die ersten Hochschulvorlesungen über altdeutsche Literatur gehalten, die unter dem Titel „De poetica et carminis ratione“ 1518 im Druck erschienen. Die literarhistorischen Kapitel seines Buches, die deutscher Volksepik wie geistlicher Dichtung des Mittelalters ihren Platz zwischen den antiken Literaturen und dem zeitgenössischen humanistischen Schrifttum zuweisen, fügen zum erstenmal die deutsche Dichtung in den Gang der Weltliteratur ein. Damit ist die erste Runde beschlossen. b) Zweite Runde: Reformations- und Barockzeit Der Kreisgang von Sammlung, Kritik, geschichtlicher Gliederung und Aufnahme in das Nationalbewußtsein beginnt von neuem. Ein durch die Renaissance und durch die Erfindung des Buchdrucks unendlich erweiterter Gesichtskreis regt die Wiederaufnahme bibliographischer Tätigkeit an. Nachdem schon der Abt Trithemius, der Entdecker Otfrids, in seinem „Catalogus illustrium virorum“ (1480) zur mittelalterlichen Form des Schriftstellerverzeichnisses zurückgekehrt war, worin der protestantische Theologe Flacius Illyricus ihm folgte, erfuhr die Bücherkunde eine entscheidende Förderung durch den großen Naturforscher Conrad Gesner, der nicht nur in seinem „Mithridates“ den ersten Versuch vergleichender Sprachbetrachtung machte, sondern in seiner „Bibliotheca universalis“ (1545) das materielle Fundament für eine allgemeine Geschichte der Literatur legte. Freilich blieb dieser bibliographische Grundriß auf Lateinisch, |#f0047 : 23|

Griechisch und Hebräisch als die sogenannten „heiligen Sprachen“ beschränkt. Auch die von den Humanisten entwickelte Kunst der Hermeneutik ist im Reformationszeitalter hauptsächlich bei der Bibelauslegung geblieben. Wenn durch Flacius Illyricus der „Heliand“ ans Licht gezogen und Otfrids Evangelienbuch herausgegeben wurde, geschah es, weil sie als geistliche Dichter und als Vorläufer von Luthers Bibelübersetzung in einem „Catalogus testium veritatis“ auftreten konnten und den Beweis lieferten, daß auch das Deutsche als eine heilige Sprache, in der Gottes Wort verkündigt wurde, anzusehen sei. Damit ist auch ein Hinweis auf die Größe der altdeutschen Heldendichtung, der die Zuneigung Kaiser Maximilians gegolten hatte, verbunden.

Die vollständige Säkularisierung der Literaturgeschichte ist erst im folgenden Jahrhundert erfolgt. Die Dichter der Barockzeit sind wieder zu literarhistorischen Exkursen und ästhetischer Kritik zurückgekehrt, und nach Opitz, Harsdörffer und Birken hat vor allem Hofmannswaldau in der Vorrede seiner Gedichte eine Skizze der Weltliteratur als Rückblick auf Vorläufer, Muster und Wurzeln seiner Kunst gegeben. Eine wissenschaftliche „historia de literatura“, die der „historia naturalis“ in einer universalgeschichtlichen Entwicklungsreihe gegenübergestellt wurde, hatte bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts Christophorus Mylaeus skizziert, lange bevor Francis Bacon in seinem Wissenschaftssystem ihr einen Platz als Teil der „historia civilis“ zuwies. Nun aber wurde der nationalen Literaturgeschichte die Aufgabe einer Gliederung gestellt, nicht nur der Eingliederung in die universale Literaturgeschichte, sondern auch der Gliederung in sich selbst. Der erste Versuch einer Periodisierung der deutschen Dichtung steht mittelbar in Zusammenhang mit jenem Dichterkreis, der der Opitzschen Reform Gefolgschaft leistete. Durch August Buchner, den Professor der Poesie in Wittenberg, war sein Schüler Karl Ortlob zu der Dissertation „De variis Germanae Poeseos aetatibus exercitatio“ (1657) angeregt. Nach einem von Scaliger für die römische Dichtung angewandten Schema und in einer Vergleichsform, in der später noch Herders „Abhandlung über die Ode“ die Lebensstufen der Dichtung entwickelte, wird eine Parellele zu den menschlichen Lebensaltern durchgeführt, wobei allerdings Martin Opitz und seinen Nachfolgern zuliebe an die „moribunda senectus“ noch eine fünfte Stufe „reflorescens felicitas“ angeschlossen wird. Schließlich wird in diesem Jahrhundert, ähnlich wie bei den Humanisten, eine kulturpatriotische Rechtfertigungstendenz aufs neue herausgefordert |#f0048 : 24|

durch die Überhebung anderer Völker. Namentlich ist es der vielberufene französische Jesuitenpater Dominique Bouhours gewesen, der durch seine freche Witzelei über die Undenkbarkeit eines deutschen belesprit (Entretiens d'Ariste et d'Eugène 1671) die Wache an die Gewehre rief. In aufgerütteltem Nationalstolz und in der Berufung auf große Vergangenheit, deren Denkmäler ans Licht gezogen werden mußten, bestand die Gegenwehr. Das ist die Tendenz, aus der Daniel Georg Morhofs „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie“ (1682) hervorging, der schon in seinem Titel die kulturelle Bindung von Nationalsprache und Nationaldichtung festlegte. c) Dritte Runde: Aufklärung und Sturm und Drang Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts setzt eine neue Sammeltätigkeit ein, die sich nicht mehr auf das Ganze, sondern auf die Nationalliteraturen bezieht. Während in Frankreich die Benediktiner von St. Maur ihre „Histoire Littéraire de France“ (1733) beginnen und während in England Cibbers „Lives of the Poets of Great Britain and England“ (1758) alle biographischen Materialien zusammenstellen, sammelt Gottsched Handschriften und Drucke des älteren deutschen Dramas und gibt in seinem „Nötigen Vorrat“ (1757) das Muster einer brauchbaren Bibliographie. Bodmer sieht aus den Schlössern Vorarlbergs die von Obereit entdeckten Handschriften des Nibelungenliedes aufsteigen und vermittelt in Herausgabe und Bearbeitung verschiedene Proben aus der Poesie des „Schwäbischen“ Zeitpunktes. In seinem „Charakter der Teutschen Gedichte“ (1734) war er vorher noch einmal zur gereimten Form der kritischen Literaturrevue zurückgekehrt und hatte sie zu einem geschichtlichen Überblick der Nationalliteratur durchgebildet. Inzwischen kamen die Fortschritte der anderen Nationen zur Auswirkung: die großen Perspektiven der französischen Aufklärung, die auf völkerpsychologische Schlüsse hinzielten, die tiefdringenden Erkenntnisse der englischen Ästhetik, die der Kritik eine neue Grundlage gaben, und die Entdeckung des Begriffes „Genie“, die auf die Individualität des Dichters und die Aufgaben des Verstehens hinlenkte. Der erste, der das alles in sich aufnahm, war Lessing. In den „Briefen die neueste Literatur betreffend“ gelangte er zur objektiven Tageskritik und in der „Hamburgischen Dramaturgie“ zur Technik des kritischen Vergleiches an Werken gleichen Stoffes aus verschiedenen Literaturen. Der in der klassischen Philologie geschulte Textkritiker |#f0049 : 25|

erkannte zugleich die Mängel der bisherigen germanistischen Herausgeberarbeit und legte für sich große lexikalische Sammlungen an, wie sie editorischer Arbeit als Grundlage dienen mußten. So zeigt das 18. Jahrhundert in seinen Ausblicken die Verbindung bisher getrennter Gesichtspunkte: die bloße Sammeltätigkeit wird durch die Gebote kritischer Textbehandlung gesteigert, wie die ästhetische Beurteilung durch philosophische Geschmacksbildung, die geschichtliche Betrachtung durch Parallelen und Vergleiche. Bei solcher Hebung der Erkenntnisse und Forderungen muß auch das Urteil über den Durchschnitt des Geleisteten anspruchsvoller werden, und es kann im letzten Viertel des Jahrhunderts so vernichtend lauten wie das des Popularphilosophen Gedike, der in der „Berlinischen Monatsschrift“ eine kritische Abrechnung mit dem Betrieb der geistlosen Buchgelehrten, Kompilatoren, Polyhistoren und gelehrten Schuster vornahm, bei denen Bücherkenntnis für Gelehrsamkeit und zusammengetragene literarische Nachrichten für Wissenschaft angesehen würden. Es heißt, die Weisheit der meisten Literarhistoriker bestehe darin, daß sie auf ein Haar zu sagen wissen, was andere Leute gedacht oder geschrieben haben, und daß sie von der Mühe des Selbstdenkens dispensiert zu sein glauben. „Nirgends ein allgemeiner Überblick, nirgends ein wichtiges oder wichtig scheinendes Resultat, nirgends Auflösung eines rätselhaften Problems oder Erklärung eines seltnern Phänomens am literarischen Horizont, nirgends ein Wink, wie und wozu die so mühsamgemächlich zusammen getragenen Materialien genutzt werden könnten.“ So hieß es im Jahre 1783 und hätte ebensogut 125 Jahre später geschrieben sein können, ist es doch am Anfang unseres Jahrhunderts mit fast gleichen Worten oft gesagt worden. So scheint sich die Wissenschaft im Kreise zu drehen, wie der Zeiger einer Uhr, fortschreitend von Sammlung des Stoffes, philologischer Kritik, vergleichender ästhetischer Analyse und geschichtlicher Betrachtung bis zur Selbstkritik und Abrechnung mit ihrem bisherigen Verlauf, dem die Forderung umfassender Totalität gegenübergestellt wird. Da ist der große Stundenschlag geistesgeschichtlicher Synthese gekommen, bei dem der Turm zittert, wenn das Mittagsgeläute aller Glocken auf einmal einsetzt. Zur gleichen Zeit, als Gedike seine Forderungen aufstellte, hatte sich bereits das großartige Programm einer neuen literarhistorischen Methodenlehre geformt, in der Johann Gottfried Herders dynamische Geschichtsbetrachtung ihre Ziele aufstellte. Die Dichtung bot sich dar als organischer Ausdruck des Geisteslebens einer Nation und zugleich |#f0050 : 26|

in ihrer Ganzheit als ein nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, Temperament, Klima und Akzent seine Gestalt wandelnder Proteus unter den Völkern. Den Geist der Literatur auf seiner Wanderung durch die Geschichte der Menschheit zu verfolgen, war die Aufgabe, in deren Problemstellung die mannigfaltigsten Fragen lagen: „Wie hat der Geist der Literatur sich nach den verschiedenen Sprachen geändert, in die er eingetreten? Was nahm er von dem an, was er vor sich fand? und was entstand für ein Ding aus der Vermischung und Gärung so verschiedener Materie?“ Vielseitigste Einwirkungen fließen in diesem Aufgabenkreis zusammen. Anregungen von Montesquieu, der schon in Bacon und Huarte seine Vorläufer hatte, wenn er die Eigentümlichkeit jedes Nationalgeistes aus klimatischen und anthropogeographischen Bedingungen erklärte, fanden ihr Gegengewicht in der Monadenlehre von Leibniz, wonach alle natürlichen Veränderungen einem inneren Prinzip entstammten, auf das äußere Ursachen ohne Einfluß waren. Dieser Gegensatz einte sich in einer genetischen Betrachtungsweise, bei der die Entfaltung der inneren Anlagen von Völkern und Individuen als ein immanentes Prinzip literarhistorischer Entwicklung erschien und die Analogie ein wichtiger Grundsatz der Deutung wurde. Hume und Winckelmann zeigten auf religionsgeschichtlichem und kunstgeschichtlichem Gebiet, wie geistige Entwicklungsprozesse im Zusammenhang eines Kultursystems zu erfassen waren. Während sie auf das Ganze gingen, wies Shaftesbury den Weg zu intuitiver Erschließung der Individualität. Die bei Vico vorausgenommene Lehre von den Kulturkreisen, deren jeder sein einmaliges Maximum im Gleichgewicht der Kräfte und in der vollen Entfaltung aller Anlagen erlebte, überwand den geradlinigen Fortschritts- und Vervollkommnungsgedanken der Aufklärung. So konnte nach Wartons Vorgang auch dem Mittelalter ein gewisses Recht zugeteilt werden. An den Anfang der Kultur aber führte die von Hamann übernommene Auffassung der Sprache als Urdichtung, durch deren metaphorische Hülle bis zu dem Kern der leidenschaftsbewegten Volksseele durchzudringen war. Es entsprach nicht der sprunghaften und relativistischen Betrachtungsweise Herders, zu einem geschlossenen lehrbaren System zu gelangen. Wohl aber sah er von Anfang an die verschiedenen Ziele in einem Wechsel analytischer und synthetischer, entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Anschauung nebeneinander liegen. Die sprachpsychologische Auffassung des Wortkunstwerkes erschien als erste Aufgabe. Daran reihte sich die geschichtliche Erkenntnis |#f0051 : 27|

des Stils, der sowohl in seinem individuellen Charakter als Ausdruck einer literarischen Persönlichkeit wie in seinem Zeitcharakter als Ausdruck des herrschenden Geschmackes zu verstehen war. Unabhängig von stilgeschichtlicher und geschmacksgeschichtlicher Deutung blieb die ästhetische Aufgabe der Kritik als einer Sache des anschauenden Gefühls und der eindringenden Intuition. Dagegen wurde die philosophische Einstellung der Hermeneutik wieder zu einer Abhängigkeit von Augenpunkt und Gesichtskreis, und verschiedentlich (in den „Briefen an Theophron“, in der Psalmenexegese der Schrift „Vom Geist der ebräischen Poesie“ wie in den „Briefen über das Lesen des Horaz“) wurden besondere Anweisungen vermittelt, die Dichtung aus dem Geist einer Zeit und einer Nation heraus historisch zu verstehen. So erscheinen Sprache, Geschmackswissenschaften, Geschichte und Weltweisheit als „die vier Ländereien der Literatur, die gemeinschaftlich zur Stärke dienen und beinahe unzertrennlich sind“. Philologie, Geschichte, Ästhetik und Philosophie werden zu vereintem Wirken berufen: „Studieren heißt freilich zuerst den Wortverstand erforschen, und das so gründlich, als es zu folgenden Stücken gehört: man suche aber auch mit dem Auge der Philosophie in ihren Geist zu blicken, mit dem Auge der Ästhetik die feineren Schönheiten zu zergliedern, die den Kritikern sonst meist gemeiniglich nur im Übermaß erscheinen, und dann suche man mit dem Auge der Geschichte Zeit gegen Zeit, Land gegen Land und Genie gegen Genie zu halten.“ Hatten schon die „Fragmente“ von 1767 ein Gegenstück zu Winckelmanns Kunstgeschichte gefordert in einer vom Gedanken immanenter Entwicklung beherrschten Literaturgeschichte, die den entweihten Namen einer Geschichte des menschlichen Verstandes als Werk historisch-philosophischer Scheidekunst wieder zu Ehren bringe, so blieb der Plan bis zu den „Briefen zur Beförderung der Humanität“ (7. und 8. Samml. 1796) lebendig. Ausgeführt hat Herder selbst nur einen kleinen Teil davon in seiner Schrift „Vom Geist der ebräischen Poesie“ (1781/83). Das ganze 19. Jahrhundert indessen steht im Zeichen seiner Anregungen, und Franz Schultz hat in seinem Aufsatz „Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Wilhelm Scherer“ treffend hervorgehoben, wie die verschiedensten Richtungen der Neuzeit sich auf diesen Propheten hätten berufen dürfen. Ja, noch vor wenigen Jahren hat der Deutschamerikaner Martin Schütze von den faktualistischen und metaphysizierenden Einseitigkeiten neuer Richtungen, die er der Kritik unterzog, wieder zur Herderschen Methode zurückführen wollen. |#f0052 : 28|

d) Vierte Runde: Klassik und Frühromantik Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann eine neue Sammeltätigkeit, auf die wiederum Kritik und Hermeneutik folgten. Zunächst ging Herders Saat auf in der sogenannten „Allgemeinen Literärgeschichte“, wie sie in Göttingen durch den orientalischen Theologen Johann Gottfried Eichhorn und den Ästhetiker Friedrich Bouterwek betrieben wurde. Hält man vergleichsweise Umschau unter den Zeitgenossen, so trifft man auf die „Handbücher“ von Bouginé und Wachler, die kaum etwas anderes als Bücherkunde geben. Die Göttinger aber gingen zur Darstellung über. Mit ungeheurem Stoffhunger wagten sie sich, wie Eichhorn schreibt, „in den Ozean der Literatur, um denen die ihn später durchschiffen wollten, Zeit und Mühe zu ersparen“. Im Dienste eines polyhistorischen Unternehmens, der „Allgemeinen Geschichte der Künste und Wissenschaften“, legten sie in Dutzenden von Bänden die damals erreichbaren Daten des vorschristlichen und europäischen Schrifttums einschließlich der Wissenschaftsgeschichte innerhalb großer Perioden in parallel laufenden Bahnen nebeneinander. Bouterwek, der in seiner zwölfbändigen „Geschichte der Poesie und Beredsamkeit“ (180119) die einzelnen Nationalliteraturen Italiens, Spaniens, Portugals, Frankreichs, Englands, Deutschlands aufeinander folgen ließ, erwog auch eine andere Darstellungsweise, nämlich eine „synchronistische Bearbeitung der Fortschritte des ästhetischen Geistes und Geschmacks in den verschiedenen Sprachen des neueren Europas“. Das hätte dem Herderschen Programm, die Wanderung des Geistes der Literatur durch die Geschichte der Menschheit zu verfolgen, noch besser entsprochen; dieser Gesichtspunkt trat aber nur im systematischen Sachregister des 12. Bandes in Erscheinung. Der gefühlsselige und gelehrte Hofrat Bouterwek ließ seinen Geist in vielen Farben funkeln; er stand im Zwielicht zwischen Sturm und Drang und Romantik; er war Kantianer und gab zugleich als Popularphilosoph eine Sammlung zur Philosophie des Lebens und zur Beförderung der häuslichen Humanität heraus; er war nicht nur Verfasser des „Graf Donamar“ und anderer empfindsamer Romane, sondern er ließ auch Vorlesungen über Ästhetik drucken. So stand er in einem Zwiespalt zwischen Gelehrsamkeit und Dichtung, den er darstellerisch nicht ganz bewältigen konnte. Die neue Situation war nun die, daß die Schranken zwischen registrierender Gelehrsamkeit und schöpferischem Schauen niedergelegt waren. Das Dichtertum kam in der Beobachtung seines eigenen |#f0053 : 29|

Wesens wieder zu Wort. Wenn die Weimarer Dioskuren noch bei älteren Fragestellungen blieben, indem Goethes Autobiographie den Mutterboden seines dichterischen Werdens in einer ichbezogenen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts fand, während durch Schillers Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ die jahrhundertelang von Franzosen und Engländern erörterte „querelle des anciens et des modernes“ in neuer Optik zu einem gewissen Abschluß gebracht wurde, fühlten sich die Romantiker als Herders Diadochen und teilten sich in die Fülle der von ihm hinterlassenen Probleme. Friedrich Schlegel, der ursprünglich gleichfalls ein Winckelmann der Poesie werden wollte, gab einen Beitrag zur Kulturkreislehre, indem er die Schulen der griechischen Poesie in ihrem Gang von der Natur durch Bildung zur Schönheit und Erhabenheit des attischen Höhepunktes und in ihrem Wiederabsinken zu Luxus, Eleganz und Entartung des Alexandrinismus als Paradigma gesetzmäßiger Entwicklung darstellte. In seinem weiteren Werdegang kehrte sich der Prophet der progressiven Universalpoesie, als welche er die Romantik verkündete, rückwärts zum Feld der Geschichte und endete schließlich nach Durchgang durch die Anfänge vergleichender Sprachwissenschaft mit seinen letzten Vorlesungen über „Philosophie der Sprache und Worte“ (1830) in Literaturmetaphysik. Fiel ihm das Erbe der Herderschen Sprachlehre zu, so war der Formsinn seines älteren Bruders August Wilhelm, der nicht nur als Übersetzer in Herders Fußstapfen trat, vor allem zur ästhetischen Kritik berufen. In seinen Vorlesungen führte er neben der systematischen Trennung klassischen und romantischen Stils zuerst eine soziologische Gliederung der deutschen Literaturgeschichte durch, indem er mönchische, ritterliche, bürgerliche und gelehrte Epochen schied. In einer echten Gelehrsamkeit, die den schwerfälligen Wust des Nichtwissenswerten beseitigte, erblickte er zugleich ein wichtiges Bildungselement dichterischen Schaffens. Die pragmatische Sinngebung, die damit der Literaturgeschichte auferlegt wurde, offenbarte wieder den auf Werte ausgehenden kritischen Gesichtspunkt. Der eigentliche Gelehrte unter den Frühromantikern aber war Friedrich Daniel Schleiermacher, der ebenso wie Wilhelm v. Humboldt aus dem Herderschen Programm die Aufgaben der Hermeneutik in Angriff nahm als Kunst der Auslegung und Deutung mit dem Ziel eines vollkommenen Verstehens der Individualität und ihrer stilistischen Ausdrucksform. Durch seinen Schüler August Boeckh, der mit den Heidelberger Romantikern in Verbindung stand, wurde |#f0054 : 30|

die Erklärung des geistigen Zusammenhanges als Zentralproblem in den Mittelpunkt der philologischen Enzyklopädie gestellt. Die geschichtlichen und nationalen Aufgaben dagegen fielen Ludwig Tieck zu, dem früher schon Herdersche Lehren durch Erdwin Julius Koch vermittelt waren. Hatte doch dessen Programm „Über deutsche Sprache und Literatur“ (1793) ein philologisches Studium vom Standpunkt der Nationalidee aus gefordert. Tiecks enthusiastische Vorrede zu seinen „Minneliedern aus dem schwäbischen Zeitalter“ (1803) war es nun, die Jakob und Wilhelm Grimm für das Studium der deutschen Altertumswissenschaft gewann. e) Anfänge der Nationalwissenschaft Will man eine fünfte Runde mit dem Eintritt in das 19. Jahrhundert beginnen lassen, so liegt die Caesur nicht zwischen den Klassikern und den Romantikern, sondern zwischen der älteren und jüngeren Romantik. Die Durchführung Herderscher Gedanken kam noch nicht zum Abschluß, aber sie bildete die Plattform für einen Aufstieg, der in neuem Ansatz gewissermaßen von vorne anfangen mußte. Wenn durch die jüngere Romantik die Germanistik als Nationalwissenschaft ausgebaut und im Sinne Herders zur Wissenschaft vom deutschen Geiste, ja mehr noch vom deutschen Volkstum erhoben wurde, so forderten die neuen Gesichtspunkte eine Wiederaufnahme grundlegender Sammeltätigkeit, eine Entdeckung und Bergung bisher unbeachteter Schätze, die der Auslegung harrten. Was Arnim und Brentano als Sammler des Volksliedes taten, geschah von Joseph Görres für die Volksbücher, von den Brüdern Grimm für Volksmärchen und -sagen, von Savigny als Begründer der historischen Rechtsschule für das Volksrecht. Auch Eichendorff, der jüngste unter den Heidelberger Romantikern, ist hier zu nennen. Er war der einzige, der in nachromantischer Zeit noch zur Abfassung einer „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“ (1846) gelangte. Er blieb dabei sammelnder Liebhaber. Im Durchschweifen der deutschen Literatur suchte er überall das Grundwesen der Volkspoesie auf Quellen religiösen Erlebens zurückzuführen. Von den vier Gesichtspunkten des Aufbaues, die er ähnlich wie Herder als ästhetisch, chronologisch-geographisch, national und religiös unterschied, war ihm der religiöse der umfassendste; er schloß auch den nationalen in sich, denn alle Poesie war als der seelische Leib der inneren Geschichte der Nation aufzufassen; die innere Geschichte der Nation aber fand Eichendorff in ihrer Religion. |#f0055 : 31|

Was dem allem zugrunde liegt, ist eine kollektivistische Auffassung vom Volksgeist, dessen unbewußtes Wirken als Realität, nicht als Abstraktion galt. Man glaubte an ihn. Wenn der Individualismus der Frühromantik in A. W. Schlegels Rezension der Grimmschen „Altdeutschen Wälder“ (1815) an dem aristokratischen Bekenntnis festhielt, das Erhabene und Schöne könne zu allen Zeiten nur ein Werk ausgezeichneter Geister sein, machten die Angegriffenen die verspottete Andacht zum Kleinen ernstlich zu ihrer Losung, denn in jedem Laut und Zeichen vernahmen sie die schöpferische Sprache und singende Natur der Volksseele, darin Poesie, Sage und Geschichte eins wurde. Während nun in stiller leidenschaftsloser Arbeit die Methoden der klassischen Textphilologie durch die kritischen Ausgaben der Beneke, Lachmann und Haupt auf die werdende germanische Altertumswissenschaft übertragen wurden, schlug das Dichtertum Ludwig Uhlands in biographischer Darstellung, Sagenforschung und kritischer Volksliedersammlung eine Brücke zur Gelehrsamkeit und suchte jenseits der eigentlichen Literatur in Mythos, Sage und Volksgesang die nationalsten Erzeugnisse des geistigen Lebens. Während vornehme Dilettanten wie die Herren von Laßberg, von Meusebach, von Aufseß die Schätze der Vorzeit zusammentrugen, wie es dem Sammeltrieb der Biedermeierzeit entsprach, hielt die philologische Arbeit zugleich den Zusammenhang mit Sprachwissenschaft, Mythologie, Rechtsgeschichte und politischer Geschichte aufrecht. Die Einheit der Ziele trat hervor auf der ersten Germanistentagung, die 1846 in Frankfurt a. M. die Brüder Grimm und Lachmann mit den Historikern Dahlmann und Gervinus im Bekenntnis zu einer Wissenschaft vom deutschen Wesen verband. Damals entstand der Einheitsbegriff einer Germanistik, der nachmals durch die Neubildungen „Deutschkunde“ und „Deutschwissenschaft“ charakterisiert worden ist. Es war eine Zeit politischer Hochspannung. Der Volksgeist, der sich in der deutschen Erhebung von 1813 als mächtig wirkende Kraft offenbart hatte, blieb auch weiter unterirdisch tätig trotz aller Unterdrückung. Wie ein Vulkan, dessen Ausbruch bevorsteht, rumorte er in der Bewegung, die auf deutsche Freiheit und deutsche Einheit gerichtet war. Die Literaturgeschichte trat in engste Beziehung zur Politik, und die Übertragung der Gegenwartsspannungen auf die Vergangenheit berief die Geschichtsforscher auf das Feld der Literaturbetrachtung. So war es auch in anderen Ländern. In England war der Historiker Henry Hallam der erste, der eine wirkliche Literaturgeschichte schrieb in seiner „Introduction to the Literature of Europe

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in the Fifteenth, Sixteenth and Seventeenth Century“ (18371839). In Deutschland aber entstand genau zu derselben Zeit die erste große Gesamtdarstellung der „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen“ als Werk eines politischen Historikers, des Georg Gottfried Gervinus, dessen fünf Bände (erste Auflage 183540) in ihrem durchgebildeten Aufbau den im Stoff erstickenden „Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur“ von August Koberstein (1827) überragten. Nicht die großen Künstler, sondern die gesinnungsstarken Ideenträger und Repräsentanten des Zeitgeists waren die Helden des Gervinus: der Volksgeist in seiner nie versiegenden Kraft bildete durchgehendes Thema und Leitmotiv des Aufbaues. Das Zeitlose und Überzeitliche blieb gleichgültig; die Goethesche Idee einer Weltliteratur wurde bekämpft; nur das Eigenleben der Nationalliteratur sollte gesucht und dargestellt werden. Mit belletristischer Kritik wollte Gervinus nichts zu tun haben; schon 1833, als er von der Literaturgeschichte als werdender Wissenschaft sprach, ließ er die Ästhetik nur als Hilfsmittel gelten, etwa in der Bedeutung, die für den Historiker die Politik habe. Tatsächlich aber war selbst dem Literarhistoriker Gervinus die Politik viel wichtiger als die Ästhetik. Die ästhetische Erziehung, das Ideal der klassischen Zeit, hatte ihre Aufgabe erfüllt; nun sollte die Literaturgeschichte als „Stimme der patriotischen Weisheit und Verbesserin des Volkes“, wie Herder sie genannt hatte, zu nationalem Selbstbewußtsein und tatkräftigem Wollen, zu Staatsgesinnung und politischer Arbeit am Aufstieg der Nation wirken. Von der Dichtung war für die Zukunft nichts mehr zu erhoffen; die höchste Blüte der Literatur, auch wenn sie keinem Maximum der Gesamtkultur entsprach, gehörte der Vergangenheit an. „Unsere Dichtung hat ihre Zeit gehabt; und wenn nicht das deutsche Leben still stehen soll, so müssen wir die Talente, die nun kein Ziel haben, auf die wirkliche Welt und den Staat locken, wo in neue Materie neuer Geist zu gießen ist.“ So ist im vierten Band zu lesen. Mit anderen Worten: „Die Literatur ist tot; es lebe die Literaturgeschichte als Erweckerin zu tätigem Leben.“ Es war eine merkwürdige Mischung romantischer und jungdeutscher Tendenzen, die beide von Gervinus verabscheut wurden und von denen er gleichwohl berührt war. Romantisch mutet der rückgewandte historische Sinn an und die Ideologie des Volksgeistes, jungdeutsch die Richtung auf das politische Leben der Gegenwart. Jungdeutsch gebärdete sich Gervinus gegenüber den Romantikern, romantisch gegenüber den Jungdeutschen, deren verwandte Einstellung er verkannte. |#f0057 : 33|

Gerade die Kräfte seiner Zeit, die er der Dichtung entziehen und dem politischen Leben zuführen wollte, waren ja innerhalb der Zeitdichtung um dieselbe Gegenwartsforderung politischer Zielsetzung bemüht. Um so schmerzlicher traf die Verleugnung der politischen Zeitdichtung ihre Vertreter. Mit den dichtenden Zeitgenossen hat Gervinus es gründlich verdorben, indem er die deutsche Literaturgeschichte mit Goethes Tod aufhören ließ und einen Schlagbaum errichtete, der noch mehrere Jahrzehnte, wenn auch angefochten, an seinem Platze blieb. Man begnügte sich nicht mit dem Widerspruch gegen solchen Historismus, sondern der Protest gewann praktische Gestalt, indem nun gerade die jungdeutschen Literaten und politischen Dichter sich auf das Feld verlegten, das bei Gervinus links liegen geblieben war: die Literatur der Gegenwart. Neben die Literaturgeschichte trat damit die Literaturkritik, denn alle die sogenannten Literaturgeschichten der neuesten Zeit, sei es, daß ihre Verfasser Wolfgang Menzel, Heinrich Laube, Ludwig Wihl, Heinrich Kurz, Johannes Scherr, Rudolf Gottschall oder sogar Julian Schmidt hießen, waren, wie Friedrich Hebbel gegenüber Wihl feststellte, doch im wesentlichen kritische Repertorien. Oder sie gehörten sogar zur Literaturpolemik wie Heinrich Heines ursprünglich für französische Leser bestimmte Auseinandersetzung mit der „Romantischen Schule“, in der Schillers Polarität von naiv und sentimentalistisch unter saintsimonistischem Einfluß in die Zweiteilung von Hellenen und Nazarenern umgeschaltet wurde. Was er in seiner Münchener Zeit vergeblich angestrebt hatte, wurde einem anderen politischen Dichter 1849 zuteil: Robert Prutz erhielt eine außerordentliche Professur der neueren deutschen Literaturgeschichte an der Universität Halle. Weitere Dichter fanden später Sinekuren an den Technischen Hochschulen. Aber das Extraordinariat an den Universitäten bedeutete für mehrere Jahrzehnte eine Unterordnung der neueren Literaturgeschichte als Anhängsel der germanistischen Wissenschaft. Das Ringen um wissenschaftliche Anerkennung wurde schließlich einer der psychologischen Gründe für die Philologisierung des Faches, das in exakter Tatsachenforschung seine Gleichberechtigung erweisen wollte. Nun aber gab es noch eine wissenschaftliche Großmacht, die die Verwaltung der Literatur als Ausdruck des ganzen geistigen Lebens im weitesten Sinne für sich in Anspruch nehmen durfte: die Philosophie. Nach Herders Einteilung fiel ihr die Deutung der Kunstwerke aus dem Geist ihrer Zeit zu. Auch die biographische Deutung großer Persönlichkeiten lag zunächst in den Händen der Philosophen. So |#f0058 : 34|

entstanden Klassikerbiographien wie Hofmeisters „Schiller“ (1835 bis 1842), Danzel-Guhrauers „Lessing“ (185053), Hayms „Herder“ (187785) und schon vorher dessen „Romantische Schule“ (1870), die mehr Biographienkranz als Geistesgeschichte war. Aber schon vorher hatte der spekulative Geist den ganzen Bezirk der Künste unter seine Herrschaft gezwungen. Über Herder hinaus war aus Klassik und Romantik das gewaltige Denksystem Hegels erwachsen, das die ganze Weltgeschichte als selbstbewußten Gang des absoluten Geistes deutete und in diesem grandiosen Bau auch den Künsten ihre gesetzmäßige Funktion zuwies als Vorstufen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung der Vernunft. In der Einzelerklärung der Dichtung freilich, die nicht nach dem Geist ihrer Zeit, sondern nach dem der Hegelschen Philosophie eingestellt wurde, führte die schülerhafte Anwendung des dialektischen Dreischrittes manchmal zu seltsamen Blüten. Beispielsweise hat H. F. W. Hinrichs in seiner Auslegung „Schillers Gedichte nach ihren historischen Beziehungen und ihrem inneren Zusammenhang“ (1837) die Meisterballade „Der Kampf mit dem Drachen“, das unreife Jugendgedicht „Graf Eberhard der Greiner“ und den matten Balladennachklang „Der Graf von Habsburg“ im Gegensatz zur Chronologie wie zur ästhetischen Bewertung in eine aufsteigende Reihe gebracht und vom rechten Schillerverständnis verlangt, sie in dieser Folge zu lesen, weil im ersten der Held, der sich selbst bezwingt, im zweiten der Held, der andere bezwingt, im dritten der Held, dem Neigung und Gesinnung mit Tat und Handlung in Gehorsam und Demut vor Gott eins geworden sind und der dadurch die völlige Einheit mit den allgemeinen vernünftigen Gesetzen erreicht hat, das Thema bilden. Diese Art abstrakter Hermeneutik ist allerdings von jeder Gabe künstlerischen Verstehens verlassen. Aber auf der anderen Seite darf keineswegs verkannt werden, daß der geschichtsphilosophische Bauplan der dialektischen Methode zu großartiger Sinnesdeutung der Gesamtentwicklung gelangen konnte und vielleicht die einzige Möglichkeit einer darstellerischen Bewältigung der Weltliteratur bildete. So hat Karl Rosenkranz („Die Poesie und ihre Geschichte“, 1855) den Gang des objektiven Geistes in der Stufenfolge von Freiheit, Wahrheit und Schönheit durch die Weltliteratur verfolgt und Moritz Carrière („Das Wesen und die Formen der Poesie“, 1859; „Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung“, 1863) den Aufbau der gesamten Menschheitsdichtung nach den drei Entwicklungsstufen Natur, Gemüt und Geist zu gliedern unternommen. Derartige Versuche einer großen geschichtswissenschaftlichen |#f0059 : 35|

Systematik nahmen allerdings auf die volkhaften Unterschiede und sprachlichen Formen wie auf die geschichtlichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen wenig Rücksicht und griffen aus der literarischen Überlieferung immer nur das heraus, was sich in die Deduktion einfügen wollte. f) Positivismus Gegen eine Vergeistigung, die zur Abstraktion und metaphysischen Spekulation hindrängte, erhob sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts der literarhistorische Positivismus. Eine realistische Beschränkung in bezug auf Zeit und Raum und eine intensivere Verstofflichung bedeutete bereits die literaturästhetische Richtung Hermann Hettners, der von den Junghegelianern, von Feuerbachs sensualistisch-naturalistischer Schule seinen Ausgang genommen hatte. Wenn seine „Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ (1855 ff.) einen Querschnitt zog durch die europäische Literatur des Aufklärungszeitalters unter Trennung der drei hauptbeteiligten Länder England, Frankreich und Deutschland, so wurde das gesamte Geistesleben dieser Gebiete in allen seinen philosophischen und ästhetischen Bewegungen beleuchtet mit der ausgesprochenen Absicht, nicht Geschichte von Büchern, sondern Geschichte von Ideen zu geben. Die Grundrichtung des Zeitgeistes, die für Gervinus nebensächlich erschienen war, trat in den Vordergrund, während der Blick für den Organismus der Nationalliteratur in seiner volkhaften Raumgebundenheit über den Querverbindungen verloren ging. Auf diese Kräfte der Eigenkultur wurde nun aber von anderer Seite und in anderem Sinne wieder das Augenmerk gelenkt, als der von Auguste Comte in Frankreich begründete Positivismus zur Herrschaft kam, der unter Ablehnung jeder Transzendenz und Metaphysik sich an exakte Beschreibung des Gegebenen und an Erkenntnis kausaler Zusammenhänge nach naturwissenschaftlichen Gesetzen hielt. In Hippolyte Taines „Histoire de la littérature anglaise“ (1864) wurde seine Anwendung durchgeführt. Mit dem hier vollzogenen Ausbau der Milieutheorie, deren Keime bis auf Montesquieus Lehre vom Klima zurückgehen, war ein strenger Determinismus Postulat geworden, der den einzelnen und sein Werk durch die Umwelt bedingt sein ließ und damit wieder einen Übergang zur Kollektivbetrachtung anbahnte. Wenn gleiche äußere Umstände gleiche Produkte hervorbringen mußten, so war der individuelle Heldenbegriff, wie ihn ein Thomas Carlyle gepflegt hatte, so gut wie preisgegeben, und von ferne |#f0060 : 36|

wurde bereits das Ideal einer „histoire sans noms“, das Comte sogar zu einer „histoire sans peuples“ steigern wollte, gesehen. Auch hier sind die mächtigen Nachwirkungen Hegels noch zu verspüren, der den einzelnen als ausführendes Organ des Weltgeistes betrachtete, aber diese Teleologie ist nunmehr in ein mechanisches Walten naturgesetzlicher Kräfte aufgelöst. In Deutschland ist es Wilhelm Scherer gewesen, der den zeitgemäßen Positivismus mit dem Historismus eines Gervinus vereinigte. Vor seinen Augen stand ein ähnliches Programm wie das Herders, nur war es in ausgesprochener Weise national zusammengeschlossen zum Begriff einer universalen Wissenschaft vom Deutschtum, worin Grammatik, Literatur, Charakter- und Kulturgeschichte der Nation zusammengefaßt wäre. Aus historischer Selbsterkenntnis war ein System nationaler Ethik zu gewinnen. Diesem Ziel wollte auch die „Geschichte der deutschen Literatur“ (1883) dienen als ein Volksbuch im Geiste des Liberalismus, das die aus der Zeit des Vormärz stammende religiös beengte populäre Literaturgeschichte von Vilmar (1845) zu verdrängen bestimmt war. Scherer kam von Sprachwissenschaft und Textphilologie her, von Jakob Grimm und Müllenhoff. Aber die Romantik, aus deren Geist die germanische Wissenschaft hervorgegangen war, erschien jetzt bereits als ein verklungenes Märchen. Nicht die Geschichte noch die Philosophie, sondern die Naturwissenschaft galt als führende Disziplin der Zeit; ihr gleichzukommen an Exaktheit der Methoden und Sicherheit der Ergebnisse, wurde als Kriterium der Wissenschaftlichkeit überhaupt angesehen. An Stelle der inneren Gesetze, denen sich die Darstellung des Gervinus unterworfen hatte, mußte eine äußere Gesetzmäßigkeit von mathematischer Präzision treten, die doch nichts anderes war als geschichtsphilosophische Konstruktion. Unter Einfluß von Comte, Buckle, Mill, Taine war die Entwicklung der Dichtung als kausal bedingter Naturprozeß aufzuzeigen. Die mechanische Generationstheorie des Historikers Ottokar Lorenz vermittelte mit der Aufstellung dreihundertjähriger Perioden ein brauchbares Zahlenschema und so ergab sich im Wechsel männlicher und weiblicher Zeitabschnitte eine schicksalsmäßige Wellenbewegung, die in den Jahren 600, 1200 und 1800 ihre Höhepunkte fand. Ob auch schon zu Christi Geburt und 600 Jahre vorher Gipfel verlorener Urdichtung anzusetzen wären und ob für 2400 die Gewißheit neuen Glanzes vorherzusehen sei, war nicht ausgesprochen. Aber für solche methodische Reflexion ist überhaupt nur in der Einleitung Platz. Die Darstellung selbst, die das Gerüst mit glänzenden Charakteristiken voller

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Sinn für Individualität umkleidet und der großen geistesgeschichtlichen Ausblicke nicht entbehrt, ist alles andere als die Konstruktion eines öden Mechanismus. Der Bau steht fest, auch wenn man das Gebälk der Hilfskonstruktion ihm entzieht. Eine neue Plattform war erreicht, indem man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die neuere Literaturgeschichte als eine philologische Disziplin zu organisieren begann. Nun setzt im Zeitalter des Positivismus die sechste Runde ein. Wieder ist Sammeln und Herausgeben der Anfang. Der erste ordentliche Fachvertreter an der Universität Göttingen, der von der Journalistik herkommende Karl Goedeke, widmete seine wissenschaftliche Arbeit den Grundsteinen, indem er in seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung“ eine neue Bücherkunde schuf, die sich als unentbehrliches Fundament aller Forschung erwies. In seiner Historisch-Kritischen Schiller-Ausgabe (186776) organisierte er unter Teilnahme klassischer Philologen eine vorbildliche wissenschaftliche Klassikerausgabe, die allerdings den literarhistorischen Ansprüchen mancherlei schuldig blieb. Auch der in München Schule bildende Michael Bernays suchte sein Verdienst darin, die streng kritischen Grundsätze der klassischen Philologie auf das Studium der neueren Literatur zu übertragen. Künstlerisch gehandhabte Textkritik und Textvergleichung blieben für ihn die Grundlagen aller feinsinnigen Deutung und Stilbeobachtung, die große Ausblicke in die Weltliteratur suchte, ohne doch zur Zusammenfassung zu gelangen. Über solche Vorarbeiten war Wilhelm Scherer, der konstruktive Kopf, der große Kombinationen liebte und die Küstenschiffahrt verabscheute, hinausgekommen. Er hatte schon im Jahre 1868 ausgesprochen: „Wir sind es endlich müde, in der gedankenlosen Anhäufung wohlgesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken.“ Die folgende Generation (nicht nur seine Schule) hat indessen diese Müdigkeit nicht gekannt. Hatte Scherers letzter Blick noch der großen Weimarer Goethe-Ausgabe gegolten, die aus den schier unerschöpflichen Schätzen des endlich erschlossenen Nachlasses aufzubauen war, so fand nun ein ganzes Geschlecht von Forschern Beschäftigung in Textkritik, Datierung, Kommentierung und aller damit zusammenhängenden, keineswegs nutzlosen Kleinarbeit, die die volle Beherrschung einer exakten wissenschaftlichen Methode beanspruchte. Der gewissenhafte Dienst am Wort brachte die Andacht zum Kleinen aufs neue zu Ehren, aber zugleich die Gefahr, daß Akribie in Mikrologie ausartete. Bausteine wurden zusammengetragen und behauen, ohne daß den fleißigen Steinmetzen der Aufriß des |#f0062 : 38|

weiteren Baues vor Augen stand. Das gilt nicht nur von der textphilologischen Leistung, sondern ebenso von den stoffgeschichtlichen Reihen, den motivgeschichtlichen Vergleichen, den stilgeschichtlichen Parallelen, den festgestellten Quellen, Vorbildern und Einflüssen und den Beobachtungen zur poetischen Technik, die unermüdlicher Sammeleifer ohne letzte geistige Durchdringung zur Strecke brachte. Als Aufgabe der Könige, die das Werk der Kärrner zu nutzen hatten, galt damals die große Monographie. Dem Berliner Nachfolger Scherers, Erich Schmidt, der in souveränem Kennertum eine königliche Erscheinung darstellte, war in jungen Jahren die zweibändige Biographie Lessings geglückt, die den Helden in den Mittelpunkt seiner Zeit stellte und in dem ihn umgebenden Netz, das alle Fäden literarischer Beziehungen verknüpfte, eine Enzyklopädie der Literatur des 18. Jahrhunderts entrollte. Der Wiener Schererschüler Jakob Minor hat seine ähnlich angelegte Schillerbiographie nach dem zweiten Band, der bis zum „Don Carlos“ führte, liegen lassen; noch ärger erging es Richard Weltrich, dessen Lebenswerk auf 900 Seiten nur bis zu den „Räubern“ gelangte. Es lag nicht an der philologischen Methode, wie es sich hier zeigt, denn Weltrich betrachtete den Ästhetiker Friedr. Theod. Vischer als seinen Lehrer. Auch der Philosoph Wilhelm Dilthey kam mit seinem Schleiermacher (1870) nicht über den ersten Band hinaus. Es lag an dem naturwissenschaftlichen Vollständigkeitswahn und der Tatsachenanbetung des Positivismus, die sich ad absurdum führte. Es mußte sich herausstellen, daß die enzyklopädische Biographie, die den gesamten Stoff nicht nur verarbeitete, sondern wiedergab, indem sie zugleich Nachschlagebuch für alle Lebensdaten und Beziehungen, Erschließung der ganzen inneren Entwicklung und Kommentar aller Werke sein wollte, formlos werden mußte und den Darsteller vor künstlerisch unlösbare Aufgaben stellte. Die Vorstellung, welche Ausmaße eine nach solchen Grundsätzen unternommene Goethebiographie hätte in Anspruch nehmen können, ist schwindelerregend. Einmal hätte dieses Werk erst nach der großen Weimarer Ausgabe, deren Abschluß mehrere Jahrzehnte erforderte, richtig in Angriff genommen werden können; sodann hätte die Kraft und Lebensdauer eines einzelnen zur Bewältigung nicht ausgereicht. Es ist bezeichnend, daß 1885 in Weimar beabsichtigt war, gleichzeitig mit der Sophienausgabe eine mehrbändige Goethebiographie in Auftrag zu geben als vierspännige Hofequipage, in die sich mindestens vier Bearbeiter, Literarhistoriker, Philosoph, Naturwissenschaftler und Historiker teilen sollten. Das Ergebnis wäre nicht ein Goethe |#f0063 : 39|

gewesen, sondern ein Nebeneinander von ebensoviel Goethebildern, als Bearbeiter in großherzoglichem Auftrag zusammengeschirrt worden wären. Es fehlte nicht an kritischer Einsicht und an Protesten. Im Jahre 1891 schrieb Anton Bettelheim einen Aufsatz „Die Unmöglichkeit einer Goethe-Biographie“. Im folgenden Jahr 1892, in dem Stefan Georges „Blätter für die Kunst“ dem Naturalismus in der Dichtung absagten, erschienen Friedr. Braitmaiers Streitschrift „Goethekult und Goethephilologie“ und Hugo Falkenheims Betrachtung „Kuno Fischer und die literarhistorische Methode“. Auch in Frankreich, dem Stammland des Positivismus, hatte es bereits eine Wendung gegeben, indem Emile Hennequin (La critique scientifique, 1888) als ungetreuer Schüler Taines zu den Ideen Carlyles zurückkehrte und die Erforschung der Individualität und der Psychologie des Genies in einer „Esthopsychologie“ genannten Methode zum Programm erhob. Taine selbst hatte in der psychologischen Analyse eine zu besonderer Feinheit entwickelte französische Kunst erblickt, die er bei den Deutschen vermißte: „si les Allemands ont la supériorité philosophique et de mémoire, nous avons celle de la psychologie.“ Bei der großen Tradition biographischer Kritik, die in den westlichen Ländern seit Matthew Arnold und Sainte-Beuve bestand, wuchs der Gedanke immer mehr an Bedeutung, die Kritik des Einzelwerkes wissenschaftlich zu fundieren durch eine Verbindung der ästhetischen Bewertung und Charakteristik mit Aufhellung des Entstehungsvorganges. Das gesuchte System, das die kritischen Normen der Ästhetik und die Formbegriffe der Stilistik mit der Psychologie des dichterischen Schaffens in Zusammenhang stellte, schien nun bald im Gegensatz zur geschichtlichen Zusammenfassung die Hauptaufgabe der Literaturwissenschaft zu verwirklichen. In England und Amerika wurde sie mit dem Worte „literary criticism“ festgelegt. In Deutschland hatte Scherer (anders als Gervinus) gegenüber der Ästhetik keine ablehnende Haltung eingenommen, sondern einen Streit zwischen Literaturgeschichte und Ästhetik nur dann für möglich gehalten, wenn eine von beiden Wissenschaften oder beide auf falschen Wegen wandelten. Den falschen Weg der Ästhetik sah er in ihrer spekulativen Richtung, während eine empirisch von unten aufbauende, induktive Ästhetik die Forderung der Zeit war. Nach Abschluß der Literaturgeschichte war Scherer daran gegangen, ihr in der „Poetik“ eine Theorie der Dichtung zur Seite zu stellen, deren Wesen charakteristischerweise aus ihrer Entstehung erschlossen |#f0064 : 40|

werden sollte: die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und mögliche, vollständig zu beschreiben in Hergang, Ergebnissen und Wirkungen war das Ziel, dessen naturwissenschaftliche Bedingtheit schon an der Forderung „vollständiger Beschreibung“ zu erkennen ist. Mit der Herausgabe des skizzenhaften Kollegheftes, das eine bedenkliche naturalistische Enge verrät, wurde dem Andenken des Frühverstorbenen kein Gefallen erwiesen. Dieser unzulängliche Versuch wurde in seiner Wirkung erdrückt durch die „Bausteine zu einer Poetik“, die Wilhelm Dilthey gleichzeitig in seiner Abhandlung „Von der Einbildungskraft des Dichters“ (1886) zusammentrug. Die Werke der beiden Freunde, die sich als Arbeitsgenossen fühlten und auf verschiedenen Wegen schließlich zusammentreffen und sich gegenseitig zu stützen hofften, sind nicht völlig grundverschieden im Ausgangspunkt. Auch Dilthey suchte zunächst naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit; ihm schwebte eine Entdeckung wie die der grammatischen Lautgesetze vor, die seine analytisch hergestellten Elementarvorgänge zu einer das Wesen der Dichtung erschließenden Formel, etwa einem Kreislauf von Leben, Ausdruck, Verstehen oder von Persönlichkeit, Weltanschauung und Kunstwerk zu binden erlaubt hätte. Sein Streben in dieser Richtung endete mit Resignation. Im Alter sprach er von der Unmöglichkeit, die Fülle der historischen Individualitäten zu systematisieren und die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Art nach Allgemeinbegriffen zu ordnen und zu erklären. Was möglich blieb, war die Gründung eines Zwischenreiches zwischen der generellen, rationalen Psychologie des Experimentes und der irrationalen Individualpsychologie des Nacherlebens in einer beschreibenden, vergleichenden Psychologie, die zur Erkenntnis geistesgeschichtlicher Weltanschauungstypen gelangte. Hier lag der eine bedeutsame Anstoß, den die deutsche Literaturwissenschaft jetzt wieder von seiten der Philosophie, und zwar von einem Philosophen, der den Positivismus in sich überwunden hatte, empfangen konnte; der andere bestand in der Vertiefung des Begriffes der Hermeneutik. Die Grundsätze der Auslegung und des deutenden Verständnisses hatte Dilthey von Schleiermacher her weiterentwickelt und vom einzelnen Werk auf die geistige Struktur und den seelischen Werdegang schöpferischer Persönlichkeiten ausgedehnt. Im Jahre 1895 hatte er eine Sammlung „Dichter als Seher der Menschheit“ geplant, in der er unter höchsten pädagogischen Gesichtspunkten der Literaturgeschichte „einen Impuls in die Tiefe des menschlichen Bewußtseins“ geben wollte. Diesen richtunggebenden Anstoß hat zehn Jahre später die Sammlung „Das Erlebnis und die Dichtung“ ausgeübt, die unter |#f0065 : 41|

Beschränkung auf die deutsche Dichtung nur einen Teil des ursprünglichen Planes mit Benutzung älterer Aufsätze, die jetzt eine ganz frische Wirkung taten, zur Ausführung brachte. g) Geisteswissenschaft Im neuen Jahrhundert vollziehen in allen Ländern umstürzlerische Richtungen ihren Aufmarsch, und fast jede Jahreszahl bedeutet die Aufstellung eines neuen Programms: 1900 fand in Paris ein „Congrès international d'histoire comparée“ statt, dem im nächsten Jahr das Buch von Fernand Baldensperger folgte, das der schon früher in Deutschland geübten Literaturvergleichung, dem Studium der internationalen Strömungen und der Wechselwirkung von Land zu Land im Sinne einer Zentralstellung Frankreichs zu neuem Aufschwung verhelfen sollte. 1901 gab ferner der Engländer Courthope („Life in Poetry“) das Programm einer Literatursoziologie, wie sie schon vorher von dem Deutschamerikaner Kuno Francke („Social Forces in German Literature“, 1896) vertreten war. Diese Richtung kam durch den deutschen Anglisten L. Schücking („Soziologie der literarischen Geschmacksbildung“) zur Weiterführung, während sie später unter der Nachwirkung des Historikers Lamprecht durch Brüggemann und Merker zu „psychogenetisch“ und „sozialliterarisch“ genannten Lehren ausgebaut wurde. Vor allem aber begann mit dem 20. Jahrhundert der Kampf, den eine neue Lebensphilosophie gegen den Psychologismus aufnahm, auch die Literaturwissenschaft in ihren Bann zu zwingen und zu vertiefter Problemstellung zu veranlassen. Aus dem abgeschlossenen Jahrhundert ragte die Gestalt Nietzsches herüber, der nicht nur zur Zertrümmerung des Historismus das Signal gegeben hatte, sondern als Prophet einer Monumentalhistorie nachwirkend den Weg wies. Vor ihm war es die Leidenschaftlichkeit Kierkegaards gewesen, die zu verinnerlichtem Verantwortlichkeitsbewußtsein und persönlicher Entscheidung aufrief. Er erreichte Deutschland gleichzeitig mit Nietzsche, da die erste Übersetzung erst 1885 erschien. Weiter ging man zurück auf Kant. Über den Neukantianismus hinaus wiederholte sich die Entwicklung, die sich ein Jahrhundert zuvor in den Systemen des deutschen Idealismus abgespielt hatte, und die Probleme Fichtes, Schellings, Hegels wurden neu aufgerollt durch drei Philosophen der Neuzeit. In Deutschland war es Edmund Husserl, dessen „Logische Untersuchungen“ (1901) durch phänomenologische Betrachtung vom |#f0066 : 42|

Ich aus in den existentialen Wesenskern des Kunstwerkes einzudringen forderten; gleichzeitig griff in Frankreich Henri Bergsons „Introduction à la Métaphysique“ die Intuition als Mittel eindringenden Weltverstehens auf; in Italien erschien 1902 die „Estetica“ von Benedetto Croce, die alle Kunst, nicht nur die Dichtung, als menschlichen Sprachausdruck betrachtet wissen wollte, der historisch zu erklären, aber nicht zu bewerten sei. Ihm schloß sich das Auftreten des deutschen Romanisten Karl Voßler an, der gegen den mechanisierenden Positivismus und für einen ästhetischen Idealismus in der Sprachwissenschaft kämpfend der Stilerforschung neue Bahnen öffnete und die Sprachentwicklung als geistigen Vorgang in den Kulturzusammenhang stellte (1903). In den so gelockerten Boden fiel das Erscheinen der alten Aufsätze, die Wilhelm Dilthey 1905 zusammenfaßte, als fruchtbare Saat. In diesen essayistischen Meisterstücken, die eine große Leserschaft auch außerhalb der Fachwissenschaft anzogen, lagen Vorbilder für einen Formwandel der Monographie, die von der realistischen zur idealistischen Methode, von der Kategorie des Werdens zu der des Seins hinübergeleitet wurde. Von der Stofflast belangloser Tatsächlichkeiten befreit, drängte die Darstellung nun zur Herausarbeitung der zentralen Probleme, der Urgründe des Schaffens, der Wege des Verstehens und des Sinnes der Existenz. Auch die Dichter begannen, sich den theoretischen und historischen Problemen ihrer Kunst wieder zuzuwenden, als Ricarda Huch 1902 ihr Werk über die Romantik beendete, als Wilhelm v. Scholz 1905 seine „Gedanken zum Drama“ und 1906 Paul Ernst seinen „Weg zur Form“ veröffentlichte, ohne daß allerdings die wissenschaftliche Betrachtung der Formprobleme dadurch zunächst bemerkenswert beeinflußt worden wäre. Ein anderer Dichter, der selbst wenig über die Dichtung schrieb, gewann mehr Einfluß. Haltung und Zurückhaltung Stefan Georges sollten bald eine vorbildhafte Wirkung von immer größerer Tragweite auf den wachsenden Kreis der Anhänger und auf die in ihm betriebene Schau großer Persönlichkeiten ausüben. Zunächst stand freilich für die deutsche Literaturgeschichte und ihre synthetischen Aufgaben das Problem der Gliederung im Vordergrunde. Es kam darauf an, Grundbegriffe des organischen Aufbaues und der Überschau zu finden, die als inneres Ordnungsprinzip an Stelle mechanischer Zahlengerüste treten konnten. Hatte R. M. Meyer noch 1900 für seine „Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ eine Gruppierung nach Dekaden bequem gefunden, so wurde er schon ein Jahr später durch die einhellige Kritik dieses Verfahrens |#f0067 : 43|

zur prüfenden Untersuchung der „Prinzipien wissenschaftlicher Periodenbildung“ veranlaßt. Dabei dachte er noch nicht an das geistesgeschichtliche Zeitmaß der Generation, das sein Nachfolger Friedrich Kummer (1909), einem Gedanken Diltheys folgend, bei der Neugliederung des eben zurückgelegten Jahrhunderts anwandte. Neben der zeitlichen Gruppierung kam aber auch eine räumliche in Betracht. Im Jahre 1907 hielt August Sauer seine Prager Rektoratsrede über „Literaturgeschichte und Volkskunde“ und empfahl, auf Scherersche Gedanken zurückgreifend, die Berücksichtigung der stammhaften und landschaftlichen Eigentümlichkeiten und Zusammenhänge für Aufbau und Einteilung. Sauers Schüler Josef Nadler hat den Anregungen in der großartigen Stoffbewältigung seiner „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ (1912 ff.) Folge geleistet, indem er nicht nur Steinmassen häufte, sondern aus ihnen lebendige Quellen schlug. 1908 trat Rudolf Unger mit seinem weitschauenden Vortrag „Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft“ hervor, dessen Programm sich im Anschluß an Dilthey in jahrzehntelangem Reifen und vielfacher fruchtbarer Anwendung zur Forderung verdichtete, die „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ zu behandeln (1924). 1909 stellte Oskar Walzel der herkömmlichen analytischen Betrachtung das Verlangen nach einer synthetischen Literaturgeschichte gegenüber und öffnete damit der stilgeschichtlichen Periodisierung die Tür, die mit dem Ziel einer wechselseitigen Erhellung der Künste schließlich die Parallele zu Wölfflins kunstgeschichtlichen Grundbegriffen verfolgte und sie mit Diltheyschen Weltanschauungstypen in Einklang zu bringen suchte. 1910 kam der Deutschamerikaner Kuno Francke mit der deutschen Ausgabe seines schon vorher genannten Werkes heraus, mit dem ersten Band seiner „Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer geschichtlichen Entwicklung“, einer konstruktiven Soziologie, in der ein regelmäßiger Wechsel zwischen kollektivistischen und individualistischen Strömungen als Grundzug aufgefaßt war. 1911 ist das Jahr des Abschlusses für Ernst Elsters „Prinzipien der Literaturwissenschaft“, deren zweiter Band alle Stilformen mittels der Wundtschen Apperzeptionspsychologie erfassen wollte und vielleicht deshalb nur geringe Wirkung tat, weil dem jetzt im Vordergrund stehenden Bedürfnis nach historischer Periodisierung nicht entsprochen wurde. Um so stärkeren Einfluß haben zwei andere Erscheinungen dieses Jahres ausgeübt, nämlich Gundolfs „Shakespeare |#f0068 : 44|

und der deutsche Geist“ und Ungers „Hamann und die Aufklärung“, weil sie, wenn auch in gänzlich verschiedener Richtung, das Problem des sprachlichen Ausdrucks künstlerisch und philosophisch in den Vordergrund stellten. Wie sehr die neuen Richtungen auch auf andere Länder zu wirken begannen und dort sogar als Bedrohung empfunden wurden, kann man aus der Abwehrstellung des ausgezeichneten französischen Literaturkritikers Emile Faguet ersehen. In einem Aufsatz der „Revue des deux mondes“ befürwortete er 1910 das Festhalten an philologischen Methoden mit besonderer Rücksicht auf den französischen Nationalcharakter, der ohnehin immer zu jenen Verallgemeinerungen dränge, auf deren Wichtigkeit sich der Deutsche in seiner umgekehrten Tendenz von Zeit zu Zeit besinnen müsse. Als eine deutsche Mahnung, die Philologie nicht ganz preiszugeben, darf in diesem Zusammenhang des Verfassers Baseler Antrittsvorlesung „Literaturgeschichte als Wissenschaft“ (1913) genannt werden, die gegen die Trennung einer älteren, philologisch behandelten und einer neueren, geisteswissenschaftlichen Literaturgeschichte den Gedanken eines einheitlichen Organismus ausspielte, der von Anfang an auf philologischer Grundlage geistesgeschichtlich zu erfassen sei. Eine durch die immanente Entwicklungstendenz des nationalen Geistes bestimmte spezifisch deutsche Linie in der Dichtung wie in Malerei und Musik sollte sich in ihrem Verlauf als rhythmischer Wechsel zwischen rationalen und irrationalen Perioden und daraus aufsteigenden Gipfeln der Zusammenfassung darstellen. Wenn nach dem Weltkrieg die programmatischen Richtlinien der Vorkriegsjahre wieder aufgenommen wurden, so ergab sich eine durch die Problemstellung bedingte Vorliebe für bestimmte Perioden. Hatte die schon im vorausgehenden Jahrhundert in Deutschland betriebene vergleichende Literaturgeschichte sich mit Renaissanceforschung verbunden, so fand die stilgeschichtliche Richtung vornehmlich in der Barockzeit ihr Feld, auf das ihr die Geistesgeschichte folgte; die Geistesgeschichte wiederum bevorzugte von vornherein die irrationalen Zusammenhänge zwischen Sturm und Drang und Romantik, wohin sie die Stilgeschichte nach sich zog. Schließlich fand die stilästhetische Betrachtung nach Wölfflinscher Methode Gelegenheit zur Kontrastierung zweier aufeinanderfolgender Perioden wie Klassik und Romantik mit vielen ausgezeichneten Einzelbetrachtungen und mit schiefer metaphysischer Formulierung des Gegensatzes als Vollendung und Unendlichkeit bei Fritz Strich (1922). Die geistesgeschichtliche Betrachtung konnte hier keine Polarität sehen, sondern

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fortschreitende Entwicklung, wie sie H. A. Korff in den drei Phasen Sturm und Drang, Klassik, Romantik als „Geist der Goethezeit“ (1923 ff.) darzustellen sich vornahm. Wenn hier die klärende Begriffsführung Simmels in mancher Beziehung vorbildlich erscheint, so wird jetzt überhaupt die Übertragung und Ausdehnung der Grundsätze der Personalmonographie auf die Periodendarstellung sichtbar, am deutlichsten unter Bergsons und Gundolfs Einfluß in den dionysischen Anfängen von Herbert Cysarz. Die vollkommene Umwertung der biographischen Aufgaben war im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zuerst sichtbar geworden in der schnellen Aufeinanderfolge neuartiger Goethe-Darstellungen, die bei aller Verschiedenheit von Form und Auffassung das gemeinsam hatten, daß sie nicht mehr die Teile, sondern die Ganzheit, persönlich geschaut, in durchgeistigter, künstlerischer Form vermitteln wollten. H. St. Chamberlain (1912) suchte die Totalität, indem er den Naturerforscher in den Vordergrund stellte; G. Simmel (1913) bemühte sich, den Sinn der Existenz Goethes auf eine Formel zu bringen, über der das blutvolle Leben und Erlebnis allerdings verblaßte; Fr. Gundolf (1916) fand die Einheit von Leben und Dichtung im Kunstwerk der Gestalt. Diese Lösungen wären schwerlich möglich gewesen ohne die Grundlagen, die die vorausgegangene entsagungsvolle Arbeit der Goethe-Philologie geschaffen hatte; es war deren Schicksal, in eben dem Zeitpunkt, da sie das ihrige getan hatte, bereits als überholt und beinahe überflüssig angesehen zu werden. An die Stelle der aus dem Material aufgebauten Biographie von außen trat die Biographie von innen, wie man sie genannt hat. Und deren Ansprüchen genügte, wie der spanische Philosoph José Ortega y Gasset im Jahre 1932 sagte, auch das Buch von Simmel, das er das einzig lesbare nannte, noch lange nicht. Solange nun ein Gleichgewicht von Gehalt und künstlerischer Form gewahrt wurde, eine „wirklich reine unkupplerische Versöhnung des historischen Denkens mit der anschauenden Phantasie“, wie K. Voßler es genannt hat, konnte die Forderung eines Ranke, der die Historie als Synthese von Wissenschaft und Kunst aufgefaßt sehen wollte, in der Monographie erfüllt werden. Es gelang, solange man die Wesensmitte, aus der gestaltet werden sollte, im Gegenstand suchte. Aber je mehr die Innenrichtung überging vom Gegenstand zum Verfasser, der für seine eigenschöpferische Vision und die Virtuosität der schriftstellerischen Leistung Beifall forderte, desto mehr glitt das Lebensbild aus dem Bereich der Wissenschaft in den der schönen Literatur hinüber und wurde selbst zum Wortkunstwerk, ja zum Virtuosenstück. |#f0070 : 46|

Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft mußten die gleiche Öffnung ihrer Grenzen erleben. Wohl unterschied sich die moderne geistesgeschichtliche Monographie in ihren Grundlagen von den Dichterromanen und von den als „historische Belletristik“ oder „biographie romancée“ gekennzeichneten Zwischenleistungen; aber was auch ihr allmählich verloren ging, war die objektive Gültigkeit. Der Franzose H. Bourdeau hat schon 1888, allerdings von einer extrem positivistischen Wissenschaftsauffassung aus, behauptet, hervorragende Einzelpersönlichkeiten seien nicht Gegenstand ernster Wissenschaft, sondern schöngeistiger Geschichtserzählung, die er „histoire littéraire“ nannte. Wenn dreißig Jahre später Ernst Bertram die Ziele seines „Nietzsche“ (1918) mit den Worten „Mythologie“ und „Legende“ charakterisierte, so lag darin wohl der skeptische Verzicht auf Erkennen, „wie es eigentlich gewesen sei“, aber zugleich die Anerkennung geschichtsbildender Kräfte, denen der zeitgebundene Darsteller sich unterworfen fühlte. Aber wenn im dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts der Gestalt Heinrichs von Kleist fast gleichzeitig vier Monographien gewidmet wurden, von denen jede ein anderes Leitmotiv erklingen ließ, so daß der eine (Witkop, 1922) den Metaphysiker zeichnete, der andere (Gundolf, 1922) den expressionistischen Hysteriker, der dritte (Muschg, 1923) den Erkenntnisproblematiker, der vierte (Braig, 1925) den Büßer auf dem katholischen Heilsweg, so bestanden die einander widersprechenden Ergebnisse solcher prophetischen Optik nicht mehr in Wissenschaft, sondern in Glaubenslehren. Es ist dann von Gerhard Fricke in seinem Buch „Gefühl und Schicksal bei Heinrich v. Kleist“ (1933) der Versuch gemacht worden, dieser unmethodischen Willkür einen gesicherten Weg gegenüberzustellen, der von der strengen Interpretation des Dichters und seiner Selbstzeugnisse ausging und in der Erkenntnis der Gefühlsgewißheit als Wesenskern wirklich eine Darstellung von innen gab. War man zeitweilig versucht, die Biographie preiszugeben, weil sie mehr als schriftstellerische denn als wissenschaftliche Leistung einzuschätzen war, so standen alle anderen Aufgaben im Zeichen methodischer Bemühung um strengste Zuverlässigkeit. Die neue geisteswissenschaftliche Literaturbetrachtung wollte aus philologischer Enge, historischer Materialbelastung und psychologischem Mechanismus erlösen und trotzdem nicht minder wissenschaftlich sein als die Naturwissenschaften. Herbert Cysarz hat sie sogar in seiner Methodologie (1926) als die Geisteswissenschaft schlechthin betrachtet und sie in dieser Bedeutung ausgesprochenermaßen von der Literaturgeschichte als Fachwissenschaft unterschieden. Andere sind, indem sie nach Klärung |#f0071 : 47|

der Grundbegriffe aus dem Wesen und den inneren Gesetzen der Dichtung suchten, zu einer Verbindung mit Poetik und Stilistik gelangt wie Walzel in seinem Kompendium „Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters“ (1923) und Emil Ermatinger in seinem „Dichterischen Kunstwerk“ (1921) sowie in der von ihm herausgegebenen Sammlung „Philosophie der Literaturwissenschaft“ (1930). Es bleibt noch die Literaturgeschichte als Gegenstand des Buchhandels zu betrachten. Weniger durch autonome wissenschaftliche Fragestellung als durch verlegerische Bestellung sind, wie in England die „Handbooks“ und die „Cambridge History of English Literature“, auch in Deutschland zyklische Darstellungen ins Leben gerufen worden, die die Behandlung der einzelnen Perioden verschiedenen Bearbeitern anvertrauten, so in kleinem Maßstab der von Korff und Linden herausgegebene „Aufriß der deutschen Literaturgeschichte“, in größerem die mehrbändigen „Epochen der deutschen Literatur“, die Zeitler leitete, und in größtem Umfange Walzels „Handbuch der Literaturwissenschaft“, dem auch sein oben genanntes methodologisches Werk angehört, ohne irgendwie die Richtlinien für eine gleichmäßige und übereinstimmende Behandlung der verschiedenen Gebiete der Weltliteratur festlegen zu wollen und zu können. Was aber durch das Gelingen solcher Sammelwerke bewiesen wird und was die Voraussetzung der Verteilung bildet, ist, daß man über Aufbau und abgrenzende Gliederung der Nationalliteraturen bis zu einem gewissen Grade ins reine gekommen ist. Nach Feststellung dieser Lösung stehen wir vor der vierten Stufe der sechsten Runde. Wenn sich der Kreislauf in der bisherigen Betrachtung als gesetzmäßig erwiesen hat, so tritt jedesmal an den Schluß der Reihe die Deutung und Wertung der Nationalliteratur als religiöse und politische Erzieherin. Die Dichtung wird in ihrer Ganzheit als Ausdruck des Volksgeistes aufgefaßt, ihre Geschichte als Niederschlag und Rechenschaft des Werdens zur Gemeinschaft und als Mittel zur Erkenntnis der eigenen Wesensart. Es bleibt nur die Frage, wie weit diese Wendung durch eine besondere politische Lage hervorgerufen ist oder aus eigener Notwendigkeit zur Politisierung des Lebens beiträgt. h) Neue Ziele In allen Ländern, die am Weltkrieg teilgenommen haben, ist die Wertung der Dichtung und der ihr geltenden Wissenschaft als Pfeiler eines Wiederaufbaus, der auf Sichselbstfinden ausgeht, unverkennbar. In Deutschland am stärksten, weil es durch den gewaltigsten Umschwung, |#f0072 : 48|

den es je erlebt hat, am meisten auf sich selbst zurückgeführt worden ist. So bedeutet die letzte Entwicklungsphase, die zu erreichen war, nicht nur Abschluß der Runde, sondern bereits Anfang eines neuen Aufgabenkreises, der bestimmt ist durch den veränderten Standort nationalsozialistischer Weltanschauung, die zwischen dem Einzelnen und der Menschheit das Volk als den eigentlichen Mittler und Lebensträger erblickt. Wie das Volk für den Einzelnen Repräsentant der Menschheit ist, so ist der Einzelne vor der Menschheit Repräsentant seines Volkes. Es kann sich bei solcher Grundauffassung weder um Preisgabe feststehender Ergebnisse der bisherigen Forschungsweise handeln, noch um Verwerfung der alten Methoden, sondern um ihre Nutzbarmachung zu neuen Zielsetzungen. Hören wir auf die ersten Heroldsrufe, die den kommenden Gang des Turniers ankündigen, so werden die Wappen der neu einreitenden Kämpfer mit den stolzen Feldzeichen Volkheit, Rasse und Existenz geschmückt sein. Für eine „volkhafte Lebenswissenschaft“ (Kindermann) soll alles, was in drei vorausgehenden Perioden geleistet war, nur Vorstufe bedeuten: die philologisch-historische Disziplin des Positivismus bietet eine Materialsammlung, auf der weiterzubauen ist; die kunstwissenschaftliche Richtung aus der Zeit des Impressionismus muß mit dem, was sie für Kritik und ästhetische Stilforschung erobert hat, dem Leben näher gebracht werden; die extreme Geisteswissenschaft des Expressionismus, die alles andere hinter der Deutung zurücktreten ließ, ist durch den Ganzheitsanspruch der neuen Weltanschauung dem überindividuellen Lebensideal der Gemeinschaft zuzuführen. Eine neue Poetik wird gefordert, die „sich zu grundsätzlichen Einsichten in das Wesen der dichterischen Formen innerhalb des deutschen Sprachgebiets erhebt“, eine deutsche Poetik, die „eine tiefste, letzte Wesens- und Existenzbeziehung zwischen dem Genius des Dichters und des Volkes“ erkennt und zugleich die Aufgabe übernimmt, „zu klaren, haltbaren Vorstellungen über Sinn, Aufgabe und Mission des Dichters im volkhaften Staate zu kommen“ (Obenauer). Dichtungsgeschichte wird als nationale Biologie betrachtet. Im Erlebnis der Heimat soll die rationale Trennung zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die vom Geist der Natur wie von der Natur des Geistes gleich fern bleiben ließ (Krannhals), wieder aufgehoben werden. Das bedeutet keine Rückkehr zur Vormachtstellung der Naturwissenschaft, wie sie im mechanisierenden Positivismus bestand, sondern die organisierenden Richtlinien des Geistes sollen die Führung behalten. Wenn es auch manchmal den Anschein |#f0073 : 49|

hat, als sollte die Vormacht des Geistes durch einen anderen hypostatischen Begriff, durch den des Blutes, verdrängt werden, so ist doch eine Aufhebung des Gegensatzes möglich in einem organischen Weltbild, für das Geist und Blut eines sind (Franz Koch). Dichtung wird als psychische Anthropologie angesehen, und die Rassenprobleme zwingen zur Verbindung naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Gesichtspunkte. Durch Hans F. K. Günther und Ludw. Ferd. Clauß, die von Literaturgeschichte und phänomenologischer Philosophie herkommen, hat die Rassenforschung geisteswissenschaftliche Antriebe erhalten, die wieder der naturwissenschaftlichen Stützung bedürfen. Es kann kein Zweifel sein, daß die deutsche Literaturgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit dem wachsenden Hervortreten artfremder Elemente, die schließlich in unerträglicher Weise Literatur, Kritik und Theater zum Geschäftsbetrieb machten, rassenkundliches Beobachtungsmaterial aufdrängt. Wenn indessen die Rassenkunde ernstlich zu einer Grundlage literaturwissenschaftlicher Forschung gemacht werden soll, so kann es nicht getan sein mit Feststellung und Bekämpfung des jüdischen Anteils am europäischen Geistesleben der letzten Jahrhunderte, sondern die positiven Fragestellungen beginnen mit der rassischen Zusammensetzung der verschiedenen Völker, mit den Zusammenhängen von Rasse und Seele, Rasse und Weltanschauung, Rasse und Stil und den aus Erhellung dieser Bindungen hervorgehenden Folgerungen für den Charakter des Denkens und Dichtens einer Nation, für die rassischen Merkmale bestimmter Stämme und einzelner Persönlichkeiten in bezug auf ihr literarisches Schaffen. Die Beantwortung dieser Fragen, die für die Selbsterkenntnis des deutschen Menschen nicht unwesentlich sein kann, muß um Jahrtausende zurückgehen auf frühgeschichtliche Wurzeln, die vor jeder literarischen Überlieferung liegen. Was die Wissenschaft des Spatens an Felsenzeichnungen, Gräberfunden und Ausgrabungen alter Siedlungen ans Tageslicht fördert, stellt keine Literatur dar, wohl aber Kulturdenkmäler, die von dem Seelenleben des Menschen, dem sie entstammen, Zeugnis ablegen. Durch das Weiterleben des Ahnenerbes kultischer Urformen im Brauchtum des Volkes findet sich eine schon von den Romantikern geahnte Vermittlung zwischen Altertumskunde und Literaturgeschichte, wie sie neuerdings für die Genesis des mittelalterlichen Dramas fruchtbar gemacht wird (Höfler, Stumpfl, Wolfram). Damit ist der Bereich der Literaturgeschichte erstreckt in Zonen, in denen es noch keine Literatur gab. Umgekehrt wachsen Gebiete, die noch kaum Geschichte sind, ihr |#f0074 : 50|

zu, wenn die Darstellung des Weltkriegs in der Gegenwartsliteratur zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht wird (Cysarz, Pongs). Konnte man früher bezweifeln, ob die Dichtung der Lebenden überhaupt wissenschaftlicher Behandlung zugänglich sei und nicht vielmehr vorläufig nur den Gegenstand einer wandelbaren Kritik bilde, so mag das für in voller Entwicklung befindliche Dichterpersönlichkeiten nach wie vor gültig sein, aber nicht für diesen ungeheuren Erlebnisstoff und seine Probleme. Der ist abgeschlossen, und die Beobachtung, wie solches Geschehen allmählich entstofflicht, symbolisiert, zum Mythos umgebildet wird, bietet eine einzigartige Gelegenheit, nicht nur das Verhalten der verschiedenen Völker gegenüber gleichartigem Erleben zu vergleichen, sondern auch Rätsel der Urzeit, die in der Entstehung großer Heldensagen und Volksepen gegeben sind, durch erlebte Analogie der Lösung näherzubringen. Vor allem aber hat der Existenzkampf des Weltkriegs und seiner Nachwirkungen Völker und Menschen der Gegenwart vor Wirklichkeitserkenntnisse und Fragen des eigenen Seins geführt, die über ästhetische Maßstäbe hinaus Selbstbesinnung, Gewissensentscheidung, Glaubensverantwortung und Wertung tiefster Innerlichkeit verlangen. Eine existentielle Philosophie zieht mit der Ganzheit des Menschen auch seine Kunst und die ihr gewidmete Wissenschaft in ihren Bereich. Eine sich als „existentiell“ bezeichnende Literaturwissenschaft will den ausschließlichen Ästhetizismus des „l'art pour l'art“ durch die Frage nach der Existenzmöglichkeit des Werkes bekämpfen, indem sie den Künstler mit seinem ganzen Sein schicksalmäßig eingeordnet sieht in seinem Volk: „in Rasse und Blut, im Geist der Ahnen, im Einwirken von Umwelt und Mitwelt, in der Muttersprache, im Jasagen zum Kulturwillen des Volkes, das ihn trägt, in allen unbewußten Grundkräften, die die letzten Entscheidungen im Leben lenken.“ (Pongs.) Alle Verheißungen geben von den neuen Richtungen vorerst mehr das Bild dessen, was sie sein wollen, als dessen, was sie heute schon sind. Die vielseitige Bereicherung und Vertiefung der Wissenschaftsaufgaben führt dahin, daß von allen Seiten ein neuer Vormarsch in unentdecktes oder aus dem Auge verlorenes Gebiet beginnt. Wieder handelt es sich zunächst um Sammlung und Erschließung von Material; wieder muß Kritik das Wesentliche herausheben; wieder muß die Gliederung des Ganzen überprüft und im Blickpunkt der Gegenwart neu geordnet werden; wieder ist Umwertung und erlebnismäßige Deutung des Einzelnen im großen Zusammenhang des Ganzen das Letzte. |#f0075 : 51|

Aber was vom großen Organismus der Nationalliteratur gilt, ist in seiner Art auch Erfordernis gegenüber dem Mikrokosmos des in sich geschlossenen Einzelwerkes. Für dessen Aneignung bleibt in sammelndem Erkennen, Echtheitsprüfung, gliedernder Wertung und verstehender Deutung die gleiche Reihenfolge unabänderlich maßgebend. |#f0076 : E52|

ERSTES BUCH: DAS WERK ER STER HAUPTTEIL ÜBERLIEFERUNG UND AUSWAHL „Im Anfang war das Wort.“ a) Wesen und Umfang Die fortschreitende Sublimierung der geistesgeschichtlichen Aufgaben, die zur Sicht metaphysischer Probleme aufsteigt, könnte es beinahe vergessen lassen, daß die Literaturwissenschaft ihr Arbeitsmaterial nicht unmittelbar im Geist, sondern zuerst im Buchstaben findet. Nach Ausgangspunkt und Grundlagen kann sie nichts anderes sein als Wissenschaft von der Literatur, Erforschung des Geschriebenen und seiner Zusammenhänge. Der Gegenstand besteht aus Wortkunstwerken, die in Handschrift oder Druck überliefert sind. Neben der Literatur stehen Sage, Märchen und Volkslied, die in mündlicher Übertragung sich fortpflanzen. Sie können schon einmal Literatur gewesen sein und werden es aufs neue, sobald sie zur Aufzeichnung kommen. Dabei wahren sie aber ihre eigene literarische Form, die sich aus der ursprünglich mündlichen Überlieferung erklärt. Außerhalb der Literatur steht das Brauchtum, aus dem derartige Volksüberlieferung hervorgegangen ist. Dieser vorliterarischen Voraussetzung, die bis in die Frühgeschichte und Vorgeschichte zurückgeht, steht endlich eine nachliterarische Wirkung gegenüber, bei der es sich um Werke handelt, die einmal überliefert waren und inzwischen verloren gingen. Uralte Heldendichtung kann mit ihren ethischen Idealen erziehend und formend auf den Volksgeist weitergewirkt haben, aus dem sie hervorging. Was sich aber von dem geschichtlichen Nachleben aller verlorenen Dichtung, sei es, daß sie der frühesten oder einer späteren Zeit angehörte, erfassen läßt, ist lediglich literarische Überlieferung, Niederschlag des Eindrucks in Ruhm oder Klage, in Nachahmungen oder Gegenbildern. Wie die Wortkunst selbst, so führt der Gang der ihr gewidmeten Forschung nach und nach dahin, alles Geschriebene, das Bedeutung hat, zur Vervielfältigung zu bringen; wir scheinen uns also einem Zeitpunkt zu nähern, da die Literaturwissenschaft es im wesentlichen |#f0077 : 53|

nur noch mit Gedrucktem zu tun haben wird. Der einzelne Forscher mußte sich von jeher die wissenschaftliche Bearbeitung und dauernde Benutzung der Manuskripte durch Abschriften sichern; an deren Stelle tritt neuerdings das leichter zu beschaffende und zuverlässigere Hilfsmittel der Photokopie. Der Gemeinschaftsarbeit wird das handschriftliche Material dagegen erst zugänglich durch Faksimilierung, und die letzte, endgültige Form des Weiterlebens aller Texte ist die mit wissenschaftlicher Kritik geprüfte Druckausgabe. Fast scheint es also, daß bei dieser Entwicklung der Arbeitstechnik, bei dieser ständigen Metamorphose von Wort in Schrift und Schrift in Druck das Fundament der Literaturwissenschaft am sinnfälligsten durch das holländische Wort „Letterkunde“ umschrieben wäre. Allerdings bleibt neben der schriftlichen Überlieferung noch eine mündliche, die sich nicht nur auf die Volkskunde beschränkt; sie kann auch im Einzelnen weiterleben als Erinnerung an gesungene Lieder oder erzählte Märchen der Kindheit, an Improvisationen eines Dichters, an den Vortrag eines Redners, an die Kunst eines Sprechmeisters, an das Erlebnis eines Schauspiels. Es gibt also die verschiedenartigsten Vermittlungsmöglichkeiten eines ungedruckten Textes. Aber für wissenschaftliche Behandlung braucht das Gedächtnis des einzelnen eine Stütze, und die Mitarbeit der vielen benötigt eine zuverlässige Vorlage. Auch bei der mündlichen Überlieferung ist es also nicht anders: jeder Text tritt in den Bereich wissenschaftlicher Betrachtung erst dadurch, daß er aufgezeichnet wird, sei es von dem Vortragenden selbst, sei es von bestellten Stenographen, sei es von einem Herausgeber zum Zweck der Veröffentlichung. Auch die Schallplattenaufnahme eines Volksliedes, die dem Eindruck mündlicher Überlieferung durch mechanische Vervielfältigung Dauer gibt, wird dem Studium erst erschlossen durch Übertragung der Worte und Töne in Buchstaben und Noten. Selbst ein Theaterstück kann, indem es gespielt wird, nicht zur Literatur gerechnet werden, sondern gehört einem eigenen Kunstgebiet an, auf dem vielerlei andersartige künstlerische Kräfte mitwirken, nicht nur im Dienste der Dichtung, sondern mit dem Anspruch, als eigenschöpferisch anerkannt zu werden. Als nichtliterarische Produktionsform steht das Theater in ähnlichem Verhältnis zur dramatischen Dichtung wie Liedvertonung und Gesang zur Lyrik, Buchillustration und Verfilmung zum Roman. Aber Bühnenmanuskript und Liedtext fügen sich in die Literatur ein, sobald sie als Aufzeichnungen zugänglich werden. Dabei enthält das Buchdrama ebenso wie das Bühnenmanuskript allerdings in seinen der Vorstellung (im dopdelten |#f0078 : 54|

Sinne: des Theaters und der Leserschaft) gewidmeten Regiebemerkungen einen eingeklammerten Nebentext, der auf der Bühne nicht gesprochen, sondern gespielt wird und deshalb streng genommen nicht zur dramatischen Dichtung als Wortkunst gehört. Man erkennt daraus, daß nicht alles im Dienst der Kunst Geschriebene literarisches Kunstwerk ist; wohl aber bleibt es gewiß, daß alles, was Gegenstand der Literaturwissenschaft bildet, einmal geschrieben sein muß. Literatur ist Sprache gewordener Geist, aber sie ist zugleich Schrift gewordener Sprachausdruck. So befindet sich das Wortkunstwerk in einem Schwebezustand zwischen Buchstabe und Geist. Es gleicht dem Fesselballon, den wir zur Erde herunterholen müssen, ehe wir mit ihm aufsteigen. Vor der ersten Fahrt liegt die leere Hülle (nichts anderes ist die buchstäbliche Überlieferung) auf dem Boden ausgebreitet und muß geprüft und geflickt werden, damit sie die Zuverlässigkeitsprobe der Dichtigkeit bestehen kann. Je älter die Hülle ist, desto mehr Flickarbeit muß geleistet werden. Mit der pneumatischen Füllung tritt erst die Struktur in Erscheinung. Der Gehalt gibt Form; die Form öffnet sich dem Gehalt. Und schließlich wird der Aufstieg zum Erlebnis. So weit indessen da oben der Blick in die Welt reicht, so ist der Himmelfahrt schließlich doch durch gefesselte Erdgebundenheit eine Grenze gezogen. Wird die Fessel abgeschnitten, so entschwebt das Fahrzeug in den Äther, um schließlich, wenn es gut geht, aus der dünnen Eisluft der Stratosphäre verschrumpft und ausgepumpt zurückzukehren. Damit ist gleichnishaft der Weg gewiesen, der von der überlieferten Schrift zur emportragenden Sprache und vom Aufschwung der Sprache zum Ausblick ins geistig Bedeutsame vordringt. Die erste Etappe ist bei unverständlichen Schriftzeichen und Lauten einer toten Sprache zunächst technische Entzifferungsaufgabe der Sprachwissenschaft oder der Völkerkunde. Bei Texten, deren äußeres sprachliches Verständnis keine Schwierigkeiten bereitet, ist die erste Interpretation bereits eine Sache der Vortragskunst, die Klanggebung mit Sinndeutung vereinigt. Auch das stille Lesen ist eine Reproduktion, eine stumme Vortragskunst ohne Zuhörer, die nach innen gerichtet ist und sowohl Klanggebung als Sinndeutung an das innere Gehör und die innere Anschauung vermittelt. Beides gehört zum Verstehen, das nun von unbewußter Eingebung zur bewußten Klarheit wissenschaftlicher Kunsterkenntnis gesteigert werden kann. Dazu gehört allerdings die Heranziehung weiterer Literatur, die nicht mit dem Werk selbst überliefert ist. Dieser Ballast füllt die dem Ballon angehängte Gondel, die alle Apparate der Beobachtung enthält. Da sind die Lebenserzeugnisse |#f0079 : 55|

des Verfassers, die Briefe, Tagebücher und aufgezeichneten Gespräche ausgebreitet, die seine noch ungestalteten Erlebnisse verraten und seine Absichten kundtun. Seine Vorarbeiten sind erhalten; dabei stellen sich andere Schöpfungen und Pläne desselben Dichters zum Vergleich, und zu ihnen gesellen sich die Werke von Vorgängern und Zeitgenossen, mit denen er in Zusammenhang stand. Um das Werk schart sich außerdem der Kreis seiner Kritiker. Endlich ist das, was im besonderen Sinn als zum Gegenstand gehörige „Literatur“ bezeichnet wird, zu berücksichtigen; als orientierende Karten dienen die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten über das Werk; sie sind die Protokolle früherer Auffahrten. Soll ein literarisches Kunstwerk in dem von Herder verlangten historischen Sinne aus dem Geist seiner Zeit verstanden werden, so gehört dazu ferner die ganze geistige Umwelt und Bildungsatmosphäre, in der der Verfasser gelebt hat; nicht nur, was er gelesen hat an theologischen, philosophischen, ästhetischen und geschichtlichen Werken, die zum Aufbau seiner Weltanschauung beitrugen, sondern auch. was er gesehen und gehört hat an Landschaftseindrücken, an bildender Kunst und Musik; was ihm Erlebnis wurde an religiösen Krisen und Erschütterungen des Zeitalters; was er erfuhr in der Gesellschaft der Menschen; was ihn bewegte im Gefühl politischer Gemeinschaft oder in Sehnsucht nach einer solchen oder in tragischer Vereinsamung, die er als Schicksal mit anderen Zeitgenossen teilte. Was in allen Lebens- und Ausdrucksformen als gleichgerichtet zu erkennen ist, darf als symptomatisch für den Zeitgeist angesehen werden, aus dem das Werk zu deuten ist. Auch die sprachliche Kunstform muß als Stil in diese Abhängigkeit einbezogen werden. Wenn dagegen in umgekehrter Richtung nicht der Zeitgeist zur Erklärung des Werkes, sondern das Werk zur Erkenntnis des Zeitgeistes herangezogen wird, ändert sich die wissenschaftliche Fragestellung. Gelangt nur die geistige Quintessenz zur Auspressung, während die Schale wegfällt, so ist die Frucht zerstört; die Kunstform der sprachlichen Überlieferung ist aufgegeben, um ein in ihr verborgenes Gedankensystem zu enthüllen, das begriffen und umschrieben werden muß in anderer Sprache als der der Dichtung. Bei Lehrdichtungen, in denen die Kunstform tatsächlich nur das Organ philosophischer Ideen war (Parmenides, Lukrez), tut diese philosophische Auswertung dem Werk kein Unrecht. Aber meist haben die Dichter selbst gegen solche Einschätzung Einspruch erhoben. So wollte Schiller seine Gedankenlyrik nicht als Philosophie in Versen, sondern als Dichtung angesehen wissen. Und noch strenger ist Stefan George |#f0080 : 56|

für das Wesentliche der sprachlichen Gestalt eingetreten: „Den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form, d. h. durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes Tieferregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben.“ Bleiben wir zunächst bei der Überlieferung des einzelnen Werkes und sehen von allen Trabanten, die ihm beigeordnet sind, ab. Mit der Aufnahme durch den Leser gelangt es, wie Roman Ingarden in seiner scharfsinnigen phänomenologischen Untersuchung gesagt hat, zur „Konkretisierung“, die einen Mittelzustand zwischen Idealität und Realität darstellt. In zahllosen Konkretisierungen kann das Werk ebenso wie in der vielfältigen Überlieferung Wandlungen durchmachen, die ein Beweis seines Lebens sind. Aber welches ist seine eigentliche Seinsweise? Man hat gesagt, daß die Dichtung in den Erlebnissen und der Konzeption des Dichters ihre ideelle Existenz habe und in der Aufnahme durch den Leser sie wiedergewinnen müsse. Das würde bedeuten, daß die Sprachgestalt, die der Dichter seinem Werk gegeben hat, unter seinem Wollen geblieben sei, was neuplatonischer Auffassung entspricht und mit gelegentlichen Klagen Goethes über die Unvollkommenheit der Sprache übereinstimmt. Aber der Leser ist am wenigsten imstande, diese Unvollkommenheit zu heilen. Tatsächlich wird die Dichtung zum Kunstwerk erst in der Sprachform, und oft bestätigt sich sogar in ihrem Werden, was Heinrich von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beobachtet: „L'idée vient en parlant.“ Man hat auch ungeschrieben gebliebenen Dichtungen einen existentiellen Wert beimessen wollen, und in der Tat mögen sie, was unkontrollierbar bleibt, bei manchem mittelmäßigen Dichter seine besten gewesen sein oder bei frühverstorbenen Genies das Beste zu werden versprochen haben. Aber wenn wir von Plänen der größten Dichter nur Titel oder skizzenhafte Szenare haben, so kann diese Überlieferung lediglich durch Beziehung zu anderen ausgeführten Werken literarischen Wert gewinnen; allenfalls auch durch einen Einblick in die Arbeitsweise, der zu Analogieschlüssen auf die Entstehung anderer Werke berechtigt. Daß Lessing eine „Virginia“ plante, hat Bedeutung für die spätere „Emilia Galotti“. Daß Goethe in Italien an eine „Iphigenie in Delphi“ dachte, beleuchtet in gewissem Sinne das Ende der „Iphigenie in Tauris“. Daß Schiller in seinen Titelverzeichnissen „Der sich für einen andern ausgebende Betrüger“ notierte, zeigt, in welcher Weise er schon vor der Stoffindung um die Probleme |#f0081 : 57|

des „Demetrius“ und „Warbeck“ kreiste. In Kleists „Peter der Einsiedler“, von dem wir nur den Titel überliefert haben, gewinnen wir durch den Stoffkreis eine Vorstufe zum „Robert Guiskard“. Aber gar nichts anfangen können wir mit der Nachricht über einen ausgeführten zweibändigen Roman Kleists, solange das Manuskript nicht auftaucht. Das Suchen nach solcher verlorenen Handschrift zieht oft dilettantische Mißgriffe nach sich und läßt Kuckuckseier in das Nest des Dichters gelangen, wie es mit der Unterschiebung von Weidmanns „Faust“ bei Lessing, des Altonaer „Josef“ beim jungen Goethe oder Tiecks „Vittoria Accorombona“ bei Kleist geschehen ist. Mit der Widerlegung solcher Fehlfunde hat sich die Forschung dann eine Zeitlang zu beschäftigen, und diese an sich unfruchtbare Arbeit kann, wie es beim „Josef“ der Fall war, wenigstens die Methode der Verfasserbestimmung fördern. (Vgl. S. 79 f.) Die halb psychologistische, halb mystische Theorie, die das Sprachkunstwerk nur als Medium und Brücke zwischen der Phantasie des Dichters und dem Wiederaufbau in der Phantasie des Lesers gelten lassen will, muß die eigentliche Dichtung als unerreichbares Ding an sich auffassen. Denn wenn die Tatsache des unterschiedlichen Verstehens, die als Ungleichheit aller Konkretisierungen in Erscheinung tritt, eine vollkommene, objektive Gleichstellung zwischen Leser und Dichter ausschließt, so kann auch der Literarhistoriker bei aller Einfühlungsgabe und Fähigkeit zur Nachdichtung, die von ihm verlangt wird, nicht die Identität mit dem Schöpfer erreichen, die dazu nötig wäre, das Ideal, das in der Seele des Dichters lag, herauszuarbeiten. Er hat sich an das zu halten, was ihm zugänglich ist, und das sind zunächst die überlieferten Texte. Sie stellen Papiergeld dar, Schatzanweisungen und Wechsel, die einzulösen und als gemünzte Werte in Umlauf zu setzen sind; aus der Papierform lebloser Buchstaben, in die sie einfroren, müssen die Literaturwerke befreit werden. Die lebendige Sprachform, die ihren Sinn und Wert erschließt, ist wiederherzustellen. Die schriftliche Überlieferung ist eine Verpuppung, ein Schlummerzustand der Literatur. Die Bibliotheken sind also nicht nur Schatzkammern, sondern Schlafkammern für die Schriftwerke, die darauf warten, geweckt zu werden. Manche sind immer wach und lebendig; manche sind schlafwandelnd unterwegs; manche treten wie die Siebenschläfer der orientalischen Legende erst nach tausend Jahren aus ihrer Höhle; manche sind in ewigen Schlummer versenkt und durch den Lethestrom der Vergessenheit vom Leben getrennt. Der Bibliothekswissenschaft fällt der Wachdienst zu, der alles Schrifttum mit gleicher Sorgfalt betreut. Die Literaturwissenschaft, |#f0082 : 58|

die den Weckruf erschallen läßt, hat nur den einen Flügel der Bücherkaserne unter sich, in dem die schöne Literatur untergebracht ist. Der Weckruf ertönt in verschiedenen Sprachen, und nun gruppieren sich die Literaturen der einzelnen Länder. Das Kommando fällt jetzt an die einzelnen Literaturgeschichten. An Stelle der alphabetischen Anordnung des Bücherkatalogs tritt eine Musterung nach dem Größenverhältnis oder eine Einteilung nach Gattungen oder eine historische Reihenfolge nach dem Lebensalter der Dichter oder nach dem Geburtsjahr der Bücher. Die Perioden werden formiert. Aber nun zeigt sich, daß keine uniformierte Truppe beieinander steht, sondern daß die sprachliche Montur auch des einzelnen Kulturkreises in Farbe und Schnitt sehr mannigfaltig ist, unterschieden nicht nur durch die Perioden der Sprachentwicklung, sondern innerhalb derselben auch durch Mundart und fremden Sprachanteil. Auf deutschem Boden ist mancherlei fremdsprachliche Literatur erwachsen, die man durchaus als Erzeugnis deutschen Geistes und Blutes würdigen muß. Zeitweilig hat die römische Dichtung deutscher Nation sogar ein Übergewicht gehabt wie in der ottonischen Renaissance, da Stoffe deutscher Heldensage und Motive deutscher Märchen (Waltharius, Ruodlieb) in lateinische Hexameter gebracht wurden. Gerade die stärksten nationalen Regungen haben auch in der Hohenstaufenzeit (Archipoeta, Tegernseer Antichrist) wie später bei den Humanisten und Neulateinern (Wimpheling, Hutten) das fremde Gewand umgetan. Auch französische Literatur ist auf deutschem Boden gepflegt worden, nicht nur von Refugiés und herbeigeholten Philosophen, sondern von Leibniz und Friedrich dem Großen. Ja, noch Dichter unserer Zeit wie Stefan George und Rilke haben sich in englischen und französischen Gedichten versucht, die sie dann zum Teil selbst wieder ins Deutsche übersetzten. Wiederum haben Schriftsteller ausländischer Herkunft, z. B. der geborene Franzose Adalbert von Chamisso, der Engländer H. St. Chamberlain, der Italiener Silvio di Casanova nur in deutscher Sprache gedichtet. Die Wahl der Sprache war in diesen vereinzelten Fällen Ausdruck einer Gesinnung, kraft deren sie in besonderem Maße der deutschen Literatur zuzurechnen sind. Andere Literatursprachen haben ausgebreitetere Weltgeltung, aber sie sind nicht mehr von einem einheitlichen Volkstum getragen. Die Dichtung des erdumspannenden englischen Kolonialreichs, des ehemaligen wie des jetzigen, läßt sich nicht mehr in einer englischen Literaturgeschichte zusammenfassen. Wohl besteht noch eine Spracheinheit, obwohl Sonderentwicklungen bemerkbar sind; aber die

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geistige Einheit ist gelockert; es trennen sich die Erdteile und die Rassen; die englische Literatur Amerikas, Indiens, Australiens beginnt sich in bodenständiger Eigenkultur zu verselbständigen. Gleiches gilt vom spanischen und portugiesischen Südamerika. Dagegen kann die auslanddeutsche Dichtung, die fern vom geschlossenen Sprachgebiet ihr Leben führt, der deutschen Literaturgeschichte einverleibt bleiben, und zwar nicht nur in einzelnen Vertretern, die noch mit dem Mutterland in enger Beziehung stehen, sondern in Stadt- und Adelskulturen, wie in den ehemaligen russischen Ostseeprovinzen, und in bäuerlichen Volkstumsgruppen, die in Südrußland, in Siebenbürgen, in Pennsylvanien, in Texas mit Sprache, Brauch und Sitte auch ihr altes Lied sich erhielten. Diese deutsche Literatur fremder Länder kann trotz der geographischen und politischen Ferne in ihrer konservierenden und produzierenden Funktion noch als Ausstrahlung der deutschen Nationalliteratur betrachtet werden. Andererseits besteht aller Anlaß, daß eine Geschichte der amerikanischen Nationalliteratur, sobald sie einmal in großem Umfang geschrieben wird, die Einwandererdichtung mitberücksichtigt. Ein schwieriger Grenzfall stellt sich dar, wenn Auswanderer die Laute ihrer Heimat aufgegeben haben, ohne daß die Sprache ihres Blutes damit ausgelöscht werden konnte. Als Nachwirkung der Völkerwanderung macht sich in Kunst und Literatur des Südens noch jahrhundertelang das Blut der Goten, Vandalen, Langobarden und anderer germanischer Stämme bemerkbar, die in fremdem Volkstum aufgegangen sind. Nicht anders ist es mit Normannen und Burgundern in Frankreich. Die Feststellung der Rassenmerkmale dieser verlorenen Söhne des germanischen Geistes fällt in den Bereich der Romania. Die deutsche Literaturgeschichte dagegen muß suchen, auf ihrem Sprachgebiet das fremdstämmige Element zu erkennen. Es handelt sich dabei nicht nur um Schriftsteller jüdischen Blutes, deren Rasse in Weltanschauung und Stil am leichtesten bemerkbar sein wird, sondern auch um romanische oder slavische Abkunft (Moscherosch, de la Motte Fouqué, Fontane, Nietzsche), deren Wesensart Fremdartiges analysieren läßt und in der Blutmischung ihre Erklärung findet. Eine Zugehörigkeit zu mehreren Nationalliteraturen kommt den Werken zu, die durch künstlerische Neuschöpfung in einer anderen Sprache Bürgerrecht erhalten haben. Sie gehören nach ihrem geistigen Gehalt dem Lande ihres Ursprungs an, nach ihrer letzten sprachlichen Form dem Lande, das sie zu Gaste lud. So wenig Homer, Shakespeare, Dante durch Übersetzungen eine Beeinträchtigung ihres Platzes in der griechischen, englischen und italienischen Literatur erfahren, |#f0084 : 60|

so wenig auch die meisterhafteste Übertragung vollen Ersatz für das Original bieten kann, so wenig kann man die Leistungen der Voß, Schlegel, Regis, Gildemeister und anderer aus der deutschen Literaturgeschichte streichen. Anders steht es mit den fingierten Übersetzungen, die vom großen Einfluß bestimmter fremder Dichter Zeugnis ablegen. Wenn Wilhelm Häring seine ersten Romane unter dem Namen Walter Scott erscheinen ließ, während Balzac eine seiner früheren Erzählungen als Werk Hoffmanns ausgab, so bedeuten diese Tatsachen weniger Fälschungen als Zugeständnisse einer bis zur Nachahmung gehenden Abhängigkeit. Mit Auflösung des Pseudonyms ist die auf den Verfasser selbst zurückgehende Überlieferung berichtigt, ohne daß die Literaturen, denen die Namen Scott und Hoffmann angehören, mehr damit zu tun haben, als daß sie starke Ausstrahlungen ihrer Wirkung zu buchen berechtigt sind. b) Beschränkung der Überlieferung Das Ergebnis der ersten äußerlichen Abgrenzung, die dem Material der literarhistorischen Forschung zuteil werden kann, besteht darin, daß das Gebiet der Literaturwissenschaft sich in so viele Literaturgeschichten aufteilt, als es Literatursprachen gibt. Jede Nationalliteratur hat den Einklang von Sprache und Volkstum zum Kern, aber Sprache und Volkstum brauchen so wenig wie Blut und Boden sich immer vollständig zu decken. Es gibt Kolonien auf fremder Erde und Minderheiten im Mutterlande; es kann sowohl nationaler Geist in fremder Sprache seinen Ausdruck gefunden haben als fremder Geist in der Nationalsprache. Voraussetzung dieser Abgrenzung ist die Beschränkung auf Dichtung und schöne Literatur. Die Wortkunstwerke, nicht die Spracherzeugnisse überhaupt bilden den Gegenstand. Aber wo ist die Scheidelinie? Hier hat sich die literaturwissenschaftliche Methodenlehre ziemlich erfolglos bemüht, zu einem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Der Rumäne Michel Dragomirescu behilft sich in seinem an französischer Literaturästhetik orientierten dreibändigen Werk „La science de la littérature“ mit einer Dreiteilung von „œuvres pratiques“, „œuvres artistiques“ und „chefs d'œuvre“. Bei der ersten Klasse handelt es sich um alle Zweckliteratur, also auch um Werke der Wissenschaft. Sie vermitteln geistige Werte unter Aufwand von mehr oder weniger Sprachkunst, und manche Geschichts- oder Lebensdarstellung kann ihrer Form nach vollen Anspruch erheben, als

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Kunstwerk angesehen zu werden. Es bleibt trotzdem fraglich, wie weit solches Schrifttum in den Bereich der Literaturwissenschaft gezogen werden kann. Den weitesten Rahmen hat wohl die „Cambridge History of English Literature“ (14 Bände, 190716) gespannt, indem sie „the literature of science and philosophy, and that of politics and economics; parliamentary eloquence; the work of schools and universities and libraries; scholarship; the pamphlet literature of religious and political controversy; the newspaper and the magazine, the labours of the press and the services of booksellers; homely books dealing with precept and manners and social life; domestic letters and street songs; accounts of travel and records of sport“ in ihre Gemeinschaftsarbeit einbeziehen wollte. Dieses Programm greift auf dem Gebiet der Nationalliteratur nicht weniger weit aus als seinerzeit auf dem Gebiet der Weltliteratur jene polyhistorische Göttinger „Allgemeine Geschichte der Künste und Wissenschaften“ (1796 ff.), die die schönen Redekünste aller Länder zur allgemeinen Überschau zu bringen bemüht war (vgl. oben S. 28). Sollte solche Darstellung in der Hand eines einzelnen bleiben, so dürfte, wie Ernst Elster bemerkt, der Literarhistoriker oder vielmehr der universale Geistes- und Kulturgeschichtler, der an seine Stelle zu treten hätte, einer selbständigen Würdigung aller wissenschaftlichen Werke vom Standpunkt des betreffenden Faches aus unmöglich gewachsen sein. Ein solcher Querschnitt aus der universalen Kulturgeschichte steht außerdem vor ähnlichen darstellerischen Unmöglichkeiten wie die universale Literaturgeschichte, die dasselbe Gebiet im Längsschnitt zu durchmessen hätte. Für eine Behandlung als Selbstzweck innerhalb der Literaturgeschichte können Erscheinungen reiner Wissenschaft, wenn sie auch noch so epochemachend für ihr Zeitalter und noch so symptomatisch für den Zeitgeist waren, nicht in Betracht kommen. Wie weit die Erfindung der Infinitesimalrechnung Leibniz oder Newton zuzuschreiben ist, gehört weder in die deutsche noch in die englische Literaturgeschichte. Aber als Gesamterscheinung kann der Verfasser der „Theodicee“ und „Monadologie“ unmöglich ausgeschlossen werden, und die intensive Beobachtung der Spiegelung, die diese geistesgeschichtlichen Taten in der Dichtung gefunden haben, macht sie zum Gegenstand nicht eines philosophischen Exkurses, sondern zwingt dazu, sie in eine Schau literarhistorischer Tatsachen einzufügen. Während Scherer in seiner Anzeige der Hettnerschen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts verlangt hatte, daß die Geschichte der Wissenschaften in die Literaturgeschichte hineinbezogen werde, |#f0086 : 62|

kam später seine eigene Darstellung dieser Forderung kaum nach, aber Richard Heinzel übte trotzdem an der Literaturgeschichte seines Freundes Kritik, weil sie nicht reine Kunstgeschichte im Sinne Winckelmannscher Stilperiodisierung, sondern Geschichte des geistigen Lebens geboten habe. Ein ähnlicher Standpunkt ist neuerdings häufiger vertreten worden, indem man den Ausdruck Literaturgeschichte durch „Dichtungsgeschichte“ zu ersetzen vorschlug. Das bedeutet nicht nur Eindeutschung; als solche hätte das Wort „Geschichte des Schrifttums“ genügt; sondern es sollte ein Gegenstück zu Kunstgeschichte und Musikgeschichte sein. Dabei wurde aber zu wenig beachtet, wieviel enger als jene Künste die Dichtung mit philosophischer und religiöser Literatur durch gleiche Themen und gleiche sprachliche Ausdrucksmittel verbunden ist. Auf geistesgeschichtlicher Seite setzte denn auch der lebhafteste Widerspruch ein bei Rudolf Unger und besonders bei Herbert Cysarz, der an Stelle der „törichten Trennungsversuche“ die fortschreitende Erkundung der Wechselbeziehungen treten lassen will als „Einsicht, daß jegliches Bild der Dichtung an letzten Erkenntniswerten, zumindest letzten Fragen der Erkenntnis teilhabe, daß anderseits jegliche Philosophie, jegliche Wissenschaft des Menschen und der Welt, auch die ästhetische Sphäre einschließe“. Das führt zu Fragen der Deutung und Darstellung, die späteren Erörterungen vorzubehalten sind. Um was es sich zunächst handelt, ist die Abgrenzung des überlieferten Stoffes, wobei das Verhältnis zwischen „Dichtung“ und „Literatur“ zu klären ist. „Literatur“ gilt selbst in der Fassung „schöne Literatur“, die einen Abstand von der „wissenschaftlichen Literatur“ herstellt, allgemein als der weitere Begriff, so daß alle Dichtung als schöne Literatur, aber keineswegs alle schöne Literatur als Dichtung genommen wird. Ein davon abweichender Versuch Hermann Hefeles, Dichtung als persönliche und private Angelegenheit eines liberalistischen Subjektivismus, Literatur dagegen als Ausdruck des volkhaften Gemeinschaftserlebnisses zu erklären mit dem Verlangen, daß alle Dichtung Literatur werde, widersprach so vollständig dem herkömmlichen Sprachgebrauch, daß er sich nicht durchsetzen konnte. Allerdings ist eine Erweiterung des Begriffes „Dichtung“ geschichtlich zu beobachten. Die augenfällige Trennung von metrischer und prosaischer Sprachform spielt heute nicht mehr die Rolle wie in früherer Ästhetik. Noch Joh. Joach. Eschenburgs „Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften“ (1789) sonderte beispielsweise den Roman von den epischen Dichtungsarten ab und stellte ihn mit Charakteren, Biographien und Historie zusammen zur Rhetorik. |#f0087 : 63|

Dieser dritten Hauptgattung wurde die gesamte Kunstprosa zugerechnet. Auch Schiller hat den Romanschreiber nur als Halbbruder des Dichters gelten lassen wollen, Bernhardis „Sprachlehre“ nannte die Form des Romans halbpoetisch, und noch Paul Ernst sprach vom Roman als Halbkunst. Dagegen schreibt ein Dichter unserer Tage, wie Erwin Guido Kolbenheyer, dem Naturalismus das Verdienst zu, den Roman zur Dichtung gemacht zu haben, und Oswald Spengler hielt ihn für die größte Wortkunstform des Jahrhunderts. Ist in dieser Richtung der Begriff erweitert, so hat er umgekehrt eine Verengerung erlebt, indem aller lehrhafte Reimgebrauch mehr und mehr aus der als Ausdrucksform begriffenen Dichtung ausschied. Es wird deutlich, daß nach Kriterien der äußeren Sprachform keine Unterscheidung zu treffen ist. Der Abgrenzung von „Dichtung“ und „Literatur“ hat Benedetto Croce jüngst ein eigenes Buch gewidmet, nachdem er alle möglichen Werke der Ästhetik, Poetik und Rhetorik vergebens nachgeschlagen hatte, um eine befriedigende Erklärung zu finden. Was er selbst beiträgt, dürfte auch noch keine endgültige Lösung darstellen. Der Dichtung als innerlicher Weltschöpfung, die alle Teile zu einem harmonischen Ganzen verknüpfend, aus der Enge des Endlichen ins Unendliche hinüberträgt und dem einzigen Kriterium der Schönheit unterworfen ist, wird die „espressione letteraria“ als eine auf gesellschaftlichen Grundlagen beruhende Geistesform anderer Art gegenübergestellt; daneben findet noch eine prosaische, eine rednerische, eine empfindsame und eine leidenschaftliche Ausdrucksform der Sprache ihren Platz. Praktisch aber bleibt die schon früher vertretene Auffassung in Geltung, daß nur die schöpferischen Geister zur Geschichte der Dichtung gehören. Für die überragenden eigenschöpferischen Werke, die über alle nationale und zeitliche Gebundenheit erhaben sind, bleibt die ästhetische Methode anwendbar, die das Große vereinzeln muß oder allenfalls miteinander vergleichen kann, aber es nicht nach seinen Ursprüngen zu begreifen sucht. Wenn dabei die historische Betrachtungsweise ausdrücklich ausgeschlossen wird, kann man dann eigentlich von Geschichte der Dichtung sprechen? Die von Croce anerkannte „storia della poesia“ ist angewandte Ästhetik, aber keine Geschichte. Anders darf es bei den kleinen Geistern sein; alle Werte, die zeitlich und räumlich gebunden sind, sollen nach historischer Methode behandelt werden; dafür sind sie aber nicht der Dichtungsgeschichte, sondern der Geschichte der Kultur, der Neigungen und der Zielsetzungen verschiedener Völker zuzusprechen. Bei solcher Gebietsaufteilung zwischen einer auf geschichtliche |#f0088 : 64|

Grundlagen verzichtenden Poetik, die sich der Kritik und Ästhetik hoher Dichtung widmet, und einer Literaturgeschichte, die nur Teil der Kulturgeschichte wäre und wirkliche Dichtung auszuschließen hätte, würden Gipfel getrennt, die in den reinen Äther ragen, und Täler, in denen die arbeitenden Menschen sich drängen und jagen; dazwischen aber läge eine undurchdringliche Wolkenschicht. So kann es indessen unmöglich gemeint sein, daß die für geschichtliche Betrachtung freigegebene Rumpfliteratur, der die Dichter fehlen, als abgerahmte Magermilch und als Kuchen, aus dem die Rosinen herausgepickt sind, übrig bliebe. Vielmehr stehen auch die großen Dichter mit ihren Füßen in der Kulturgeschichte, in der die Voraussetzungen ihres Werdens liegen; mit Leib, Herz und Sinnen gehören sie der Literatur- und Geistesgeschichte ihrer Völker an, die ohne sie nicht zu denken ist; nur die Häupter ragen in eine Sphäre, zu der die Literaturgeschichte wohl den Ausblick bietet, die aber in ihren überzeitlichen Werten den geschichtlichen Bedingungen entrückt ist. Mit der ganz anderen Methode einer „Wesensanatomie“ bemüht sich der Phänomenologe Roman Ingarden, das literarische Kunstwerk von dem Grenzfall des wissenschaftlichen Werkes zu trennen. Dem wissenschaftlichen Werk wird eine analoge Polyphonie im Schichtenaufbau sprachlicher Lautgebilde und Bedeutungseinheiten dargestellter Gegenständlichkeiten und schematisierter Ansichten zugestanden, nur daß die Gewichtsverteilung eine andere ist. Die eigene Funktion des Wissenschaftswerkes wird gesehen im Gebrauch echter Urteile und in der Unterordnung der ästhetischen Wertqualitäten unter die Festlegung gewonnener Erkenntnisresultate. Aber der Grenzfall tritt in Wahrheit erst ein, wenn die Urteile nicht echt sind, sondern sich einer künstlerischen Absicht unterordnen, so daß die ästhetischen Wertqualitäten über die Erkenntnisresultate dominieren. Auf diese Weise kommen zur schönen Literatur die Predigten und politischen Reden, die Erzählungen für die Jugend, die Aphorismensammlungen, Kritiken und satirischen Skizzen, die Reisebeschreibungen, Selbstbiographien, Briefe und Tagebücher, ja fast das ganze Zeitungsfeuilleton. Alles kann einen gewissen Anspruch erheben, als sprachliches Kunstschaffen angesehen zu werden. Wenn man nun als Zwischenfeld zwischen Wissenschaft und Dichtung die Belletristik, also die „schöne Literatur“ im engeren Sinne, ansieht, gelangt man zu einer Abstufung, die mit der Einteilung Dragomirescus von „œuvres pratiques“, „œuvres artistiques“ und „chefs-d'œuvre“ ziemlich übereinstimmt. Aber das bedeutet eine ästhetische Wertskala, wie sie Ingarden vermeiden wollte. Er hatte |#f0089 : 65|

seiner ontologischen Untersuchung jede Spielart des literarischen Kunstwerkes unterworfen, gleichviel ob „irgendein Kriminalroman aus einer Zeitung oder ein banales Liebesgedicht eines jungen Schülers“ vorlägen. Erst nach Bereinigung der allgemeinen Begriffsbestimmung sollte an die ästhetische Schätzung herangegangen werden. Soviel erkenntnistheoretische Berechtigung dieses planmäßige Vorgehen der phänomenologischen Methode haben mag, und so viel Wert ihm für die Abtrennung der wissenschaftlichen von der schönen Literatur zukommt, so wenig ist es doch für die Sichtung dessen, was übrig bleibt, brauchbar; die Praxis der Literaturwissenschaft kommt bei diesem langsamen Tempo nicht vorwärts. Wir können nicht beliebige Beispiele herausgreifen, um an ihnen begrifflich zu experimentieren, sondern wir stehen zunächst der ungeheuren Masse einer kaum übersehbaren Überlieferung gegenüber, die es zu bewältigen gilt. Wir müssen von vornherein den Unterschied machen zwischen Literatur und Makulatur. Damit erkennen wir eine Auslese an, die bereits die Zeit vollzogen hat. Das schülerhafte Liebesgedicht kann uns höchstens etwas angehen, wenn der Verfasser später ein großer Mann geworden ist und wenn sich in den tastenden Anfängen bereits Merkmale der Genialität erkennen lassen. Wir greifen also innerhalb der geschichtlichen Folge wieder auf das bibliothekarische Ordnungsprinzip des Namenkatalogs zurück und fassen das zusammen, was der Persönlichkeit eines Dichters zugehört und zu ihrem Ausdruck geworden ist. In diesem Zusammenhang gewinnen auch Literaturwerke Bedeutung, die man nicht zur Dichtung und vielleicht nur mit Einschränkung zur schönen Literatur rechnen kann wie Goethes „Italienische Reise“, seine Winckelmann-Biographie, seine Cellini-Übersetzung, seine Farbenlehre. Das alles möchte Benedetto Croce ausdrücklich aus der Geschichte der Dichtung ausgeschlossen wissen. Wenn wir ihm nicht folgen wollen, so müssen wir an Stelle solcher Dichtungsbetrachtung, die keine Geschichte ist, den Begriff einer „Dichtergeschichte“ setzen. Das klingt wie eine Analogie zur „Künstlergeschichte“, die etwas abseits von der eigentlichen Kunstwissenschaft ihren Platz hat. Aber bei dem, was wir „Dichtergeschichte“ nennen wollen, handelt es sich nicht um Aneinanderreihung von Biographien, die der Gesamtbetrachtung ein chronologisches Material zugrunde legen. Das Leben jedes einzelnen Dichters braucht nur in Betracht zu kommen, soweit die daraus erwachsenen Dichtungen zu ihm in Beziehung stehen, aber diese gehaltlichen, problemhaften und stilistischen Lebenszusammenhänge sind enger und unlösbarer als bei jeder anderen Kunst. In ihnen beruht nicht |#f0090 : 66|

nur eine zeitliche und ursächliche Folge für das ordnende Verstehen der aus diesem Leben hervorgegangenen Dichtungen, sondern zwischen den einzelnen Dichtern, deren Werk unter ihrem Namen als Einheit zu erfassen ist, bestehen wieder zeitliche, räumliche und kausale Beziehungen der Schicksalsgemeinschaft, der Wechselwirkung und der Abhängigkeit; Dichtergruppen schließen sich in räumlicher Nachbarschaft und zeitlichem Nacheinander zu Gemeinschaften zusammen; größere Gemeinschaften sind durch Stammeszusammenhänge und periodischen Wechsel erkennbar; so stellt sich Ineinanderwirken und Aufeinanderfolge in Dauer und Wechsel schließlich als großer geschichtlicher Zusammenhang dar. Auf dem Wege über die Dichter und nur über sie gelangen wir zu einer geschichtlichen Betrachtung der Dichtung, ohne sie der Kulturgeschichte unterordnen zu müssen. Aber wo bleibt dann neben der Dichtung die schöne Literatur? So schwer der Unterschied von Dichtung und Literatur in allgemeingültiger Begriffsbestimmung zu treffen scheint, so klar liegt eine andere Trennung vor uns, nämlich die zwischen Dichter und Literat in bezug auf Persönlichkeit, Berufung und Schaffensweise. Schon das 18. Jahrhundert hat, als ihm der Begriff des Schöpferischen aufging, den Unterschied zwischen Natur und Geist, zwischen Genie und witzigem Kopf, zwischen Dichter und Versifikateur gesehen. So Klopstock, Lessing und Herder, indem sie sich gegen nivellierende Auffassungen wie die des französischen „bel esprit“ wehrten. Die Situation wiederholte sich im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, als Josef Ponten in einem „Offenen Brief an Thomas Mann“ gegen die Überschätzung des Schriftstellerischen Einspruch erhob. Unter den mehr als zwanzig Antithesen, durch die er die Begriffe zu klären suchte, waren einige sehr schlagend, z. B. „Schriftstellerisch: das ist Gewand und Schneiderkunst; Dichterisch: ist das dem nackten Leib aufgewachsene Naturgewand“ „Das Schriftstellerische ist Arbeit, Ernst, Eifer, Geduld, Erfahrung, Wissen, Belesenheit, Reife, Talent, Geschmack, Zucht, Opfer, Entsagen, Fleiß, Vernunft; das Dichterische ist nichts als Gnade und Wunder.“ „Das Schriftstellerische ist „Literatur“ in reinster und strahlendster Bedeutung; das Dichterische ist Geheimnis“ „Schriftstellerisch ist Zeit, Dichterisch ist Ewigkeit.“ Alle diese Gegensätze führen auf die wesensverschiedene Art des äußeren und inneren Berufs, des Geschäftigen und des Schaffenden zurück. Der Dichter, dessen dämonische Phantasie in der Zauberkraft neuer Ausdrucksprägung ihre Befreiung findet, bleibt Schöpfer, auch wo er Literatur schreibt. Dem fingerfertigen Literaten dagegen kann nie eine wirkliche Dichtung glücken, so geschäftig er sich um die |#f0091 : 67|

Form bemühen mag. Die Werke des Literaten kommen deshalb für die Literaturgeschichte nur als Literatur zweiten Ranges, als Nachahmungen oder Gegenbeispiele wirklicher Dichtung in Betracht; die Werke des Dichters aber, auch wenn sie keine Dichtungen sind, verdienen um des Verfassers willen in der Dichtergeschichte ihren Platz. Damit ist es aber noch nicht getan. Auch andere Werke und Begebenheiten, die weder als Dichtungen noch als Werke eines Dichters anzusehen sind, müssen Beachtung finden, wenn sie für das dichterische Schaffen eines großen Einzelnen oder eines ganzen Zeitalters von einflußgebender Bedeutung waren. Auch sie gehören zu den zusammenhangvermittelnden Bindegliedern als Voraussetzungen dichterischer Schöpfung, so wie Kritiken und Nachahmungen als deren Ausstrahlung sich anschließen. Kehren wir noch einmal zur Frage nach dem Verhältnis, das zwischen Dichtung und anderen geistesgeschichtlich bedeutsamen Werken innerhalb der Literaturgeschichte bestehen kann, zurück, so ist es Sache der Darstellung, die erst am Schluß des Ganzen erörtert werden soll, zwischen vier verschiedenen Schichten ein Verhältnis herzustellen, das auch durch den zur Verfügung stehenden Raum mitbestimmt wird. Hauptsache bleiben die Werke der Dichter, sie müssen in jeder Untersuchung und Darstellung in den Vordergrund treten. Die Werke der Literaten schließen sich an als der Chor, der hinter den Protagonisten steht. Wenn sie auch keine eigenschöpferische Bedeutung haben, so legen sie in ihrer Gefolgschaft Zeugnis ab für die bahnbrechende Wirkung großer Dichtungen und für den stilbildenden Zug der Zeit. Als drittes kommen alle großen geistigen Ereignisse außerhalb der Dichtung und schönen Literatur (es kann sich um religiöse Gemeinschaftserlebnisse, um politische Bewegungen, um Kunstwerke, Erfindungen, Entdeckungen und Umgestaltungen des Weltbildes handeln) in Betracht; sie sind repräsentative Symbole des Zeitgeistes, die die Vorgänge der Dichtung beleuchten und in ihr sich auswirken. Als viertes ist alle weltanschauliche Literatur an die Dichtung heranzuziehen, soweit sie Quelle ihrer Gestaltung und Mittel für ihr Verstehen bedeutet. Die Reihenfolge und Bewertung dieser Schichten wird davon abhängen, ob eine mehr ästhetische, mehr kulturgeschichtliche, mehr ethnologische, mehr geistesgeschichtliche Einstellung vorwaltet. Immer aber muß es notwendiger Ordnungsgrundsatz sein, daß die Masse im Hintergrund bleibt und auch als Chor nur durch repräsentative Auswahl vertreten ist, während die stimmführenden Dichter im Vordergrund stehen. Diese Grundsätze, die der Vorstellung einer „histoire sans noms“ |#f0092 : 68|

vollständig entgegengesetzt sind, versagen allerdings bei der anonymen Überlieferung älterer Zeiten. Aber da bleibt auch gar nicht die Freiheit der Auswahl, sondern wir haben, wenn nichts anderes da ist, in der ältesten Überlieferung auch solche Stücke dankbar in Empfang zu nehmen, die ihrem Inhalt nach für heutige Begriffe Makulatur wären. Runeninschriften und Glossen werden nicht nur als Sprachdenkmäler zu betrachten sein, sondern als Stellvertretung verlorener Dichtung. So konnte der „deutsche Abrogans“, der nichts weiter als ein Wörterbuch ist, durch Baesecke als Anfang althochdeutscher Literaturgeschichte an einen Ehrenplatz gestellt werden. Es besteht eine Relativität des Wertes, die von Mangel oder Reichtum der Überlieferung abhängt. Quantität und Qualität können in umgekehrtem Verhältnis stehen: je größer die Menge des Überlieferten ist, desto höhere Ansprüche dürfen an das, was wir als bleibend zu betrachten haben, gestellt werden; je weniger blieb, desto höher ist der Seltenheitswert. Es ist nicht anders als mit den Sibyllinischen Büchern, mit deren Vernichtung der Preis des Übrigbleibenden sich potenzierte. Das kleinste Bruchstück muß uns eine verlorene Totalität repräsentieren, die, wie Niebuhr vom Historiker verlangte, aus den Überbleibseln zu rekonstruieren ist; umgekehrt stellt die Massenhaftigkeit der neueren Überlieferung noch keine Totalität dar, diese muß erst durch Auswahl des Repräsentativen gewonnen werden. Das bedeutet bewußte Durchführung eines Herganges, den für das Altertum der Zahn der Zeit besorgte. Planmäßige Auswahl tritt an die Stelle zerstörenden Zufalls. Der blinde Zufall, wenn dieses Wort hier nicht Gotteslästerung ist, hat mit Naturkatastrophen wie Überschwemmung, Erdbeben, Feuersbrunst, Revolution und Krieg Wertvollstes zerstört; er hat auch merkwürdigerweise Wertvolles erhalten aus keinem anderen Grunde, als weil es seinerzeit als wertlos erachtet wurde. Die Schätze der alexandrinischen Bibliothek sind nicht auf uns gekommen; aber was im alten Ägypten als Makulatur galt, läßt sich jetzt aus erstarrtem Nilschlamm herauslösen, und die Papyri, die zur Umhüllung von Mumien verwendet wurden, haben uns die älteste Überlieferung des Alten Testaments erhalten, die nur deshalb nicht verloren ging, weil sie schon im zweiten Jahrhundert vor Christus weggeworfen worden ist. Das ist ein Sonderfall. Im allgemeinen aber ist die Erhaltung wertvoller Handschriften nicht Zufall, sondern kennzeichnet die besondere Schätzung, die vergangene Zeiten dem aufbewahrten Literaturdenkmal entgegengebracht haben. Insbesondere bedeutet die Kostbarkeit des äußeren Gewandes eine Ehrenerweisung, die schon für frühe Zeiten Zusammenhänge zwischen |#f0093 : 69|

Literatur- und Geschmacksgeschichte erkennen läßt. Die Bibelübersetzung des Wulfila wäre nicht in so prunkvoller Ausstattung überliefert worden, wenn sie nicht bei den christianisierten Goten als Heiligtum der Religion und der Nation gegolten hätte; sie hätte anderseits die Stürme der Völkerwanderung nicht überstanden und wäre nicht aus der Brandung des Dreißigjährigen Krieges als Strandgut gerettet worden, wenn sie nicht als Codex argenteus auch äußerlich eine begehrenswerte Beute dargestellt hätte. Auch in der Neuzeit ist der Aufputz bibliophiler Luxusdrucke, wenn wir von erotischen Sondergelüsten des Snobismus absehen, in der Regel Texten zuteil geworden, denen dauernder Wert zuzuschreiben ist. Das Wort Dauerwert kann allerdings als Pleonasmus empfunden werden. Wir werden besser von Dauerwirkung sprechen, denn wir können einen unvergänglichen Wert aus der unveränderlichen Dauer der Wirkung erschließen, aber nicht in der gegenwärtigen Wirkung eine ewige Dauer des Wertes verbürgt sehen. Die Buchüberlieferung der Neuzeit läßt nun aus Folge und Zahl der Auflagen eine Kurve des Erfolges ablesen; der Verhältniskoeffizient zwischen der Zahl der Auflagen und dem Zeitraum, über den sie sich erstreckt, gibt eine Statistik der Wirkung, die nicht ohne weiteres mit dem Wert gleichzusetzen ist. Unter den Büchern sind, wie bei Rennpferden, Flieger und Steher zu unterscheiden. Die einen setzen sich schnell in Führung und sind nach kurzer Strecke ausgepumpt; die anderen entwickeln ihre Kraft und Wirkung erst auf langer Bahn. Außerdem gibt es klassische Renner, die Schnelligkeit und Ausdauer vereinen; das sind Bücher, die im Augenblick die Ewigkeit fanden. Hier trennen sich nun Ästhetik und Geschmacksgeschichte. Für die eine ist die Dauer von größerer Bedeutsamkeit, für die andere der Augenblick. Die eine sucht die Ursachen des Erfolges mehr in den Qualitäten des Werkes, die andere mehr in denen der Leserschaft. Die eine hat sich für ursächliche Aufschlüsse mehr an den Verfasser zu halten, die andere mehr an Buchhändler, Leihbibliotheken und Kritiker. Die Literaturwissenschaft hat zwischen diesen beiden Schwestern, der absoluten und der relativen Geschmackslehre, eine vermittelnde Stellung inne. In späteren Abschnitten ist zu erörtern, wie der Ästhetik in Urteil und wertbestimmter Auswahl die Hand gereicht und wie ihr für die Entstehungsfragen, wenn sie sich darum kümmert, Material geboten werden kann. Ebenso wird erst an anderer Stelle zu betrachten sein, bis zu welchem Grade die schriftstellerische Produktion

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jedes Zeitalters in soziologischer Abhängigkeit von Gesellschaftsklassen und Leserschichten zu sehen ist. Hier handelt es sich zunächst nur um die Überlieferung, über die unsere Literaturwissenschaft zu gebieten hat, und um Feststellung, daß sie imstande ist, der Geschmacksgeschichte ein fast unerschöpfliches Material für die Fragen der Verbreitung und des Erfolges bereitzustellen. Auch bei den Handschriften des Mittelalters kann von Auflagenziffern gesprochen werden, so wie es an Stelle der Druckereien Schreiberwerkstätten gab. Die Zahl der Handschriften, in denen derselbe Text unter zunehmender Entstellung überliefert ist, die Zeit ihrer Entstehung, die mundartliche Herkunft und die landschaftliche Verbreitung reden eine vernehmliche Sprache und lassen, wenn auch lückenhaft, erkennen, welches der zeitliche und räumliche Aktionsradius eines Werkes von seiner ersten Aufzeichnung bis zur Anwendung des Buchdrucks gewesen ist. Auch die Auswahl der ersten Werke, an denen die Druckereien die neue Kunst der Vervielfältigung erprobten, stellt einen geschichtlichen Wertmesser und ein Kriterium des Zeitgeschmacks dar. Die Wiegendrucke, d. h. die Werke, die vor 1500 aus den Offizinen hervorgingen, sind seit langem in Inkunabelverzeichnissen zusammengestellt, die das Hilfsmittel einer eigenen Wissenschaft vom Frühdruck bilden. c) Hilfsmittel zur Sichtung der Überlieferung Bei aller Überlieferung weist das erste Gebot auf vollständige Sammlung und übersichtliche Ordnung des Erhaltenen hin. Hier liegen organisatorische Aufgaben der Wissenschaft, denen sich der Einzelne nur im Dienste eines Gesamtplanes widmen kann, so wie die Gemeinschaftsleistung der Einzelarbeit eine sichere Grundlage gibt. Wer sich dem Gemeinnutz der fundamentalen Sammelarbeit hingibt, macht sich zum Glied eines Räderwerkes, dem er seine eigene Triebkraft opfert; er kann seine Arbeit nicht ohne persönlichen Anteil verrichten, aber er hat alle Vorliebe, alle ausscheidende Wertung und Darstellungsfreude zugunsten der Zuverlässigkeit zurücktreten zu lassen. In welcher Weise die Ordnungsarbeit vorgenommen wird, sei an einigen Beispielen zweckmäßiger deutscher Wissenschaftsorganisation gezeigt. Für die Handschriften des Mittelalters war man bisher auf die Kataloge der einzelnen großen Bibliotheken angewiesen. Vor einem Vierteljahrhundert aber ist von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften unter Gustav Roethes |#f0095 : 71|

Leitung das große Unternehmen eines Handschriftenarchivs ins Leben gerufen worden, das die Beschreibungen sämtlicher deutschen Handschriften bis 1520 und die der poetischen Handschriften auch darüber hinaus systematisch zusammenträgt und die Überlieferung in einem vollständigen Überblick ausbreitet. Wenn die Ergebnisse dieser großen Inventarisation einmal veröffentlicht werden, so ist für die Geschmacksgeschichte zu ersehen, daß es nicht durchaus die größten Werke der deutschen Dichtung gewesen sind, die die weiteste Verbreitung gefunden haben. Dann schlägt auch eine neue Stunde für die Literaturwissenschaft; erst dann kann eine deutsche Literaturgeschichte des Mittelalters geschrieben werden, die auf der gesamten Überlieferung beruht, ohne daß sie mit der Vollständigkeit eines Nachschlagewerkes die Darstellung zu belasten brauchte. Die Handschriften der Neuzeit haben eine andere Bedeutung für die Forschung; sie bilden nicht mehr, wie vor der Erfindung des Buchdrucks, die eigentliche Form der Veröffentlichung; vielmehr stellen sie das dar, was ihr vorausging: ungedruckt gebliebene Vorarbeiten und unausgeführte Entwürfe, die in die Werkstatt der Dichter Einblick gewähren und in frühe Stadien des Werdens zurückführen. Vor fast einem halben Jahrhundert hat der Philosoph Wilhelm Dilthey, der seine große Schleiermacher-Monographie aus dem handschriftlichen Material aufbaute, zur Gründung von Literaturarchiven in Deutschland aufgefordert, um Dichter- und Gelehrtennachlässe zu bergen und vor Verstreuung zu bewahren. Dieser Aufruf hat die Gründung der Berliner Literaturarchiv-Gesellschaft zur Folge gehabt, die aber bei ihren geringen Mitteln auf Schenkungen angewiesen war und keine zentrale Bedeutung gewinnen konnte. Dagegen haben die großen Dichtergedächtnisstätten wie das Goethe- und Schiller- Archiv, das Nietzsche-Archiv, das Rilke-Archiv in Weimar, das Schwäbische Schiller-Museum in Marbach, das Freie Deutsche Hochstift in Frankfurt am Main, die Grillparzer-Sammlung der Stadt Wien, die Gottfried-Keller-Stiftung in Zürich ebenso wie ähnliche Anstalten in anderen Ländern die Nachlässe, die ihnen großenteils durch Vermächtnis zuteil geworden sind, pietätvoll bewahrt und vermehrt. Die großen Nationalbibliotheken der Landeshauptstädte wie Berlin, Wien, München, Paris, London, Washington und altberühmte Universitätsbibliotheken wie Oxford, Cambridge, Upsala, Heidelberg haben die mittelalterlichen Bestände ihrer Handschriftenabteilungen durch Erwerb neuzeitlicher Manuskripte großzügig ergänzt. Daneben gibt es große Privatsammlungen, die wie der einzigartige Goethe-Tempel Kippenbergs in Leipzig ihren Erwerb durch Katalog und Jahrbücher der

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Wissenschaft zugänglich machten. Andere Privatsammler verhalten sich allerdings wissenschaftfeindlich, und die Gefahr besteht, daß ihre eifersüchtig zurückgehaltenen Schätze ebenso wie mancher zu lange in den Händen der Nachkommen verbliebene Nachlaß eines Tages auf dem Wege der Versteigerung in alle Winde zerstreut werden. Aber es wird nicht anders gehen als mit privaten Gemäldesammlungen; über kurz und lang wird sich doch das Wertvollste und Wesentlichste in öffentlichem Besitz wieder zusammenfinden. Einstweilen ist es zu begrüßen, daß Nordamerika, das so vieles Wertvolle entführt hat, für die in den Stammländern der deutschen Literatur verbliebenen Handschriften einen Wegweiser zu ihren Fundorten herstellen ließ, den im Auftrag der „Modern Language Association“ durch Wilhelm Frels bearbeiteten Katalog „Deutsche Dichterhandschriften“, der naturgemäß noch allerlei Lücken aufweist. Zwischen der Handschrift, die das erste Entstehen eines Textes festhält, und dem Druck, der seine endgültige Gestalt überliefert, nimmt die veränderliche mündliche Überlieferung des Volksgutes, des gesungenen Liedes, des erzählten Märchens, der berichteten Sage eine Zwischenstellung ein. Im Deutschen Volksliedarchiv zu Freiburg im Breisgau, das eine Gründung John Meiers ist, sind alle Volksliedtexte, wie sie in den verschiedensten Gegenden des deutschen Sprachgebietes gesungen wurden und noch gesungen werden, zusammengetragen und nach Liedanfängen registriert. Nach dem Vorwort des großen Volksliedwerkes, das diese Sammlung auswertet, sind über 200 000 Aufzeichnungen vereinigt. Eine Filiale ist das Musikarchiv des deutschen Volksliedes in Berlin, das alle Melodien nach einem eigenen Verfahren katalogisiert, so daß auch deren Verbreitung in allen Spielarten und Variationen überblickt werden kann. Ein viertes Sammelwerk, das als Grundlage der Forschung in keinem anderen Lande seinesgleichen hat, ist der von Karl Goedeke begründete „Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung“, der ursprünglich wohl eine Literaturgeschichte mit vollständiger Bibliographie sein wollte und schließlich eine vollständige Bibliographie mit Spuren literarhistorischer Anordnung geworden ist, wobei sich der Umfang von der ersten bis zur dritten Auflage für einzelne Abschnitte beinahe verzehnfachte. In diesem Anschwellen zeigen sich Gefahren eines Alexandrinismus. Die Vollständigkeit in der Überlieferung aller Drucke, aller Auflagen, auch aller Nachdrucke jedes Dichters macht diese Summa Summarum aller Bücherkataloge, diesen Baedeker der Literaturgeschichte, den man einer Logarithmentafel verglichen hat, zum unschätzbaren und unentbehrlichen Handwerkzeug |#f0097 : 73|

jedes Bibliothekars, jedes Antiquars, jedes Forschers. Aber die wahllose Vollständigkeit in bezug auf alle Zeitungsaufätze, die einmal über einen Dichter oder über ein Werk geschrieben und abgeschrieben worden sind, führt ins Absurde und bringt den Anfänger außerdem in Versuchung, nicht mehr aus den Quellen zu arbeiten, sondern bereits Gesagtes wiederzukäuen und sich in den Papierschnitzeln zu verfangen, die an den Schwanz des im Aufstieg schwebenden Drachen angehängt sind. „Das schwierigste am Sammeln ist das Wegwerfen“ hat Albert Köster einmal in das Album der Berliner Germanistenkneipe geschrieben. Überwindung der Vollständigkeit sowohl durch Konzentration des Wesentlichen als Ausscheidung des Unwesentlichen muß der nächste Schritt der Wissenschaft sein, nachdem die notwendige Sammelarbeit zu Ende geführt ist. Nach Sichtung der Überlieferung handelt es sich zunächst um Zusammenziehung dessen, was sich wiederholte. Die Arbeit, denselben Text immer wieder in einer anderen Handschrift zu lesen, wird ein für allemal erspart durch eine auf Kenntnis sämtlicher Handschriften beruhende zuverlässige kritische Ausgabe, die nach Möglichkeit den Wortlaut herstellt, der den endgültigen Absichten des Dichters entspricht, und alles davon Abweichende in die Lesarten verweist. Ist der Text durch verschiedene Drucke überliefert, so hat eine kritische Ausgabe dieselbe Konzentration durchzuführen, indem sie alles, was durch den Dichter selbst in Neuauflagen und Umarbeitungen verbessert worden ist, nach seiner früheren überwundenen Form in die Lesarten bringt und diese rückläufige Aufrollung der Textgeschichte noch durch Hinzuziehung der vor dem Druck liegenden Handschriften weiterführt. Die Zusammenziehung aller Werke eines Dichters einschließlich seiner Entwürfe in einer Gesamtausgabe gehört gleichfalls zur Ordnung und Klärung der Überlieferung. Dabei ist alles, was, ohne daß er sich selbst dazu bekannt hat, ihm zugeschrieben wird, auf Echtheit zu prüfen. Auf die Sammlung der Überlieferung folgt somit auch bei der Betrachtung des einzelnen Werkes die zweite Arbeitsstufe der Kritik. |#f0098 : E74|

ZW EITER HAUPTTEIL TEXT UND VERFASSER Heil den wahren Philologen! Sie wirken Göttliches, denn sie verbreiten Kunstsinn über das ganze Gebiet der Gelehrsamkeit. Kein Gelehrter sollte bloß Handwerker sein. F rie d ric h S c h le g e l. a) Kritik der Überlieferung Jede Wissenschaft geht ebenso wie jede Kunst den Weg klärender Vereinfachung. Jede Gedankenarbeit beginnt mit dem Blick auf eine verwirrende Vielheit, die als Einheit begriffen werden soll. Alle Begriffe und alle Schlüsse zielen dahin, Ordnung zu stiften und ein Chaos zum Kosmos zu wandeln, wenn es auch nur ein Mikrokosmos ist. Wenn in Sammlung eines chaotischen Materials und Sichtung einer vielfältigen Überlieferung die ersten grundlegenden Schritte jedes planmäßigen Erkenntniswillens bestehen, so muß das letzte Ziel, auf das die Methode gerichtet ist, in der durchdringenden Sinndeutung des Gegebenen und Beobachteten gesehen werden. Als nächste Zwischenstation dieser Strecke ist für die Wissenschaften, die es mit Fertigkeiten des menschlichen Geistes zu tun haben, die Kritik einzuschalten. Sowohl das Ganze wie seine Teile wie alle Einzelheiten der Überlieferung sind einer Echtheitsprüfung zu unterwerfen. Bei geschichtlichen Quellen regen sich Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit des Berichts, bei philosophischen Darstellungen gegen die Reinheit der Begriffe und die Überzeugungskraft der Beweisführung; bei religiösen Offenbarungen kann die Wahrhaftigkeit des Erlebnisses und Bekenntnisses, bei Denkmälern irgendeiner Kunst die Folgerichtigkeit der Form, die als organischer Ausdruck der Idee betrachtet werden soll, in Zweifel gezogen werden. So verschiedenartig diese Abwandlungen des Begriffes „Kritik“ nebeneinander stehen, so laufen sie doch alle darauf hinaus, hinter dem geistigen Erzeugnis eine ausdruckgebende Individualität zu suchen, eine geschlossene Persönlichkeit, deren Wesenszüge und Absichten sich unverfälscht abspiegeln müssen. Wo dem angenommenen Urheber nicht die volle Verantwortung für jede Einzelheit aufgeladen werden kann, muß mit Störungsmomenten des Ausdrucks und des |#f0099 : 75|

Eindrucks gerechnet werden. Es fehlt, was Goethe in seinem bekannten Spruch über die Aufgaben der Philologie als „Kongruenz des Überlieferten“ bezeichnet. Die Echtheitsprobe, gleichviel ob sie dogmatisch, logisch, psychologisch, ästhetisch oder philologisch gemeint ist, bezieht sich immer auf die Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit einer inneren Übereinstimmung zwischen Persönlichkeit und Werk wie auf die Frage, ob beides im Großen wie im Kleinsten zur Deckung gebracht werden kann. Wo eine Trennung sichtbar wird, liegen Mängel an Folgerichtigkeit und treffendem Ausdruck vor, die dem kritischen Zweifel recht geben und den Verdacht begründen, daß im Zeichen irgendwelcher fremden Einmischung entweder das vorliegende Werk oder die angenommene Persönlichkeit Brüche aufweisen, so daß sie weder in sich allein noch im gegenseitigen Verhältnis als harmonierende Einheiten aufzufassen sind. Beim Wortkunstwerk hat die kritische Prüfung bereits mit dem Buchstaben der Überlieferung zu beginnen. Die eigenhändige Niederschrift des Dichters hat höheren Wert, wenn sie erster Wurf ist und nicht spätere Reinschrift. Die Bedeutung steigert sich, wenn die Urschrift von den späteren Fassungen abweicht, wenn sie gelegentliches Schwanken zwischen verschiedenen Ausdrücken oder Spuren suchender Selbstkritik in Ausstreichungen, Einfügungen und anderen Verbesserungen erkennen läßt, die unmittelbar in das Stadium des Werdens zurückführen. Aber auch ohne solche Eierschalen der Entstehung hat die Urschrift nicht nur einen Wert als Autogramm, sondern sie wird ein besonderer Gegenstand graphologischer Beobachtung, wenn sie dem Schriftkenner über die Lebensstimmung und Geistesverfassung, aus der die Niederschrift hervorging, Aufschluß zu geben vermag. Der Fetzen, auf den Goethe den Anfang seines „Ewigen Juden“ schleuderte, bestätigt in regellosen Schriftzeichen die erlebte Situation des Eingangs; es ist nächtlich zu Papier gebrachte Sturm- und Drang-Inspiration: Um Mitternacht wohl fang ich an, Spring aus dem Bette wie ein Toller, Nie war mein Busen seelenvoller, Zu singen den gereisten Mann. Wenn nun die Herkunft solcher Uraufzeichnung aus dem Nachlaß des Verfassers nicht unbedingt gesichert ist, so bleibt immer Vorsicht geboten. Das Schriftstück kann unecht sein, was sich unter Umständen schon aus der Beschaffenheit des verwendeten Papiers ergibt. So konnte im 18. Jahrhundert Malone, der berühmte Kritiker der Shakespearetexte, |#f0100 : 76|

in einem angeblich eigenhändigen Manuskript des „König Lear“ über zwanzig verschiedene Wasserzeichen als Kennzeichen der Unechtheit nachweisen. Die Handschrift stammte von William Henry Ireland, der aus Shakespeare-Enthusiasmus zum Fälscher geworden war; er hatte sich das verschiedenartige alte Papier aus Vorsatzblättern von Drucken der Shakespearezeit zusammengeschnitten. Ein anderes Beispiel: Durch Max Herrmann wurde einmal der Berliner „Gesellschaft für deutsche Literatur“ ein Buch vorgelegt, dessen ehemalige Zugehörigkeit zu Luthers Bibliothek durch dessen eigenhändigen Besitzvermerk gewährleistet schien. Auf seinem Vorsatzblatt war in des Reformators eigener Hand das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu lesen. Es mußte, ohne daß besondere Erregungszeichen der Schrift es verrieten, die Uraufzeichnung sein, denn sie überlieferte in dem nachher durchgestrichenen und ersetzten Anfang „Mein Gott ist eine feste Burg“ eine bisher unbekannte Fassung. Schriftsachverständige hatten die Züge der Lutherischen Normalschrift anerkannt. Aber der Gerichtschemiker, dem das corpus delicti vorgelegt wurde, entschied anders. Das Papier der Aufzeichnung war alt, und echt war nur dieses. Die Tinte war von einer im 16. Jahrhundert nicht gebräuchlichen Zusammensetzung. Bei mikroskopischer Vergrößerung zeigten sich Tintenspritzer, die dem bloßen Auge nicht erkennbar waren; sie verdankten einem Wurmloch, an dem die Feder hängen geblieben war, ihre Entstehung. Also war die Einzeichnung in einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der Bohrwurm seine Tätigkeit bereits durchgeführt hatte; das Buch muß damals schon einige hundert Jahre alt gewesen sein. Und nun stellte sich heraus, daß das Berliner Kriminalmuseum ein paar Dutzend auf denselben Vater zurückgehende Geschwisterkinder aufbewahrte als Erinnerung an einen Prozeß, der Jahrzehnte vorher einem gewerbsmäßigen Fälscher namens Kyrieleis, der sich auf Herstellung von Lutherhandschriften verlegt hatte, gemacht worden war. In derselben Weise war um die Mitte des 19. Jahrhunderts dem Weimarer Gerstenbergk als fabrikmäßigem Hersteller von Schillerhandschriften das Handwerk gelegt worden. Solche Prozesse hat die Geschichtswissenschaft in unzähliger Menge vor ihrem eigenen Tribunal zu führen, nur daß die Schuldigen nicht mehr erreichbar sind. Auch sind sie nicht eigentlich in den unbekannten Herstellern gefälschter mittelalterlicher Urkunden zu sehen, die es vielleicht für Gotteslohn taten, sondern in den Auftraggebern, für die weit größere Belange an politischen Rechtsansprüchen auf dem Spiel standen. Da aus dem Mittelalter fast ebensoviel unechte Urkunden, Annalen, Chroniken und Memoiren überliefert sind |#f0101 : 77|

als echte, hat sich ein eigenes System historischer Hilfswissenschaften entwickeln müssen, das unter Zuhilfenahme aller Mittel der Technik in Paläographie, Diplomatik und Sphragistik die Methoden der Echtheitsprüfung bis zur höchsten Feinheit ausgebildet hat. Die Literaturgeschichte des Mittelalters kommt in die Lage, nicht nur für Ausschluß von Fälschungen, sondern auch für Datierung und Textkritik handschriftlich überlieferter Dichtung dieselben Methoden als eine literaturgeschichtliche Hilfswissenschaft in Anwendung zu bringen. Und wo die historische Kritik allzu mißtrauisch war, wie bei den Dramen der Hrotswith von Gandersheim, die Aschbach als Fälschungen des Celtis ansehen wollte, kann sie auf Grund handschriftlicher Funde wieder zur Überzeugung von der Echtheit zurückkehren. Läßt sich die Zuverlässigkeit handschriftlicher Überlieferung mittels hochentwickelter Prüfungsmethoden beurteilen, so ist wenig geholfen, wenn etwas anderes als die Echtheit der Schrift in Frage steht. Es kann Fälle geben, bei denen die Schrift gleichgültig ist, während es nur auf die Echtheit des Inhalts ankommt. Der Zufall hat es gewollt, daß von den beiden größten Werken Goethes die erste Fassung nur in fremder Abschrift erhalten ist. Da sich der „Urfaust“ im Nachlaß des Fräulein von Göchhausen, der „Urmeister“ in dem der Frau Bäbe Schultheß gefunden hat, kann die Identität der Handschrift leicht festgestellt werden, und die äußere Zuverlässigkeit der Überlieferung steht außer Zweifel. Die innere Zuverlässigkeit ist damit noch nicht erwiesen; hier muß erst Übereinstimmung mit den Daten der Entstehungsgeschichte hergestellt werden; dann fällt es der sprachlichen Untersuchung zu, unter Zuhilfenahme des späteren, umgearbeiteten Druckes und unter Heranziehung von Goethes damaligem Sprachgebrauch und Stil allerlei Flüchtigkeiten, Auslassungen und Verschreibungen, ebenso wie alle orthographischen und mundartlichen Eigentümlichkeiten der Abschreiberinnen als ihre Beimischung auszuscheiden, um dem Text den Wert der verlorenen Vorlage wiederzugeben, für die er Ersatz zu bieten hat. Ebenso wie Fehler der Abschrift auf Grund des späteren Druckes zu erkennen sind, könnte auch möglicherweise der Drucktext auf Grund der Abschrift zu berichtigen sein. Ein zweifelhafter Fall liegt z. B. vor, wenn das Lied Mignons in der Abschrift des „Urmeister“ alle drei Strophen mit dem Kehrreim „Möcht' ich mit dir, o mein Gebieter ziehn“ schließen läßt. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ bringen statt dessen die Steigerung „Geliebter“, „Beschützer“, „Vater“. War nun „Gebieter“ ein Schultheßscher Schreib- oder Lesefehler? Oder ist umgekehrt „Geliebter“ ein Fehler des ersten Druckes, dem alle |#f0102 : 78|

späteren Ausgaben folgten? Würde nicht die sinngemäßere Steigerung „Gebieter“, „Beschützer“, „Vater“ den eingestandenen Gefühlen Mignons für Wilhelm entsprechen? Diese Frage kann eigentlich nur aus einer Analyse des Mignon-Charakters beantwortet werden. Und wenn sie zugunsten der Abschrift ausfiele, so würde dennoch der Text des Liedes so, wie er gesungen wird, gleich einem zersungenen Volksliede sein Recht behalten. Die in diesem Falle durch den Dichter selbst anerkannte Tradition ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wo die fremde Vermittlung eines Schreibers anzunehmen ist, besteht immer ein Unsicherheitsfaktor. So erklären sich einige Fehler in Schillers „Prosaischen Schriften“ wie in einer Neuauflage des „Abfalls der Niederlande“ dadurch, daß als Druckvorlage nicht der durchkorrigierte Erstdruck, sondern die Zwischenstufe einer neuen Abschrift benutzt wurde. Bei der Billigkeit der Schreiberlöhne wurden diese Kosten dem Aufopfern eines Druckexemplars vorgezogen. Weglassungen von Worten oder ganzen Satzteilen sind nun als Flüchtigkeiten des Abschreibers, nicht als Streichungen des Verfassers zu verstehen. Schon ein Text, der als Diktat aufgenommen wurde, ist auf Hörfehler und Mißverständnisse zu prüfen. In viel höherem Grade sind nachträgliche Aufzeichnungen von Gesprächen der unwillkürlichen Verfälschung aus getrübter Erinnerung oder auch der tendenziösen Umbiegung in redigierter Form ausgesetzt. Was in Platons Dialogen oder bei Xenophon als Rede des Sokrates festgehalten ist, kann natürlich nur für stilisierte Wiedergabe seiner Lehre und Sprechweise genommen werden; aber auch das, was Eckermann Goethe in den Mund legte, dürfte nicht, wie meist geschieht, mit den „Sprüchen in Prosa“, den „Maximen und Reflexionen“ und den Briefen auf gleiche Stufe gestellt und ohne weiteres als authentischer Ausspruch zitiert werden. So sinngetreu die Wiedergabe sein mag, so fehlt ihr eben doch die persönliche Prägung. Aber auch die sinngemäße Treue der Wiedergabe ist von der zeitlichen Entfernung zwischen Aussprache, Aufzeichnung und Ausarbeitung abhängig, und die Methode der Zuverlässigkeitsprüfung wird diesen Abstand in Rechnung ziehen müssen. Kehren wir zur Dichtung zurück, so können größere Schwierigkeiten bestehen, wenn nur die Abschriften der Abschriften erhalten sind, wie es bei den Sesenheimer Liedern der Fall ist. Lange nach dem Tode der Friederike Brion hat ihre überlebende Schwester noch Aufzeichnungen einzelner Lieder in Besitz gehabt, die sie Besuchern, die danach fragten, vorlegte. Deren Berichte widersprechen sich, sowohl was die Zahl der Lieder als den Charakter der Schrift betrifft, |#f0103 : 79|

in der teils Goethes, teils Friederikens, teils fremde Hände erkannt wurden. Es gab damals noch kein photographisches Verfahren, um die Schriftzüge für genaue Untersuchung festzuhalten. Die Vorlagen sind verloren; man ist nur auf die Abschriften des späteren Dramatikers Kruse angewiesen. Das kritische Problem verwickelt sich dadurch, daß Friederike sowohl von Goethe als von Lenz besungen wurde. Vergleiche mit der anderen gleichzeitigen Produktion beider Dichter, Untersuchungen des Klanges, des Stils, des Sprachgebrauchs, insbesondere der Qualität der Reime, die bei dem Livländer Lenz eine andere sein mußte als bei dem Rheinfranken Goethe, haben zur Klärung des beiderseitigen Anteils geführt bis auf ein noch umstrittenes Gedicht, bei dem eine etwas erkünstelte Hypothese Kontamination annahm, nämlich Erweiterung eines ursprünglich dreistrophigen Goethe-Liedes durch drei für den Gesang Friederikes eingefügte Strophen von Lenz. Mit solchem Zuwachs, der aber anonym bleibt, haben wir es durchgehend im Leben des Volksliedes zu tun. Dort bestehen ganz andere Echtheitsbegriffe: echt ist alles, was und wie es gesungen wird, und unecht ist nur das Künstliche, Gemachte, das Volkslied sein will, aber den Ton nicht findet und nicht Gesang wird. Die schriftliche Aufzeichnung spielt beim wirklichen Volkslied nur insofern eine Rolle, als sie den in Gemeinschaft gesungenen Text zuverlässig wiederzugeben hat; je mannigfaltiger aber die Überlieferung zersungener Texte sich darstellt, desto willkommener ist das vielfältige Material für die Beobachtung des Geschmackes der Zeitalter und Landschaften, die in der zersetzenden Aneignung eines ursprünglich individuellen Liedes eigene stilbildende Kraft entfalten. Während die philologische Zielsetzung auf Wiederherstellung des reinen Urtextes ausgeht, der zweifellos einmal als Kunstlied eines unbekannten Verfassers vorhanden war, wendet sich die volkskundliche Liebe der vielseitigen Verzweigung zu, deren Wert gerade in der allmählichen Verfälschung des ursprünglichen Wortlautes gesehen werden muß. Von volkskundlichem Wert kann auch eine selbständige, unbeholfene Stümperei sein, wie sie etwa in der von Piper ausgegrabenen Altonaer Josef-Kantate vorliegt. Man hat sie dem jungen Goethe, der seinen in Prosa geschriebenen „Josef“ dem Feuer überantwortete, in die Kinderschuhe schieben wollen, und es haben sich Schriftsachverständige bereitgefunden, die Handschrift als die jenes Frankfurter Schreibers Clauer, der im Goethischen Hause tätig war und nach Diktat des Knaben Wolfgang sein Werk zu Papier gebracht haben soll, zu erkennen. Ein emsiges Bemühen um Quellennachweise suchte zu belegen, daß die |#f0104 : 80|

zugrunde liegende Belesenheit des Josef-Dichters nirgends anders als in der Bibliothek des Herrn Rat zu erwerben war. Die Karikatur philologischer Methoden führte auf Irrwege. Stärker waren, von Geschmacks- und Stilkritik abgesehen, die unwiderleglichen sprachlichen Kriterien. Nach Reimgebrauch und Wortschatz ist dieses Werk eines frommen Pietisten, wie sich auf Grund des Deutschen Sprachatlas geographisch abgrenzen läßt, nach Norddeutschland, und zwar gerade in die Gegend von Altona zu verweisen, womit jeder Anteil des jungen Goethe ausgeschlossen wird. Ein einziges Wort, nämlich das nord-ostdeutsche „Scheune“ statt des südwestdeutschen „Scheuer“ hätte hierfür schon entscheidend sein können. Wenn in diesem Falle die Beurteilung der Handschrift nicht maßgebend sein konnte, so gibt es wiederum Fälle, bei denen überhaupt nicht die Echtheit der Schrift anzuzweifeln ist, sondern nur die des Textes, der einem anderen als dem Schreiber zugesprochen werden kann. Daß es sich um keine Urschrift, sondern um eine fremde Abschrift handelt, kann sowohl durch die mechanische Sauberkeit der Schriftzüge als durch Verschreibungen und Auslassungen sich verraten. So stellte Jos. Bédier in einer berühmt gewordenen scharfsinnigen Untersuchung fest, daß die Schrift „Le paradoxe sur le comédien“ nicht deshalb Diderot aberkannt zu werden braucht, weil sie in der Handschrift Naigeons erhalten ist, denn diese erweist sich als Abschrift. Ungeklärt ist der Fall bei einem in Tiecks Nachlaß befindlichen Drama „Das Reh“, das in der Handschrift des vielleicht beteiligten Freundes Schmohl überliefert ist; von dessen eigenem Stil liegen zu wenig Proben vor, als daß eine Untersuchung angestellt werden könnte. Noch schwieriger ist die Entscheidung bei einem in Lessings Nachlaß gefundenen einaktigen Drama „Zorade“, dessen Handschrift nicht die Lessings ist, während einige kritische Randbemerkungen möglicherweise ihm zuzuschreiben sind. Solange die Hand des Schreibers nicht ermittelt ist, läßt sich zu keinem Schluß über die Verfasserschaft kommen. Sobald man aber nicht an Lessing als Verfasser zu denken hat, besitzt das Stück keine Bedeutung mehr. Klarer sieht man bei dem als „Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“ bezeichneten Schriftstück, das als Niederschrift Hegels in seinem Nachlaß gefunden wurde. Die Interpretation der Schriftzüge stellt außer Zweifel, daß es sich um keine erste Aufzeichnung, sondern um die Wiederholung eines fremden Textes handelt. Und nun wird um die Priorität der Freunde Schelling oder Hölderlin gestritten eine Frage, die wegen der gleichen Herkunft und

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Lebensgemeinschaft nicht durch mundartliche und beinahe ebenso wenig durch stilistische Kriterien entschieden werden kann, sondern nur durch Entwicklung der Ideenkreise, in denen sich jeder von beiden in jenem Zeitpunkt bewegte. Ein anderes Beispiel betrifft gleichfalls Hölderlin, diesmal als Schreiber. In seinem Nachlaß fand sich ein eigenhändig aufgezeichnetes Gedicht, das vor vielen Jahrzehnten in eine Ausgabe des Dichters aufgenommen wurde; es stellte sich nachher als Abschrift Klopstockscher Verse heraus. Einem noch schlimmeren Mißgeschick fiel ein Entdecker zum Opfer, der in einem Brief des Grafen v. Loeben ein bisher unbekanntes geistliches Lied mit dem Titel „Trostsegen“ zitiert fand. Hier liegt dreifaches Verschulden vor, denn erstens war die Unterschrift, die „Tersteegen“ lautete, falsch gelesen, zweitens reichte die literarhistorische Beschlagenheit nicht aus, um diesen großen pietistischen Lyriker des 17. Jahrhunderts zu erkennen, in dessen Gedichten sich das Lied findet; drittens hätte eine richtige Stilanalyse zum mindesten die Unmöglichkeit der Zuweisung an den Romantiker ergeben müssen. Auch bei Novalis hat sich ein Gedicht als übersetzte Horazische Ode, ein anderes als überarbeitetes Gesangbuchlied erwiesen, und unter den „Fragmenten“ wurden einige als Exzerpte aus Hemsterhuis erkannt, so daß alles dies aus den Eigenschöpfungen mehr oder weniger ausscheiden muß. Diese Beispiele genügen statt vieler andern, um vor Leichtfertigkeit und Leichtgläubigkeit zu warnen. Es zeigt sich, daß schon für die einfachen Vorsichtsmaßnahmen der Fundamentierung eine erfahrungsmäßige Kenntnis des ganzen Fachwerkes vonnöten ist. Dem Schriftkenner und Techniker der Entzifferung muß der Wortforscher und Stilkenner über die Schulter sehen und mit seinem Verständnis beispringen.

b) Kritik des Textes Indem wir uns nun von der Schrift dem Wort zuwenden, betreten wir das Gebiet, das im engeren Sinne der Philologie und ihren Methoden eignet. Entgegen einer zeitweiligen Überschätzung dieser Methoden als der alleinseligmachenden, die vor jeder Willkür sichern, ist man heute eher geneigt, die Philologie als ein niederes Handwerk einzuschätzen, das mit seiner Vereinzelungstendenz dem synthetischen Aufbauwillen der eigentlichen Wissenschaft entgegengesetzt ist. Bestenfalls wird sie als Kunst des Feinmechanikers anerkannt, dessen Räder in das Uhrwerk des Meisters eingesetzt werden. Aber oft wird Philologie nur als Frondienst der Tagelöhner angesehen, deren Arbeit |#f0106 : 82|

unentbehrlich, aber nicht vollwertig ist. Es wird ihr manchmal kein anderes Verdienst zuerkannt, als die Straßen zu pflastern und zu reinigen, damit den königlichen Karossen, die zu ihrem Ziele fliegen, unterwegs kein Unglück passiert. In der Tat kann man sagen, daß alle geschichtlichen Wissenschaften, die auf Auswertung sprachlicher Quellen angewiesen sind, die philologischen Handlangerdienste in Anspruch nehmen müssen, um auf dem festen Boden zuverlässiger Textüberlieferung und eindeutiger Interpretation über keine Unebenheiten zu stolpern. Jede Fakultät hat in diesem Sinne ihr sprachliches Wegebauamt; Exegese des Alten wie des Neuen Testamentes und der Kirchenväter, römische wie deutsche und vergleichende Rechtsgeschichte, Philosophiegeschichte wie Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin betrachten die Philologie als ihre Hilfswissenschaft. Das tut jede Wissenschaft, die sich als Mittelpunkt fühlen muß, gegenüber ihren Nachbargebieten, mit denen sie im Austausch steht. Nun aber wird die Philologie ihrerseits von soviel Nachbarschaften in Anspruch genommen, daß sie, ähnlich wie die Philosophie, eine zentrale Stellung in den Geisteswissenschaften einzunehmen scheint. Allerdings ist der Kreis, dessen Mittelpunkt jene bildet, größer; die Philosophie ist allen Einzelwissenschaften übergeordnet; die Philologie ist den verschiedenen Geisteswissenschaften beigeordnet. Aber da die Mittelpunkte der beiden Kreise auseinander liegen, können sie als Brennpunkte erscheinen, die im Verhältnis einer gewissen Polarität, um nicht zu sagen Rivalität, zueinander stehen. In der Literaturwissenschaft ist dieses Kräftespiel, wie bereits der geschichtliche Überblick zeigte, geradezu verfassungsmäßige Struktur und Gesetz des Blutumlaufes. Wenn Literaturwissenschaft, wie im Eingang erklärt wurde, nichts anderes als Methodenlehre ist, so muß ihr die Aufgabe zufallen, zwischen philosophischer und philologischer Methode einen Ausgleich herbeizuführen. Man hat sowohl der Philosophie als der Philologie den Charakter der Einzelwissenschaft abstreiten wollen und in ihnen überhaupt nur Methoden des Denkens und Deutens erblickt. Daß es einmal im Sinne einer Bedeutungssteigerung, das andere Mal im Sinne einer Bedeutungsminderung geschehen ist, indem der Philosophie eine allbeherrschende, der Philologie eine alldienende Stellung beigemessen wurde, ist hier nicht von so großer Wichtigkeit. Aber wohl ist festzustellen, daß neben dieser allgemeinen Bedeutung beide Wissenschaften den Anspruch auf ihre Eigengebiete in der Praxis bewahrt haben. Nur daß wir dann nicht mehr von einer Philologie sprechen, |#f0107 : 83|

sondern genau wie bei den Literaturgeschichten von der Mehrzahl klassischer, orientalischer, germanischer und romanischer Philologien, deren Lage und Umfang jedesmal durch die Kreuzung von Sprachgeschichte, Literaturgeschichte und Volkskunde bestimmt sind. In diesem Sinne sprach Scherer von der Philologie als der Wissenschaft von der Nationalität. Heute pflegt man die Bezeichnung Kulturkunde vorzuziehen. Wenn jede Literaturgeschichte somit einer Philologie zugehörig ist, so spielt diese nicht mehr die Rolle der benachbarten Hilfswissenschaft, sondern die des Herrn im Hause, der mit allen seinen Mitbewohnern in Lebensgemeinschaft verwachsen ist. Sicher ist das Verhältnis der Literaturwissenschaft (als Methodenlehre) zur Philologie (als Methode) ein viel engeres als zu allen anderen Wissenschaftsgebieten außer der Philosophie. Es liegt an der Sprache, die überall sonst Vermittlerin von Tatsachen und Meinungen, hier aber künstlerisches Ausdruckselement ist. Der Text des Wortkunstwerkes ist für die Literaturwissenschaft nicht Quelle, die verlassen werden kann, nachdem ihr Inhalt ausgeschöpft ist, sondern er bleibt dauernd der Gegenstand unerschöpflicher Beobachtung, gewissermaßen ein heiliger Gral, dessen speisende Kraft sich stetig erneuert und dessen geheimnisvolle Wunder die Frage nach der Enträtselung immer aufs neue zu stellen aufgeben. Man kann sich gleichgültig abwenden, dann ist man nicht berufen; man kann in ehrfürchtigem Staunen verharren, dann ist man nicht auserwählt; aber wenn man die Frage nach den Geheimnissen stellt und sich Rechenschaft geben will über das Erlebte, so muß man nach dem Schlüssel greifen, der die Zusammenhänge eröffnet, oder nach der Lanze, die die geöffnete Seite wieder schließt. Man muß die Werkzeuge der Philologie benutzen, die scharf und schneidend sind wie das Seziermesser des Anatomen und zugleich formend und glättend wie der Bossiergriffel des Bildhauers. Die Philologie befindet sich auf ihrem eigensten Gebiet, wenn sie dem sprachlichen Kunstwerk gegenübersteht, dessen Form zu ergründen und nachzuschaffen ist. Philologie ist die auf sprachliche Formen bezogene Kunstwissenschaft, und gleichzeitig kann man sie die auf künstlerische Formen bezogene Sprachwissenschaft nennen. Jakob Grimm hat in seiner Gedächtnisrede auf Karl Lachmann zwei Arten von Philologen unterschieden: solche, die die Worte um der Sachen; solche, die die Sachen um der Worte willen treiben. Er selbst rechnete sich wohl zu den Vertretern der Sachwissenschaft, aber der entgegengesetzten Richtung Lachmanns ließ er alle Gerechtigkeit |#f0108 : 84|

widerfahren: „Jeder wird eingeständig sein, daß die Form mit dem Wesen einer Schrift und gar eines Gedichts innig zusammenhänge und auf allen Fall der eines großen Teils ihres wahren Gehalts sicher habhaft werde, dem es in diese Form einzudringen gelungen sei, während Rücksicht auf die Sache selbst von der Eigenheit einzelner Werke abzusehen und bienenartig auf den Honig bedacht zu sein pflegt, der aus mehreren zusammengesogen werden soll.“ Wir werden die beiden hier einander gegenübergestellten philologischen Richtungen lieber in eine Aufeinanderfolge bringen, die die Gegensätzlichkeit aufhebt, indem wir Formwissenschaft als Voraussetzung und Vorstufe der Sachwissenschaft betrachten. Aber wir werden den nicht unbeträchtlichen übrigbleibenden „Teil des wahren Gehaltes“, dessen weder Formphilologie noch Sachphilologie habhaft werden können, der philosophischen Sinnesdeutung als höchster Kunst des Verstehens überlassen. Nur werden wir guttun, die Reihenfolge nicht mit einer einfachen Ablösung der Philologie durch die Philosophie fortzusetzen, sondern von vornherein die Anwendung der philologischen Methode philosophisch bestimmt sein lassen. Ebenso verlangen wir von der philosophischen Betrachtungsweise, die an sich der Sachwissenschaft nähersteht, daß sie von vornherein die philologisch und ästhetisch zu erkennenden Formprobleme nicht außer acht läßt, sondern in den Dienst ihrer Deutung stellt. Auch hier kann ein Fragment Friedrich Schlegels zitiert werden: „Die einzige Art, die Philosophie auf die Philologie oder, welches noch weit nötiger ist, die Philologie auf die Philosophie anzuwenden, ist, wenn man zugleich Philolog und Philosoph ist.“ Wie das Wesen des literarischen Kunstwerkes eine grundsätzliche Untersuchung gefunden hat, ist auch das Wesen der philologischen Arbeit philosophischer Betrachtung unterworfen worden. Aber die „Kritischen Studien über philologische Methode“, die der aus Rickerts Schule stammende holländische Sprachphilosoph H. J. Pos im Jahre 1923 veröffentlicht hat, wählen insofern einen ungünstigen Ausgangspunkt, als sie an Studien über die Herausgabe des Kirchenvaters Orosius anknüpfen, also auf einem Gebiete bleiben, wo die Philologie wirklich nur Hilfswissenschaft ist. Wenn nun gezeigt wird, daß die Entdeckung der Eigengesetzlichkeit des Originaltextes erst eine Errungenschaft kritischer Wissenschaft darstellt, während vor dem Humanismus es als Recht und Pflicht eines Herausgebers betrachtet wurde, die Texte nach Normen vermeintlicher Klassizität umzugestalten, und wenn weiter der Sinn des kritischen Verhaltens von den Elementarbegriffen bis zu den Aufgaben der Stilerforschung |#f0109 : 85|

analysiert wird, so gelangt man schließlich nur zu dem Ergebnis, daß die Aufgabe der Philologen darin bestehe, aus einem angeblichen Text den wirklichen zu rekonstruieren. Darin liegt eine doppelte Beschränkung, indem einmal die philologische Tätigkeit nur auf Textherstellung festgelegt wird und indem ihr auch in diesem engen Rahmen die besondere Aufgabe des künstlerischen Nachschaffens vorenthalten bleibt. Wenn wir dagegen den Philologen, der ein Wortkunstwerk herauszugeben hat, als Testamentsvollstrecker des Dichters bezeichnen, werden wir den Verbindungslinien, die er vom Text zum Dichter und vom Dichter zum Text herzustellen hat, besser gerecht. Indem er den letzten Willen des Dichters vollzieht, erscheint seine Tätigkeit als eine künstlerische Einfühlung in das Werk, die vom Einzelnen zum Ganzen strebt, und als ein künstlerisches Nachschaffen, das den Werdegang vom Schöpfer zur Form wiederholt. Auch der Schöpfer hat sich die saure Mühe der Herstellung eines Textes, indem er Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für Zeile schrieb, nicht verdrießen lassen und ist deshalb doch kein Schreiber, sondern ein Dichter gewesen. So hat auch der Philologe nicht den Schreibergeist, sondern den Dichtergeist in sich lebendig zu fühlen, und die Hauptaufgabe seiner Kritik wird sein, den fremden Schreiber- und Setzer- Ungeist, der sich zwischen Dichter und Werk gedrängt hat, auszuschalten und den echten Dichtergeist in seiner wahren Form wiederherzustellen, um ihn zu deuten. In der Wiederherstellung liegt sogar bereits ein Stück Deutung, so wie die Deutung erst die rechte Wiederherstellung ist. Der Freiheit sind allerdings Grenzen gesetzt, jenseits deren philologische Selbstherrlichkeit in Schreibergeist ausarten würde. Wenn Theodor Birt im „Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft“ als stolzeste Höchstleistung philologischer Kritik die Rekonstruktion des Inhalts verlorener und die Ergänzung des Inhalts unvollständiger Werke bezeichnet, so ist wohlweislich nur vom Inhalt, nicht von der Form die Rede. Vom Testamentsvollstrecker wird nicht verlangt, daß er aus eigenem Vermögen etwas hinzufügt. Es gibt nun Grenzfälle in der neueren Literatur, wo die Überlieferung eine Entscheidung schwer macht. Eduard Mörikes Roman „Maler Nolten“ liegt in zwei Fassungen vor: in dem vom Dichter verworfenen Erstdruck und in der von ihm nicht zu Ende geführten Umarbeitung. Diese Umarbeitung, über der er hinwegstarb, war sein letzter Wille. Wenn nun Julius Klaiber, um die Werte der Umarbeitung nicht verloren gehen zu lassen, ihre Lücken durch eigene Zutaten ausfüllte, so konnte diese schriftstellerische Leistung in der Form nicht ebenbürtig werden, so |#f0110 : 86|

wenig wie die vielen Ergänzungen von Schillers „Geisterseher“ und „Demetrius“, von Hölderlins „Empedokles“ oder Grillparzers „Esther“. Ein neuer wissenschaftlicher Herausgeber des Romans kann nun, wenn ihm der Raum zur Verfügung steht, sowohl die vollständige Urfassung als den Torso der Umarbeitung zum Abdruck bringen und vielleicht die Klaibersche Fortsetzung, wenn kein urheberrechtliches Bedenken besteht, im Anhang anfügen. Das würde dem musealen Gebrauch entsprechen, neben einem antiken Torso die moderne Rekonstruktion eines Archäologen in Zeichnung oder Gipsabguß zum Vergleich zu stellen. Aber nicht tunlich ist die Vermengung (Kontamination) beider Texte, nämlich die Ergänzung der unvollendeten Umarbeitung durch den Schluß aus der Urfassung. Ebenso wenig könnte es als philologische Leistung gelten, wenn der Herausgeber das, was Klaiber getan hat, noch einmal selbständig wiederholte. Das käme auf den früheren Museumsbrauch hinaus, an Marmorbruchstücke eines alten Kunstwerkes, etwa des Laokoon, die fehlenden Arme und Beine in schlechterem Material durch die Willkür eines modernen Bildhauers ansetzen zu lassen. Anders würde es sich verhalten, wenn etwa das alte Kunstwerk, sei es Plastik oder Dichtung, schon im Altertum durch eine fremde Hand ergänzt worden wäre. Solche durch die Überlieferung von Jahrtausenden geheiligte Verbindung pflegt man, auch wenn sie stilkritisch erkannt ist, nicht auseinanderzureißen. In der mittelalterlichen Epik dagegen werden trotzdem die fremden Fortsetzungen zu „Tristan“ und „Willehalm“ schon aus Gründen des Umfangs von den Texten Gottfrieds und Wolframs getrennt. Die h a n d s c h r i f t l i c h e Überlieferung, in der die Werke des Altertums und des Mittelalters vermittelt sind, und die g e d r u c k t e Überlieferung der Neuzeit bedingen eine wesentlich verschiedene Handhabung der Textkritik. Während im einen Fall die Entfernung von der Urform eine fortschreitende Verderbnis darstellt (denn ein von fremder Hand abgeschriebener Text kann eigentlich niemals besser werden, vielmehr bedeutet jede von Unberufenen beabsichtigte Verbesserung eine Verschlechterung), ist bei den Drucken mit beiden Möglichkeiten zu rechnen. Sie werden von Auflage zu Auflage schlechter, wenn sie der Willkür des Druckers ausgeliefert sind. Solange dagegen das gewissenhafte Auge des Dichters ihre Herstellung überwacht (und nur so lange), wird eine fortlaufende Verbesserung des Textes durch Überprüfung und Umarbeitung anzunehmen sein, wobei es allerdings immer noch fraglich bleibt, ob alle diese autorisierten Änderungen wirklich zum Besten der Dichtung dienen. |#f0111 : 87|

Die Vergleichung der Handschriften untereinander bezweckt die Abstufung ihres Wertes. Durch Feststellung gleicher Eigentümlichkeiten und Fehler, die sich, wenn sie einmal eingedrungen sind, forterben (seien es sinnstörende Auslassungen oder sinnlose Einfügungen oder Verschreibungen), kann die Abhängigkeit einzelner Handschriften untereinander geklärt werden. So finden sich Handschriftenfamilien zusammen. In dem Stammbaum (Stemma), der dieses Verhältnis veranschaulicht und die Entstehung der Abweichungen erklärt, bleibt die Urfassung meist eine unbekannte Größe, ein U oder X, dem noch verschiedene hypothetische Y und Z folgen können, um die Anfänge der Verzweigung zu begründen. Endlich kommen die überlieferten Handschriften A, B, C an ihren Platz. Diejenige unter ihnen, die dem angenommenen X am nächsten gerückt werden kann, wird auch in der Bewertung meist obenan stehen. Haften auch ihr Fehler an, die aus anderen Zweigen der Überlieferung nach Möglichkeit verbessert werden müssen, so ist sie doch als die zuverlässigste Grundlage des herzustellenden Textes anzusehen. Indessen kann solcher Stammbaum sehr verwickelt und sehr umstritten sein. Man erinnert sich an die erbitterten Kämpfe um die Ahnentafel des Nibelungenliedes, die seinerzeit die ganze Germanistik zerrütteten und die schließlich in einem unentschiedenen Waffenstillstand beigelegt wurden. Während nun die Geschichte eines handschriftlich überlieferten Textes rückwärts führt aus sichtlicher Verworrenheit zu einem nicht erhaltenen, aber rekonstruierbaren Archetypus und damit zur Person des Dichters, schreitet der neuere Text unter der Hand des Dichters entwicklungsgeschichtlich vorwärts von der ersten handschriftlichen Skizze bis zu der Form, die ihm als endgültige Gestalt bestimmt ist. Diese fertige Gestalt ist der beiderseitige Endpunkt, dem von entgegengesetzten Richtungen beigekommen wird. Er kann in der älteren Philologie mit viel mehr Aufwand an Mühe und kritischem Scharfsinn doch nur annäherungsweise erreicht werden, während er in der neueren Überlieferung so gut wie gegeben ist. Es müssen schon besondere Fälle fremder Redaktion sein, wo dies nicht zutrifft, z. B. posthume, von einem Herausgeber überarbeitete Drucklegung oder ein Druck nach zuverlässigen Abschriften, der nicht vom Verfasser beaufsichtigt wurde, oder Vergewaltigungen, die ein vom Verfasser Bevollmächtigter sich erlaubte, oder endlich Verstümmelung eines Textes durch die Zensur. Dann ist auch dem neueren Philologen die Aufgabe auferlegt, durch einen entstellten Text zur verlorenen Urschrift durchzudringen. |#f0112 : 88|

Hat der ältere Philologe in der Regel einen Text erst neu zu schaffen, während dessen einstmaliges Werden im Dunkel bleibt, so ist der neuere in der glücklicheren Lage, dieses Werden unmittelbar zu erfassen; er hat im allgemeinen das Entstehen und die Weiterbildung eines Textes als Vorgang, der sich ohne sein Zutun im Licht der Öffentlichkeit abspielt, beobachtend zu verfolgen. Trotzdem bedeutet das, was hier als Schaffen bezeichnet ist, eine mehr negative Haltung, indem die ältere Textkritik sich hauptsächlich auf Erkennung und Ausschaltung von Fehlern richtet, während die beobachtende neuere Textkritik, die ihr Augenmerk hauptsächlich auf Verbesserungen einzustellen hat, mehr bejahenden Charakter besitzt. Der Apparat an Lesarten, der der wissenschaftlichen Ausgabe eines Textes beigefügt wird, dient bei der älteren Philologie im wesentlichen der Rechtfertigung des Verfahrens, das einer Kritik der Kritik unterworfen ist, während beim Werk der neueren Literatur der Benutzer instand gesetzt wird, nicht nur die kritische Arbeit, sondern vor allem das Werden des Textes selbst Schritt für Schritt mitzuerleben. Das kann ein Genuß sein und eine Schulung für sprachkünstlerisches Empfinden. Schon Goethe hat in diesem Sinne zu einer Vergleichung der verschiedenen Ausgaben Wielands aufgefordert und daran die Behauptung geschlossen, „daß ein verständiger, fleißiger Literator ... allein aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum Besseren arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde entwickeln können“. Er selbst hat im gleichen Sinne eigene Werke, die er als Marksteine seiner Entwicklung auffassen mußte (Götz von Berlichingen, Iphigenie) in verschiedenen Fassungen seiner Gesamtausgabe einverleibt. Der Lesartenapparat eines neueren Literaturwerkes, das viele Veränderungen durchlaufen hat, erspart die selbständige Vergleichung der verschiedenen Texte. Dem Zweck der Stilbeobachtung ist es zuwider, wenn dabei Zeile für Zeile jede Abweichung der Schriftzeichen gebucht wird, wie es die Rechtfertigung der Textherstellung verlangt. Dafür genügt es, wenn zunächst die einzelnen Drucke in ihrem Wert und ihren Eigenarten durch Belege charakterisiert und die eigenen Emendationen angefügt werden. Die Hauptsache aber bleibt der Überblick über die Entwicklungstendenzen des Textes, und dieser Zweck wäre am besten erfüllt, wenn das Beobachtungsmaterial nach stilistischen und sachlichen Kategorien, die in den Umarbeitungen des Dichters zu erkennen sind, geordnet würde. Daß es nicht geschieht, läßt die Lesartenapparate der neueren Literaturgeschichte oft so steril erscheinen und zeigt, daß man hier, ohne die Vorteile der andersartigen

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neueren Überlieferung auszunutzen und die besonderen eigenen Zwecke lebensvoller Textgeschichte wahrzunehmen, bei dem bewährten Muster der klassischen Philologie und der ihr nachgebildeten mittelalterlichen Textausgaben geblieben ist, die allein auf Rechtfertigung ihrer Textherstellung angewiesen waren. Was im übrigen in beiden Fällen gleiche Geltung hat, ist die unbedingte Sauberkeit und Zuverlässigkeit buchstabengetreuer Wiedergabe, für die der Herausgeber mit der Ehre seines Namens bürgt. Mit ihr steht und fällt der Wert der ganzen Arbeit, und diese Genauigkeit ist nicht als besonderes wissenschaftliches Verdienst anzusehen, sondern als selbstverständliche Pflicht, zu deren Erfüllung nicht jeder geboren ist, zu der man aber erzogen werden kann. (Ebenso selbstverständlich ist die buchstäbliche Zuverlässigkeit jedes Zitates nach den ursprünglichen Quellen. Jedes Zitat aus zweiter Hand zeugt von Mangel wissenschaftlichen Ernstes und bringt Gefahren der Entstellung und Mißdeutung mit sich, weil jede aus ihrem Zusammenhang herausgehobene Stelle sich im Sinn und oft auch im Wortlaut verändert.) c) Datierung und Zuverlässigkeit Die als „recensio“ bezeichnete kritische Musterung der Überlieferung spielt bei den in Jahreszahlen festgelegten Drucken der Neuzeit eine geringere Rolle. Die Klarstellung der Reihenfolge ist nur dann nötig, wenn die Drucke undatiert sind oder wenn die gleiche Jahreszahl auf verschiedenen Drucken desselben Werkes eine Entscheidung der Priorität und des Wertes erforderlich macht. Es kann sich dabei um Ausscheidung von Nachdrucken handeln, die darauf berechnet waren, entweder Autor und Verleger oder nur den Autor in seinem Verdienst zu schmälern. Die eigentlichen Nachdrucke sind gänzlich unrechtmäßig und textlich wertlos, wenn sie von einem fremden Verleger ohne Wissen des Verfassers und gegen seinen Vorteil hinterrücks auf den Markt geworfen wurden; von zweifelhafter Geltung sind dagegen die sogenannten Doppeldrucke, die der rechtmäßige Verleger veranstaltete, wenn seine Auflage der Nachfrage nicht genügte. Es kann so liegen, daß die ersten Bogen in einer Auflagenhöhe gedruckt waren, die den Bestellungen nicht genügte. Für die weiteren Bogen wurde die Auflagenhöhe verdoppelt und die ersten Bogen wurden neugedruckt. Wenn dabei Druckfehler berichtigt wurden oder hineinkamen, entstanden Mischexemplare. Anders steht es, wenn zwei Drucke, welche dieselbe Jahreszahl tragen, durch Fehlerhaftigkeit sich durchweg unterscheiden. Dann liegt der Verdacht vor, daß die Jahreszahl |#f0114 : 90|

des ersten Erscheinens zu Unrecht wiederholt ist und daß der Autor um seine Rechte an der zweiten Auflage geprellt wurde. Dieser Verdacht ist unbegründet, wenn die Doppelausgabe vertraglich vorgesehen war, wie beispielsweise Cotta seine erste Gesamtausgabe von Goethes Werken aus Gründen des Druckprivilegs in Wien nachdruckte und von der endgültigen Gesamtausgabe gleich mehrere im Format und Papier verschiedene Fassungen herstellen ließ. In bezug auf Überlieferungswert für die Kritik des Textes ist es wohl möglich, daß Doppeldrucke, wenn sie auf dieselbe Druckvorlage zurückgehen, sich ergänzen, indem der eine die Fehler des anderen wieder gut macht, aber seinerseits neue Fehler hineinbringt. Auf jeden Fall sind immer nur diejenigen Drucke für Kritik des Textes von Wert, an denen der Verfasser irgendwelchen Anteil hatte. Mit dem Tod des Verfassers oder schon mit seiner beginnenden Interesselosigkeit hört die Zuverlässigkeit auf; Änderungen späterer Auflagen können günstigstenfalls die Bedeutung von überlegten Konjekturen haben; in der Regel aber sind es nur gedankenlose Vernachlässigungen. Man erinnert sich, welche Klagen Jakob Grimm 1859 in seiner Schillerrede über die Verwahrlosung der privilegierten Cottaschen Klassikertexte führte, nachdem schon vorher Joachim Meyer seine Besserungsvorschläge zum Schillertext gemacht hatte. Ein ähnlicher Fall spielte sich 30 Jahre nach Theodor Storms Tod ab; als Albert Köster eine neue Gesamtausgabe seiner Werke überwachte, stellte sich heraus, daß der Text, von einfachen Druckfehlern abgesehen, an mehr als 1550 Stellen durch Zurückgehen auf die frühen Drucke von eingedrungenen und fortgeschleppten Entstellungen zu reinigen war. Solche Fehler können sich allerdings auch unter den Augen des Dichters einschleichen. Goethe z. B. hat bei seiner 1786 in Karlsbad vorgenommenen Umarbeitung von „Werthers Leiden“ bequemlichkeitshalber den gewissenlosen Nachdruck des Berliners Himburg (1779) zugrunde gelegt und bei der Durchsicht eine Reihe von Flüchtigkeiten unbemerkt gelassen, die nun über die Ausgabe letzter Hand hinaus weiter geschleppt wurden, bis Michael Bernays den Sachverhalt aufdeckte. Ähnliches scheint sich bei Grimmelshausens „Simplicissimus“ abgespielt zu haben, wo der Verfasser bei späterer Umarbeitung bewußtermaßen die in Rechtschreibung und Satzbau sehr eingreifenden Änderungen eines Nachdruckers, gegen den er im übrigen wetterte, sich zu eigen gemacht hat. Der letzte Wille des Dichters ist in diesen beiden Fällen verschieden auszulegen: während man beim „Simplicissimus“ die einheitlich durchgeführte Anpassung an die planmäßigen Eingriffe anerkennen muß, wird man beim „Werther“ zwar

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die Ausgabe letzter Hand zugrundelegen, aber die auf Himburg zurückgehenden Verderbnisse durch Zurückgreifen auf die erste Ausgabe ausmerzen müssen, um echtgoethesche Ausdrucksform wieder herzustellen. Mit Goethes Text haben sich noch merkwürdigere Dinge ereignet. Von der „Erklärung der zu Goethes Farbenlehre gehörigen Tafeln“, auf deren Druck im Jahre 1810 besonders liebevolle Sorgfalt verwendet war, wurde zwei Jahre später durch Geistinger in Wien ein unrechtmäßiger Nachdruck veranstaltet. Hier war der Verfasser ganz unbeteiligt, wenn die Verballhornung mit ihren sinnentstellenden Fehlern allen späteren Goethe-Ausgaben, auch denen, die höchste wissenschaftliche Ansprüche stellten, als authentische Fassung galt. Erst 1937 kam es heraus, daß die wegen ihrer kleinlichen Akribie so viel verspotteten Goethe-Philologen auf den Leim gegangen waren, indem sie es versäumten, alle erreichbaren Einzelausgaben in Vergleich zu ziehen. Ein verhältnismäßig einfaches Beispiel aus dem Goethe-Text konnte das philosophische Gewissen zeitweilig in Konflikte bringen. Die Zueignung zu Goethes „Faust“ bringt im ersten Druck den Vers „Mein Leid ertönt der unbekannten Menge“. Goethes Tagebücher des Jahres 1809 enthalten ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Teiles das von dem Philologen Riemer, der bei der Drucklegung half, zusammengestellte Druckfehlerverzeichnis; darin steht: „8. Bd. S. 5 Z. 21 Leid: lies Lied.“ Ohne Zweifel hat Goethe damals diese Bemerkung gebilligt. Trotzdem blieb „Leid“ in den folgenden Ausgaben von 1817 und 1828 stehen; nur in einer Einzelausgabe des Jahres 1816 ist „Lied“ eingesetzt, ebenso in allen Ausgaben nach Goethes Tod (zunächst unter Mitwirkung Riemers), bis die Weimarer Ausgabe wiederum auf „Leid“ zurückgriff. Sie mußte sich dahin entscheiden gemäß dem Grundsatz, in zweifelhaften Fällen die Ausgabe letzter Hand (1828) als maßgebend anzusehen. Die Handschrift, die über den ursprünglichen Wortlaut hätte Aufschluß geben können, ist nicht erhalten. Es wäre möglich, daß in der Druckvorlage „Lied“ stand (was Riemer wußte), daß aber Goethe an dem Druckfehler „Leid“ Gefallen fand, weil ihm dadurch über das, was er eigentlich gefühlt hatte, die Augen geöffnet wurden. Der Druckfehlerteufel hätte damit einmal etwas Gutes eingegeben, denn es kann kein Zweifel sein, daß das Wort „Leid“ viel mehr persönlichen Lebensgehalt gerade in bezug auf das Selbstbekenntnis der „Zueignung“ offenbart als das banalere „Lied“, so daß ihm der Vorzug zu geben ist. Hier also ist ein Beispiel, wie das tiefere Verstehen und die Sinnesdeutung bei der Textkritik mitzusprechen haben; es bleibt bloß die

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Frage, ob diese Gründe des Geschmacks und der besseren Erklärung ausgereicht hätten, das Wort „Leid“ auch ohne jede Überlieferungsgrundlage als konjekturale Emendation in den Text einzusetzen. Es gibt eine gewisse psychologische Gesetzmäßigkeit des Schreib- und Druckfehlers wie des Versprechens; z. B. kann das nachfolgende Wort mit Anlaut oder Auslaut in klanglicher Attraktion vorauswirken, oder es kann ein ganzer Satzteil vom Auge des Setzers übersprungen sein, weil dasselbe Wort wiederkehrt. Auch kann ein bequemerer, gebräuchlicherer Ausdruck ähnlichen Klanges für das seltenere und stärkere Wort eintreten, z. B. „Zaudern“ statt „Haudern“ in Goethes „Schwager Kronos“. Ungewollte Änderungen haben manchmal die Wahrscheinlichkeit für sich, so daß die Entstellung ohne Vergleich mit dem Urtext gar nicht bemerkt wird. Aber schon die erste Überlieferung kann mit Sinnwidrigkeiten behaftet sein. Die seit über einem Jahrhundert in Umlauf befindlichen Klassikertexte weisen noch manches auf, was nur als Hörfehler beim Diktat oder Schreibfehler der Druckvorlage oder unbemerkt gebliebener Druckfehler erklärt werden kann. Witkowski gibt in seinem Buch über Textkritik einige Beispiele wohlbegründeter Berichtigungen (Konjekturen), die trotz ihrer Wahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt wurden, weil die bisherigen Herausgeber ohne überlieferungsmäßige Deckung die Verantwortung scheuten. Manchmal sind solche Besserungsvorschläge allerdings zu rationalistisch, um überzeugend zu wirken. Über den Vorschlag, in Schillers Jugendgedicht „Meine Blumen“ statt der rätselhaften Wendung „vom Dom umzingelt“ das glattere „vom Dorn umzingelt“ zu lesen, hat im Jahre 1915 eine Umfrage stattgefunden, die vielseitigste Erörterung nach sich zog mit dem Ergebnis, daß man es bei dem überlieferten Text bewenden ließ. Wenn sich auch keine völlig befriedigende Erklärung fand, so gehören Dunkelheit, Verstiegenheit und Reimzwang eben zur Stilcharakteristik der Laura-Gedichte. Verwickelter liegt der Fall, wenn der Dichter weder in der Lage war, die Drucklegung seines Werkes selbst zu beaufsichtigen noch überhaupt eine zuverlässige Druckvorlage herzustellen, so daß er einen anderen zur letzten Redaktion bevollmächtigen mußte. Dies scheint mit Heinrich v. Kleists Erstlingsdrama geschehen zu sein, das er in der Schweiz zurückließ und zu dessen von Ludwig Wieland besorgter Druckform er sich nach dem Erscheinen kaum mehr bekennen wollte. Der Druck der „Familie Schroffenstein“ wimmelt von Fehlern, die sich nach der glücklicherweise erhaltenen Kleistschen Handschrift, die den Titel „Die Familie Ghonorez“ trägt, berichtigen |#f0117 : 93|

lassen. Nachdem diese Handschrift zum Abdruck gekommen war, versuchte Eugen Wolff den Nachweis, daß in ihr allein der echt Kleistsche Text erhalten sei, während die gesamte Umarbeitung einschließlich der Übertragung von Spanien nach Deutschland, der Änderung der Namen und der Versifikation des Schlusses auf den jungen Wieland zurückgehe. Diese Annahme hätte zur Folge haben müssen, daß „Die Familie Schroffenstein“ zugunsten des älteren Bruders aus den Kleist-Ausgaben ausgestoßen worden wäre. Hermann Schneider hat den Gegenbeweis angetreten, durch den der verlorene Sohn wieder ins Vaterhaus zurückgeführt wurde. Die Methode war die, daß alle Verschlechterungen als Druckfehler erkannt wurden, die nicht durch Eingriffe Wielands, sondern höchstens durch seine Nachlässigkeit verschuldet waren (z. B. „die Diener“ statt „die Deinen“, die „neugebornen“ statt „ungebornen“ lauter Unsinnigkeiten, die auch durch Konjektur zu beheben waren). Auf der anderen Seite konnten aber die wesentlichen Umänderungen als sinngemäß durch stilistische Parallelen aus Kleists späterer Dichtung bestätigt werden. Handelt es sich um aufeinanderfolgende rechtmäßige Auflagen desselben Textes, so ist der früheren Ausgabe immer dann recht zu geben, wenn die Änderungen der späteren Texte nicht auf den Verfasser zurückzuführen sind. Ist dies aber der Fall, dann muß der letzte Wille maßgebend sein, auch wenn das, was der Dichter für Verbesserung hielt, beim heutigen Geschmack keinen Beifall findet, weil es als Verlust ursprünglicher Frische und als Abschwächung sinnkräftiger Wirkung empfunden wird. Um die Unmittelbarkeit der Urform zu retten, bleibt dann nichts anderes übrig, als erste und letzte Fassung nebeneinander zu drucken, wie das gelegentlich auch bei einer nur handschriftlichen Überlieferung, z. B. Hölderlinscher Gedichte, geschehen ist; in keinem Fall aber darf, wie das manchmal populäre Ausgaben sich erlauben, eine eklektische Mischform nach Willkür und Belieben hergestellt werden. Ein synoptischer Druck verschiedener Fassungen rechtfertigt sich auch bei unentschiedener Priorität. Es kann sich dabei sogar um verschiedene Sprachen handeln. Das älteste Jedermann-Drama ist holländisch als „Elckerlijk“, englisch als „Everyman“ überliefert und nur an Hand des Nebeneinander kann geprüft werden, welches die Urform, welches die Übersetzung ist, wobei als dritte Möglichkeit immer noch das Zurückgehen beider Texte auf eine verlorene gemeinsame Vorlage offen bliebe. Auf ganz unsicherem Boden steht die Überlieferung, wenn unzuverlässige Abschriften, mit denen der Dichter nichts zu tun hatte, die

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Vorlagen der ältesten Drucke bildeten. Das ist bei Shakespeare anzunehmen. Die Unterschiede der voneinander unabhängigen Ausgaben in Folio und Quarto sind so erheblich, daß sie beiderseits nicht auf authentische Handschriften, sondern nur auf Nachschriften von Aufführungen, auf Rollenhefte, Soufflierbücher und ähnliche Zwischenglieder zurückgeführt werden können. Ihr Wert ist deshalb kaum ein anderer als der von Nachdrucken, ohne daß ein rechtmäßiger Vordruck vorhanden wäre. Damit stellen sich auch in der Drucküberlieferung Verhältnisse dar, die denen der mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung nahekommen. Für jedes einzelne Stück mußte erst ein eigener Text aufgebaut werden in Abwägung des Wertes der verschiedenartigen Überlieferung und nach Maßgabe eines Gesamtbildes vom echten Shakespeare in seiner charakteristischen Schreibweise und Ausdrucksform. Aber da dieses Gesamtbild erst aus den Einzeltexten zu gewinnen war, bewegt sich die Kritik des Shakespeareschen Textes in Zirkelschlüssen, mit deren Auflösung nach jahrhundertelanger Arbeit alles wieder in Fluß kommt. Ähnlich wie Lachmann die mittelhochdeutschen Klassikertexte nach gewissen grammatischen und metrischen Grundsätzen, die er als allgemeingültig erkannt zu haben glaubte, normalisiert hat, war auch ein einheitlicher Shakespearestil, hauptsächlich auf Grund der Folio-Ausgabe hergestellt worden, der für alle kritischen Einzelfragen die Richtlinie gab. Seit nun aber neuere Forschung (J. Dover Wilson, J. M. Robertson) für einzelne Texte (z. B. Hamlet) den Quartausgaben den Vorzug gibt, ist der Bau ins Wanken geraten und muß gestützt oder erneuert werden. Durch solche Umwälzung werden die anderen außerordentlichen philologischen Leistungen der Shakespeare-Forschung keineswegs hinfällig. Ein großer Gewinn, der unerschüttert bleibt, ist die in mühseliger Einzelforschung gewonnene Feststellung der Reihenfolge seiner Werke. Die Entstehungszeit jedes einzelnen Stückes war durch eine Einkreisung zu ermitteln, die von zwei Punkten auszugehen hatte, dem terminus a quo, dem Zeitpunkt, vor dem es nicht geschrieben sein kann, und dem terminus ante quem, vor dem es geschrieben sein muß. Die Grenze nach unten ist durch die Spiegelung bestimmter Zeitereignisse und datierbarer literarischer Einflüsse, durch Anspielungen auf geschichtliche Vorgänge und Persönlichkeiten und damit zusammenhängende politische Tendenzen, wie durch Quellen, die erst von einem bekannten Zeitpunkt ab zugänglich waren, festgelegt; die Grenze nach oben durch Aufführungsberichte und datierbare literarische Anspielungen auf das fertige Werk, durch Polemik, wie durch andere sichtbare Einwirkung auf die Dichtung der Zeitgenossen. Die |#f0119 : 95|

auf diese Stützpunkte äußerer Chronologie begründete Reihenfolge stellt ein Gerüst dar, das nun durch Ermittlung der inneren Zusammenhänge mit Erlebnissen und Schicksalen des Dichters, mit dem dadurch bedingten Wandel seiner Stimmung, Erfahrung, Lebensauffassung und Weltanschauung und mit dem fortschreitenden Gang seiner Problem- und Stilentwicklung unterbaut, gestützt und ausgefüllt werden muß. Weiter war die bei Shakespeare besonders schwer zu lösende Frage des fremden Anteils, nicht nur an der Überlieferung, sondern an der Stoffgestaltung zu beantworten, da es bei manchen Stücken, z. B. dem ersten Teil von Heinrich IV., zweifelhaft bleibt, bis zu welchem Grade er nur der Bearbeiter oder Fortsetzer eines Vorgängers war. Endlich kommt dazu die Reihe der ihm zugeschriebenen Stücke, die nicht sicher beglaubigt sind. Die sogenannten „doubtful plays“, wie „Perikles“, „London prodigal“, „Arden of Feversham“ tragen Züge des elisabethanischen Zeitgeists, der auch die Form Shakespeares bestimmte. Hier ist nun Gelegenheit, die Elemente von Personal- und Zeitstil kritisch zu sondern. Daran schließt sich die Frage, wie weit Shakespeare als Dichter überhaupt an die Bühne dachte, was schon von Herder und Goethe bestritten wurde, während andere es als den eigentlichen Zugang zu seiner Form und Technik betrachteten. Und zu guter Letzt wird auch immer wieder die Frage aufgeworfen, ob der kleine Schauspieler Shakespeare als Dichter nicht überhaupt ein Pseudonym war, ein Strohmann, dessen sich ein Großer wie Lord Bacon oder Lord Rutland bediente, weil er sich nicht selbst als Dichter bloßzustellen wagte. Gegen die literarhistorischen Hintertreppenromane, die mit Pseudomethoden dilettantischer Mystik wie Aufdeckung verborgener Schlüssel, Zahlenkabbalistik und geheimer Zeichenschrift in Szene gesetzt werden, ist die Shakespeare-Forschung immer im Abwehrkampf, ohne dem Obskurantismus ein Ende machen zu können. Man möchte sagen: „Ist dies auch Unsinn, hat es doch Methode“, wenn nicht gerade die Art der angewandten Methoden den Unsinn bewiese. Alle Einzelfragen aus dem in der Shakespeare-Forschung zusammengeballten Bündel philologischer Probleme finden auch in anderen Literaturgeschichten ihr Vorkommen. So hat die Altertumswissenschaft durch Methoden der Sprachstatistik (Bernhard Ritter, Hans v. Arnim) die Reihenfolge der platonischen Dialoge zu bestimmen gesucht, ohne damit freilich den vollen Beifall der philosophischen Hermeneutik zu finden. So wird die Chronologie der mittelhochdeutschen Epik und Lyrik aus dem Netzwerk gegenseitiger Bezugnahme |#f0120 : 96|

von Dichtern wie Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach und verschiedener Redaktionen des Nibelungenliedes oder aus den Beziehungen zwischen Reinmar von Hagenau und Walther von der Vogelweide wie aus der Erwähnung von Kreuzzügen oder von fürstlichen und königlichen Gönnern herausgesponnen. Mit Beginn des Buchdrucks macht die Datierung poetischer Werke geringere Schwierigkeiten; das Jahr des Erscheinens pflegt auf dem Titelblatt zu stehen, und sogar die Jahreszeit läßt sich in der Frühzeit des Buchdrucks durch jene Kataloge ermitteln, in denen die zur Frühjahrs- oder Herbstmesse in Frankfurt oder Leipzig vorgelegten Neuerscheinungen als „Libri his nundinis prodituri“ angekündigt wurden. Das sind die Vorläufer des „Wöchentlichen Verzeichnisses“ von Hinrichs und des Buchhändlerbörsenblattes, mittels deren heute die Ausgabe eines Buches fast auf den Tag bestimmbar ist. Die Datierung spielt in der Neuzeit eigentlich nur noch bei einzelnen Stücken lyrischer Sammlungen, die nicht nach der Reihenfolge des Entstehens geordnet sind, eine Rolle. Da ist zunächst lediglich der „terminus ante quem“ mit dem Erscheinen des Buches gegeben oder mit dem Vorabdruck einzelner Gedichte in Zeitschriften und Almanachen. Um ein Beispiel aus dem 16. Jahrhundert zu geben, so ist das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ im Jahre 1529 zum erstenmal gedruckt worden. Es kann schon früher entstanden sein. Um seine Entstehung aus einer bestimmten Bedrängnis zu erklären, suchte man verschiedene Anlässe in den vorausgehenden Jahren. Wer war mit dem „alt bösen Feind“ gemeint? Der Teufel, der Kaiser, der Papst oder der Türke? Bezieht sich die Abwehr auf die Türkengefahr, wie Georg Wolfram zuletzt wahrscheinlich machte, so muß das Kampflied im Jahre seines Erscheinens entstanden sein als Aufruf an die ganze Christenheit, nicht als Trutzlied des Protestantismus. Die persönliche Beziehung und Sinndeutung Goethescher Gedichte hängt gleichfalls oft von der genauen Datierung ab. Goethe selbst hat seinem „Wanderer“ eine Beziehung zu Charlotte Buff gegeben, indem er im Mai 1773 an den Bräutigam Kestner schrieb: „Du wirst in der Allegorie Lotten und mich und, was ich zu hunderttausendmal bei ihr gefühlt, erkennen.“ Nun aber war das Gedicht bereits im April 1772 in Darmstadt vorgelesen worden, zu einer Zeit, da Goethe Charlotte Buff überhaupt nicht kannte. Das berüchtigte „Hier irrt Goethe“ scheint in diesem Falle zuzutreffen, wenn man die Beziehung nicht so deuten will, daß Goethe das Gedicht, dessen Thema eine idyllische Rast im Anblick ehelich-mütterlichen Glückes darstellt, später als symbolische Antizipation seiner Wetzlarer Erlebnisse |#f0121 : 97|

aufgefaßt hat. Ein anderer Fall ist der des Weimarer Mondliedes „Füllest wieder's liebe Tal“, das mit Melodie handschriftlich in den Briefen an Frau von Stein überliefert ist. Es stellt sich heraus, daß die Melodie von dem Schweizer Kayser stammt und in dessen „Gesängen mit Begleitung des Klaviers“ (1777) an den Text eines Mondliedes von Heinrich Leopold Wagner gebunden war; vor dem März 1778 aber sind Goethes Text und Kaysers Melodie bereits in einem handschriftlichen Liederbuch, das für Frau von Stein hergestellt wurde, aufgenommen. Von der Datierung hängt es nun ab, ob die Entstehung des Gedichtes mit dem Goethe tief erschütternden Selbstmord der Christel von Laßberg, die am 17. Januar 1778 in die Ilm ging, zusammenhängt, oder ob es schon vorher entstand und nur von der Liebe zu Frau von Stein erfüllt ist, oder ob es, wie Josef Körner mit wenig Überzeugungskraft glaubhaft zu machen suchte, noch früher als freundschaftliche Huldigung für Lavater geschaffen wurde. Handelt es sich in diesen Fällen um Deutung des ursprünglichen Sinnes, so kann auf der anderen Seite eine chronologische Festlegung sich als notwendige Grundlage für die Betrachtung der Stilentwicklung erweisen. Umgekehrt ist die Stilentwicklung brauchbarstes Hilfsmittel für die Ermittlung der Chronologie. Aus diesem Strudel kommt man nur heraus, wenn man außerhalb liegende feste Stützpunkte finden kann, wie sie gegeben sind in biographischen Daten, Erlebnissen und brieflichen Zeugnissen, die auf die Entstehungsursache hinweisen. Auch dann ist zwischen biographischen und stilistischen Indizien nicht immer Einklang herzustellen. Clemens Brentanos Altersgedicht „Alhambra“ zum Beispiel könnte nach inhaltlichen Kriterien teils auf Caroline von Günderode, teils auf Emilie Linder bezogen werden. Der Biograph Diel nahm infolgedessen die Teilung zwischen einer Urfassung aus dem Jahr 1803 und einer nach 31 Jahren erfolgten Umarbeitung und Fortsetzung vor. Dem hat sich neuerdings Wilhelm Fraenger (mit einer etwas abweichenden Unterscheidung der Bestandteile) angeschlossen. Aber nach wie vor besteht Reinhold Steigs Hinweis auf die stilistische Einheit, die sich in so langer Arbeitspause nicht hätte erhalten können. Lassen sich Reste des Jugendstils nicht erkennen, so ist die Hypothese hinfällig, und es bleibt nur die Wahl zwischen Luise Hensel und Emilie Linder, also den Jahren 1817 oder 1837. |#f0122 : 98|

d) Ermittlung des Verfassers Das Verhältnis zwischen inhaltlichen und formalen Kriterien läßt sich ändern bei datierbaren Werken, deren Verfasser unbekannt ist. Die Frage der Zugehörigkeit ist für die anonym erschienenen Werke aller Literaturen ein mit gleicher Methode zu erforschendes Problem. Die Ergebnisse der „recherche de la paternité“ sind lexikalisch zusammengefaßt in brauchbaren und unentbehrlichen bibliothekswissenschaftlichen Hilfsmitteln wie Holzmann-Bohattas „Deutschem Anonymen-Lexikon“, das seine Vorläufer schon bei Placcius, Dahlmann, Mylius im 18. Jahrhundert und bei den englischen, französischen, italienischen, holländischen Werken von Cushing, Barbier, Melzi, Doorninck im 19. Jahrhundert hatte. Er ist nachträglich noch durch ein „Deutsches Pseudonymen-Lexikon“ der beiden österreichischen Bibliothekare ergänzt worden. Für das Mittelalter ist das von Wolfgang Stammler herausgegebene Verfasserlexikon „Die deutsche Literatur des Mittelalters“ ein aufschlußgebendes Nachschlagewerk; für das dunkle Gebiet der erotischen Literatur ist die „Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa“ von Hugo Hayn und Alfred N. Gotendorf ein zuverlässiger Führer; zur Ermittlung entfallener Verfassernamen bei bekannten Titeln der neueren Literatur empfiehlt sich das „Deutsche Titelbuch“ von Max Schneider, das als Gedächtnishilfe neben Büchmanns „Geflügelten Worten“ seinen Platz beanspruchen darf. Endlich kann in einzelnen Fällen über die Verfasserschaft anonymer oder pseudonymer Bücher und Zeitschriftenbeiträge aus den Honorarbüchern alter Verlagsarchive (Brockhaus, Cotta) Aufschluß gewonnen werden, wenn die noch bestehenden Firmen für ihre eigene Geschichte interessiert sind. Die Summe aller Bemühungen um Erhellung der Anonymität läßt nicht nur im Altertum, sondern auch in neuen Zeiten beträchtliche Lücken, deren Ausfüllung mehr oder weniger hoffnungslos ist. Jede Literatur weist bedeutende Werke von großer Wirkung auf, über deren Verfasser, obwohl die Umstände des Erscheinens feststehen, ein Schleier gebreitet ist. In der spanischen Literaturgeschichte fehlt der Verfassernamen des ersten Schelmenromanes „Lazarillo de Tormes“ (1554), der früher zu Unrecht Mendoza zugeschrieben wurde. Der deutschen Literaturgeschichte ist es bisher nicht gelungen, den Familiennamen jenes „Arigo“ zu ermitteln, der die erste deutsche Übersetzung des Boccaccioschen „Decamerone“ in Ulm erscheinen ließ. Zuerst lag der bekannte Übersetzer Heinrich Steinhöwel nahe, und unter diesem Namen gab Adalbert Keller das Werk neu heraus. |#f0123 : 99|

Aber zwischen den beglaubigten Arbeiten Steinhöwels (Aesop, Apollonius, Von etlichen frowen usw.) und dem deutschen Decamerone bestehen solche Unterschiede in Wortschatz, Lautstand, Syntax, Stil und Übersetzungstechnik, daß diese Identität aufgegeben werden mußte. Nun ist mancher andere Heinrich (Leubing?, Schlüsselfelder?) zu ermitteln, dessen Lebensumstände und literarische Umwelt es möglich erscheinen lassen, daß er der Gesuchte sei, aber immer fehlt es an anderen beglaubigten Werken desselben Mannes, durch deren stilistische Übereinstimmung die Identität unabweisbar gesichert wäre. Und was hilft der Literaturgeschichte ein Name, wenn sich damit nicht auch das Bild einer Persönlichkeit verbindet? Ähnlich stand es bisher mit jenem Johann von Saaz, der 1399 das Gespräch des Witwers mit dem Tod verfaßte, das als „Der Ackermann aus Böhmen“ berühmt geworden ist. Ein glücklicher Zufallsfund zog 1934 aus einer Freiburger Sammelhandschrift, in der sie nicht zu vermuten war, die Abschrift der lateinischen Widmung ans Licht, mit der Johann von Tepl seinem Landsmann Peter Rothirsch in Prag das Werk überreichte. Nun bestätigt sich die Identität mit einem schon vorher in Frage gezogenen Johannes (Henslini) de Šytboř, der von 13861411 Rektor der Stadtschule und Notar in Saaz war. Ein weiteres Werk von geringerer Bedeutung und sogar ein Bild des Ackermann-Dichters vom Jahre 1404 haben sich gefunden; aber für die Familienverhältnisse ist enttäuschenderweise beurkundet, daß Johann von Tepl bei seinem Tode im Jahre 1415 eine Witwe mit vier Kindern hinterließ, und diese Tatsache stellt den ergreifenden persönlichen Erlebnisgehalt in Frage. Gewiß kann der Witwer in einer zweiten Ehe neues Glück gefunden haben, aber es wäre auch möglich, daß die Situation des Klagenden nicht selbsterlebt war. Ist der Dialog nur eine rhetorische Kunstübung, als welche er in der Widmung betrachtet wird, so verliert er die Bedeutung einer Erlebnisdichtung, auch wenn er nach Sprachform und Ideengehalt ein zu jener Zeit einzig dastehendes Werk bleibt. Falsche Zuweisungen an einen bekannten Namen haben manchmal zu biographischen Trugschlüssen geführt. Einigen in die posthume Gesamtausgabe Grimmelshausens aufgenommenen Kurzgeschichten mußte man z. B. entnehmen, daß der Verfasser eine Zeitlang protestantischer Parteigänger des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz gewesen sei, was zu Grimmelshausens späterem Aufenthalt im Schwarzwald und zu seinem katholischen Bekenntnis nicht passen will. Nachdem aber entdeckt worden ist, daß Moscheroschs Bibliothekskatalog die früher erschienene Einzelausgabe der einen Satire

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dem pfälzischen Hofmann Balthasar Venator zuschrieb, hat eine Untersuchung von dessen Lebensumständen und Stileigentümlichkeiten diese Angabe völlig bestätigt. In die Gesamtausgabe gelangten die drei kleinen Schriften, um die es sich handelt, vermutlich weil Grimmelshausen eine von ihnen für seinen Verleger umgearbeitet hat; anderes unechtes Gut ist aufgenommen worden, weil es den Namen Simplicius auf dem Titel trug. Derartige Irreführung erledigt sich meist durch Vergleich mit unzweifelhaft echten Werken des Verfassers. Lange Zeit haben die in Penig gedruckten „Nachtwachen von Bonaventura“ (1804), ein romantisches Nachtstück, das in der Nachfolge Jean Pauls steht, als Werk Schellings gegolten, weil einige Gedichte des Philosophen unter dem Pseudonym „Bonaventura“ erschienen waren. Aber für Pseudonyme gibt es keinen Musterschutz. Franz Schultz konnte leicht aufzeigen, wie grundlos sich diese Legende gebildet hatte und wie unhaltbar sie sei. Schwerer war es, den richtigen Verfasser zu entdecken, der kein unbedeutender Schriftsteller gewesen sein kann. Hier gelang es, frühere Hypothesen, die auf Caroline Schlegel, E. Th. A. Hoffmann und Clemens Brentano deuteten, zu verdrängen, indem die Verfasserschaft von J. G. Wetzel durch Vergleich mit seinen übrigen Schriften zu großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht zu absoluter Gewißheit geführt wurde. Ähnlich steht es, wenn der anonyme Roman „Der Kettenträger“ (1796), der einmal auf den jungen Heinrich von Kleist großen Eindruck machte, für Friedrich Maximilian Klinger in Anspruch genommen wird. Hanna Hellmann hat überzeugend nachgewiesen, warum der einstige Stürmer und Dränger, wenn er der Verfasser war, als russischer General sich zu diesem politischen Roman nicht bekennen durfte. Aber die letzte Durchschlagskraft des Beweises für die Verfasserschaft fehlt, zumal sich in Klingers Nachlaß, auch in seiner in Dorpatbefindlichen Bibliothek, keine Spur davon findet. Ein schwaches Indizium ist neuerdings durch die Tatsache bekannt geworden, daß der fränkische Edelmann und Sammler Christian von Truchseß, der viele literarische Beziehungen und Einblicke besaß, schon vor mehr als hundert Jahren in seiner Bibliothek auf der Bettenburg das Werk unter den Namen Klinger gestellt hat. Manchmal mag die Deutung des Pseudonyms zur völligen Aufdeckung des Geheimnisses verhelfen, so daß ein Indizienbeweis durch das Geständnis des Überführten gekrönt und die Urteilsfällung über jeden Zweifel erhoben wird. Ein methodisches Meisterstück dieser Art konnte Albert Köster liefern, als er 1897 den Verfasser der 1660 |#f0125 : 101|

in Hamburg unter dem Namen Filidor der Dorfferer gedruckten Gedichtsammlung „Die geharnschte Venus“ ermittelte. Als Verfasser war fälschlich Jakob Schwieger angenommen worden, bloß weil er in der Nähe Hamburgs saß und einen ähnlichen Titel „Die verlachte Venus“ gebraucht hatte. Aber Köster konnte nachweisen, daß die Sprache der „Geharnschten Venus“ nicht auf Altona deutet, sondern nach Mitteldeutschland weist, und durch Untersuchung der Reime (z. B. entwiechen : verbliechen) ließ sich mit Hilfe des in Marburg befindlichen deutschen Sprachatlas das Gebiet der Herkunft auf Thüringen einengen. Die Gedichte selbst wiesen inhaltlich nach Leipzig und ließen stilistische Zusammenhänge mit den Traditionen des dortigen Gesellschaftsliedes erkennen; andererseits offenbarten sie in Stil und Wortschatz (Marjelle, Kosenamen Buschgen für Barbara) Beziehungen zu Königsberg. Die Widmung an einen gewissen „Pranserminto“ klärte sich auf, als in der Königsberger Matrikel ein Magister Martin Posner, der aus Gera stammte, nachzuweisen war. Nun waren auch die „Gerenschäfer“ Glykander, Hypsilus und Dafnis, denen eine zweite Widmung galt, zu deuten; wie die Nürnberger Pegnitzschäfer sich nach dem Flüßchen, an dem sie ihre Weide fanden, benannt hatten, so wies der Flußname Gera auf die Stadt Erfurt, und Filidors Beiname „Dorfferer“ offenbarte sich als Anagramm für „Erfforder“. Daraufhin war die Königsberger Universitätsmatrikel der vorausgehenden Jahre auf Studierende, die aus Erfurt stammten, durchzusehen, und es fand sich 1653 „Casparus Stieler, Erfurto-Thuringus“ eingetragen. Das ist der bekannte Lexikograph, der zuerst in Leipzig studiert und dann in Königsberg sein Ostsemester absolviert hatte. Von da war er als Dragoner des Großen Kurfürsten in den Krieg geritten, und nach seiner Rückkehr hatte er in Hamburg die Lieder, die er der in Königsberg zurückgelassenen Geliebten gewidmet hatte, zu der in Druck gehenden Sammlung zusammengefaßt. Die Sprache entspricht den Regeln, die er später in seinem großen Werk „Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs“ (1691) aufstellte. Ein letzter Schlußstein aber konnte der Beweisführung eingefügt werden, indem der Beiname „Peilkarastres“, den sich der Dichter einmal beilegt, als Anagramm des wahren Namens aufzulösen war. Es ist fast zu vermuten, daß diese glückliche Entdeckung am Anfang der ganzen Untersuchung stand und daß die anderen Indizien erst nachträglich zur Unterbauung herangeholt wurden, so daß die Untersuchung gerade den umgekehrten Gang nahm, als Beweisführung und spannungerregende Darstellung ihn wählen mußten. Ähnliche Entdeckungen waren aus urkundlichem Material ans Licht |#f0126 : 102|

getreten, als Friedrich Zarncke in Leipziger Universitätsakten den Studenten Christian Reuter als Verfasser des Lügenromans „Schellmuffsky“ ermittelte und als es Adolf Stern gelang, den Dichter der „Insel Felsenburg“, der sich Gisander nannte, in Johann Gottfried Schnabel zu erkennen. Wieder eine andere Darstellungsmethode wählte Richard Alewyn, als er 1932 in Johann Beer einen großen Barockerzähler ans Licht zog. Dieser Name war bisher nur der Musikgeschichte bekannt gewesen, während die Literaturgeschichte allein die Pseudonyme Jan Rebhu und Wolfgang Willenhag kannte. Vergebens hatte man sich um die naheliegende anagrammatische Deutung des Namens Rebhu bemüht und allerorten einen Johann Huber gesucht, den man als Verfasser annehmen könne. Alewyn mußte von dem autobiographischen Gehalt der 18 Romane ausgehen, die sich so genau in die Lebensgeschichte Beers einfügen, daß an der Richtigkeit des Nachweises kein Zweifel sein kann. Mit der Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen Leben und Schaffen war aber mehr gewonnen als ein bloßer Name; zusammenhanglose Titel, die nur als solche in den Bibliographien verzeichnet waren, rundeten sich zu einem Gesamtwerk, aus dem das lebensvolle Antlitz des Künstlers hervorblickt, und so waren mit einemmal für die Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts neue Werte erobert. Ein gleichartiges Ergebnis hatte die Entdeckung des Verfassers der berühmten Reformationssatire „Eccius dedolatus“ durch Paul Merker. Die Schrift war lange Zeit dem Nürnberger Willibald Pirkheimer zugeschrieben gewesen und hatte als eine Art literarischen Kommentars zu dem berühmten Dürerschen Porträt ihre besondere Bedeutung. Die minderte sich, als der Zusammenhang mit Pirkheimer aufgegeben werden mußte. Nun ist durch Merkers Nachweis, der sich sowohl auf Deutung anagrammatischer Spielereien wie auf biographische Ermittlungen stützt, der Straßburger Humanist Nikolaus Gerbel zur Ehre der Verfasserschaft gekommen. Nachdem in ihm ein bedeutender lateinischer Satiriker entdeckt worden ist, führen Spuren zu anderen Schriften, die ihm zuzuschreiben sind. Der allerdings nicht unbestritten gebliebene Beweis läuft in neue Hypothesen aus, die sogar mit einer Beteiligung Gerbels an der Gemeinschaftsarbeit der „Epistolae obscurorum virorum“ rechnen. Deren hauptsächliche Mitarbeiter Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten hatte vorher Walter Brecht in einer scharf beobachtenden Stiluntersuchung bereits im wesentlichen auseinandergehalten. Hier stand die kritische Sonderung vor besonderen Problemen, weil die Dunkelmännerbriefe als mimische Satire die Parodie fremder Ausdrucksweise und das zu karikierende |#f0127 : 103|

Mönchslatein vor Augen hatten. Der Stilunterschied zwischen den verschiedenen Bearbeitern war also in der Mischung von selbstentäußerter Durchführung dieser Aufgabe und temperamentvoll durchbrechendem Eigenausdruck zu erkennen. e) Gemeinschaftsarbeit und Überarbeitung Die Zusammenarbeit mehrerer an einem Werk kann nur das Ergebnis enger künstlerischer Lebensgemeinschaft sein, wie es außer dem Erfurter Humanistenkreis, der die Dunkelmännerbriefe ersann, schon der Fall gewesen ist bei Aristophanes und Eupolis in Athen, später bei den Studierenden der Londoner Rechtsschulen, aus denen die Lustspieldichter Beaumont und Fletcher hervorgingen. Sprühender Witz und geistreicher Spott schlagen reichere Funken bei gegenseitigem Anreiz als in der Einsamkeit; Zeugnis dafür sind auf der Höhe die „Xenien“ Goethes und Schillers; in den Niederungen liegen Doppelfirmen routinierter Lustspielfabrikanten, von denen der eine mehr für Fabel und Situationen, der andere für den Dialog aufkommt. Seltener ist ernste Gemeinschaftsarbeit, wie sie vorliegt bei den Brüdern Goncourt und dem holländischen Ehepaar C. und M. Scharten- Antink im Roman, bei Arno Holz und Johannes Schlaf, als sie „Papa Hamlet“ und „Familie Selicke“ schrieben, und bei den Kriegskameraden Graff und Hintze als Verfassern der „Endlosen Straße“. So hat auch Jean Paul in den „Flegeljahren“ von einem Roman, den die Zwillingsbrüder Walt und Vult gemeinsam schreiben wollten, gesprochen, und der Berliner Romantikerkreis der Bernhardi, Chamisso, Fouqué, Neumann, Varnhagen hat den Gedanken in die Tat umgesetzt. Aber ihr Gemeinschaftsroman „Die Versuche und Hindernisse Karls“, dessen erster Band 1808 erschien, war mehr ein Gesellschaftsspiel, bei dem der eine Teilnehmer dem anderen Schwierigkeiten bereitete und Fallen stellte, als daß der Anspruch auf ein Kunstwerk von innerer Form bestanden hätte. Ebenso war der „Roman der Zwölf“, der von der Zeitschrift „Die Woche“ kurz vor dem Weltkrieg in Bestellung gegeben wurde, nur ein großes Reklamepreisrätsel für die Leser, die das Dutzend mit Namen aufgeführter Mitarbeiter Kapitel für Kapitel erkennen sollten. Das ist seitdem in der Provinzpresse mehrfach wiederholt worden. Es bleibt aber unbestreitbar, was Johannes Schlaf in Erinnerung an seine Zusammenarbeit mit Arno Holz festgestellt hat: „Es ist unmöglich, daß zwei ein und die gleiche Konzeption (wie es doch sein muß) aus ihrem innersten Erleben heraus leisten können.“ Nur einer kann den Gedanken |#f0128 : 104|

des Werkes gefaßt haben, und der andere muß in der Ausarbeitung sich die Konzeption des ersten zu eigen machen. Aber auch dann kann nur selten aus der Gemeinschaftsarbeit ein einheitliches Werk entstehen. Es gilt vielmehr der Ausspruch, den der Individualist Hebbel in bezug auf das Nibelungenlied tat: der Apfel kann nur Produkt eines Baumes, nicht eines Waldes sein. Die alte Heldenepik, auf deren umstrittene Ursprünge damit hingewiesen ist, stellt allerdings ihre besonderen kritischen Aufgaben; hier handelt es sich keinesfalls um gleichzeitige Kollektivarbeit, sondern um eine sich über eine lange Zeit hinziehende Folge von Überarbeitungen und zusammenfassenden Redaktionen. Daß alles Jüngere dabei minderwertig sein müsse, nennt Werner Jaeger in bezug auf die homerischen Epen ein romantisches Vorurteil. Bei der Auseinanderlösung verschiedener Entstehungsschichten, die zunächst in der Bibelkritik der Aufklärung zur Anwendung kam und dann in der Homer-Kritik von Friedr. Aug. Wolf vorbildlich wurde, spielte die Feststellung von Widersprüchen zwischen einzelnen Teilen des Ganzen eine wichtige Rolle. Man kann auch in der neueren Literaturgeschichte solche Kriterien der Uneinheitlichkeit finden. Wenn etwa das Märchen „Der Palast der Wahrheit“ in Wielands „Dschinnistan“ nach eigener Erklärung des Herausgebers zum Teil von einer uns unbekannten Dame bearbeitet wurde, so unterscheidet sich dieser fremde Anteil nicht nur deutlich im Stil, der erkennen läßt, wo Wielands Fortsetzung beginnt; auch der Gebrauch der Namen ist unterschiedlich: anfangs heißt es Almire und Zeloide, später, als Wieland die Feder aufnimmt, Altamire und Zeolide. Aber aus der Beobachtung von so geringfügigen oder sogar von bedeutenderen Widersprüchen ist keineswegs immer der Schluß auf fremde Mitarbeit oder Überarbeitung zu ziehen. Beispielsweise wird in Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ der Held bald August, bald Gustav genannt, und niemand wird daraus den Schluß auf fremde Mitwirkung ziehen dürfen. Um solche Argumente für die Schichten- und Liedertheorie der Volksdichtung zu entkräften, haben seinerzeit die Altgermanisten Kraus und Jellinek eine reiche Sammlung von „Widersprüchen in Kunstdichtungen“ zusammengetragen, und andere sind ihnen dann gefolgt. Nicht nur aus Werken, bei denen fremde Bearbeiter in Frage kommen, wie Shakespeares „Macbeth“ oder Kleists „Familie Schroffenstein“, sondern bei Dichtungen, deren Einheit nicht im mindesten bezweifelt werden kann, wie Cervantes' „Don Quixote“, Lessings „Nathan“, Goethes „Werther“ und „Wahlverwandtschaften“ werden Unstimmigkeiten aufgewiesen, |#f0129 : 105|

die den Satz „Aliquando dormitat bonus Homerus“ zur Bestätigung gelangen lassen. Allerdings kann man die Erklärung dafür gelegentlich in der Entstehungsgeschichte finden, so daß zwar nicht verschiedene Verfasser, wohl aber verschiedene Stimmungen und Entwicklungsstufen desselben Dichters beteiligt sind. Ein berühmter, schon von der zeitgenössischen Kritik angekreideter und vom Dichter doch nicht behobener Widerspruch in Schillers „Don Carlos“ besteht darin, daß der Held im vierten Auftritt des zweiten Aufzuges erklärt, er habe noch nichts Schriftliches von der Hand der Königin gelesen, während er IV,6 den Brief herauszieht, den sie ihm bei seiner tödlichen Krankheit nach Alcala schrieb und den er seitdem auf dem Herzen trug. Der Brief nach Alcala kommt schon bei St. Réal vor; er ist ein Bestandteil des sich an die erste Quelle enger anschließenden früheren Planes, während das mißverständliche Stelldichein mit der Prinzessin, das durch die Unbekanntheit der Schrift motiviert werden muß, einer späteren Arbeitsphase angehört. Solche Rückschlüsse aus der fertigen Form der Dichtung auf ihre Entstehungsweise fallen bereits in das Gebiet der sogenannten „höheren Kritik“, die zu dem Gegenstand des folgenden Hauptteils gehört. f) Versteckspiel des Verfassers Kritik muß manchmal auch an die eigenen Aussagen der Verfasser gelegt werden, wenn sie ihre aus bestimmten Gründen gewählte Anonymität durch öffentliche Ableugnung aufrechtzuerhalten gezwungen sind. So ist es Herder bei den „Kritischen Wäldern“ gegangen, zu denen er sich später gleichwohl bekannt hat. So hat Lessing als Herausgeber der Fragmente des Wolfenbütteler Unbekannten aus Rücksicht auf die Familie Reimarus die Öffentlichkeit geflissentlich hinters Licht führen müssen. Auch sonst hat er es geliebt, bei eigenen Werken die Maske des Herausgebers anzulegen: sowohl die Beschwörungszene seines „Faust“ im 17. Literaturbrief als der erste Teil der „Erziehung des Menschengeschlechts“ ist von ihm einem Unbekannten zugeschrieben worden. Während im ersten Fall das Volksschauspiel als Quelle zu erkennen ist, lag im zweiten Fall die Versuchung nahe, den fremden Verfasser, der kein unbedeutender Denker gewesen sein kann, zu ermitteln. Da nun der junge Albrecht Thaer, der spätere Vater der Landwirtschaft, in einer für seine Braut niedergeschriebenen Lebensbeichte Andeutungen von theologischen Aufzeichnungen |#f0130 : 106|

machte, deren Abschrift in die Hände eines großen Mannes gefallen sei, „der den Stil etwas umänderte und einen Teil davon als Fragment eines unbekannten Verfassers herausgab“, bietet sich in der Tat eine lockende Fährte. Die Entscheidung hängt sowohl von dem Charakterbilde Thaers ab als von der Originalität der in den ersten Paragraphen niedergelegten Gedanken. Während die geschichtsphilosophische Dreistufigkeit weder von Lessing noch von Thaer erfunden worden ist, enthält der zweite Teil durchaus Lessingsches Gedankengut. Stilistisch aber besteht zwischen beiden Teilen so wenig Unterschied, daß die Durchführung nur das Werk eines Mannes sein kann. Lessing selbst hat das Ganze geschrieben, auch wenn ihn vielleicht die Kenntnis Thaerscher Aufzeichnungen veranlaßt haben sollte, seine „Gegensätze“ dem Reimarus gegenüberzustellen. Ein bei richtiger Handhabung Wunder wirkendes Mittel für die Ausscheidung fremden Anteils, ja sogar für die Feststellung verschiedener Arbeitsphasen desselben Verfassers war die von Eduard Sievers im Anschluß an Rutz und Becking ausgebildete Methode der Schallanalyse. Was Fingerabdrücke als sicheres Erkennungszeichen des Individuums, was Graphologie für die charakterologische Analyse der Schriftzeichen, was Physiognomik für die Abzeichnung des Seelenlebens, das bedeutete dieses Verfahren für die Erkenntnis des Charakteristischen in Wort und Klang. Nur daß Fingerabdruck und Schriftzeichen objektiv gegeben sind und dauernder Beobachtung zur Verfügung stehen, während Ton und Schall als Augenblickserlebnisse immer wieder reproduziert und gehört werden müssen, worin zwei mögliche Fehlerquellen bestehen, nämlich falsche klangliche Reproduktion und falsche Aufnahme des Gehörten. Wohl muß ein immanenter Klang und Rhythmus für jeden Text angenommen werden, der sich verständnisvollem Vortrag mitteilt, aber um das Charakteristische wahrzunehmen, ist wiederum ein zur höchsten Feinheit ausgebildetes Gehör notwendig. Wenn auch von der Körperhaltung abhängige Typen des Vortrags auf bestimmte Kurven der Taktgebung festzulegen und willkürlich nachzubilden sind und wenn die Beobachtung durch den Gebrauch von Drahtfiguren, die der Wünschelrute gleichen, mit einer gewissen Autosuggestion unterstützt werden konnte, so blieb doch hier, wie beim Medium des Rutengängers, der eigentliche Aufnahmeapparat subjektiv und konnte bisher durch kein Instrument mechanischer Aufzeichnung ersetzt werden. Dieses Medium bleibt etwas Irrationales, und das Verfahren muß vorerst der Vergangenheit zugerechnet werden als ein Geheimnis, das Eduard Sievers mit sich ins Grab nahm, da es ihm trotz aller Bemühung und trotz der Übertragung |#f0131 : 107|

auf einzelne Schüler doch nicht gelang, es als eine zuverlässig zu handhabende Methode allgemein zugänglich zu machen. Unbewußt mag jeder feinfühlige Hörer etwas von diesem Unterscheidungsvermögen in sich tragen. Es ist aber auffallend, daß gerade die Dichter, denen man das sicherste sprachliche Sensorium zutrauen möchte, im Gefühl für Echtheit und Stileinheit oft versagt haben. Beispielsweise hat Ludwig Tieck, der auch den unechten Shakespearestücken seine besondere Liebe zuwandte, ein Drama von Maximilian Klinger, „Das leidende Weib“ in seine Gesamtausgabe der Werke von Mich. Reinh. Lenz aufgenommen. Die scharfsinnigen Kritiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel sollen es fertiggebracht haben, die „Agnes von Lilien“ der Caroline von Wolzogen für ein Werk Goethes zu halten. Gustav Freytag nahm in seine Ausgabe der Werke Otto Ludwigs zwei Erzählungen auf, die zwar denselben Verfassernamen trugen, aber als Pseudonym eines Mannes, mit dem der Eisfelder Dichter nichts zu tun hatte. Dabei waren sowohl die Brüder Schlegel als Freytag gelernte Philologen. Selbst Goethe hat ein Gedicht, dessen Verfasser Fr. Heinr. Jacobi war, unwissentlich in seine eigene Sammlung aufgenommen und über das von ihm inspirierte Fragment „Natur“, das der Schweizer Tobler in das Tiefurter Journal gab, aus der Alterserinnerung nichts Sicheres mehr aussagen können. Nicht minder verwunderlich ist es, daß eine grandiose Fälschung, wie die des Ossian durch Macpherson von so feinfühligen Kennern des Naturlauts wie Herder und Goethe nicht erkannt wurde. Sie waren von dem Geist der Empfindsamkeit, aus dem diese Nachdichtung hervorgegangen ist, selbst erfüllt und suchten das Naturhafte im Empfindsamen. Als Gegenstand einer bedeutenden Dichtung gehört die Gestalt dieses künstlich geschaffenen Sängers der Vorzeit durchaus in die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, nicht in die des gälischen Altertums, obwohl es noch heute nicht völlig geklärt ist, ob Macpherson irgendwelche Reste alter Volksüberlieferung kannte und verwertete. Der Verdacht gegen die Echtheit mußte aufkommen, als der angebliche Herausgeber die alten Handschriften, aus denen er zu schöpfen vorgab, nicht zur Prüfung vorlegen konnte. Überhaupt besteht solcher Verdacht immer zu Recht, wenn ein Entdecker sich weigert, die von ihm ausgegrabenen Urkunden einer Echtheitsprüfung unterziehen zu lassen. So war es mit den angeblichen Gedichten von Lenz, die Falk aus dem Nachlaß eines russischen Predigers Jerzembsky ans Licht zu ziehen vorgab. So verhielt es sich mit dem von K. G. Herwig veröffentlichten Tagebuch, das Heinrich von Kleist |#f0132 : 108|

als Gefangener auf dem Fort de Jout geführt haben soll und das bestenfalls Bruchstück eines ungedruckt gebliebenen Kleistromans sein kann. Dann nämlich darf man von Fälschung nicht sprechen, wenn die Einkleidung nur dichterische Stilform und technisches Mittel der Beglaubigung darstellt, wie es bei der chronikalischen Erzählung der Fall ist. Bei Meinholds „Bernsteinhexe“ oder Kolbenheyers „Meister Joachim Pausewang“ oder Wilhelm Schäfers „Stauffer-Bern“, wo der Dichter sich als Herausgeber maskiert, würde der Glaube des Lesers an urkundliche Echtheit ebenso naiv sein, wie der eines Theaterpublikums, das auf der Bühne ein Stück Wirklichkeit zu erleben wähnt. Nennt sich allerdings der Verfasser nicht und ist kein Rahmen um die fingierte Aufzeichnung geschlossen, so liegt die Irreführung nahe, und ein Roman, wie die bekannte „Chronik der Anna Magdalena Bach“, die aus dem Englischen übersetzt ist, wäre als Fälschung zu erklären, falls die Musikwissenschaft etwa anfinge, ihn als Quelle für das Leben Johann Sebastians zu betrachten. Alle diese Beispiele legen Zeugnis ab von der Notwendigkeit der Echtheitsprobe und von der Unentbehrlichkeit der philologischen Kritik. Wenn sie heute manchmal in der höheren Literaturwissenschaft nicht mehr gebraucht zu werden scheint, so liegt es daran, daß sie auf den Hauptgebieten im Lauf eines Jahrhunderts ihre Arbeit getan hat und daß man, auf ihren Ergebnissen aufbauend, den Ertrag als selbstverständlich entgegennimmt, mit oder ohne Dank. Aber nicht nur im Rückblick, auch im Fortschreiten wird die Wissenschaft immer wieder zu Aufgaben gelangen, die nur mit philologischen Methoden zu lösen sind und denen man hilflos gegenübersteht, wenn geschulter Scharfblick fehlt. |#f0133 : E109|

DR ITTER HAUPTTEIL DIE ANALYSE Jede wissenschaftliche Untersuchung zerschneidet, weil sie auf dem Denken allein beruht und also objektiviert, die feinen, in keinen Begriff eingehenden Zusammenhänge der Lebenstotalität. E d u a rd S p ra n g e r. 1. G r u n d b e g r i f f e Auf Sammlung und Kritik folgt die Gliederung, die zunächst als Struktur des einzelnen Werkes erkannt werden muß. Während die als „niedere Kritik“ bezeichnete Richtigstellung des Textes mit dem grammatischen Verstehen, das die erste Stufe philologischer Ergründung bildet, verknüpft ist, geht die „höhere Kritik“ bei der Analyse des Wortkunstwerks Hand in Hand mit der Ästhetik. Dem philosophischen Verstehen wird entgegengekommen, indem in der Tat eine ihm entgegengesetzte Richtung eingeschlagen wird. Das Werk als Ganzes wird in seine Elemente aufgelöst, damit in deren Wiederzusammensetzung das Ganze begriffen werden kann. Im Sinne dieser Strukturerkenntnis darf die Analyse weder gefühllose Obduktion sein noch kindlicher Zerstörung eines Spielzeugs gleichen; vielmehr hat sie als Biologie des Kunstwerkes alle Lebenszusammenhänge des Organismus zu begreifen, um in ihrer Gliederung die Einheit zu erfassen. Nicht Zerreißen der Zusammenhänge, sondern Festhalten dieser Gelenke ist die Aufgabe. Ein Philosoph wie Henri Bergson sieht im Blick für die Einzelheiten ein erschlafftes Zerflattern der Aufmerksamkeit und ein Aussetzen des Willens. Er gibt in seiner „Schöpferischen Entwicklung“ das Beispiel eines Dichters, der seine Verse persönlich vorträgt und den Hörer zu einem der Inspiration gleichenden Strom sympathischer innerer Bewegung mitreißt. Sobald die Aufmerksamkeit des Hörers nachläßt, sondern sich die Eindrücke und verlieren sich im Nacheinander der Töne, der Sätze, der Worte. „Nun werde ich“, so heißt es bei Bergson, „die Präzision der Verkettungen, die wundersame Ordnung des Zuges, die genaue Fügung der Silben zu Worten, der Worte zu Sätzen bewundern. Je weiter im rein negativen Sinn der |#f0134 : 110|

Erschlaffung ich vorrücke, desto mehr Ausgedehntheit, desto mehr Kompliziertheit habe ich geschaffen; und je höher die Kompliziertheit ihrerseits wächst, desto bewunderungswürdiger dünkt mich die Ordnung, die unerschütterlich fortfährt, zwischen den Elementen zu herrschen. Dennoch bedeuten weder diese Kompliziertheit noch diese Ausgedehntheit etwas Positives: sie sind nur Ausdruck für das Aussetzen des Willens“. Was der geistreiche Intuitionsphilosoph als unwillkürliche Erschlaffung ansieht, wird für den analysierenden Beobachter gerade die umgekehrte Bedeutung bewußter Energie-Anspannung und aufmerksamen Erkenntniswillens haben. Der Beobachter steht allerdings nicht unter dem persönlichen zwingenden Eindruck des Dichters, durch dessen Vortrag er das Werk wie im Zustand des Entstehens entgegennimmt, sondern er sieht allein das fertige Werk vor sich und sucht in ihm den Dichter. Er springt aus dem Strom, der ihn mitreißt, heraus ans Ufer und betrachtet von einem festen Standort aus das Spiel der Wellen. Er verlangsamt sogar die Bewegung, indem er der einzelnen Welle mit dem Blick folgt, so daß ein Eindruck in ihm entstehen kann, wie er bei mächtigem Eisgang zu gewinnen ist, als werde der Betrachtende getrieben und der Strom stehe still. So kommt eine Beobachtung mit der Zeitlupe zustande, die die flüchtigen Phasen der Bewegung auseinanderzieht und die Einzelheiten des Zusammenspiels festhalten läßt. Wenn die analytische Zerlegung von außen nach innen strebt, so sind die Strukturelemente, deren sie gewahr wird, sowohl inhaltlicher als formaler Natur. Stoff und Form haben zunächst ihre Existenz außerhalb des individuellen Kunstwerkes. Indem sie zu dessen Aufbau herbeigerufen werden und der Vereinigung zustreben, werden sie in aufsteigender Linie verpersönlicht, verinnerlicht und vergeistigt. Es bilden sich zwei Stufenreihen, eine stoffliche und eine formale, die in gegenseitiger Annäherung nebeneinander hergehen, um schließlich eine gemeinsame Spitze zu finden. Ihr Treffpunkt ist die Idee. Zur inhaltlichen Reihe gehören die Zwischenglieder: Situation, Fabel, Charaktere, Motive, Probleme; ihnen entsprechen auf der formalen Seite: Gattung, Technik, Psychologie, Sprachform, Stil. Zwischen diesen beiden Stufenreihen, die wie Strebepfeiler von außen aufsteigen, kann aber noch eine innere Säule gesetzt werden, deren Tragkraft die Vermittlung herstellt; sie bedeutet subjektive Aneignung des Stoffes und objektive Bewältigung der Form innerhalb der Seelenlage des Schaffenden. Hier reihen sich alle die Elemente aneinander, in denen Charakter, Wille und Wesensart des Dichters, selbst wenn |#f0135 : 111|

er sich nicht nennt und unbekannt bleibt, zu suchen und zu erkennen sind. Ich nenne ihre Glieder: Stimmung, Absicht, Selbstdarstellung, Wirklichkeitsauffassung, Weltanschauung. Auch diese Reihe strebt zur Idee hin und geht in ihr auf. Schon Goethe hat den Gehalt zwischen Stoff und Form gestellt in dem Spruch der „Maximen und Reflexionen“: „Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.“ Wenn Walzel dagegen im Wort „Gehalt“, dem er die „Gestalt“ als zweite Seite des Kunstwerks gegenüberstellt, das Stoffliche und Inhaltliche zusammenfaßt, so gehört noch ein drittes Reimwort dazu, das Friso Melzer eingeführt hat, nämlich Gewalt. In dieser innerlichen Entwicklungsrichtung wirken die schaffenden Kräfte und liegen die seelischen Wirkungsmöglichkeiten der Dichtung; sie sind als die eigentliche Mitte ihrer Existenz zu betrachten. Das Schema, das für die Aufgaben der Analyse richtunggebend sein soll, wäre demnach folgendes pyramidenförmige Gebilde, das von der Basis aus zu betrachten ist: [Abbildung] 7. Geist Idee 6. Persönlichkeit ProblemeWeltanschauungStil 5. Verknüpfung MotiveWirklichkeitsauffassungSprachform 4. Gestaltung Charaktere-Selbstdarstellung-Psychologie 3. Plan FabelAbsichtTechnik 2. Innere Form SituationStimmungGattung 1. Grundriß StoffDichter (Erlebnis)Form Von außen als Leser an ein Werk herantretend, finden wir schon auf dem Titelblatt die drei Grundbegriffe Stoff, Form und Dichter vereinigt, z. B. „Iphigenie auf Tauris, Schauspiel von Goethe“. Der Name des Dichters, in dem sich in der Regel der Zusammenhang mit einer ganzen Reihe anderer Werke herstellt, kann indessen unbekannt sein; er ist auch für eine Betrachtung, die sich ausschließlich in das einzelne Werk vertieft, unwesentlich. In der mittleren Säule wird erst mit dem Begriff der „Stimmung“ auf ein analysierbares persönliches Element der Dichtung gestoßen. Da es bei der Analyse darauf ankommen muß, die Zusammenhänge zu sehen, statt sie auseinanderzulösen, verzichte ich darauf, die formale, seelische und stoffliche Kategorie getrennt zu behandeln. Statt jede der drei vertikalen Reihen für sich im Aufstieg ihrer Glieder zu |#f0136 : 112|

verfolgen, hat es seinen Vorzug, die einzelnen Stufen horizontal zu durchmessen, weil die notwendig begriffliche Klärung durch die Wechselwirkung zwischen den inhaltlichen und formalen Kategorien erleichtert wird. Ich wähle also, um vom Stoff zur Idee zu gelangen, den Weg, den das Schema in den durchgehenden Verbindungslinien andeutet. Bei jedem Haltepunkt wird vor den Beispielen eine Klarstellung des Begriffs in Auseinandersetzung mit gebräuchlichen Anwendungen sich als notwendig erweisen. Eine eindeutige Handhabung der Terminologie ist Voraussetzung jeder Analyse; gerade in der Anwendung von Bezeichnungen wie Stoff, Erlebnis, Technik, Motiv, Stil und Idee hat die Dichtungslehre bis jetzt eine ziemliche Willkür und Verwirrung aufkommen lassen, die jedem folgerichtigen Vorgehen im Wege steht.

2. E r s t e S t u f e : G r u n d r i ß a) Stoff und Erlebnis Die erste Frage ist, ob Stoff und Form an sich existieren, und zwar außerhalb oder innerhalb des Kunstwerkes oder ob sie nicht bloß als heuristische Hilfsbegriffe zu betrachten sind. Schon beim Wort S t o f f beginnt die Unsicherheit schwankenden Gebrauchs. Wenn in einer Sammlung „Stoff- und Motivgeschichte“ der „Wald“ als Stoff der Dichtung betrachtet wird, so könnte man im Zweifel sein, ob er nicht besser als Erlebnis oder als Motiv oder gar als Stimmung aufgefaßt würde, weil er einen Schauplatz, aber kein Geschehen darstellt. Dem Stoff liegt immer eine einmalige Begebenheit zugrunde, der erst durch künstlerische Darstellung allgemeine Bedeutung verliehen wird. Die Eignung zu symbolischer Sinngebung macht die Begebenheit zum poetischen Stoff. Um ein paar voneinander abweichende Definitionen zu nennen, so ist der Stoff für Walzel „das, was vor dem Kunstwerk vorhanden war und neben ihm bestehen bleibt“; für Petsch ist es nicht mehr der Rohstoff, wie ihn der Dichter aus seiner „Quelle“ bezieht oder im eigenen Leben „erfährt“, sondern der bereits vorgeformte, symbolfähige Inhalt; für Hefele steht der Stoff mitten zwischen Erlebnis und Gestaltung; ebenso bedeutet er für Schultze-Jahde das „im Ausdruck gegebene Erlebnis, das ursprünglich ohne Ausdruck im Vorausdrucksstadium existierte“; dagegen ist der Stoff für Ermatinger der Gegenstand eines Erlebnisses; er geht also diesem voraus; aber zugleich bedeutet er eine Gruppe von Inhaltsteilen im Dichtwerk und wird gleichgesetzt mit der Welt der Motive. Damit sind drei oder vier |#f0137 : 113|

verschiedene Stadien der Stoffverarbeitung gekennzeichnet, und von diesen sich widersprechenden Auffassungen ist keine voll befriedigend. Zur ersten ist zu bemerken, daß es einen ungestalteten Stoff kaum gibt; man kann ihn höchstens in Zeitungsnachrichten finden, aus denen sich Ibsen gelegentlich inspirieren ließ, oder in gesellschaftlicher chronique scandaleuse, aus der Fontane zu schöpfen liebte; diese Art Stoff lebt nicht neben dem Kunstwerk weiter. Aber schon das bloße „Memorabile“, das nichts weiter als Stoffübermittlung ist, wird von André Jolles zu den „einfachen Formen“ gerechnet, und sein Schüler Otto Görner konnte nun den Weg „vom Memorabile zur Schicksalstragödie“ verfolgen. Jede geschichtliche oder sagenhafte Begebenheit, die der Dichter aufgreift, tritt ihm bereits gestaltet entgegen, sei es in mündlicher Überlieferung oder in Schrift und Druck. Häufig, besonders im Drama, ging die Anregung sogar bereits von einem literarisch geformten Werk aus, wie z. B. für Goethes „Faust“ vom Puppenspiel, das bis auf Marlowes Drama zurückzuführen ist, oder für Schillers „Don Carlos“ von der Novelle des St. Réal. Diese Texte bestehen allerdings neben Goethes und Schillers Dichtungen weiter, aber nicht als Stoff, sondern als Puppenspiel und Novelle. Stoff wurde diese bereits geformte Sage oder Geschichte für den Dichter selbst erst in dem Augenblick, als er den Reiz empfand, ihr eine neue eigene Form zu geben. Sobald seine Phantasie mit diesen Möglichkeiten spielt, beginnt bereits die persönliche Umformung des zuvor von anderen Geformten. Nach dieser Vorformung setzt erst das Quellenstudium ein, bei Goethe mit Benutzung der Volksbücher, bei Schiller mit Heranziehung geschichtlicher Darstellungen. Aber man kann nicht mit Petsch diese Quellen als Rohstoff bezeichnen, denn auch sie sind bereits geformt: in der französischen, spanischen, englischen Geschichtsschreibung tritt das Schicksal des Don Carlos in ein völlig verschiedenes Licht; die einen sind Ankläger, die anderen Verteidiger des Vaters, der über seinen Sohn und Erben furchtbares Gericht hielt. Die stofflichen Quellen sind also für den Dichter nichts anderes als das Aktenmaterial eines Prozesses; der Stoff ist eine schon lange anhängige Sache, die den Dichter zu eigenem Urteilsspruch auffordert. Er ist dazu berechtigt, wenn er, wie Ibsen sagte, in der Dichtung Gerichtstag über sich selbst hält. Das tat Goethe, indem er Faust entgegen aller stofflichen Überlieferung zur Erlösung führte; das tat Schiller, indem er im Verlauf der Arbeit den jugendlichen Sturm- und Drang-Helden, in dem er sich selbst fühlte, hinter der überlegenen Gestalt des reifen Freundes zurücktreten ließ, einer Gestalt, die in der novellistischen Quelle |#f0138 : 114|

nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt und in den geschichtlichen Quellen überhaupt nicht vorkommt, also dem vor der Dichtung existierenden Stoffe streng genommen gar nicht angehört. Wenn man allerdings mit Ermatinger das Aggregat von Motiven, das in der Dichtung verknüpft ist, als Stoff bezeichnen will, dann müßte der Hauptträger des Motivs der sich aufopfernden Freundschaft Marquis Posa zum Stoff des „Don Carlos“ gerechnet werden, obwohl er erst aus Schillers eigenen Freundschaftserlebnissen und aus den Problemen seiner politischen Gefühlswelt zur bedeutenden Rolle herangewachsen ist. Die Ermatingersche Definition ist von Beispielen der Lyrik hergeleitet, und die Lyrik weist wohl Motive auf, aber keinen von außen herangetretenen, bereits in irgendeiner Weise geformten Stoff. Nur bei der Ballade und allenfalls beim Rollenlied und Bildgedicht (also bei Arten, die sich von der reinen und unmittelbaren Empfindungslyrik in der Richtung zum Drama oder Epos entfernen) kann man von einer Anregung durch fremde Überlieferung sprechen; die individuelle oder kollektive Gefühlslyrik aber hat statt des entlehnten Stoffes das eigene oder allgemeine Erlebnis zur Grundlage; sie hat also ihren Ansatzpunkt im Innern und setzt an die Stelle der Handlung den seelischen Zustand. Motivverbindung gibt es in beiden Fällen, sowohl im Erlebnis als im überlieferten Stoff, aber es ist wesentlich, daß bei der Stoffentlehnung der pragmatischen Dichtungsgattungen (Epos und Drama) die Motive in persönlicher Gestaltung verändert werden, während sie in der stofflosen Lyrik als erlebte Urbilder sich erhalten und offenbaren. Gibt das unmittelbare Erlebnis von innen heraus der reinen Lyrik ihre Motive, so wird es damit zu deren Stoff, während bei den anderen Gattungen der von außen her überlieferte Stoff erst zum Erlebnis werden muß, damit er gestaltet werden kann. Was Ermatinger als Stofferlebnis bezeichnet, das kann in der Tat auf Verschmelzung einer von außen herantretenden Überlieferung mit inneren Erfahrungen beruhen. Dabei können sowohl verschiedene Erlebnisse mit einem Stoff sich kreuzen, als verschiedene Stoffe mit einem Grunderlebnis zusammentreffen. Für das erste wäre ein Beispiel die Entstehung von Goethes „Clavigo“. Die Memoiren des Beaumarchais, die das ritterliche Eintreten für die Ehre der Schwester gegenüber dem treulosen Spanier in Szene setzten, packten Goethe an zwei Punkten seiner damaligen Seelenlage: es wurde sowohl an das Erlebnis eigener Treulosigkeit gegenüber Friederike Brion gerührt als an das brüderliche Verantwortungsgefühl für die Ehre der eigenen |#f0139 : 115|

Schwester Cornelia. Man kann sagen, ohne diese beiden erlebnismäßigen Berührungspunkte hätte Goethe keinen „Clavigo“ geschrieben, auch wenn ihn das Gesellschaftsspiel zur schnellen Fertigung eines Dramas verpflichtete. Das umgekehrte Beispiel des Zusammentreffens mehrerer, auf verschiedenen Ebenen gelagerter Stoffe mit einem Grunderlebnis gibt uns ein lebender Dichter, Friedrich Bethge, in der Vorrede seines Schauspiels „Marsch der Veteranen“. Von den stofflichen Quellen, deren Zusammenfließen der Dichter beobachtete, war das eine der Zeitungsbericht vom Hungermarsch nach Washington, den ehemalige amerikanische Kriegsteilnehmer im Frühjahr 1932 unternahmen; das andere war eine Episode im Roman „Tote Seelen“ von Gogol, nämlich die Erzählung von dem Hauptmann Kopejkin, der im Kriege gegen Napoleon Arm und Bein verlor und in Petersburg, wo er vom Väterchen Zar Hilfe hoffte, Woche für Woche mit den Worten „Komm wieder!“ vertröstet wird. Von den beiden Quellen, dem zeitgeschichtlichen Rohstoff und dem bereits literarisch geformten Geschichtsbild, kann man das eine als Erlebnisstoff, das andere als Stofferlebnis bezeichnen. Der Verfasser erzählt, wie mit der zufälligen Gogol-Lektüre im Augenblick, wo die Dramatisierung des so ähnlich gelagerten Stoffes der amerikanischen Veteranen geplant war, die Entscheidung fiel, das Thema um des zeitlichen und künstlerischen Abstandes willen ins napoleonische Rußland zu verlegen. Während für die Zeichnung der Petersburger Gesellschaft um 1812/13 Tolstois „Krieg und Frieden“ als Quelle dienen konnte, wurde aus dem amerikanischen Generalstabschef ein ehemaliger preußischer Offizier der Armee Friedrichs des Großen, der dem korrupten russischen Staat das preußische Maß entgegenzuhalten hat. In dieser Gestalt und ihrer Tendenz hat nun das eigene Kriegserlebnis des Verfassers auf Bildung der Fabel Einfluß gewonnen. Ohne die zu einer Weltanschauung verfestigte Erlebnisgrundlage, die in der eigenen Kriegserfahrung des mehrmals verwundeten Frontkämpfers und in der bitteren Erfahrung des geringen Dankes der Heimat beruhte, hätten die beiden parallelen Stoffe nicht wie ein Stück eigenen Schicksals gestaltet werden können. Derselbe Dichter gibt in der Vorrede seines früheren Kriegsdramas „Reims“ eine Selbstanalyse, die das Zusammentreffen eines aus Zeitungsnachrichten geschöpften Stoffes mit dem eigenen Fronterlebnis darstellt und die Übertragung der Fabel vom italienischen auf den französischen Kriegsschauplatz und von der österreichischen auf die deutsche Armee begründet. Wie aber soll analytisch aus solcher Verquickung das Erlebnis herauszulösen |#f0140 : 116|

sein, ohne daß man von dem Leben des Dichters weiß oder sogar Selbstzeugnisse zur Verfügung hat, wie sie Bethge gibt oder wie sie in „Dichtung und Wahrheit“ für den Erlebnisgehalt der Goetheschen Jugendwerke zu finden sind? Die Analyse bietet zwei Möglichkeiten: Der eine Weg, zur Person des Dichters und zu seinem Erlebnis zu gelangen, ist der rationale, der vom Stoffe ausgeht und die Verschmelzung zwischen Stoff und Erlebnis wieder aufzulösen sucht. Was nach Ausscheidung des stofflich Überlieferten übrig bliebe, wäre das Erlebte. Sogar das, was der Dichter selbst ausgeschieden hat, kann, insofern es zu seinem Erlebnis im Widerspruch stand, Rückschlüsse auf dieses erlauben. Wenn Goethe dem geschichtlichen Egmont, der verheiratet und Vater von neun Kindern war, sein eigenes Lebensalter gab und ihn zum Liebhaber Clärchens machte, so hat ihm Schillers Kritik die Preisgabe rührender Situationen und Konflikte des Familienvaters zum Vorwurf gemacht; Goethe hätte aber hier schon wie später gegenüber Schillers Bühnenbearbeitung sich selbst behaupten können mit Clärchens Worten „Dieses ist mein Egmont.“ Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem Blut! Man braucht durchaus nicht dem Verhältnis zu einem Offenbacher Mädchen Lotte Nagel nachzuspüren, um herauszufühlen, was in Egmonts Charakter Selbstdarstellung und Erlebnis Goethes ist. Der andere, irrationale Weg würde dahin führen, das persönlich Erlebte mit phänomenologischer Intuition zu erschließen aus der existentiellen Kraft, aus der Gefühlswärme und Eindringlichkeit der Darstellung, aus der Originalität und überzeugenden Lebenswahrheit der Motive und aus einer zentralen Stellung des damit verbundenen Problems im Gesamtwerk. Wir spüren nicht etwa dem Erlebten aus irgendwelcher Neugier um die Privatverhältnisse des Dichters nach, sondern es drängt sich uns durch seine Echtheitswirkung auf. Wenn nun Stimmungsgehalt und Lebensgefühl sich vom Werk auf den Leser übertragen, so muß die Frage auftauchen, ob nicht gerade das, was im Empfangenden als stärkstes Erlebnis sich einprägt, rückschließend auch als das stärkste Erlebnis des Schöpfers betrachtet werden darf. Wenn Dichtung Gestaltung eines Erlebnisses ist, so wird sie wiederum zum Erlebnis einer Gestaltung. Damit ist eine gewisse Wiederholung des Schöpfungsvorganges vollzogen, die aber höchstens ein rückläufiges Analogon, niemals eine Identität bedeuten kann, wie ja auch die Dichtung selbst, wenn wir Lugowskis Ausdruck anwenden wollen, nur ein mythisches Anologon erlebter Wirklichkeit darstellt. Voraussetzung der Analogie zwischen Schöpfer und einfühlendem Nachschöpfer |#f0141 : 117|

müßte zudem eine seelische Gleichstellung sein, deren man nur sicher sein kann, wenn man den Dichter kennt. Goethe fand einmal das Ideal tiefeindringenden Verstehens, als er dem Maler Tischbein in Rom seine „Iphigenie“ vorlas. Er schrieb damals an Charlotte von Stein: „Die sonderbare, originale Art, wie dieser das Stück ansah und mich über den Zustand, in welchem ich es geschrieben, aufklärte, erschröckte mich. Es sind keine Worte, wie fein und tief er den Menschen unter dieser Helden Maske empfunden.“ Solches Einfühlen war vielleicht doch nur im Angesicht des Dichters möglich. Und das Ergebnis lief hier, wie Goethe selbst fühlte, mehr auf die Analyse des Menschen als der Dichtung hinaus. Nun hat schon Goethe gesagt, daß erfahrungsgemäß das Was des Kunstwerks die Menschen mehr interessiere als das Wie. Dieser Bevorzugung des Inhalts leistet der Dichter selbst Vorschub, indem er auch die Form in den Dienst der Anspannung eines stofflichen Interesses beim Leser treten läßt. Schon der Titel ist ein Formelement, das auf den Inhalt hinweist und wie das Aushängeschild eines Hauses den Besucher mit Spannung erfüllt und anlockt. Die Prägung des Titels, der nach Schopenhauer ein Monogramm des Inhalts ist, wird zum ersten Gegenstand der Analyse. Weist der Titel auf Persönlichkeiten und Ereignisse der Geschichte, so sind damit schon die räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Stoffes festgelegt; enthält er eine persönliche Beziehung („Meine Blumen“), so gibt er ein Stück Situation und Selbstdarstellung; greift er Namen aus Mythen und Sagen auf, so ist damit wenigstens eine räumliche Bestimmung gegeben; weist er auf raum- und zeitlose Parabeln und Legenden, so werden Motive bezeichnet, die symbolische Bedeutung für Fabeln der Vergangenheit oder Gegenwart haben können (z. B. „Der verlorene Sohn“ oder „Maria Magdalena“); ebenso können Charaktere („Der Geizige“, „Der Verschwender“, „Der Schwierige“) durch den Titel in den Vordergrund gestellt werden. Sind Konflikte von Schicksalsmächten durch Gegenüberstellung von Abstraktionen gekennzeichnet („Kabale und Liebe“, „Glaube und Heimat“), so ist der Titel die Aufrollung eines Problems, und schließlich kann er („Über allen Zauber Liebe“) sogar die Idee eines Stückes bezeichnen. So kann dieses Formelement bereits auf alle Glieder der inhaltlichen Reihe vordeutend hinweisen. Nur für die Stofflosigkeit der Lyrik ist es charakteristisch, daß viele Gedichte überhaupt keine Überschrift finden und daß, wenn sie zu einem Zyklus vereinigt werden, der Titel eher einer formalen als einer inhaltlichen Beziehung sich anpaßt (Romanzero, Geharnischte Sonette, Duineser Elegien). |#f0142 : 118|

Wir müssen dabei bleiben, daß, wenn die Dichtung überhaupt einen Stoff hat, dieser in einer zunächst außerhalb von ihr gelegenen Überlieferung besteht. Sie wird an den Dichter herangetragen oder von ihm aufgefunden und bietet ihm eine lockende Gelegenheit, eine Aufforderung, eine Frage nach der Möglichkeit der Gestaltung. Sobald er sie aufgegriffen hat, ist sie sein Erlebnis geworden, und er spiegelt sich selbst in ihr; nun beginnt die persönliche Formung, und damit ist die Eigenexistenz des Stoffes vorbei. Die sogenannte Stoffgeschichte ist nichts anderes als das Grundbuchamt der Literatur, das jede Aneignung und Inbesitznahme verzeichnet. Der Stoff gleicht dem Baugrund, der sich in seiner eigentlichen Beschaffenheit dem Blick entzieht, sobald ein Bau darauf entstanden ist. Gleichwohl behält das Haus seine Bezeichnung nach dem Grundstück, auf das es gesetzt wurde. b) Form Wenn Stoff und Erlebnis innerhalb der Literaturgeschichte nur in Beziehung auf Dichtungen, deren Gestaltungsgrundlage sie geworden sind, Sinn und Bedeutung haben, so bedeutet die F o r m zunächst auch nichts anderes als Gestaltungsmöglichkeit im Sinne einer Aufgabe. Die Definitionen des Begriffes Form sind noch weit vielfältiger und widerspruchsvoller als die des Stoffes. Meist laufen sie darauf hinaus, daß die Form untrennbar vom Gehalt sei und nichts anderes als die gegenständlich faßbare Oberfläche, die sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsweise des Innern, ja sogar nur den „Atem des Inhalts“ (Hefele) darstelle. Sie wäre danach ein ganz einmaliges, dem einmaligen Gegenstand entsprechendes Gebilde. So hat auch Aug. Wilh. Schlegel in der Form „die sprechende durch keine störende Zufälligkeiten entstellte Physiognomie jedes Dinges, die von dem verborgenen Wesen ein wahrhaftes Zeugnis ablegt“, sehen wollen. Aber gerade dieser Formkünstler, der Dichten mit Übersetzen gleichstellte, hat seinen Inhalt, an dem nicht viele Tiefen zu verbergen waren, eher durch die äußere Gestaltung bestimmen lassen als umgekehrt. Hat er doch Sonette gedichtet, deren Thema die Form des Sonettes war. Nicht anders ist es mit Virtuosen des Formspiels, wie Friedrich Rückert, gewesen. Wiederum hat bei Stefan George und seinem Kreis die Form eine metaphysische Bedeutung, wie sie auch aus Goethes Wort „Jede Form, sie kommt von oben“ herausklingt. Erfahrungsgemäß ist nicht zu leugnen, daß es objektive Formen gibt, die zwar nicht ohne füllenden Gehalt und Gegenstand in Erscheinung treten können, die aber in einer begrenzten Zahl von

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Typen sich registrieren lassen. Dahin gehören sprachliche, rhythmische, strophische Gebilde von fester Prägung, die, soweit es möglich ist, aus einer Sprache in die andere übernommen werden, gattungsmäßige Typen der Gliederung und des Aufbaus, kurz alles, was in den Kapiteln der Poetik, Metrik und Stilistik geregelt ist und was die einzelnen Glieder der formalen Reihe unseres Schemas bildet. Stoff und Form als Möglichkeit und Aufgabe bedeuten in ihrer ersten lockeren Vereinigung durch den Dichter so viel wie den Bauplan seines Werkes vor der Ausführung. Wenn in der fertigen Dichtung von diesem Grundriß so wenig zu erblicken ist, wie bei einer ausgeführten Architektur, so strebt trotzdem die Strukturanalyse in beiden Fällen nach Erkenntnis der flächenhaften Projektion. Hat es aber Sinn, die Beschaffenheit des Bodens festzustellen, der den Bauplan bedingte, oder gar die Erdarbeiten und Bodenveränderungen zu verfolgen, die dem Bau vorausgehen mußten? Nichts anderes bedeutet ein Quellenstudium, das die Beschaffenheit der stofflichen Grundlagen ermittelt, um die mit ihnen vorgenommene Umformung zu erkennen. Es ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, der Dichtung näherzukommen und in ihre Eigenart einzudringen. Die Beobachtung der selbständigen Veränderungen, die an der Überlieferung vorgenommen wurden, ist, wie wir sahen, das erste Verhältnis zur Person des Dichters, zu seiner Auffassung und Arbeitsweise, das auf analytischem Wege gewonnen werden kann. Die zweite, auf Stoffuntersuchung beruhende Methode ist die der Gegenüberstellung mit anderen Behandlungen des gleichen Gegenstandes. Nicht die öde Vollständigkeit von Titeln und Inhaltsangaben, die eine überlebte Stoffgeschichte anhäufte, kann der Analyse einer einzelnen Dichtung förderlich sein, wohl aber ein durchgeführter Vergleich, wie er eigentlich jedesmal nur zwischen zwei Werken vorgenommen werden kann, wenn ein tertium comparationis gegeben ist, das in diesem Falle im gemeinsamen Stoff besteht. Manchmal ist das zu analysierende Werk nur der Umbau eines anderen früheren, das auf dem gleichen Boden stand, wie Kyds „Hamlet“, der durch Shakespeare erdrückt wurde. Wenn jene Haupt- und Staatsaktion „Der bestrafte Brudermord“, die die deutschen Wandertruppen von den englischen Komödianten geerbt hatten, die entstellten Reste des sonst verlorenen Kydschen Dramas überliefert, so gibt der Vergleich einen wunderbaren Einblick in die Kunst Shakespeares; andernfalls ist er ein erschütterndes Zeugnis dafür, wie eine große Dichtung auf dem Theater zerspielt werden kann. Manchmal stehen zwei Werke verschiedener Zeitalter und Stilarten |#f0144 : 120|

nebeneinander auf demselben Baugrund, und die Form der einen Dichtung kann nicht treffender in ihren charakteristischen Wesenszügen erkannt und gewürdigt werden als durch Vergleich mit der anderen. So glaubte schon Schiller in seiner Anzeige von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ keinen besseren Weg zur Charakteristik der modernen Dichtung zu finden, als die Gegenüberstellung mit dem Drama des Euripides. Es war eine Methode, wie sie schon vorher Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ an den Merope- und Essex-Dramen durchgeführt hatte und wie sie nachher Aug. Wilh. Schlegel in seiner französischen Schrift „Comparaison entre la Phèdre de Racine et celle d'Euripide“ anwandte. Wie der Vergleich in diesen Fällen der Kritik dient, die nach der einen oder anderen Seite die Waagschale senkt, so kann er auch für eine objektive Analyse nutzbar gemacht werden, namentlich wenn es sich um gleichwertige Werke handelt, die zwar auf demselben stofflichen Boden stehen, aber doch in ihrer Form durch ganze Welten getrennt sind. Die Methode des einfachen Vergleichs wird verwickelter, wenn sie mit Quellenstudium verbunden werden muß, wie es etwa bei den beiden Rivalen Grimmelshausen und Zesen der Fall ist, deren Josefromane sich zunächst einmal in den stofflichen Grundlagen unterscheiden, dann wieder sich annähern, dadurch, daß Zesen nicht ganz unabhängig von Grimmelshausen geblieben ist, und endlich ganz auseinandergehen in Form und Stil. Dann zeigt sich erst richtig die wechselseitige Beziehung von Stoff und Form, die alle vergleichende Stoffbetrachtung letzten Endes doch auf nichts anderes als Formvergleich hinauslaufen läßt.

3. Z w e i t e S t u f e : I n n e r e F o r m (Gattung Stimmung Situation) a) Gattung Von dem unbestimmten Begriff der Form führt der weitere Weg zur Bestimmtheit der G a t t u n g , die in Titel und Untertitel bereits bezeichnet zu sein pflegt als Roman, Tragödie, Idylle oder Gedichtsammlung und die auch in der äußeren Schriftform durch Akt- oder Kapitelgliederung, durch Vers oder Prosa, durch dialogische oder strophische Teilung zu erkennen sein wird. Trotzdem kann sowohl die Titelgebung als der oberflächliche Augenschein des Schriftbildes trügerisch sein: weder bei Dantes „Divina Commedia“ noch bei Balzacs „Comédie humaine“ handelt es sich um Komödien; auch ist |#f0145 : 121|

nicht jedes Dialogstück ein Drama, nicht jede ungeteilte Versreihe von großer Ausdehnung ein Epos, nicht jedes kurze Strophengebilde ein Lied. Die analytische Wesensbestimmung des Werkes hat nicht allein die äußere Zuteilung zu einer bestimmten Gattung zu prüfen; es knüpft sich weiter daran die Frage nach Erfüllung der inneren Gattungsgesetze. Voraussetzung muß sein, daß es solche Gesetze überhaupt gibt, und dieser Punkt ist umstritten. Die naturwissenschaftliche Orientierung der Geisteswissenschaften hatte sich in der Zeit ihrer größten Verblendung bis zu einer biologisch-entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung der Gattungen als selbständiger Lebewesen verstiegen. Mit Geburt, Wachstum, Vollkommenheit, Herabsinken und Tod waren sie durch Ferdinand Brunetière (1890) in den Kampf ums Dasein hineingestellt worden. Eine geistesgeschichtliche Modulation dieser Auffassung findet sich noch bei Ernest Bovet (1911), der eine naturgegebene Reihenfolge von Lyrik, Epos, Drama wie den Wechsel der Tageszeiten sich periodisch wiederholen lassen wollte. Indessen sind für die Begünstigung einzelner Gattungen durch bestimmte Zeitalter viel eher soziologische und allgemein kulturelle Gründe maßgebend als irgendwelche in Wesen und Lebenskraft der Gattungen selbst liegende Ursachen. Auf keinen Fall verläuft dieser Wechsel des Übergewichts in allen Literaturen mit gleicher Regelmäßigkeit, so daß man daraus eine in den Gattungen selbst beruhende Gesetzmäßigkeit herleiten könnte. Die Reaktion gegen den konstruktiven Historismus hat nun wieder zur völligen Ableugnung jeglicher Gattungsgesetze geführt; in der „Ästhetik“ von Benedetto Croce gibt es nur eine untrennbare Kunst als Sprachausdruck des Menschen, und alle Grenzlinien zwischen den einzelnen Künsten wie innerhalb jeder Kunst bedeuten einen Irrwahn der Theoretiker. Einer Poetik freilich, die darauf verzichtet, als streng philosophische Wissenschaft unbedingte Gültigkeit ihrer Begriffe zu beanspruchen, vielmehr sich damit begnügt, orientierende Hilfsbegriffe für historische Untersuchungen an die Hand zu geben, will auch Croce Berechtigung zu Unterscheidungen lassen. „Empirische“ Gattungsbegriffe, die sich keinesfalls mit denen der herkömmlichen Poetik decken dürfen, sondern der Kritik an tatsächlichen Dichtwerken und dem wirklichen literarischen Leben entsprungen sind, möchte er aus den Kategorien der Wertung und der Qualifikation herleiten. Das führt auf der einen Seite zu Wertabstufungen, die von der klassischen zur romantischen oder sentimentalen, zur impressionistischen Dichtung und schließlich zur intellektualistischen, lehrhaften, |#f0146 : 122|

tendenzmäßigen Nichtdichtung herabführen, während auf der anderen Seite Typen des dichterischen Schaffens und der Seelenzustände ins Auge gefaßt werden wie tragisch, heroisch, verzweifelt, geruhig, idyllisch oder großartig usw. Wir werden diese Eigenschaften an anderen Stellen der Analyse, bei den Begriffen des Stils und vorher schon bei dem der Stimmung zu erfassen suchen; aber bei der Frage nach den Gattungsbegriffen haben wir uns zunächst an rein formale Kennzeichen zu halten, ohne daß wir Werte, Maßstäbe der Kritik oder Vorschriften für den Schaffenden, wie sie in der alten Poetik allerdings üblich waren, damit begründen wollen. Schließlich besitzt jede Sprache, auch wenn ihre Ausdrucksfreiheit und Entwicklung keine starren Gesetze kennt, eine Grammatik als regulatives Ordnungsprinzip. Subjekt, Prädikat, Objekt sind Formen des sprachlichen Erlebnisausdrucks im Satz, wie Lyrik, Drama und Epos in der Dichtung. Wenn man auch nicht mittels der Grammatik sprechen lernt, so kommt man durch den Gebrauch der Sprache mehr und mehr zum grammatischen Bewußtsein. Nicht nur die Schulmeister, auch die Redner sichten die sprachlichen Ausdrucksmittel in einem Ordnungssystem von Analogien. Nicht nur die Theoretiker, sondern nicht weniger die Dichter selbst haben in Selbstbeobachtung ihres Schaffens und Selbstüberlegung ihrer Wirkungsmöglichkeiten nach ordnenden Grundsätzen innerhalb ihrer Kunst gesucht. Wo solche Grundsätze und Erfahrungen auf das Schaffen formgebend eingewirkt haben, wo das Kunstwerk selbst die Anwendung dieser Grundsätze verrät, ist die Analyse zur Aufmerksamkeit verpflichtet. Wenn ein Werk im Zeichen fester Gattungsbegriffe geformt worden ist, so muß es auch in diesem Zeichen verstanden werden. Die Auseinandersetzung von Goethe und Schiller „Über epische und dramatische Dichtung“ zur Zeit, da der eine an „Hermann und Dorothea“, der andere am „Wallenstein“ arbeitete, ging von der Stellung des Dichters zu seinem Gegenstand aus und sollte zu allgemein gültigen Grundbegriffen führen, indem an dem Verhältnis zwischen Rhapsoden und Mimen der Unterschied der Stoffvermittlung und der Zeitform veranschaulicht wurde: der Rhapsode ist das Sprachrohr des Epikers und trägt die Handlung als etwas Vergangenes vor, während der Mime, das Sprachrohr des Dramatikers, sie als etwas Gegenwärtiges darstellt. Daraus lassen sich alle Folgerungen für die Zeitform ziehen, die im Epos unbegrenzte Ausdehnung des Rückblicks haben kann, während sie im Drama durch die schlagartige Aufeinanderfolge der Vergegenwärtigung beschränkt ist. |#f0147 : 123|

Es fehlt bei dieser Gegenüberstellung der Ort der Lyrik, aber mittelbar ist auch dafür eine Bestimmung gegeben. Die reine Lyrik hat die vergegenwärtigende Darstellung mit dem Drama gemeinsam, aber sie ist auf innere Vorgänge beschränkt; der Dichter bedient sich keines mimischen oder rhapsodischen Sprachrohrs, keines Erzählers oder Darstellers, sondern er spricht in eigener Person und stellt sich selbst dar. Was die reine Lyrik vom Epos und Drama als den pragmatischen Dichtungsarten unterscheidet, ist die Stofflosigkeit; sie hat deshalb auch keine Zeitausdehnung, weder begrenzte noch unbegrenzte; an Stelle der Handlung tritt bei ihr der seelische Zustand. Dafür hat die Lyrik mit der Epik gemeinsam den monologischen Vortrag, wodurch beide in Gegensatz zu der dialogischen Form des Dramas gebracht werden. Die dialogische Form wiederum, bei der ein Wort das andere gibt, steht im Zeichen der unaufhaltsam weiterschreitenden Zeit; jedes Wort bedeutet einen Augenblick, der mit dem gesprochenen Worte verrinnt; nur der Augenblick ist Gegenwart; der verflossene Augenblick ist bereits Vergangenheit und kann nicht mehr zurückkehren. Alles ist Bewegung und Tempo; es geht Schlag auf Schlag; das Hin und Her der Worte ist der Taktschlag der fortrollenden Gegenwart. Jede der drei Grundgattungen hat also eine inhaltliche oder formale Eigenschaft für sich allein, oder, wie man ebensogut sagen kann, diese typischen Eigenschaften rechtfertigen eine empirische Trennung der Dichtungsgattungen. Für die Lyrik ist es der Zustand, für die Epik der Bericht, für das Drama der Dialog. Wiederum ist jede Gattung mit einer der anderen durch etwas Gemeinsames verbunden, das für Epos und Drama in der Handlung, für Drama und Lyrik in der Darstellung, für Lyrik und Epos im monologischen Vortrag beruht. Das Verhältnis der drei reinen Gattungstypen läßt sich also in einem gleichseitigen Dreieck veranschaulichen, dessen Seiten jedesmal den Gegensatz zur gegenüberliegenden Spitze bedeuten. Aus diesem Schema sind ohne Mühe die drei Grundformeln abzulesen:

Epos: monologischer Bericht einer Handlung. Lyrik: monologische Darstellung eines Zustandes. Drama: dialogische Darstellung einer Handlung. Zwischen diesen reinen Formtypen aber sind Zwischenstufen anzusetzen, die in einer anderen Mischung derselben Urelemente bestehen. Zwischen Lyrik und Epos sind die Arten zu finden, deren Form sich mehr oder weniger als monologischer Bericht eines Zustandes |#f0148 : 124|

charakterisiert: Elegie, Epistel, Vision, Idylle und lyrischer Roman. Zwischen Epos und Drama bewegt sich der dialogische Bericht einer Handlung: Rahmenerzählung, Briefroman, Dialogroman. Zwischen Lyrik und Drama steht die dialogische Darstellung von Zuständen: lyrisches Gespräch, Heroide, Kantate, dramatische Idylle, lyrisches Drama. Die Namen der hier aufgezählten Zwischengattungen entsprechen im wesentlichen einem Register, das Goethe in den „Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan“ unter der Überschrift „Dichtarten“ zusammengestellt hat. Im Zusammenhang damit war unter der Überschrift „Naturformen der Dichtung“ der Wunsch ausgesprochen nach einem Schema, das die „äußeren zufälligen Formen“ [Abbildung] und die „inneren notwendigen Uranfänge“ in faßlicher Ordnung darbrächte. Zu diesem Zwecke sollten die drei Hauptelemente in einem Kreis einander gegenübergestellt werden, und dazu waren Musterstücke zu suchen, wo jedes Element einzeln obwaltete; dann waren Beispiele zu sammeln, die sich nach der einen Seite hinneigen, „bis endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist“. Die Lösung der von Goethe gestellten Aufgaben habe ich schon vor mehr als zehn Jahren in einem Aufsatz „Zur Lehre von den Dichtungsgattungen“ versucht, dessen Formulierung hier wiederholt sei. In die Mitte des Kreises war eine hypothetische Urdichtung zu stellen, die entsprechend der Goethischen Idee der Urpflanze die Elemente aller Dichtungsgattungen keimartig in sich tragen soll. Goethe selbst |#f0149 : 125|

glaubte, wie ein Aufsatz in der Zeitschrift „Kunst und Altertum“ (1821) ausführt, in der Ballade, deren Vortrag alle drei Grundarten der Poesie in Anspruch nimmt, die ursprünglichste Naturform erblicken zu dürfen, „weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind“. Es gibt indessen noch eine Reihe weiterer „einfacher Formen“, wie sie André Jolles genannt hat; deshalb ordne ich die Vorstufen reiner Gattungs- [Abbildung] formen in einem inneren Kreis, der die Ballade mit epischem Lied, Märchen, Totenklage, Mimus, chorischem Wechselsang, Hymnus, Liebesgruß, Tanzlied, Gebet, Zauberspruch, Arbeitslied gleichstellt. Als äußeren Ring aber lege ich um den Kreis der formell ausgeprägten Dichtungsarten noch eine Reihe von Erscheinungsformen, bei denen Phantasie und Mittel poetischer Gestaltung aufgeboten sind für Zwecke, die außerhalb des dichterischen Erlebnisses liegen: für theoretische |#f0150 : 126|

Gedankenentwicklung, Belehrung moralischer, theologischer oder geschichtlicher Art, sowie Huldigung oder Kritik und Polemik. Statt des von Goethe erwarteten einfachen Kreises, der zugleich „die äußeren zufälligen Formen und die inneren notwendigen Uranfänge“ darbieten sollte, ergibt sich dann ein teils entwicklungsgeschichtlich, teils systematisch geordnetes Gebilde von drei konzentrischen Ringen. Dieses Rad, in dem die drei festen Grundformen als Speichen erscheinen, veranschaulicht in seiner Drehung alle möglichen Übergänge und Wandlungen, so daß es als Kompaß für eine der Analyse dienenden Orientierung unter den Gattungsrichtungen zu benutzen ist. Die Bewegung von der Lyrik über das Epos zum Drama hin bedeutet ein allmähliches Zurücktreten der Person des Dichters; im Gang vom Epos über das Drama zur Lyrik entschwinden allmählich die stoffartigen Elemente; die Folge von Drama, Lyrik, Epos dagegen läßt die Vergegenwärtigung des Dargestellten sich verlieren. Die Beispiele für jede der eingezeichneten Zwischenstufen sind leicht zu finden. Als eine sowohl nach der lyrischen als nach der epischen Seite ausschlaggebende epische Gestaltung kann Goethes „Werther“ gelten, der in dem Zustandsbericht des ersten Teiles, in dem die Naturstimmungen überwiegen, als lyrischer Roman betrachtet werden darf, während im zweiten Teil der Icherzählung, je näher die Katastrophe rückt, sich die dramatischen Spannungsmomente mehren. Icherzählung kann sich schließlich noch weiter der dramatischen Form nähern, wenn sie den Vergangenheitsbericht ganz in Vergegenwärtigung seelischer Vorgänge verwandelt, wie das in der Form der sogenannten „erlebten Rede“ bei Arthur Schnitzler („Leutnant Gustl“ und „Fräulein Else“) geschehen ist. Mit der Rahmenerzählung ist die monologische Form aufgegeben; es beginnt der Dialog, indem es nicht bei einem Erzähler bleibt, sondern die Berichterstattung in eingelegten Icherzählungen wechselt. Die Briefromane Richardsons sind von Goethe bereits als dramatisch bezeichnet worden, weil sie unter Ausschaltung des epischen Erzählers den einzelnen Personen das Wort erteilen. Die Dialogromane des Sturm und Drang, z. B. A. G. Meißners „Alkibiades“, gehen noch weiter, indem sie die wechselnden Reden sogar mit eingelegten szenischen Bemerkungen begleiten. Endlich hat, was als „dramatisches Gemälde“ bezeichnet wird, etwas von dialogisierter Erzählung an sich, insofern die Milieudarstellung das dramatische Tempo verschleppt, wie es nicht nur bei Ifflandschen Familienstücken, sondern auch im Drama des Naturalismus (Holz und Schlaf, Familie Selicke; Hauptmann, Ein Friedensfest) der Fall war. |#f0151 : 127|

Jenseits vom Grundtypus des Dramas liegen die lyrischen Dramen, in denen das stimmungausschöpfende Verweilen nicht durch psychologisierende Milieudarstellung, sondern durch melodischen Ausdruck seelischer Zustände herbeigeführt wird, z. B. in Singspielen und in musikalisch empfundenen Szenen wie den kleinen Dramen Hofmannsthals. Zu den dialogisierten Idyllen sind die Schäferspiele zu rechnen. Von „Gesprächen in Liedern“ als eigenem „poetischen Genre“ sprach Goethe 1797 in einem Brief an Schiller, als er auf Anregung eines Singspieles von Paesiello, die Situation der schönen Müllerin mit einem Zyklus lyrischer Dialoge umspinnen wollte (Der Edelknabe und die Müllerin, Der Junggesell und der Mühlbach, Der Müllerin Reue). Das Monodrama war eine durch Rousseaus „Pygmalion“ ins Leben gerufene lyrische Soloszene in dramatischer Situation. Das Rollengedicht, das seinen Handlungshintergrund in mythologischer oder geschichtlicher Stoffwelt hat, gibt die theatralische Szenerie auf; es kann entweder eine mehr dramatische Haltung einnehmen, wie Goethes Prometheusode in freien Rhythmen, oder eine mehr lyrische wie Schillers „Klage der Ceres“ oder Bérangers „Les adieux de Marie Stuart“ in Liedstrophen. Über die lyrische Grundform hinaus geht der Zyklus (Goethes „Römische Elegien“), der von der reinen Zustandsdarstellung bereits eine Entwicklung zu der episch berichteten Erlebnisfolge hin einschlägt. Noch mehr gehen die Episteln, sowohl die des Horaz als die Goethes, von der Darstellung zum Bericht über. Die Vision endlich als Zustand verzückter Schau, die in epischer Form berichtet wird, steht zwischen Lyrik und Epos mitten inne; Dantes „Divina Commedia“ ist das größte Beispiel dieser Zwischengattung. Die epische Idylle aber, wie sie bei Theokrit und Vergil im Altertum, bei den arkadischen Schäfereien der Barockzeit und im 18. Jahrhundert bei Geßner, Voß, Maler Müller zu finden ist, verhält sich zum Epos wie das dramatische Gemälde zum Drama. Wenn sich die Zahl der aufgeführten Arten auch vermehren läßt, so können alle weiteren Bezeichnungen irgendwo unter den Zwischenstufen eingefügt werden. Nur die Wirkungsarten der Dichtung wie tragisch und komisch, rührend und erhebend, feierlich und niedrig, pathetisch und sachlich, ebenso die Wirklichkeitsbeziehungen phantastisch, idealistisch, realistisch, naturalistisch, die gesellschaftlichen Klassenbestimmungen wie höfisch, bürgerlich, sozial, die metrischen Formen wie Sonette und Disticha oder die Stilwerte klassisch, romantisch, impressionistisch, expressionistisch können zur Kennzeichnung der Arten in diesem Schema keinen Platz finden. Deshalb sind bei |#f0152 : 128|

der Grundform des Dramas keine Unterschiede zwischen Tragödie, Komödie oder Tragikomödie gemacht, so wenig als Versepos und Roman, Volksepik und komische Epopöe, Bildungsroman und Abenteuerroman, Novelle und Anekdote oder bei der Lyrik geistliches und weltliches Lied unter diesem Gesichtspunkt getrennt werden können. b) Stimmung Die Wirkungsarten erreicht erst der nächste Schritt, bei dem die Stimmung des Werkes sich der Analyse darstellt. Dieses Wort besagt ungefähr dasselbe, was bei genetischer Betrachtung als „innere Form“ betrachtet wird. Die einheitliche Grundstimmung, die der Tonart des Musikstückes und dem Kolorit des Gemäldes gleichkommt, ist die wahrnehmbare Erscheinung der inneren Form einer Dichtung. Der junge Goethe, der diesen Begriff von Shaftesbury übernahm, spricht von einer gefühlsmäßigen Erfassung dessen, was nicht mit Händen zu greifen ist. „Unser Kopf muß übersehen, was ein andrer Kopf fassen kann; unser Herz muß empfinden, was ein anderes fühlen mag.“ Das Erfühlen der Grundstimmung bedeutet nicht nur ein erstes Begreifen dessen, was an der Dichtung als solcher uns in Bann schlägt, was unser Gefühl erregt, unsere Phantasie in Bewegung setzt, uns in rhythmischen Wellen wiegt und in mitschwingender Vibration zur Hingabe zwingt, sondern der ästhetische Zustand der Bereitschaft, der durch das Werk hervorgerufen wird, entspricht dem ästhetischen Zustand der Empfängnis, aus dem es hervorgegangen ist; die Aufnahme der Stimmung bildet somit einen Zugang zu der persönlichen Welt des Dichters, die in den Gattungen noch nicht erschlossen war. Zwar hat es nicht an Versuchen gefehlt, auch die Gattungsform jedes Werkes von der Persönlichkeit, der Weltanschauung, dem Lebensgefühl des Dichters abhängig zu machen. Man hat in Epos, Lyrik und Drama die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens verkörpert gesehen, man hat imaginative, vasomotorische und motorische Erlebnisformen als ihre Grundlagen betrachtet (Hartl); man hat die verschiedenartige Erlebnisweise des Epikers, Lyrikers und Dramatikers charakterisiert (Ermatinger), und diese Auffassung ist schließlich zu dem Aphorismus zugespitzt worden „Dichtungsgattung ist Menschentyp“ (Nadler). Man hat die Unterschiede des Weltbildes auf die verschiedene Intensität der Vision zurückgeführt und in den drei Gattungstypen die Ausdrucksformen eines statischen, dynamischen und normativen Dichtertums erblickt (Spoerri); man hat endlich eine Parallele zwischen der inneren Logik der Gattungsformen |#f0153 : 129|

und der Strukturbeschaffenheit der großen Lebensprobleme gesucht (Unger) und man hat dem Epos eine naturalistische, der Lyrik eine psychologistische, dem Drama eine idealistische Weltanschauung zugrunde legen wollen (Max Wundt). Alle diese Beziehungen nehmen ihren Weg über das vermittelnde Fluidum, das als seelische Atmosphäre von dem Werk selbst ausgestrahlt wird. Tragische, komische, humoristische Einstellung können schon im Untertitel des Dramas oder der Erzählung angekündigt sein, aber die Art der Durchführung haftet weder am Stoff noch an der Form. Ein tragischer Stoff, z. B. Pyramus und Thisbe, kann durch unzulängliche Mittel zu zwerchfellerschütternder Komik gebracht werden wie im Rüpelspiel des „Sommernachtstraums“. Eine tragische Form wie das Alexandrinerdrama kann als Parodie, z. B. „Esther“ in Goethes „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“, ebensolche Wirkung ausüben. Formen und Stoffe der Komik können ins Tragische umschlagen, wofür etwas die Tragödie des Narren in V. Hugos „Le roi s'amuse“ oder die des Königs, der den Narren spielen muß, in Wedekinds „So ist das Leben“ genannt sei. Meist handelt es sich um kontrastierende Einlagen, die der komischen oder tragischen Grundstimmung sich unterwerfen. Die Gefühlsregungen dieser Wirkungsarten gehen nicht nur über die Grenzen der Dichtungsgattungen, vielmehr über die der Dichtung überhaupt, ja sogar über die der Künste hinaus. Tragische Wirkung ist nicht nur der Tragödie gegeben, sondern, wenn auch in minderer Wucht, dem Roman, der Novelle, der Ballade, in höchstem Maße der Musik, nicht wenig auch der geschichtlichen Darstellung großer Lebensschicksale. Die Weltgeschichte ist erfüllt mit tragischen Gestalten und Schicksalen. Man konnte die Tragik sogar als Weltgesetz und wesentliches Element des werterfüllten Universums erklären (Vischer, Scheler). Dabei sind menschliche Größe, die sich in Überwindung der Leiden zum Erhabenen steigern kann, und starke Willenskraft, die sich im Widerstreit der Werte selbst behauptet, die Voraussetzungen tragischer Wirkung. Dagegen gehen die komischen Eindrücke, die das Leben unmittelbar in unerschöpflicher Fülle bietet, nicht selten vom Anblick der Willenlosigkeit aus und vom lächerlichen Kontrast zwischen sich aufblähenden Ansprüchen und innerer Geringwertigkeit. Im Gegensatz zu der schicksalhaften Notwendigkeit tragischen Geschehens ist bei komischen Wirkungen der Zufall nicht selten ein entscheidender Mitspieler, und es gehört schon die Weltanschauung des Humoristen dazu, um solche Fügungen unter ein Gesetz zu bringen, |#f0154 : 130|

wie es etwa Vischers „Tücke des Objekts“ im Roman „Auch Einer“ darstellt. Der Pessimist Bahnsen hat sogar den Humor als „ästhetische Gestalt des Metaphysischen“ auffassen wollen. Tragisches Weltgefühl setzt die Anerkennung eines idealistischen Wollens voraus, das über sich selbst hinausstrebend scheitert; der Sinn für das Komische bleibt bei der Realität des Lebens und schwelgt in genießender Erregung durch kuriose Widersprüche; der Humor aber setzt sich darüber hinweg, indem er die hohen Träume des Ideals nicht aufgibt, aber zugleich in duldender Selbstbescheidung und heiterer Selbstbehauptung mit den Verkehrtheiten des Lebens sich aussöhnt: „Blick' auf zu den Sternen, hab' acht auf die Gasse.“ Es sind die verschiedensten Stimmungsspielarten zu unterscheiden, wie es Johannes Volkelt mit Tragik des Willens und der Innerlichkeit, des äußeren und inneren Kampfes, der erhebenden und niederdrückenden Art oder mit den Abschattierungen von derber, drolliger, rührender, burlesker, grotesker und zynischer Komik unternommen hat. Diese Färbungen sind weder in Stoff noch Form gegeben, sondern aus der Welt des Dichters hinzugetan; vielleicht erklären sie sich sogar aus der seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse. Die Analyse des Einzelwerkes kann die Grundstimmung auf die Wesensart des Schöpfers zurückführen; sie kann, wie etwa bei Goethe, Schiller, Heinrich v. Kleist und Hebbel die Gegensätze optimistischer oder pessimistischer Lebensanschauung und die Unterschiede der Wirklichkeitsauffassung erkennen. Diese Arbeit wird erleichtert, wenn der Dichter selbst dazu die Hand reicht in theoretischen Schriften, wie es bei Schiller und Hebbel der Fall ist, oder bei Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“, die einen Kommentar zu seinen Romanen darstellt und das Wesen seines Humors als Zusammenfassung des Weltganzen in einem Subjekt erklärt. Nicht nur im Charakter und Werk des Humoristen sind Komik und Tragik gemischt, ohne daß das Zwitterding der Tragikomödie zustande käme. Auch in der tragischen Dichtung können komische Züge mit berechneter Kontrastwirkung die Tragik verstärken, wie es in Shakespeareschen Trauerspielen so oft der Fall ist; aber ebenso können Lustspiele in der Auslösung ihrer Affekte hart an die Grenze des Tragischen führen, wie Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, Kleists „Amphitryon“, Lessings „Minna von Barnhelm“ zeigen. Aber Voraussetzung dieser Mischung ist immer eine im Lebensgefühl des Dichters ruhende Grundstimmung, die das ganze Werk beherrscht und in jedem seiner Elemente zum Ausdruck kommt. Diese Grundstimmung ist dramatisch, wenn sie die Widersprüche des Lebens als

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Kampf der Ideen auffaßt und mit einer nach Gestaltung drängenden Spannung in sich trägt; sie ist episch, wenn sie in ruhiger Schau die Entwicklung der Gegensätze in äußerem Geschehen sich entfalten und zur Auseinandersetzung kommen läßt; sie ist lyrisch, wenn sie in Abkehr vom äußeren Geschehen sich nach innen wendet, um Freud und Leid dieser Welt nur in Beziehung auf das eigene Ich oder in Sympathie mit einem Du oder im Gemeinschaftsgefühl eines Wir als Spiegelung in beseelten Sinnbildern und Gleichnissen zu erleben. Reine Lyrik wird es weder zu tragischen noch (von ungewollten Eindrücken abgesehen) zu komischen Wirkungen bringen, sondern höchstens den Atem eines humorvollen Lebensgefühls ausströmen; aber Drama sowohl als Epos ziehen zur Verstärkung ihrer tragischen und komischen Wirkungen Elemente der Lyrik heran in den Beziehungen zur Natur, in der Wahl landschaftlicher Hintergründe, in der Symbolik der Tages- und Jahreszeiten, des Lichtes und der Finsternis, in den Formen sprachlicher Musik, kurz in allen die Empfindung ansprechenden Mitteln der Stimmungserregung. Lyrik ist Stimmung schlechthin, so wie sie in ihrer Stofflosigkeit auf unmittelbarem Erlebnis beruht, während der Epiker und der Dramatiker die Gelegenheit zu ihren tragischen und komischen Wirkungsmöglichkeiten bereits im Leben selbst, das ihnen Stoff geworden ist, oder im überlieferten Stoff, der ihnen das Leben darstellte, gefunden haben. c) Situation Als Darstellung seelischer Zustände ist alle Lyrik aus einer Situation, in der der Dichter sich befindet oder in die er sich einfühlt, herausentwickelt. Landschaftsstimmung kann seine Seelenlage symbolisieren („Im Felde schleich ich still und mild“); die Erinnerung kann zu früheren Zuständen zurückführen („Ich träume als Kind mich zurücke“); es kann eine Kontrastierung von Situationen sein (Als ich Abschied nahm ... Als ich wiederkam); es kann ein Gegenüber angerufen werden, sei es das eigene Ich („So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen“), sei es ein leibhaftiges Du („Du bist die Ruh, der Friede mild“) oder eine Naturerscheinung („Füllest wieder Busch und Tal“), eine Vision („Zum erstenmal seh ich dich auferstehn, Hörengesagter, fernster, unglaublicher Kriegsgott“) oder eine Personifikation („Freude, schöner Götterfunken“); es kann eine Vereinigung des Ich und Du hergestellt sein („Ih bin dîn, du bist mîn“), oder eine größere Gemeinschaft sich zusammengefunden haben („Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun“); es kann im Rollenlied |#f0156 : 132|

eine dritte Person vor einen Kreis von Zuhörern gestellt sein (Walthers „Under der linden“, Goethes „Vor Gericht“) oder es kann eine Ballade dialogisch beginnen („Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp“ „Knapp, sattle mir mein Dänenroß“) immer ist ein Situationsbild Voraussetzung der lyrischen oder balladesken Stimmung, die sich um so stärker verdichtet, je mehr die Einheitlichkeit der Situation festgehalten ist. Goethe sagt zu Eckermann einmal (18. 1. 1825), „daß die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht“. Die anderen Gattungen kennen diese Zusammendrängung kaum, wenn auch die sogenannten drei Einheiten im Drama als Einheit der Situation wie als Einheit der Stimmung zusammengefaßt werden konnten. Der Dichter Wilhelm von Scholz spricht in seinen „Gedanken zum Drama“ von der Situation als dem wichtigsten dramatischen Gesetz: „Im Anfang ist die Situation. Die Situation fordert die Charaktere zur Willensbetätigung heraus und umschreibt das Gebiet ihres Handelns, sie ist das Gegebene, die Voraussetzung, für die der Charakter des Möglichen und nicht allzu Entlegenen genügt.“ Die Situation erscheint demnach als der fruchtbare Moment, aus dem sich alle Motive der Handlung entwickeln. Die Verwandtschaft mit der Stimmung kommt auch darin zum Ausdruck, daß wir im Lustspiel von Situationskomik, in der Tragödie von tragischen Situationen zu sprechen pflegen. Daß ein Dramatiker wie Otto Ludwig aus dem Farbenspektrum, das der musikalischen Stimmung seiner ersten Konzeption folgte, die Gestalten der werdenden Dichtung in einer bestimmten Stellung zueinander auftauchen sah, wird uns später bei der Besprechung des dichterischen Schaffensvorganges zu beschäftigen haben. Es wird richtig sein, daß die Konzeption manches Dramas aus solcher visionär geschauten Ursituation hervorgegangen ist, der wir noch bei der Analyse des Ganzen eine Schlüsselstellung einräumen dürfen. So läßt sich zeigen, daß für Kleists „Familie Schroffenstein“ die Situation in der dunkeln Höhle, in der das Liebespaar vor Eindringen der Väter die Kleider tauscht, der Ausgangspunkt der ganzen Erfindung war. Ebenso ist im „Zerbrochenen Krug“, dessen Anregung durch den Stich von Debucourt feststeht, die Ausdeutung des Bildes als der sich selbst den Hals ins Eisen judizierende Richter die Ursituation, die schon in Adams orakelhaftem Traum vorausklingt und die dann aus der Verwicklung thematisch herausgesponnen wird. Die Zahl der wirksamen Situationen im Drama ist beschränkt. Der venetianische Volksdichter Graf Gozzi, der seine Lustspiele als |#f0157 : 133|

„dramatische Fabeln“ (fiabe drammatiche) bezeichnete, soll bekanntlich nicht mehr als 36 tragische Situationen für möglich gehalten haben. Der Franzose Gérard de Nerval gelangte sogar nur zu 24 möglichen Situationen, die er von den 7 Todsünden herleitete. Auf der andern Seite hat man die unermeßliche Kombinationsmöglichkeit mit der unendlichen Zahl der Schachprobleme verglichen. Goethe erinnerte sich in mehrfachen Gesprächen daran, daß Schiller an Gozzis geringe Zahl nicht glauben wollte. Er habe sich bemüht, über die drei Dutzend hinauszukommen, aber es sei ihm dann nicht einmal geglückt, sie zu erreichen. So unwahrscheinlich das klingt, so wird es doch begreiflich bei einem Einblick in Schillers Werkstatt, wenn wir zusehen, was in seinen dramatischen Entwürfen als „Situation“ bezeichnet ist. Im „Don Carlos“ soll alle schmelzende Wirkung von Situation und Charakter Philipps ausgehen; die Situation des Königs ist gegeben durch sein Verhältnis zu Sohn und Thronfolger. Ebenso wird in den „Maltesern“ von einer „entscheidenden Situation“ zwischen dem Ordensmeister La Valette und seinem heimlichen Sohn, den er opfern muß, gesprochen. Ein drittes Mal wird als „eine der größten Situationen“ der Moment bezeichnet, da Demetrius vor seiner vorgeblichen Mutter steht und um ihre Anerkennung wirbt. Wenn wir die tragische Wirkung in allen drei Fällen aus der Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen entspringen sehen, bei der das Problem der Anerkennung mitspielt, so haben wir unter „Situation“ das Spannungsverhältnis zwischen zusammengehörigen Personen zu begreifen. Für die Entladung in szenischer Gegenüberstellung kann dann allerdings die Zahl der Möglichkeiten beschränkt sein. Bei jener strengen Anwendung des Begriffes Situation ist Schiller allerdings nicht geblieben: in den Skizzen eines Elfriede-Dramas hat er den Gang der Handlung nach zehn Situationen gliedern wollen, deren Schema er nur bis zur Zahl 7 ausfüllte, und für den „Warbeck“ gelang es ihm, 18 „rührende Situationen“ aufzuzählen, deren Begriff sich aber ziemlich deckt mit dem der „Szene“. Der Unterschied zwischen „Situation“ und „Motiv“, von dem erst später die Rede sein kann, wird von ihm nicht festgehalten, sowie auch die Erinnerung Goethes an Schillers Äußerung über Gozzi zwischen Situation und Motiv schwankt. Ein Franzose, Georges Polti, wollte in seinem mehrfach aufgelegten Buch „Les trente-six situations dramatiques“ fertigbringen, was Schiller nicht gelungen war. Aber wenn er Gozzis Behauptung durch genaue Errechnung der 36 Möglichkeiten zu bestätigen suchte, so schwebte ihm kein klarer Begriff dessen, was unter Situation zu |#f0158 : 134|

denken ist, vor. Es mußten Charaktere und Motive mit zu Hilfe genommen werden (Le Sauveur, La Vengeance poursuivant le crime, Révolte usw.), und trotzdem wurden Dubletten nicht vermieden. Derselbe findige Kopf hat gleichzeitig ein Buch „l'art d'inventer les personnages“ erscheinen lassen, und dabei zeigte sich, daß er eigentlich nur ein Rezeptbuch der Erfindungskunst, ein Würfelspiel unendlich vieler Kombinationen und eine Gebrauchsanweisung für dramatische Algebra geben wollte. Darum kann es sich bei der Analyse gegebener Werke nicht handeln. Ein anderer Weg ist, von Polti ausgehend, durch einen deutschamerikanischen Gelehrten August C. Mahr eingeschlagen worden. Er führte zu weiterer Klärung den neuen Begriff des „dramatischen Situationsbildes“ ein, das die Situation vor den Augen des Zuschauers zur Erscheinung bringt. Danach werden Situationsbildtypen aufgestellt, d. h. ähnliche Bild-Ergebnisse bei der Versichtbarlichung ähnlicher Situationen. Mahr wählte das Motiv „Haß zwischen Vater und Sohn“ und zeigte in einer Reihe, die von Sophokles' „Antigone“ und Euripides' „Hippolytos“ über Shakespeares „König Lear“, Calderons „Leben ein Traum“, Racines „Phädra“, Schillers „Don Carlos“, Törrings und Hebbels Agnes Bernauer-Dramen bis zu Raynals „Grabmal des unbekannten Soldaten“ und Hasenclevers „Sohn“ führt, wie die verschiedene Ausgestaltung des Situationsbildes für die Analyse zum Stilkriterium werden kann. Dieselben typischen Situationsbilder kann auch die epische Dichtung vor Augen bringen. Wir kennen die homerische Situation der Spinnerin Penelope und die nordische der Wäscherin Gudrun, die darin gleich sind, daß sie jede Bewerbung in treuem Ausharren abweisen. Die Situation der Frau zwischen mehreren Männern kann nun aber eine Abwandlung erfahren, wenn der rechtmäßige Gatte totgesagt ist. Findet er sich wieder ein, nachdem die Frau sich ihrer Treue für entbunden hielt und einen anderen genommen hat, so kommt ein Situationsbild von typischer Tragik zustande. Hat die Sage vom Grafen von Gleichen, die das männliche Gegenbild darstellt, die Kreuzzüge zum Hintergrund, so pflegt für die parallele Fabel vom totgeglaubten Heimkehrer ein großer Krieg oder ein Meeressturm schicksalbestimmende Voraussetzung zu sein. Beim Motiv des verschollenen Heimkehrers entwickelt jede Situation das Problem, wie sich der Totgesagte wieder ins Leben finden wird, z. B. in Ernst Wiecherts „Majorin“ oder Ina Seidels „Brömseshof“. Mit Verlust der rechtmäßigen Frau durch deren anderweitige Bindung ersteht ein schier unlösbarer Konflikt. Diese Situation kommt |#f0159 : 135|

schon in Gellerts Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin v. G.“ (1746) zu versöhnendem Ausgang und führt ein Jahrhundert später in Tennysons Schifferdichtung „Enoch Arden“ zu rührendem Verzicht. Mit wechselndem Ausgangsmotiv findet sich dasselbe Thema in Dramen wieder: in Houwalds „Heimkehr“, in Eulenbergs „Belinde“, in Brechts „Trommeln in der Nacht“, in Leonhard Franks „Karl und Anna“ (Dramatisierung einer Erzählung) und Graffs „Heimkehr des Mathias Bruck“. Eine andere Abwandlung der Situation, und zwar eine weit ältere ist folgende: Der erste Mann ist wirklich tot, und die wehklagende Witwe läßt an seiner Bahre sich durch einen anderen die Tränen trocknen. Im Orient, woher die Fabel kommt, in China und Indien, gehörte zu dieser Situation das Motiv des Witwentodes, zu dem die Hinterbliebene eigentlich verpflichtet gewesen wäre. Schon im Weiterleben liegt eine Treulosigkeit. In der „Matrone von Ephesus“ des Petronius verschärft sich das Vergehen durch ein neues Steigerungsmotiv, nämlich durch die Bereitschaft, den Leichnam des Gatten an den Galgen zu liefern, damit der pflichtvergessene Wächter, nachdem der von ihm zu bewachende Leichnam gestohlen ist, in keine Verlegenheit kommt. Dieser Trumpf scheint nicht mehr zu überbieten. In den Iwein-Epen des Christian von Troyes und des Hartmann von Aue tritt indessen eine weitere Steigerung ein, indem der erfolgreiche Bewerber selbst es war, der den Gatten im Zweikampf erschlug. Noch eine stärkere Steigerung ist möglich, wenn der zweite Mann mit der Schuld feigen Meuchelmordes belastet ist und die Witwe trotzdem ihm zufällt, wie es bei der Anna in Shakespeares „Richard III.“ der Fall ist. Das Problem aber ist gemäß den Charakteren jedesmal ein anderes: bei Petronius ein satirisches Beispiel für die Untreue der Weiber, in den mittelalterlichen Ritterromanen ein Zeugnis für die Wundermacht der Liebe, bei Shakespeare ein Triumph männlicher Unwiderstehlichkeit gegenüber dem schwachen Weib. Im ersten Fall ist die Hingabe an den Fremden, durch die jene Problemspannung zwischen Treue und Begierde gelöst wird, der Kern der ganzen Fabel; in den mittelalterlichen Romanen liegt darin nur die Überleitung zu einem anderen Problem, nämlich dem Konflikt des Ritters zwischen heldischem Abenteuerdrang und Pflicht der Liebe; bei Shakespeare aber gehören Situation und Motiv der Liebesüberredung nicht zur eigentlichen Fabel, sondern bilden nur Mittel zu ihrer Exposition. Es fehlt schließlich nicht an weiteren Steigerungsmöglichkeiten: die treulose Frau weiß nicht nur oder ahnt wenigstens, daß es der Mörder des Gatten ist, dem sie die Hand reicht, sondern sie ist selbst |#f0160 : 136|

an der Tat beteiligt und mitschuldig. Dieser ungeheuerliche Frevel muß, wenn er zum offenen Situationsbild wird, die Vergeltung nach sich ziehen: in der „Orestie“ des Aischylos den Muttermord des Orest; in Shakespeares „Hamlet“ die unvollzogene Rachepflicht, zu der der Sohn des Ermordeten durch den Geist aufgerufen wird; in Schillers „Maria Stuart“ die Hinnahme des Fehlurteils und die Ergebung der Schuldig-Unschuldigen in den sühnebringenden Tod. In den beiden letzten Fällen ist das Situationsbild der treulosen Frau nicht in die Handlung, die unter der Folgewirkung steht, aufgenommen; es gehört zu der in der Exposition vermittelten Vorfabel. Man darf vielleicht sagen, daß die Situation dadurch in ein Motiv verwandelt worden ist. Die Situation nämlich enthält Spannungen, die dem Motiv an sich nicht innewohnen. Diese Spannungen lassen aus der Situation mit Hilfe der Motive eine problemhaltige Fabel sich entwickeln.

4. D r i t t e S t u f e : P l a n (Fabel Absicht Technik) a) Fabel Wenn in der Fabelsammlung des römischen Grammatikers Hyginus griechische Mythen erzählt sind, die man als Inhaltsangaben verlorener Tragödien betrachten darf, so treffen zufällig einmal die beiden verschiedenartigen Bedeutungen zusammen, die mit dem Worte F a b e l verbunden sind: das eine ist eine Erzählungsart lehrhaften Sinnes, die man als Randform der Dichtung betrachten darf; das andere eine abstrahierende Zurückführung des Inhalts epischer und dramatischer Dichtungen auf die Motivverknüpfung ihres wesentlichen Handlungsgerippes. Solange man den Kern jeder Dichtung in einem moralischen Satz suchte, konnte man der Meinung sein, daß beides in der Tat gleich sei. So machte sich Gottscheds „Kritische Dichtkunst“ lächerlich, indem sie es bloß von der Namenwahl abhängig sein ließ, ob aus demselben moralischen Satz eine äsopische Fabel oder ein Epos oder eine Tragödie zu entstehen habe. Der Begriff des moralischen Satzes ist hinfällig und bleibt höchstens noch der Fabel als lehrhafter Dichtart im Sinne einer Nutzanwendung (fabula docet) vorbehalten. Für die Sinnesdeutung großer Dichtung aber sind die Begriffe Problem und Idee an seine Stelle getreten, und das, was man als epische oder dramatische Fabel zu bezeichnen hat, bedeutet die sinngemäße Verknüpfung der Situationen und Motive und die Zurichtung eines Stoffes zum Gefäß einer Idee. |#f0161 : 137|

Auf dem Wege von Stoff zur Idee bedeutet somit die Fabel eine wichtige Zwischenstufe. Auf dem anderen Wege, der von der Form zur Idee führt, entspricht ihr die Technik. Fabel und Technik bedeuten in ihrer durch die Absicht vermittelten Beziehung eine Annäherung des Inhaltlichen und des Formalen auf der Stufe bewußten künstlerischen Schaffens; die Analyse trifft in dieser Schicht auf die rationalen Elemente des Kunstwerkes. Dilthey bezeichnet als Fabel „das ausgebildete Grundgefüge einer Dichtung von größerem Umfang“, das vor dem epischen oder dramatischen Dichter, ehe er mit der Ausführung beginnt, fertig dastehe und in der Regel von ihm aufgezeichnet werde. Auch wenn solch aufgezeichneter Plan nicht vorliegt, ist er aus der Dichtung analytisch herauszuziehen. Aus der stofflosen Lyrik, die reines Zustandserlebnis ist, und der Handlungsvorgänge entbehrt, läßt sich keine Fabel spinnen; erst mit der symbolischen Beziehung eines Mythos auf die eigene Seelenlage beginnt ein Übergang vom Zustand zum Vorgang; die erzählenden Formen vom lyrischen Zyklus bis zur Ballade und Romanze vermehren den stofflichen Zusammenhang, der aber sprunghaft vermittelt wird und stimmungsmäßig verdunkelt oder verschleiert bleiben kann. Umgekehrt ist es auf der anderen Seite, wo unendlicher Stoff die Prägung einer faßbaren Fabel beeinträchtigt. Das gilt von der großen Epik, die in totaler Weltsicht und stofflicher Fülle unermeßlich und unbeschränkt bleibt. Wo wäre die Fabel im Mahabharata oder sogar bei Homer, außer in einzelnen Gesängen? Eher schon kann man eine Fabel des Nibelungenliedes annehmen, weil hier, wie Heusler gezeigt hat, gedrängte epische Lieder ursprünglich zugrunde lagen; dafür hat die Nibelungensage auch einen unverkennbaren Zug zum Dramatischen. Bei den epischen Kurzformen wird der straffe Motivzusammenhang mit zunehmender Konzentration immer klarer übersehbar. Paul Ernst hat die Verwandtschaft zwischen Drama und Novelle als „abstrakten Kunstformen“ damit begründet, daß sie interessante energiegeladene Lebensinhalte in ein sinnliches Gewand bringen, durch dessen Anblick Energien gelöst werden. In den bekannten Definitionen der Novelle als „unerhörter Begebenheit“, „entscheidenden Wendepunktes“ oder „starker Silhouette“ wird immer gerade das Fabelhafte hervorgehoben; von da aus steigert sich über das Märchen, das nichts weiter als Motivverkettung ist, bis zur Legende und zur Anekdote, die ihrer Art nach als Geschichtsfabel ohne Lehrhaftigkeit bezeichnet werden kann, die Konzentration und Reduktion auf das Wesentliche des Handlungszusammenhanges. |#f0162 : 138|

Diese Zusammenfassung des Vielfältigen zur Einheit aber macht in noch höherem Grade das Wesen der dramatischen Form aus. So kommt es, daß vor allem im Drama von einer Fabel zu reden ist. Unter den dramatischen Spielarten ist es wiederum die Tragödie, die ihre schicksalhafte Wirkung nur in straffstem Handlungszusammenhang erreichen kann. Selbst da, wo es von Nebenhandlungen umschlungen ist, wie bei Shakespeare, hebt sich das tragische Hauptthema der Fabel in ganz prägnanter Problemstellung heraus. Aristoteles griff in seiner „Poetik“ aus sagenhaften Familienkonflikten vier Typen tragischer Fabeln auf, die sich durch das Verhältnis von Tat und Bewußtsein, wie von Ansatz und Verwirklichung unterschieden. Für den ersten Fall einer wissentlich unternommenen und wirklich vollzogenen Tat diente Medea als Beispiel; für den zweiten Fall einer wissentlich vollzogenen Tat, deren Bedeutung dem Täter erst später bewußt wird, Ödipus; für den dritten Fall, bei dem die Tat wissentlich unternommen, aber nicht wirklich vollzogen wird, Hämon in der „Antigone“, während der letzte Fall einer unwissentlich unternommenen, aber wegen rechtzeitiger Erkenntnis nicht verwirklichten Tat durch Merope im „Kresphontes“ vertreten ist. Diese Beispiele antiker Dramenanalyse erschöpfen natürlich keineswegs alle Möglichkeiten tragischer Motivverkettung; auch vernachlässigen sie ein wesentliches Moment, indem sie die Art der menschlichen Bindung, die zwischen den beteiligten Personen besteht, beiseite lassen. In einem Punkte aber bleibt der aristotelische Begriff der Fabel (muow) wichtig, nämlich insofern in dieser Ordnung der Tatsachen (sýstasiw tn pragmátvn) etwas viel Allgemeineres gesehen wird als die konkrete stoffliche Gegebenheit. Namen und Schauplatz einer Sage gehören nicht zur Fabel; vielmehr besteht diese in einer Abstraktion von bestimmten Verhältnissen. Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ unterschied demgemäß zwischen Fabel und Fakten und kam zu dem Schluß, daß der Dichter die Fabel und die damit verbundenen Charaktere unangetastet lassen müsse, während er die Fakta, d. h. die historischen und lokalen Umstände beliebig verändern dürfe. Fabel bedeutete für ihn also so viel wie das seinen äußeren Gegebenheiten, seinem Fleisch und Blut entzogene Stoffgerippe. Lessing selbst zog seine Folgerung aus dieser Rationalisierung des Fabelbegriffes, indem er die Fabel der Virginia transponierte. Das Opfer der Tochter durch den Vater, das in der römischen Virginia, wie in der biblischen Tochter Jephtas mit verschiedenen Fakten umkleidet war, verpflanzte er aus der römischen Republik an einen italienischen Fürstenhof der Neuzeit, und aus der |#f0163 : 139|

zuvor geplanten „Virginia“ ließ er eine „Emilia Galotti“ werden. Dabei glaubte er eine reinere tragische Wirkung zu erreichen, indem er die Gewaltherrschaft der Dezemvirn und das Ziel der Befreiung Roms als politischen Hintergrund beseitigte und Furcht und Mitleid lediglich aus dem Anteil am rein menschlichen Verhältnis zwischen Vater und Tochter entstehen ließ. Ähnlich hatte er in „Miß Sara Sampson“ die Medeafabel in die moderne bürgerliche Welt Englands versetzt, und später schlug er seinem Bruder vor, den „Rasenden Herakles“ des Seneca als „Masaniello“ zu bearbeiten, genau so wie Bodmer aus den „Persern“ des Aischylos einen „Karl von Burgund“ gemacht hatte. Gleiches wiederholt sich bei Paul Ernst, der, um sich von historischen Fesseln freizumachen, den russischen Stoff des „Demetrius“ ins alte Sparta versetzte. Diese Gleichgültigkeit der Aufklärungszeit und des Neuklassizismus gegenüber dem Erdreich, in dem die stofflichen Wurzeln Nahrung finden, ist nicht ohne Nachteil und nicht ohne Widerspruch geblieben. Zwar hätte auch Lessing eine Fabel im luftleeren Raum für undenkbar und nicht lebensfähig gehalten, aber die Auswechslung der räumlichen und zeitlichen Fakta schien ihm durchführbar. Für das historische Drama dagegen, dem Lessing fremd blieb und das erst im „Sturm und Drang“ am Feuer Shakespeares sich entzündete, war diese Entwurzelung ausgeschlossen. Allerdings war nun wiederum gerade der Sturm- und Drang-Enthusiasmus jedem planmäßigen Schaffen im Zeichen einer durchdachten Fabel abgeneigt. Dem historischen Drama wurde im Gegensatz zum regelmäßigen Theater die lose Bilderfolge eines Guckkastens zugedacht: Shakespeares „Plane“ waren nach Goethes Rede im gemeinen Sinne als „keine Plane“ anzusehen. Nur „der geheime Punkt, in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt“, bestimmte eine Richtung zur Vereinheitlichung. In solchem Bewußtsein schleuderte der junge Goethe einzelne „Fetzen“ seines „Faust“ und seines „Ewigen Juden“ hin ohne Plan und Fabel und ohne Klarheit über den Gang des Ganzen, insbesondere über den Ausgang. „Plane machen“ erachtete der Graf Friedrich Leopold von Stolberg für „so unmöglich, als ein Buch über die Freiheit des Willens zu schreiben“. Schon beim jungen Schiller ist es anders; die Arbeit an seinem „Don Carlos“ beginnt mit einem festgelegten Plan, wie er im Bauerbacher Entwurf enthalten ist. Die Ausführung hält sich im großen und ganzen bis zum Schluß an diese Disposition, während in der Mitte des Werkes, wie die Analyse zeigt, durch das Hervortreten des Marquis Posa wesentliche Veränderungen der Fabel

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eingetreten sind. Nach der großen Arbeitspause, die durch historische und philosophische Selbstbesinnung ausgefüllt ist, wird das planmäßige Schaffen, das eine Organisation des Stoffes zur Fabel voraussetzt, immer mehr Schillers Grundsatz. Das Erz des Stoffes mußte, nachdem es erlebnismäßig durchglüht war, unter den Schmiedehammer zweckmäßiger Formung gelegt und auf dem Amboß dramatischer Notwendigkeit zur Fabel zurechtgeschlagen werden. Welche Änderungen des Planes sich während dieser Arbeit noch ergaben, ist aus dem fertigen Werk nicht mehr zu erkennen. Die Redaktion des Stofflichen auf einen formelhaft gebundenen Handlungszusammenhang wird in Gustav Freytags „Technik des Dramas“ als Abkühlungsprozeß der warmen Seele bezeichnet; diese reflektierende Arbeitsphase muß ihre Spuren in Aufbau und Gliederung jedes Werkes hinterlassen. So hat Schiller dem Faust-Dichter gegenüber die Notwendigkeit betont, einen poetischen Reifen um das Ganze zu legen und es einer Idee zu unterwerfen. Das bedeutete nichts anderes als die Forderung einer Fabel, durch deren Prägung das Werk erst zum Drama werde. Dem widersprach beim Faust- Dichter die Totalität der Weltsicht in ihrer epischen Weite. Goethe hat später Eckermann gegenüber bestritten, daß er das reiche, bunte Leben auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee aufgereiht habe. Nur für seinen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ hat er die bewußte Erarbeitung einer dem Verstande faßlichen Idee zugegeben. Dieser strengen Verkettung zu einer Fabel von fast dramatischer Schicksalsfügung verdankt denn auch der klassische Roman seine tragische Wirkung. Man trifft auch da wieder auf die Situation des Mannes zwischen zwei Frauen. Nur findet dieser Konflikt sein Gegengewicht in der Stellung Charlottens zwischen zwei Männern, und damit ist die Annäherung an das chemische Gleichnis der attractio electiva angebahnt. Das gäbe eine sehr einfache, banale Fabel, die dem Sprichwort „gleich und gleich gesellt sich gern“ entspräche. Die Lösung, die nach dem naturwissenschaftlichen Gesetz angezeigt wird. bestünde in der Verbindung Eduards mit Ottilie und in der des Hauptmanns mit Charlotte. Aber diese lustspielmäßige natürliche Lösung wird in der sittlichen Welt verhindert durch das Problem der Unauflöslichkeit der Ehe, das zur tragischen Idee der Entsagung hinführt. Gibt dieses Beispiel bereits einen Ausblick auf die unmittelbare Stufenfolge von Situation, Fabel, Charakteren, Motiven, Problemen und Idee, so muß der vorgenommene Weg der Analyse zunächst wieder zurückführen zur Verbindung der Fabel mit der künstlerischen Absicht. |#f0165 : 141|

b) Absicht Die bewußte Überlegung einer in Harmonie von Form und Inhalt beruhenden Wirkung braucht nicht gleichbedeutend zu sein mit Tendenz. Zwar haben die Dichter, die sich über ihre Pläne aussprachen, nicht selten die Erzielung außerästhetischer Wirkungen, die über das Werk hinausführen sollten, als ihre Absicht angedeutet. Am unbefangensten hat z. B. Schiller in einem Brief an seinen Freund Reinwald die Absicht ausgesprochen, „in Darstellung der Inquisition die prostituierte Menschheit zu rächen, ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen und einer Menschenart, die der Dolch der Tragödie bis jetzt nur gestreift hat, auf die Seele zu stoßen“. Aber diese ursprüngliche Tendenz ist in der Ausführung und späteren Bearbeitung mit wachsender Selbstzucht gemildert worden, so daß die künstlerische Absicht im abgeschlossenen Werk sich weniger kämpferisch darstellt. Dafür haben die zur Rechtfertigung geschriebenen „Briefe über Don Carlos“ dem Werk wieder andere Absichten untergelegt; um seine Einheitlichkeit zu retten, ist eine dritte Konzeption nachgetragen, die der Schlußphase der Arbeit entspricht. Von dieser dreifachen Absicht, der ursprünglichen, der ausgeführten und der nachträglichen ist einer Analyse, die sich auf das Werk selbst beschränkt, nur die mittlere faßbar, aber die Kritik führt dabei auf Widersprüche und Unklarheiten der Durchführung, die durch Heranziehung der Briefe, Entwürfe, älteren Fassungen und der späteren Selbstkritik Erklärung finden. Die vielen dichterischen Selbstbekenntnisse, die über Bewußtes und Unbewußtes im eigenen Schaffen Aufschluß geben (Otto Behaghel hat in seiner Gießener Rektoratsrede eine reiche Sammlung vorgelegt), sind nicht immer von Selbsttäuschung frei. Hebbels Tagebuch (17. Sept. 1847) erklärt z. B. alles Stoffliche in seinem Drama (Gestalten, Situationen, zuweilen sogar die ganze Handlung) als unbewußte Schöpfung. Wenn dagegen der Antipode Otto Ludwig über seine Schaffensweise Rechenschaft ablegt, so bekennt er sich zur Herstellung eines Planes, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehöre, sondern alles Absicht und Berechnung sei: „Da sieht es denn ungefähr aus, wie ein Hebbelsches Stück, alles ist abstrakt ausgesprochen, jede Veränderung der Situation, jedes Stück Charakterentwicklung gleichsam ein psychologisches Präparat, das Gespräch ist nicht mehr wirkliches Gespräch, sondern eine Reihe von psychologischen und charakteristischen Zügen, pragmatischen und höheren Motiven. Ich könnte es nun so lassen, und vor dem Verstande würde es so besser bestehen |#f0166 : 142|

als nachher ... Aber ich kann mir nicht helfen, dergleichen ist mir kein poetisches Kunstwerk, auch die Hebbelschen Stücke kommen mir immer nur vor wie der rohe Stoff zu einem Kunstwerk, nicht wie ein solches selbst. Es ist noch kein Mensch geworden, es ist ein Gerippe, etwas Fleisch darum, dem man aber die Zusammensetzung noch anmerkt.“ Im Lichte dieser Selbstbeobachtung erscheint die Bewußtheit bei Hebbel als Endform, bei Ludwig als Übergangsphase im Werden des Werkes. Beide Dichter haben im übrigen von bewußtem und unbewußtem Schaffen verschiedene Vorstellungen gehabt. Auf die Scheidung dieser Vorgänge, zwischen die der amerikanische Psychologe F. C. Prescott mit Recht die Zwischenzone eines halb unbewußten, halb bewußten Dämmerzustandes legt, kommt es indessen der Analyse nicht an. Diese Fragen bleiben der Psychologie des dichterischen Schaffens überlassen und kommen im zweiten Buch zur Erörterung. Die Werkanalyse kann nur die Verknüpfung von Situationen und Motiven in der Fabel unter dem Gesichtspunkt künstlerischer Zweckmäßigkeit erkennen. Sie gelangt von der Absicht aus zur Technik des Dichters. Bei diesem Übergang fällt, wie Dilthey gesagt hat, der Psychologie nur mehr die zweite begleitende Stimme zu, während die literarhistorische Empirie die Führung übernimmt. c) Technik Unter Technik ist alle überlegte Formgebung zu verstehen: alles, was Klarstellung der künstlerischen Absicht, Berechnung der Wirkung, Erregung der Anteilnahme, Mittel der Spannung, Sicherung des Interesses bedeutet. Technik ist erwachendes Bewußtsein des Künstlers, der aus einem Traumzustand herausgerissen wird und mit dem Augenaufschlag sich Hörern, Lesern, Zuschauern gegenüberfühlt, die er unter seinen Willen zwingen will und muß, indem er sich als ein Eigener zeigt. Technik ergibt sich nicht aus dem Gestaltungszwang, der schon im Erlebnis liegen kann, sondern aus dem Gestaltungswillen. Die Mittel dazu sind kein lehrbares Handwerk, aber sie sind lernbar durch Übung; kein Meister fällt vom Himmel, aber auch keiner kann durch diktierte Anweisung einem anderen das, was Technik heißt, beibringen; die eigene Auseinandersetzung mit den Meistern, das Studium großer Vorbilder, das Ringen mit ihnen, das Eindringen in die Geheimnisse ihres Schaffens, nicht um sie nachzuahmen, sondern um es ihnen gleichzutun auf andere, selbständige, vielleicht entgegengesetzte Weise, ist der Weg des Dichters zur technischen |#f0167 : 143|

Sicherheit. Dazu gehört eigene Erfahrung in Selbstkritik und erprobtem Erfolg. Aber gesättigte Ausnutzung dieser Erfahrungen in Wiederholung bewährter Effekte würde nur billige Routine sein. Technik dagegen ist alte Tradition in steter Erneuerung; Nutznießung tausendjähriger Erfahrung mit der Verpflichtung, sie weiterzuführen; Gebundenheit im Drang nach Freiheit, in Fluß gehaltene Evolution im Gegensatz zu drohender Erstarrung; umstürzlerisches Aufbegehren innerhalb der Fügung der Gesetze. So führt Technik zum Begriff der Gattung zurück als Auseinandersetzung mit den durch die Formwahl übernommenen Bedingungen. In der Tat können wir kaum von einer allgemeinen Technik der Dichtung sprechen. Wenn es eine Dichtungstechnik schlechthin gibt, kann sie nur in der Gestaltung der Sprache und in der Handhabung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten bestehen. So wie es keine Technik der bildenden Kunst schlechthin gibt, sondern Technik der Malerei, der Skulptur, der Graphik, so haben wir es auch hier mit gattungsgespaltener Technik zu tun. Die Spaltung liegt zwar nicht im Material begründet wie bei der bildenden Kunst, und nicht in den Instrumenten wie bei der Musik, aber in der Stellung zum Gegenstand und in seiner Vermittlung. Wir beobachten die Übung dialogischer Handlungsentwicklung im Drama, monologischer Seelendarstellung in der Lyrik und erzählenden Berichtes in der Epik. Die mannigfaltigste Bereicherung der technischen Spielarten aber liegt darin, daß innerhalb jeder Gattung auch solche technische Mittel zur Anwendung kommen können, die vorzugsweise den anderen Gattungen angehören, nämlich Dialogisches in der Epik, Erzählendes in der Lyrik, Seelischzuständliches im Drama. Wenn wir beim D r a m a unverbrüchliche Gattungsgesetze ablehnen, wie sie etwa die auf Aristoteles zurückgehende Renaissancepoetik und besonders die Regelgebung des französischen Klassizismus in den drei Einheiten aufgestellt hatte, so dürfen wir doch nicht verkennen, daß eine Zusammendrängung des Sprengstoffes zum Wesen der dramatischen Handlungsführung gehört und daß vom Zusammenprallen der Gegensätze, von prägnanter Schicksalsverkettung und schlagartiger Folge die befreiende Wirkung abhängig ist, die sowohl der tragischen als der komischen Stimmung entspricht. Eine Tendenz zur Vereinheitlichung und Zusammenballung seelischer Energien war nicht nur in der Raumform der antiken Bühne, die auf die ständige Anwesenheit des Chores berechnet war, begründet; sie ist es ebenso |#f0168 : 144|

sehr in der vorwärtsdrängenden Zeitform des Dramas überhaupt, wie in der vergegenwärtigenden Darstellung, die dem Drama und der Lyrik gemeinsam ist. Unverbrüchliches Gesetz der dramatischen Form ist die fortrollende Gegenwart innerhalb des Zeitablaufs. So vielerlei Möglichkeiten der Zeitraffung und Zeitdehnung es geben mag, so darf doch niemals im ernsten Drama der Uhrzeiger rückwärts gedreht werden, wie man es etwa bei einem Filmstreifen tun könnte und wie es mit romantischer Ironie in Tiecks „Verkehrter Welt“ geschieht. Der Zeitablauf geht sogar weiter im Zwischenakt; selbst die in die Pause zwischen zwei Szenen fallende verdeckte Handlung bedeutet einen zeitlichen Fortgang. Es ist daher ebenso unmöglich, Gleichzeitiges nacheinander zur Darstellung zu bringen, wie ein Nacheinander gleichzeitig darzustellen. Aber durch das epische Hilfsmittel des Berichts kann Vorausliegendes nachträglich Berücksichtigung finden. Ist es indessen durch Bericht in die zeitliche Vergangenheit verwiesen, so kann es nicht mehr durch Darstellung vergegenwärtigt werden. So liegt z. B. ein technischer Verstoß gegen den dramatischen Zeitablauf darin, daß der letzte Auftritt des Schillerschen „Don Carlos“ mit dem Eintritt des Prinzen ins Zimmer der Königin beginnt, nachdem schon zwei Auftritte vorher die Wache gemeldet hat, er sei, als Geist seines Großvaters verkleidet, in den Gemächern der Königin verschwunden. Die dazwischenliegende großartige Großinquisitor-Szene erweist sich damit für die technische Analyse als ein den Zeitablauf sprengender Einschub. Stärkere Durchbrechungen dieser Regel sind versucht worden und haben zur Auflösung der dramatischen Form geführt. Wenn in einem Stück wie Arnold Bronnens „Ostpolzug“ (1926) zwei um Jahrtausende getrennte Handlungen zu umschichtiger Darstellung gelangen, indem der Indienzug Alexanders des Großen und der eines modernen Weltfahrers szenenweise wechseln, so handelt es sich um einen Doppelmimus, um zwei voneinander unabhängige monologische Handlungen. Es besteht zwischen ihnen keine andere Beziehung als die eines thematischen Parallelismus, der ohne dramatische Wirkung bleibt. Ähnliches haben schon die Jesuiten unternommen, und Andreas Gryphius hat es in seinem Doppellustspiel „Die geliebte Dornrose“ und „Das verliebte Gespenst“ ihnen nachgetan. Eine Möglichkeit, zwei zeitlich getrennte Handlungen in dramatische Verbindung zu bringen und die Darstellung des Vergangenen in die Gegenwart der Haupthandlung einzufügen, kann besser mit der Einlage eines Stückes, das im Stück gespielt wird, erreicht werden, z. B. bei Shakespeare im „Hamlet“ und „Sommernachtstraum“. Im |#f0169 : 145|

„Hamlet“ ist es sogar eine verkappte Vergegenwärtigung der Vorgeschichte. Aber das theatralische Zwischenspiel gehört einer anderen Realitätsschicht an, wie auch in der Aufführung betont werden muß; es erinnert an die epischen Hilfsmittel einer eingelegten Erzählung, die auf die Entwicklung der Geschichte Einfluß gewinnt. Nicht anders ist es mit der Traumhandlung, in der die Erzählung von etwas Vergangenem, die Vision gleichzeitigen Geschehens in einer höheren Welt, oder der Ausblick auf etwas Bevorstehendes sichtbar gemacht wird. Beispiele sind Goethes „Egmont“, Gerhart Hauptmanns „Elga“ und „Hanneles Himmelfahrt“ oder die Operntexte von Schillings „Mona Lisa“ und Pfitzners „Palestrina“. Hier gleicht die unmittelbar vergegenwärtigte Handlung erster Ordnung mehr oder weniger der novellistischen Rahmenerzählung, die ein zweites Geschehen umschließt. Für die Vermittlung zurückliegender Vorgänge, die von Bedeutung für die Handlung sind, dient im übrigen der Notbehelf des Berichtes. Neben der Erinnerung und der Ausfragung von Zeugen ist der Botenbericht ein technischer Kunstgriff, um zeitlich und räumlich Entlegenes in Beziehung zur sichtbaren Handlung zu setzen und in den Zeitablauf einzufügen. Es gibt aber kaum eine Möglichkeit völlig gleichzeitiger Darstellung von räumlich entlegenen Vorgängen. Selbst im Buchdrama, das sie in zweispaltigem Druck nebeneinander stellen könnte, würde der Leser immer den einen Vorgang vor dem anderen lesen müssen und beides erst nachträglich ineinanderschalten. Auch wenn eine Simultanbühne Gelegenheit gibt, verschiedene Räume wie im Puppenhaus zugleich zu überschauen, etwa in Zacharias Werners „24. Februar“ zwei, in Möllers „Sturz des Ministers“ drei, in Nestroys „Vier Temperamenten“ gar vier Zimmer desselben Hauses, wenn in beliebten Lokalpossen verschiedene Stockwerke oder der Gegensatz zwischen Vorder- und Hinterhaus gezeigt werden oder endlich gar verschiedene Städte und Länder, wie Madrid und London in Ferdinand Bruckners „Elisabeth“, nebeneinander gerückt sind, so muß die Handlung auf dem einen Schauplatz immer aussetzen oder mindestens zur Pantomime gedämpft werden, sobald die des anderen das Gehör beanspruchen und die Aufmerksamkeit an sich ziehen soll. Hier behält das Gesetz des „Successiven“ aus Lessings „Laokoon“ sein Recht. Ein anderes Mittel, gleichzeitige Vorgänge auf entlegenen Schauplätzen in dramatischen Zusammenhang zu bringen, ist die der homerischen Epentechnik entlehnte Mauerschau (Teichoskopie), die eine entfernte Begebenheit vom erhöhten Standpunkt eines Turmes oder Feldherrnhügels aus wahrnehmen läßt. Sie kann im Gegenwartsstück |#f0170 : 146|

durch Wunder moderner Technik ersetzt werden wie Fernsprecher und Fernseher. Wunderbarer aber und nicht genug zu bewundern ist der Einfall des alten Aischylos, der sich die Sehergabe der Kassandra im „Agamemnon“ zunutze machte, um durch ihren Mund den innerlich geschauten Schreckensvorgang, der sich im Innern des Hauses abspielt, gleichzeitig erleben zu lassen. Hier ist es durch einen der genialsten technischen Kunstgriffe, den die dramatische Weltliteratur kennt, gelungen, die im Hintergrund verdeckte Handlung im Augenblick ihres Geschehens in den offenen Vordergrund hinüberspielen zu lassen. In gleicher Weise können Träume, Ahnungen, Orakel, Symbole und verhängnisvolle Vorzeichen stimmungsmäßig auf Kommendes vorbereiten. Die Verwendung solcher Klammern, die eine dramatische Handlung spannungerregend zusammenschließen, gehört ebensowohl der epischen Technik an, und in ihrer Stimmungswirkung können sie sogar als lyrische Momente bezeichnet werden. Im Drama aber stellt die Vordeutung ein Gegengewicht gegen die berichtmäßige Vermittlung des Vergangenen dar. Je nach dem Übergewicht der zurückbezogenen oder vorwärtstreibenden Verknüpfung, von denen die eine strengeren Kausalnexus und prädeterminierte Schicksalsbestimmtheit bedeutet, während die andere eine freiere Spielkraft des Willens und der Affekte erlaubt, scheiden sich die Typen dramatischer Technik. Einer analytischen, den Knoten auflösenden Form, die von der prägnanten Situation aus rückwärtsgreifend deren vorausliegende Bedingungen enthüllt, steht als Gegensatz die auf Charakterentwicklung eingestellte Vorwärtsbewegung gegenüber, die den Knoten erst schürzt. Man erkennt den Unterschied deutlich bei einem Vergleich zwischen der Rolle des Orakels in Sophokles' „König Ödipus“ und in Shakespeares „Macbeth“. Der Schicksalsspruch, der über das Labdakidenhaus verhängt wurde, liegt weit zurück und ist dem in der Wiege davon Betroffenen nicht bekannt geworden, so daß er auf seine Willenshandlungen keinen Einfluß hatte; auch sein Charakter hat an dem Geschehenen keinen Anteil; alle Handlung führt zunächst dahin, die furchtbare Verwirklichung des Vorausverkündeten erkennen zu lassen; erst indem der Sehendgewordene sich selbst des Augenlichtes beraubt, gelangt er als Held zu eigener verantwortungsvoller Handlung. Bei Shakespeare ist es gerade umgekehrt; das Schicksal fügt sich erst innerhalb der Handlung, die Hexenprophezeiung fällt in das Stück selbst, aber alles, was die Schicksalsfrauen voraussagen, schlummert bereits als triebhafte Sucht im Unterbewußtsein des Helden; die Hexen sind nichts anderes als charakterologische Gedankenleserinnen |#f0171 : 147|

Macbeths, und ihre Prophezeiung wird nun zum anstoßgebenden Leitmotiv seines bewußten Handelns als unvermeidlicher Folge seines Charakters. Schon Aristoteles hatte, indem er die Frage aufwarf, ob Fabel oder Charaktere das Wesentliche in der Tragödie seien, die Verschiedenheit der beiden Wege angedeutet. Eine mittlere Linie zwischen den beiden Polen zu suchen und die Vorteile sowohl der konzentrierten Fabel als der beweglich vorwärtsschreitenden Charakterentwicklung wahrzunehmen, machte sich die deutsche Klassik zur Aufgabe. In Schillers „Wallenstein“ ist nicht nur der Schicksalsgedanke zweideutig, je nach der Auffassung des Realisten und des Idealisten; auch die Technik lehnt sich an beide Seiten an und setzt sich zum Ziel das Programm, das um die Jahrhundertwende in dem Gedicht „An Goethe, als er Voltaires Mahomet auf die Bühne brachte“ kundgetan wurde: auf der Spur des Griechen und des Briten dem besseren Ruhme nachzuschreiten. Nicht minder deutlich ist die Doppelrichtung in „Maria Stuart“ und „Braut von Messina“, und am klarsten geht die Absicht, den Reiz analytischer Enthüllung einer dunklen Vorgeschichte mit vorwärtsdringendem charaktermäßigen Handeln zu verbinden, aus den Entwürfen zum „Demetrius“ hervor. Die „Technik des Dramas“, die Gustav Freytag dem Werk der deutschen Klassik auf den Leib zugeschnitten hat, hält sich in den Fragen des Aufbaus und der Handlungsführung fast ausschließlich an den Kanon einer tektonischen Gliederung, deren Pyramidenform die steigende Handlung bis zum Höhepunkt des dritten Aktes emporführt und ihr die gleiche Strecke für den Absturz bis zur Katastrophe einräumt, wobei die Führung zwischen Spiel und Gegenspiel wechselt. Dieser geschlossenen Form steht aber, wie man in Übertragung der Wölfflinschen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe erkannt hat, als gleichwertige künstlerische Möglichkeit eine offene Kompositionsweise gegenüber. Richtet sich der harmonische Aufbau ebenmäßiger Symmetrie nach Mustern der Architektur und Plastik, so kann eine atektonische Struktur bei malerischer Komposition und beim thematischen Aufbau musikalischer Sätze in Sonate und Symphonie ihr Gegenstück finden. So hat Heinrich von Kleist, der die Unterwerfung der Dichtung unter musikalische Gesetze als seine große Entdeckung im Reich der Kunst ansah, die Szenenfolge der „Penthesilea“ ohne fünfteilige Aktgliederung in thematischer Steigerung sich abspielen lassen. Zwar kann auch in der offenen Form eine sichtbare Symmetrie des Aufbaus walten wie in der Stationstechnik von Strindbergs „Nach Damaskus“, aber dann sind ursächliche Verkettung und Dynamik |#f0172 : 148|

anders beschaffen als in dem Kräfteverhältnis von Spiel und Gegenspiel. Alle Gestalten, die der Hauptperson begegnen, haben nur die Funktion der Spiegelung, nicht die der Handlung und des Zusammenstoßes. So konnte man für derartige Gruppierung das Bild des Sternes im Gegensatz zu dem der Kette in Anspruch nehmen. Mancherlei wurde getan für eine neue Systematik der Dramatechnik, die weniger dogmatisch als analytisch den verschiedenartigen Typen der Handlungsführung gerecht würde. Franz Saran, dessen Schule in der Sammlung „Bausteine“ gründliche, wenn auch etwas pedantische Untersuchungen der Handlungsführung in Lessings, Klopstocks, Goethes, Schillers und Hauptmanns Dramen vorführte, ist selbst nicht mehr zur Zusammenfassung seines Systems gelangt, aber der in diesen Untersuchungen herausgearbeitete Unterschied zwischen einer durchlaufenden „Fadentechnik“, die in Aufhellungs-, Ziel- und Entwicklungshandlung vorherrscht, und einer „Wellenhandlung“, deren Gang als Stimmungsbewegung mehr innere Bindungen zur Geltung bringt, entbehrt nicht der fruchtbaren Gesichtspunkte für die Analyse des Aufbaus. In ähnlicher Weise, aber mehr von den Raumverhältnissen der Bühne ausgehend, hat Arnulf Perger in mehreren dramaturgischen Arbeiten die Unterschiede zwischen Einortsdrama und Bewegungsdrama bis in alle technischen Anwendungen und Bedingungen verfolgt, um schließlich mit der Abkehr von der Realillusion der Verwandlungsbühne und der durch sie bedingten Technik Ausblicke in ein neues Werden zu eröffnen. Endlich hat Robert Petsch für die Typologie der dramatischen Form historische Grundlagen gesucht, indem er die freiere Beweglichkeit auf den Mimus zurückführte und ihr die strengere Geschlossenheit des eigentlichen Dramas gegenüberstellte. In einem späteren Aufsatz gelangte er zu drei Haupttypen, deren erster die einfache Vordergrundhandlung der mimischen Spielform bis zum Festspiel hin entwickelte, während der zweite, klassisch genannte Typus die Vordergrundshandlung nicht ohne perspektivische Tiefenbeziehung zu einem sinnvollen ideellen Hintergrund bestehen läßt; beim dritten, romantischen Typus, der im mythischen Musikdrama gipfelt, stellt sich dieser Hintergrund als das eigentliche und wesentliche Leben dar, während die transparente Vordergrundshandlung vielfach verschwommen bleibt. Man geht wohl nicht fehl, in solcher Dreiteilung Beziehungen zu Diltheys Typen von naturalistischer, pantheistischer und freiheitsidealistischer Weltanschauung zu erkennen; auf jeden Fall scheint diese Typologie mehr auf Fragen des Stils als auf die der Technik gerichtet zu sein. |#f0173 : 149|

Alle Technik des Dramas, selbst wenn es kein Theaterstück ist, bleibt von einer bestimmten Bühnenvorstellung abhängig. Diese imaginative Bühne aber verkörpert in ihren begrenzten Möglichkeiten einen bestimmten Stil der Darstellung, in den sie das ihr zugedachte Drama zwingt. Technik und Stil sind beim Drama in gleicher Weise von der Bühnenform herzuleiten; sie sind so wenig voneinander zu trennen, daß man die dramatische Technik geradezu als bewußtwerdenden Stil, den dramatischen Stil als unbewußtbleibende Technik bezeichnen könnte. Auch die Fragen, die neben Handlungsführung, Zielsetzung, Aufbau und Gliederung noch übrigbleiben, die Exposition, die Einführung und Vorstellung der Personen, die Mittel ihrer Charakteristik, die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse von Kontrast und Parallele, ihre Redeweise, die Führung des Dialoges, die Funktion der Monologe, die Behandlung der Masse in Volksszenen, ihre Auflösung in repräsentative Typen oder ihre chorische Zusammenfassung, die Verwendung lyrischer Stimmungsmittel und musikalischer Begleitung, die Szenenverbindung, die Aktschlüsse, das alles kann in bezug auf technische Lösung wie auf das Verhältnis zur Wirklichkeit durchaus als stilbedingt betrachtet werden. In weit höherem Grade noch scheinen die technischen Probleme der L y r i k mit dem Begriff des Stils zusammenzufallen. Technik der Lyrik ist Stimmungserregung durch Sprachausdruck; aller Wille geht darauf aus, von der Echtheit und Wahrheit der Empfindung und Anschauung zu überzeugen; je eindrucksvoller dieser Wille sich durchsetzt, desto weniger wird er als absichtsvolle Technik erkannt. Selbst in dem umfassenden Werk von Richard Maria Werner über „Lyrik und Lyriker“, das ganz positivistisch das Werden des Gedichtes in allen seinen Phasen beschrieb, kam das Wort „Technik“ überhaupt nicht vor, und der Begriff war ersetzt durch Befruchtung, inneres und äußeres Wachstum. In neuerer phänomenologischer Betrachtung, z. B. in den Büchern von Johannes Pfeiffer, ist wohl eine intentionale Form des Sprachausdrucks berücksichtigt, aber das lyrische Gedicht gilt vor allem deshalb als vorbildlich und beispielhaft für alle Dichtung, weil bei ihm der gegenständliche Inhalt vom „Wie“ verzehrt ist: „von der Weise der Gestaltung, von der stimmungshaltigen Sprachform, mit einem Wort: vom Stil.“ Alle die technischen Aufgaben, die das Drama in bezug auf Stoffdarbietung und Gegenstandsbewältigung stellte, scheinen demnach hier in Wegfall zu kommen. |#f0174 : 150|

Allerdings kann die zyklische Zusammenstellung vereinzelt entstandener lyrischer Gedichte, indem ihre Stimmungen aufeinander abgestimmt werden und schließlich der ganze Reichtum zu einer Perlenkette aufgefädelt wird, eine Sache durchdachten Aufbaus sein. In der Anordnung der gesammelten Gedichte zu einem großen Strauß, der mehr bedeuten muß als die Summe der einzelnen Blumen, hat der Lyriker es mit einem Stoff zu tun, den ihm nicht so sehr sein Leben als seine eigene Dichtung darbietet und der in der ordnenden Zusammenfassung mit künstlerischem Bewußtsein beinahe noch einmal zu gestalten ist. Angesichts solcher Aufgaben kann auch bei der Lyrik von einer kompositionellen Technik gesprochen werden, wie sie schon Wilhelm Scherer für Goethes erste Gedichtausgabe, Konrad Burdach und Hans Heinrich Schaeder danach für den „Westöstlichen Divan“, aufs eingehendste aber Walter Brecht für „Conrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung“ erhellt haben. Wo es in der Lyrik etwas zu erzählen gibt und wo überhaupt gegenständliche Wirkungen sich einstellen, da bestehen auch beim einzelnen Gedicht sichtbare technische Probleme des Aufbaus. Die Ballade beispielsweise stimmt, wie ihr Meister Börries von Münchhausen gezeigt hat, in dem Zusammenklingen eines sinnlich-wirklichen unteren Vorganges und eines seelisch-wirksamen oberen Vorganges mit jener Doppelwirkung, die am Drama zu beobachten war, überein, und in der Sprunghaftigkeit der Handlungsführung wie in der Anwendung symbolischer Motive ist eine Technik zu erkennen, die allerdings mit bestimmten Stilrichtungen zusammenfällt. In einer Untersuchung über „Aufbauformen“ hat Robert Petsch sogar bei jedem lyrischen Gedicht einen doppelten Vorgang, der sich gleichzeitig am Gegenstande (dem Objekt) wie am lyrischen Ich (dem Subjekt) abspielt und sich über die beiden Spielfelder in wechselwirkender Umschlingung erhebt, erkennen wollen; aus diesem Mehrvorgang leitet er Aufbaugesetze der reinen Lyrik ab. Wenn bei der sogenannten pindarisierenden Form der französischen Odendichtung eine künstliche Unordnung (beau désordre) gepflegt wurde, um den Eindruck leidenschaftlicher Gefühlserregung zu erwecken, so war ein bewußtes Wollen unverkennbar. Von der mittelbaren Lyrik mag das in noch höherem Maße gelten. So kann beim Bildgedicht, das den Gegenstand und die Stimmung eines Gemäldes aus der Sprache der bildenden Kunst in die der Dichtung umsetzt, wie bei jeder Übersetzung überhaupt, von Technik gesprochen werden. Im übrigen aber gilt von den meisten lyrischen Formelementen, bei denen von einer Technik |#f0175 : 151|

die Rede sein kann, wie Strophenbau, Parallelismus, Vers, Reim, Assonanz, Allitteration, Lautmalerei und Bildhaftigkeit, daß sie auf dem Gebiet der Sprach- und Stilbehandlung liegen; dort treffen sie zusammen mit unbewußt gehandhabten Klangwirkungen der Sprachmelodie und des Rhythmus, also mit den Elementen, in denen die eigentliche lyrische Fügung sich ausbildet. Bei der erzählenden Dichtung wird man viel eher von einer eigenen e p i s c h e n T e c h n i k sprechen können, die unabhängig von der Bindung an einen bestimmten Stil gehandhabt wird. Das liegt an dem Charakter des Berichtes und an der Stellung des Erzählers, der als Mittler zwischen Gegenstand und Hörerschaft sichtbar ist. Da er sich bald nach der einen, bald nach der andern Seite wendet, kann er sich leicht in seine Karten blicken lassen. Er sitzt nicht, wie Schiller und Goethe sich den Rhapsoden dachten, hinter einem Vorhang; er bleibt nicht wie der dramatische Puppenspieler, dessen Finger oder Drähte die Figuren bewegen, versteckt; sondern er zeigt offen das Gewirr der Fäden und Spannungen, die in seiner Hand liegen. Er gleicht dem Spielleiter einer Theaterprobe, der zwischen den Personen auf der Bühne steht und ihnen Stellung, Bewegung und Betonung anweist; er kann sogar in scheinbarer Ratlosigkeit mit seinem Publikum selbst in Verbindung treten und es an Freud und Leid des Erzählerberufes teilnehmen lassen; denn mehr als im Drama und in der Lyrik, bei denen durch die Darstellung Gefühl und Anschauung mitgerissen und überwältigt werden, kommt es in der erzählenden Dichtung auf ein Vertrauensverhältnis zwischen Erzähler und Empfänger an, das sich in gegenseitigem Entgegenkommen darstellt. Inhalt des Vertrages, den sie schließen, ist eine Glaubwürdigkeit des Erzählers, dem die Gläubigkeit des Hörers als Gegenleistnug entspricht. Alle Erzählertechnik läuft auf nichts anderes hinaus als auf ein Glaubhaftmachen des Erzählten, dessen Vorgang durch Spannungserregung vorbereitet und durch Motivierung gedeutet wird. Die Folgerichtigkeit des Geschehens und das Gesetz des waltenden Schicksals werden auch hier wie im Drama durch klare Gliederung in den dynamischen Gegenbewegungen zur Erscheinung gebracht. Selbst wo es sich nicht um eine organische Fabel handelt, selbst in den homerischen Epen und im Nibelungenlied zeigt sich ein Aufbau von tektonischer Geschlossenheit als Formprinzip des großen Epos. Virgil und nach ihm die Renaissance-Epiker haben diese Symmetrie dem Homer bewußt nachgebildet. Der Erzähler tritt als Person wenig |#f0176 : 152|

hervor; allwissend entwickelt er von der erhabenen Höhe objektiver Weltschau aus ein umfassendes Fernbild; alle Schilderungen äußerer und innerer Vorgänge haben ein gewisses formelhaftes Gleichmaß in den typischen Beiwörtern und Wiederholungen. In bezug auf das zeitliche Fernbild kommen die zyklischen Stammbaumromane der Balzac, Zola, Freytag, Galsworthy, Olaf Duun dem Epischen nahe; in bezug auf Raumfülle wurde ein episches Panorama in Sues und Gutzkows Romanen des Nebeneinander erstrebt. Aber der für sich stehende Roman gibt doch nur einen Ausschnitt aus der Totalität des Daseins; dafür wird er in Beschränkung auf Einzelschicksale den innersten Lebensproblemen nähergeführt. Wenn im großen Epos sowohl die Meinungen des Dichters als die seiner Charaktere sich offen kundgeben, bedarf es keiner raffinierten künstlichen Mittel. In Roman und Novelle dagegen kann es sich sowohl um Eindringen in unausgesprochene Seelenvorgänge der einzelnen Personen als um Verheimlichung ihrer wahren Absichten handeln, und zur Vermittlung dieser verschiedenartigen Lichtbrechungen muß das Spielwerk mannigfaltigster technischer Kunstgriffe in Anspruch genommen werden. In der Theorie ist auch dem Roman strenge Objektivität zur Pflicht gemacht worden. Aber Friedrich Spielhagen, der in seinen „Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans“ diesen Standpunkt vertrat, drang nicht einmal in seiner eigenen Praxis mit derartigen Grundsätzen durch. Die Zwischenstellung des Erzählers bringt vielmehr eine ständige Kreuzung von Objektivierung des Subjektiven und Subjektivierung des Objektiven mit sich. Die subjektive Erzählungsform sucht den Eindruck objektiver Wahrheit des Erzählers zu erwecken durch Hinweis auf stoffliches Material: Erinnerungen, Zeugenaussagen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe. Die objektive Erzählungsform wird subjektiviert durch persönliche Einmischung des Dichters, durch Anrede des Erzählers an seine Hörerschaft wie durch Zwischenreden erklärender, lehrhafter, betrachtender Art. Während die Subjektivierung des Objektiven auch im großen Epos nicht ausbleibt, ist die objektivierende Vermittlung des Subjektiven namentlich in der Ich-Erzählung ausgebildet. Ihr technischer Zweck bestand ursprünglich darin, Unglaubhaftes glaubhaft zu machen, indem es als selbsterlebt erzählt wurde. Das ist schon im alten Ägypten für Wundergeschichten angewandt worden, nachmals für Reiseromane, Visionsdichtungen, die eine Reise ins Jenseits darstellen, Abenteurererzählungen, Utopien, ja schließlich in parodistischem Umschlag für Lügenmärchen. Erst später ist für Briefroman, Tagebuchroman und Entwicklungsroman der besondere psychologische Reiz der Selbstoffenbarung |#f0177 : 153|

und Innenansicht, wie er mit der Ichform verbunden ist, entdeckt worden. Bildet die Ich-Erzählung im homerischen Epos nur eine Einlage, so kann sie im Roman alleinherrschende Erzählungsform werden unter dem einheitlichen Blickpunkt fingierter Autobiographie. Sie kann in einer der lyrischen Selbstdarstellung angenäherten Weise eigenes Erleben des Dichters wiedergeben wie in Goethes „Werther“ oder in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“, dessen spätere Umarbeitung erst die Ichform konsequent durchführt. Die autobiographische Fiktion kann sogar auf historische Gestalten angewandt werden, wie es in Wilhelm Schäfers Roman „Karl Stauffers Werdegang“ geschehen ist. Bei dieser objektiven, mehr dem Drama entsprechenden Erzählungsart tritt der Dichter völlig hinter seinem Helden, der zugleich als Erzähler eingeführt ist, zurück. Es kann sich aber auch eine Identität von Erzähler und Dichter wiederherstellen, wenn der Erzähler nur als Beobachter an der Geschichte teilgenommen haben will und keineswegs die Hauptperson ist; z. B. in Schillers „Geisterseher“, in Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“, in Ricarda Huchs „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“. Wie der Erzähler gelegentlich die Maske eines Dichters trägt (Dante in C. F. Meyers „Hochzeit des Mönchs“), so kann sich dem Dichter wiederum der fingierte Name eines beteiligten Berichterstatters als Pseudonym dauernd anheften; auf diese Weise sind Erzählernamen wie Jean Paul, Jeremias Gotthelf, Hermann Burte zu Dichternamen geworden. Eine Loslösung des objektiven Erzählers von dem epischen Ich wird notwendig, wenn das Schicksal des Helden bis zu seiner letzten Stunde, über die er selbst nicht mehr aussagen kann, berichtet werden soll. Dann wird die Ich-Erzählung eingerahmt durch einen Herausgeberbericht. Die Person des Herausgebers kann ganz nebensächlich sein, und sein Auftreten kann sich auf die bloße Mitteilung der Umstände, unter denen die von ihm wiedergegebene Handschrift in seine Hände gekommen war, beschränken. Aber der Herausgeber kann auch Glossator werden und Zweifel an der Richtigkeit aussprechen; er kann Lücken vermutungsweise ausfüllen oder Lücken schaffen, indem er angeblich Belangloses wegläßt. In diesem Fall übernimmt der Herausgeber die Rolle des Redaktors und kommt als solcher wieder zu einem besonderen Charakter, sei es gläubig ergriffener, sei es kritisch zweifelnder Art. Die romantische Ironie rechnet gern mit bewußter Nachlässigkeit der Redaktion des Herausgebers und mit Unverstand des Setzers und |#f0178 : 154|

Druckers. So ist bei Hoffmann die Selbstbiographie des Katers Murr mit der Biographie des Kapellmeisters Kreisler durcheinander geraten, weil der Herausgeber nicht beachtete, daß Fragmente der Lebensbeschreibung auf den rückwärtigen Seiten des Manuskripts standen, dessen Vorderseiten der Kater beschrieb. Es ist das epische Gegenstück zu den oben (S. 144) erwähnten Doppeldramen, in denen der Parallelismus keine dramatische Wirkung haben kann; in der Erzählung dagegen ist es ein glänzender Kunstgriff, um geniales Künstlerdasein und philiströses Katerleben in Kontrast zu setzen und damit die Idee des Werkes hell zu beleuchten. Ein weiteres Beispiel dieser Technik liegt in Immermanns „Münchhausen“ vor, indem durch angebliches Versehen des Buchbinders die ersten zehn Kapitel erst hinter den nächsten fünf ihren Platz gefunden haben, was durch eine eingelegte Korrespondenz zwischen Herausgeber und Buchbinder seine spaßhafte Erklärung findet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Parodie des Fürsten Pückler-Muskau, der in seinen „Briefen eines Verstorbenen“ solche Verschiebung vornahm, sondern die Technik des „beau désordre“ dient als wirkungsvolles Mittel sowohl der Spannungserregung als der Herstellung guter Laune. In ähnlicher Weise hat die Technik der als Ich-Erzählung eingelegten Jugendgeschichte im Entwicklungsroman (Wielands „Agathon“, Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“ 1. Fassung), einen traditionellen Platz. „Ab ovo Ledae“ zu erzählen ist für alle Epik verpönt. Jean Paul, der seine eigenen Romane gern als „Biographien“ bezeichnete, gibt in der „Vorschule der Ästhetik“ das erprobte Rezept, nicht die Wiege des Helden mit der Leserwelt zu umringen, sondern ihn sofort in der Höhe von mehreren Fuß erscheinen zu lassen; „erst darauf könnt ihr einige Reliquien aus der Kinderstube nachholen, weil nicht die Reliquie den Mann, sondern er sie bedeutend macht“. Der Verfasser der „Franzosentid“ empfiehlt zwar, um „ne Geschicht richtig to vertellen“, wie der Pflüger Streifen für Streifen zu nehmen; aber etwas bleibt doch immer liegen, „un dann möt man en Strämel taurügg trecken“. Solche technischen Betrachtungen erhöhen die Behaglichkeit, womit sie sich selbst als Kunstmittel der Erzählungstechnik einordnen. Das freie Schalten mit der Zeitform, die ein immer neues Zurückgreifen auf Vergangenes in nachträglicher Aufnahme von Berichten, Erinnerungen, Erzählungen und Urkunden erlaubt, läßt die Verschiebungen, die beim Drama als behelfsmäßiger Gebrauch epischer Mittel gelten dürfen, hier geradezu Hauptsache werden. So kann auch die Einschachtelung einer Erzählung in die andere oder die Ablösung |#f0179 : 155|

verschiedener Erzähler, wie sie Theodor Storm in „St. Jürgen“ und im „Schimmelreiter“ durchgeführt hat, für Mannigfaltigkeit sorgen. Zur Erzählungstechnik gehört auch die Innehaltung eines charakteristischen Unterschiedes in der Tonart der verschiedenen Erzähler. Mündliche und schriftliche Einlagen stehen dabei unter anderen Bedingungen: die eine, die ihren Anlaß in einer besonderen Situation, einem von außen kommenden Anstoß, einer zufälligen Begegnung hat, rechnet mit mindestens einem unmittelbaren Zuhörer als nächststehendem Publikum, das zwischen Erzähler und Leser seinen Platz hat. In der typischen Novellenform des zyklischen Rahmens kann der Erzähler umringt sein von einem neuigkeitslüsternen Hörerkreis, der Themen stellt, sich durch Fragen und zweifelnde Zwischenrufe beteiligt und nachher Kritik übt oder Nutzanwendungen gibt. Dabei wird die Eigenart des Erzählers sich in Redeweise und Weltansicht von der der Hörer abheben müssen. Bei der anderen Form der Einlage, die als eine Handschrift chronikalischen, tagebuchartigen oder brieflichen Charakters zum Vorschein kommt, ist das erst recht der Fall, auch wenn keine Wechselwirkung besteht; die Einlage muß durch ein gewisses altertümliches Sprachkostüm aus dem sonstigen Erzählerton herausfallen; hier steht nicht die Technik unter Stilgesetz, sondern der Stil ordnet sich der Technik unter, wenn er archaisiert, wie es in der chronikalischen Erzählung der Fall ist. Bei allen Ichformen der Erzählung ist der Gesichtskreis begrenzt; der Berichterstatter zweiter Ordnung besitzt nicht die Allwissenheit, die der Erzähler erster Ordnung für sich in Anspruch nehmen darf; er hat nichts weiter zu berichten, als was er mit eigenen Sinnen wahrgenommen hat, was er von anderen hörte oder was er über die Zusammenhänge vermutet. Diese Beschränkung hat technische Vorzüge und Nachteile. Die Vorteile liegen in der realistischen Beglaubigung. Es dient auch zur Erhöhung der Spannung, wenn rätselhafte Vorgänge im Halbdunkel bleiben müssen, weil nicht in das Innere der Beteiligten hineingeleuchtet werden kann. Wie der aufgeklärte Schulmeister, der in Storms „Chronik von Grieshuus“ Bericht erstattet, so läßt der rationalistische Chronist in Gerhart Hauptmanns „Emanuel Quint“ das Seelenleben des „Narren in Christo“ ohne Innenansicht. Was in der Hauptperson vorgeht, können wir nur aus den äußeren Symptomen erschließen. Das ganze Verhältnis von Einfalt und Erleuchtung, von wunderwirkender Gotterfülltheit und allmählich wachsendem Wahn bleibt als unenträtseltes Problem weit wirkungsvoller als in der Aufhellung einer unbarmherzigen psychologischen Analyse. |#f0180 : 156|

Auf der anderen Seite konnte ein entzückendes Motiv wie die versteckte Liebeserklärung in Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ durch Umsetzung in Ich-Erzählung gründlich verdorben werden. In der ersten Fassung war erzählt, wie Dortchen Schönfund, um Heinrich Lee ihre Neigung unauffällig zu verraten, auf 20 oder 30 Papierstreifchen dasselbe Gedicht schreibt und Bonbons darein wickelt. Als er beim Abschied eines davon zu ziehen hat, liest er die ermutigenden Verse, aber da er nicht ahnt, daß alle Süßigkeiten mit demselben Spruch umwickelt sind, begreift er nicht sein Glückslos und bleibt beim Abschiednehmen blöde. Die Umarbeitung ist durch Rücksichtnahme auf die Ich-Erzählung zur Änderung genötigt; Heinrich kann nichts anderes berichten, als was er selbst gesehen hat; deshalb muß er vorher das Körbchen finden, die Zettel neugierig öffnen, sich überzeugen, daß auf allen derselbe Vers steht, also den Zusammenhang durchschauen, und daß er nun nicht die sturmreife Festung nimmt, ist psychologisch unbegreiflich. Vom Standort und Gesichtskreis des Erzählers hängt der pragmatische oder psychologische Charakter des Berichtes ab. Die freiwillige Selbstbeschränkung der Ichform kann unausgesprochene Seelenvorgänge nur als eigene Erlebnisse vermitteln; bei anderen Personen muß sie zu technischen Notbehelfen wie aufgefundenen Tagebuchblättern, Briefen, belauschten Monologen oder zu Märchenwundern wie Tarnkappe, unsichtbar machendem Vogelnest (Grimmelshausen) oder Gedankenperspektiv (Hoffmanns „Meister Floh“) greifen oder dem Erzähler eine übernatürliche Gabe seelischer Einblicke verleihen, wie sie etwa dem Teufel bei Lesage und dem Memoiren schreibenden Satan bei Wilhelm Hauff gegeben ist. Wiederum kann die auf Selbstbeobachtung angewiesene Ichform sich zur subtilsten Zerfaserung aller fliegenden Gedanken und unterbewußten Regungen verfeinern, namentlich wenn sie von Brief und Tagebuch zum Gedankenmonolog übergeht. Schließlich kann unter Ausschaltung des epischen Erzählers eine ganze Handlung aus dem Blickpunkt des Hauptbeteiligten vergegenwärtigt und das in Wirklichkeit Unausgesprochene als psychoanalytische Aussprache zu Protokoll gebracht werden (Schnitzlers „Fräulein Else“). In der Vergegenwärtigung liegen Übergänge zum Dramatischen, wie sie auch in der unmittelbaren Mitteilung eines Dialogs sich einstellen. Selbst wenn Rollennamen vorangedruckt sind, bleibt es ein epischer Dialog; aber er bedeutet einen Wechsel des Standortes und einen Bruch der Berichtform durch Ausschaltung des Erzählers. Eduard Spranger spricht von „psychologischem Perspektivismus“ |#f0181 : 157|

im Roman und sieht schon bei Dostojewski die Gesetze der Perspektive gelegentlich durchbrochen; denn entweder sollten sie auf ein überlegenes Mitwissen vom Innensichtsstandpunkt aus oder auf eine begrenzte Beteiligung des auf Außenansicht beschränkten Mitspielers eingestellt sein. Der willkürliche Wechsel des Standortes kann aber nur im Klassischen als eine gewisse Stilunreinheit empfunden werden; schon in der objektiven Epik findet sich früh jener Übergang aus der Erzählung in die Wiedergabe von Gedachtem, die man als „erlebte Rede“ zu bezeichnen pflegt. Schließlich aber kann eine chaotische Mischung von Erzählung, Ichdarstellung, Dialog und Gedankenmonolog geradezu zum weltanschauungsbestimmten Stilprinzip expressionistischer und psychoanalytischer Zerrüttung werden, wie es in dem „Ulysses“ von James Joyce und seinen Nachahmungen geschehen ist. Bei Joyce nimmt die Zeiterstreckung der Handlung über einen einzigen Tag ungefähr soviel Raum ein, wie der Leser braucht, um mitzukommen. Mit derartigem naturalistischem Gleichschritt der Zeit hat schon vorher Albrecht Schaeffer im Anfang seines „Helianth“ experimentiert, so wie er im „Joseph Montfort“ in bezug auf den wechselnden Blickpunkt verschiedener Erzähler interessante Versuche gemacht hat. Die Einerleiheit der Zeit, wie sie fälschlich von pedantischen Regelgebern für das Theaterstück verlangt worden war, ist für die epische Technik mehr als belanglos, ja geradezu widersinnig. In der erzählenden Form ist nicht allein die strenge Zeitfolge aufgehoben, sondern das Zeitmaß ist noch weit mehr als im Drama perspektivisch. Es trifft zu, was in dem an technischen Reflexionen über dieses Thema reichen „Zauberberg“ im Anfang des fünften Kapitels gesagt ist, nämlich, daß nach den Gesetzen des Erzählens und Zuhörens uns die Zeit genau so lang oder kurz wird und für unser Erlebnis sich genau so breit macht oder zusammenschrumpft wie für den Helden der Geschichte. Nur gehört es zur Technik der Erzählung, daß dem Leser trotz der epischen Breite die Zeit überhaupt nicht lang werden dürfte.

. V i e r t e S t u f e : M e n s c h e n g e s t a l t u n g (Psychologie Selbstdarstellung Charaktere) a) Psychologie und Selbstdarstellung Die dichterische Darstellung seelischer Vorgänge ist zu trennen von der Psychologie des dichterischen Schaffens. Dichterische Psychologie ist etwas anderes als Psychologie des Dichters. Der Dichter

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ist einmal Subjekt, das andere Mal Objekt; seine Seele ist hier in das erfundene Leben einer poetischen Welt projiziert; dort bildet sie selbst den realen Schauplatz der Vorgänge. Der dichterische Zeugungsakt entzieht sich der Öffentlichkeit und bleibt, trotz der vielen Erklärungen von Dichtern, die durch Selbstbeobachtung über den schöpferischen Vorgang ins klare kommen wollten, letzten Endes rätselhaft und unausgesprochenes Geheimnis. Die Literaturwissenschaft sucht sich in diesem Dunkel zurechtzufinden, wenn sie ein einzelnes dichterisches Kunstwerk aus seinem Werden verstehen will, und die Poetik sucht aus einer psychologischen Gesetzmäßigkeit des Werdens, die sie zu ermitteln bemüht ist, zu allgemeinen Erkenntnissen über das Wesen der Dichtung zu gelangen. Davon soll späterhin noch gehandelt werden (2. Buch, 3. Hauptteil). Anders ist es mit dem psychologischen Gehalt eines Werkes; der liegt offen zutage und bietet sich der Beurteilung dar; er stellt der Kritik wie der Analyse eine wesentliche Aufgabe in der Prüfung der Folgerichtigkeit, Gültigkeit und Wahrheit aller in der Dichtung berichteten oder dargestellten seelischen Vorgänge und in der Erkenntnis der Bedeutung, die die Seelendarstellung im Organismus des Werkes einnimmt. Um was es sich bei dieser Frage handelt, ist nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern letzten Endes die innere Wahrheit. Die Glaubwürdigkeit kann die Achillesferse der dichterischen Wirkung bilden, aber die Dichtungsgattungen werden in verschiedener Weise von dieser Verantwortung betroffen. Der Lyriker braucht sich, wenn das, was er als seine Empfindung dargestellt hat, wirklich echt ist, um die Glaubwürdigkeit nicht zu kümmern; bei ihm kommt es auf die stimmungsmäßig zwingende Eindruckskraft der Darstellung an. Der Dramatiker kann zum Teil darauf vertrauen, daß die schauspielerische Nachschöpfung seinen Gestalten mit der körperlichen Verwirklichung Glaubhaftigkeit erzwingt. Anders liegt es bei der Erzählungskunst. Wo alles von der unmittelbaren Glaubhaftigkeit abhängt, ist die psychologische Wahrscheinlichkeit und folgerichtige Motivierung eines der wesentlichen technischen Probleme. Deshalb mußte die vorausgehende Analyse der Erzählungstechnik bereits auf die Psychologie hinführen. Die Psychologie erstreckt ihren Bereich aber auch über die beiden folgenden Begriffe; sie steht mit Selbstdarstellung und Charakteristik in engstem Zusammenhang. Die drei Wege der Menschengestaltung, die auf dieser Stufe nahe aneinander gerückt sind, entsprechen einigermaßen dem Verhältnis der drei Dichtungsgattungen. |#f0183 : 159|

Selbstdarstellung ist vornehmlich Sache der Lyrik. Die reine Lyrik kennt überhaupt keine andere Art von Psychologie und kaum eine andere Art von Charakterbild als die Selbstdarstellung des Dichters. Wenn das „lyrische Ich“ nur objektive Form eines individuellen empirischen Ich ist, so spiegelt es dessen Seelenlage. Auch das lyrische „Du“ kann Selbstanrede sein, und niemals ist es ein fremdes Nicht-Ich. Erinnerungsbilder und Wunschträume bleiben ichgebunden, und sogar das Bild der Geliebten ist ein Stück Selbstdarstellung, auch wenn das Schönheitsideal in sich wandelnden Formen und Formeln vom Zeitgeschmack abhängig ist. Über die Selbstdarstellung scheint die Lyrik nur in zwei Extremen hinauszukommen: in der Ich-Enthobenheit selbstvergessener, hingegebener Ekstasis und in der unpersönlichen Naturbeschreibung, die kaum mehr dichterisch ist. Im Drama wiederum ist objektive Charakterdarstellung die Hauptsache; alle Handlung, alle Rede, jedes Ziel wird nur vermittels der handelnden Personen zur Darstellung gebracht. Während der Epiker seine Charaktere verdolmetschen kann, sind die Charaktere die alleinigen Dolmetscher des Dramatikers. Dabei ist auch Selbstdarstellung im Spiele; mit beseelter Belebung ihrer Handlungsweise gibt der Dichter seinen Gestalten etwas von der eigenen Seele mit; die Rollenverteilung bedeutet mehr oder weniger eine Spaltung des dichterischen Ich. In Goethes Dramen z. B. sind die Paare Götz Weislingen, Clavigo Carlos, Egmont Oranien, Tasso Antonio, ja sogar Faust Mephistopheles die Personifikationen verschiedener Eigenschaften, Stimmungen und Erlebnisse ihres Dichters; nur die psychologische Führung ihrer Handlung und Rede vermag diese geteilten Selbstdarstellungen in ihrer Gegensätzlichkeit auseinander zu halten, während sie sonst, wie das leicht im lyrischen Drama geschehen kann, in einer Grundstimmung verschwimmen würden. Es gibt aber auch Dramen, die der Form nach nicht lyrisch sind und in denen doch eine ungeteilte Selbstdarstellung stattfindet, wie etwa in den Seelenexhibitionen des Expressionismus, in Strindbergs „Nach Damaskus“, Wedekinds „Marquis von Keith“ und „Hidalla“, Sorges „Bettler“, Unruhs „Vor der Entscheidung“ und „Phäa“. Da ist der Charakter des Dichters in der Hauptperson zu erkennen, auch wenn er nicht, wie Grabbe am Schluß von „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, sich unter eigenem Namen auf die Bühne stellt. In der Erzählungskunst kann man drei Formen der Selbstdarstellung unterscheiden; eine mehr lyrische, wenn in der Ichform eigene Erlebnisse, Stimmungen und Meinungen dargestellt werden, eine mehr dramatische, wenn in einer Nebenperson der Charakter des Dichters |#f0184 : 160|

sich objektiviert, und eine rein epische, wenn der Dichter sich mit dem Erzähler identifiziert. Die erste findet man schon in Ulrich v. Lichtensteins „Frauendienst“, in Grimmelshausens „Simplizissimus“, in Goethes „Werther“, Hoffmanns „Kapellmeister Kreisler“ und in vielen späteren Bildungsromanen; die zweite war namentlich im Zeitroman des jungen Deutschlands an der Tagesordnung, wo die Gestalt des Literaten oft zur Selbstaussprache und Gesellschaftskritik des Dichters benutzt wurde; von dem grauen Mann in Immermanns „Münchhausen“ über den Pfarrer von Gytiswyl bei Gotthelf bis zu Hermann Stehrs Faber im „Heiligenhof“ kann man die pseudonyme Einmischung des Dichters unter seine Gestalten verfolgen; oft genügt es auch, wenn er einem Raisonneur seine eigene Lebensauffassung in den Mund legt, wie es Anatole France mit seinem Abbé Coignard, Fontane mit seinem Dubslav v. Stechlin tat. Die dritte Art dagegen, bei der der Erzähler mit Charakterzügen des Dichters sich in menschlicher Beschränkung darstellt, ist namentlich im humoristischen Roman zu finden. Dadurch, daß dem epischen Erzähler die Beschreibung und Schilderung seelischer Vorgänge verantwortlich zufällt, wird er praktisch in die Rolle des Psychologen versetzt und mit seinen Aufgaben belastet. Der Dichter, soweit er sich mit dem Erzähler identifiziert, kommt mit seiner Psychologie zur Selbstdarstellung. Denn es ist seine eigene Lebenserfahrung, Seelenkenntnis und Menschenbeobachtung, aus der heraus er den Zusammenhang zwischen den Charakteren und ihrer Handlungsweise allein erklären kann. Was er als Dichter von innen heraus gestaltet hat, muß er als Erzähler wie ein außenstehender Beobachter verständlich machen; er ist also in doppelter Funktion Psychologe sowohl als Charakterschöpfer wie als sich selbst darstellender Erklärer; ja, er kann es sogar, wenn er sich darum kümmert, noch in einer dritten Funktion sein, nämlich in der Berechnung des Eindrucks auf die Leserschaft, in der psychologischen Einschätzung des Publikums. Psychologie und Charakterologie sind zwei Wissenschaftsgebiete, die in engem gegenständlichen Zusammenhang stehen; zwischen ihnen ist hier die nur dem Reich der Kunst angehörige Selbstdarstellung eingefügt. Sie überliefert den Wissenschaften sowohl psychologisches als charakterologisches Material, das als ein aus dem Leben geschöpfter Erfahrungsstoff um so besser zu brauchen ist, als die künstlerische Gestaltung bereits die wesentlichen Züge herausgearbeitet und organisch zusammengeschlossen hat. Es kann eine Fehlerquelle sein, wenn die geisteswissenschaftliche Psychologie sich auf die Schöpfungen |#f0185 : 161|

subjektiver Menschenkenntnis beruft; sie wird es auch vorwiegend nur als Bestätigung und Ausbau ihrer Beobachtungen und Systeme auffassen dürfen; in diesem Sinne ist die Lebenswahrheit der von Dostojewskis psychologischem Tiefblick mit unbarmherziger pathographischer Konsequenz gezeichneten Seelenvorgänge schon oft von der Wissenschaft als eine Reihe vorbildlicher Präparate entgegengenommen worden. Ebenso kann die charakterologische Wissenschaft die Gestalten Shakespeares als Demonstrationsmaterial nutzen, weil ihre überlebensgroße Seinsform in der Projektion mehr überzeugende Daseinskraft besitzt als zersplitterte kleinliche Wirklichkeiten. Es ist nicht anders als beim künstlerischen Rollenporträt eines Schauspielers, das besser als jede Photographie das Charakteristische seiner Haltung und seines Ausdrucks festhält, weil nicht ein einzelner Moment, sondern das Ganze der Leistung erlebnismäßig aufgefaßt ist. Die Arbeitsweise der dichterischen Psychologie und Charakterologie ist eine völlig andere als die der wissenschaftlichen. Gewiß besteht eine Wechselwirkung, und die wissenschaftliche Seelenforschung hat die dichterische Seelengestaltung vielfach befruchtet, indem sie bestimmte Erscheinungsweisen seelischer Vorgänge in das Licht ihrer Lehre stellte. So kann Parzivals Weg durch den Zweifel und der betrachtende Eingang von Wolframs Dichtung mit mittelalterlichen Seelenauffassungen in Zusammenhang gebracht werden. So hat man an Büchern wie Brights „Treatise of Melancholy“ (1536) zeigen können, daß die Dramen Shakespeares die psychologischen Anschauungen seiner Zeit widerspiegeln. So hat Gustav Kettner wahrscheinlich gemacht, daß die erst 1765 ans Licht getretenen „Nouveaux essais“ von Leibniz durch Hinweis auf unbewußtes Seelenleben die Psychologie von Lessings „Emilia Galotti“ beeinflußten. Wissenschaft und Dichtung gingen oftmals Hand in Hand; so war Karl Philipp Moritz zugleich Herausgeber eines Magazins für Erfahrungsseelenkunde und Verfasser der Selbstdarstellung „Anton Reiser“, der er den Untertitel „psychologischer Roman“ gab. In ähnlicher Weise ist eine Parallele zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Interesse in der Psychologie der deutschen Romantiker zu beobachten bei Friedrich von Hardenberg, bei Justinus Kerner, namentlich bei Gotthilf Heinrich Schubert, dessen Vorlesungen über „Nachtseiten der Naturwissenschaft“ auf die somnambulen Motive der Heinrich v. Kleist und E. Th. A. Hoffmann einwirkten. Wie die romantische Psychologie im Traumleben Offenbarungen einer höheren Wirklichkeit suchte, so haben Traummotive nun die Handlungsführung des romantischen Märchens geleitet. Bald darnach aber beginnt in Frankreich mit |#f0186 : 162|

Stendhal, Balzac und Flaubert jene desillusionierende, zerfleischende psychologische Selbstzerfaserung, die Lugowski jüngst als „Antimärchenroman“ charakterisiert hat und zu der man vielleicht die Anfänge der französischen Experimentalpsychologie (Massias, Bautain) in Parallele setzen darf. Der roman expérimental Zolas führte zu einer scheinbaren Nachahmung wissenschaftlicher Methoden; die Milieulehre tat das ihrige, um die willenlose Abhängigkeit des Seelenlebens von den äußeren Gegebenheiten zum Dogma werden zu lassen. Hatte in Deutschland schon Otto Ludwig im Gegensatz zur spekulativen Philosophie eine exakte psychologisierende Richtung eingeschlagen, die seinen Erzählungen besser zugute kam als seinen Dramen, so hat später Theodor Fontane mehr und mehr sich von der äußeren Gesellschaftsschilderung zur Seelendarstellung gewendet; unter seinen Händen verfeinerten sich deren Mittel zusehends, so daß der Verfasser von „Effi Briest“ rühmen durfte, sie sei „fast wie mit dem Psychographen geschrieben“. Alle rational faßbaren Seelenvorgänge sind durch zarte Andeutungen in Wort und Gebärde sichtbar gemacht. Im neuen Jahrhundert aber steigt die wissenschaftliche Psychologie wieder in die Bereiche des Unbewußten und Unterbewußten hinab; das irrationale Traumleben wird, wenn auch in anderer Weise als bei den Romantikern, wieder zur aufschlußgebenden Quelle innerlichster Erlebnisoffenbarung, und die dichterische Seelenführung folgt aufs neue traumhaften Sprüngen und Wandlungen; psychoanalytische und individual-psychologische Richtungen der Wissenschaft haben ihre unverkennbaren Spuren in der Erzählungskunst aller Länder (Kafka, Hesse, Lawrence, Pirandello) hinterlassen. Man kann also sagen, daß die Analyse, wenn sie sich der Psychologie eines dichterischen Werkes zuwendet, durch den Blick auf den Stand der gleichzeitigen wissenschaftlichen Seelenauffassung gefördert werden kann, gleichviel ob der Verfasser einem ausgesprochenen Studium der wissenschaftlichen Psychologie oblag oder nicht. b) Charaktere und Vorbilder Die charakterologischen Systeme sind erst später zu wissenschaftlicher Ausbildung gelangt und haben selbst in der neueren Zeit weniger Bedeutung für die Dichtung gewonnen. Sie bieten ihr kaum eine Stütze; denn die visionäre Konzeption eines geschlossenen Charakters kommt als Einheit von sprechender Physiognomie, Bewegung, Redeweise, Leidenschaft und Denkart viel schneller zustande als die sorgfältig abgepaßte Verkettung psychologischer Motive. |#f0187 : 163|

Der Charakter kann schon durch Prägung der Fabel seine Bestimmung erfahren haben und durch eine ihm überlieferungsgemäß zugeschriebene Handlungsweise bedingt sein. Er ist, ästhetisch betrachtet, Problemsubjekt im Sinne einer Einfügung in die Ganzheit des Kunstwerkes, wie es Clemens Lugowski in seiner Lehre vom mythischen Analogon gezeigt hat. Der Charakter kann aber auch, psychologisch betrachtet, seine Grundlage haben in Urbildern, die in der Seele des Dichters schlummern wie im Reich der Mütter. In der Verschmelzung dieser Urschicht, die eine Gestaltungsgrundlage bildet, mit den im Stofferlebnis bedingten Funktionen der Fabelbildung liegt sogar möglicherweise ein entscheidender Moment dichterischer Zeugung. So hat der junge Schiller, als er den Stoff des „Don Carlos“ aus der Novelle von St. Réal übernahm, gleichwohl an seinen Freund Reinwald geschrieben, er sei zu glauben geneigt, „daß in unserer Seele alle Karaktere nach ihren Urstoffen schlafen, und durch Wirklichkeit und Natur oder künstliche Täuschung ein dauerndes oder nur illusorisch- und augenblickliches Dasein gewinnen. Alle Geburten unserer Phantasie wären also zuletzt Wir selbst“. (14. April 1783.) Dieses Bekenntnis zur Selbstdarstellung hat im Alter sogar der Erfahrungs- und Erlebnisdichter Goethe sich zu eigen gemacht, denn auch er war davon überzeugt, daß er Gestalten und Stimmungen seiner Dichtung durch Antizipation dem Leben vorweggenommen habe, so daß er den Geschöpfen seiner Einbildungskraft nachträglich in der Wirklichkeit begegnen konnte. So wenig hat Goethe selbst die törichte Modelltheorie gelten lassen, der er in „Dichtung und Wahrheit“ scheinbar Vorschub leistete und die gerade auf seine Gestalten so vielfach angewendet wurde. Hat man es doch für verdienstvoll und wichtig angesehen, für die lieblichsten Phantasiegeschöpfe wie Gretchen und Mignon bestimmte reale Vorbilder aufzuspüren, an die die dichterische Gestaltung gebunden sein sollte. Was aber hat das Bürgermädchen aus niederer Gesellschaft, dem die Selbstbiographie den Namen Gretchen gab, mit der Geliebten Fausts zu tun, da der Knabe damals gewiß nicht sich als Faust fühlte? Anders liegt es, wenn in einem Werk Beziehungen auf bestimmte Persönlichkeiten kenntlich gemacht werden, sei es in satirischer Richtung (Pater Brey-Leuchsenring) oder auch als ergriffene Huldigung (Euphorion-Lord Byron). Solche mit Bewußtsein hergestellte Zusammenhänge sind für die Analyse der Dichtung von Wichtigkeit; nur fallen sie weniger unter Charaktere und Vorbilder, als unter den schon früher besprochenen Gesichtspunkt der Absicht. |#f0188 : 164|

Daneben kommen die halb bewußten, halb unbewußten Vorbilder in Betracht. Es liegt auf der Hand, daß realistische Menschendarstellung auf einen Schatz eigener Lebenserfahrung und auf Beobachtung der umgebenden Welt angewiesen ist. Der Dichter müßte blind und taub sein, dem nicht die Eindrücke der Menschen, denen er begegnete, sich einprägten. Wie das Skizzenbuch des Zeichners, überliefern Auge und Ohr dem Gedächtnis eine Fülle charakteristischer Züge, Bewegungen und Äußerungen, die sich zu einem eigenen physiognomischen System verdichten. Danach werden Mienen, Haltung, Kleidung, Gang, Ausdrucksbewegungen und Sprache charakterisiert. Ist es schon für den unproduktiven Beobachter des Lebens ein angeregtes Spiel, sich über Schicksale und Charaktere unbekannter Personen Gedanken zu machen im Blick auf die äußere Erscheinung, in der man den Schlüssel ihres Wesens sucht, so wird dichterische Einbildungskraft erst recht durch jede Wahrnehmung auffallender Eigentümlichkeiten angeregt. Hoffmannsche Erzählungen wie „Das öde Haus“ und „Des Vetters Eckfenster“ geben Beispiele dafür, wie eine ungehemmte Phantastik durch problematische Wirklichkeitsbeobachtung in Schwung gesetzt wird. Ein anderer Fall ist der des Komponisten Schreker, der auf den Text seiner Oper „Irrelohe“ gekommen sein will, als der Eisenbahnzug an einer Station dieses Namens hielt. Auch die Namengebung gehört zu den bedeutsamen Charakterisierungsmitteln, für die gegebene Anhaltspunkte benutzt werden. Die althergebrachten Schlüsselromane wählen entweder allegorische Bezeichnungen, die der gemeinten Person und ihrer Stellung entsprechen, oder sie beschränken sich auf mehr oder weniger durchsichtige Entstellung echter Namen, sei es in Anagrammen oder Analogiebildung. An deren Stelle trat im 18. Jahrhundert die scheinbare Diskretion der Chiffern (Gräfin v. G., Prinz von **); im bürgerlichen Lustspiel kamen die redenden Namen als Etikette des Charakters auf (Herr Ehrlich, Frau Eigenlieb); der Sturm und Drang liebte die Verherrlichung von Freunden als Nebenpersonen unter ihren wahren Namen (Goethes Lerse, Schillers Pastor Moser), während Goethes klassischer Stil sich mit den Vornamen begnügte („Eduard so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter“). Der humoristische Roman macht sich Namen von komischer Wirkung, die es in der Wirklichkeit wohl geben mochte, zunutze (Siebenkäs, Kuhschnappel), während der Realismus und Naturalismus in Erzählung und Drama zur unaufdringlichen Charakteristik durch symbolische Namen gelangte, bei denen das Bezeichnende weniger im Sinn als in der Klangwirkung liegt. Ein besonderer Trick des Realismus, wie ihn etwa Fontane handhabte, |#f0189 : 165|

ist die Vermischung solcher aus Landkarte, Adreßbuch oder Zeitung entlehnter Namen mit bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die im Hintergrund auftreten oder gesprächsweise erwähnt werden (z. B. Bismarck in „Effi Briest“ oder Hofprediger Frommel im „Stechlin“). So wird Namengebung zu einem charakteristischen Bestandteil des persönlichen Stils. Alle realistischen Menschendarsteller verdanken den Farbenreichtum ihrer Palette der Benutzung von Wirklichkeitszügen. Selma Lagerlöf hat erklärt, daß alle Gestalten der Gösta-Berlings-Saga dem Leben entlehnt seien. Balzac, Flaubert, Zola sind dafür bekannte Beispiele. Meist ist Vorsorge getroffen, daß modellartige Beziehungen nicht mehr erkennbar sind. So traf z. B. Henry Beyle (Stendhal) in seinem Testament folgende Verfügung über den hinterlassenen Roman „Die Orange von Malta“: „Ich bin dem Brauch der Maler, den ich spaßhaft finde, gefolgt und habe nach Modellen gearbeitet. Man wird alle allzu deutlichen Anspielungen, die als Satire wirken würden, ausmerzen müssen.“ Wo das Werk gar nicht mehr erkennen läßt, daß gewisse Wirklichkeitszüge einem erst in der Bildung begriffenen Charakter beigemischt wurden, bleiben die Ursprünge belanglos für die Analyse, es sei denn, daß durch die Wirklichkeitsanlehnung etwas Widerspruchsvolles in die Charakteristik gekommen wäre. Selbst wenn Jean Paul sich für den noch nicht feststehenden Charakter des Walt in den „Flegeljahren“ Züge von Herder, Buri, Wieland und Tieck notierte, so kann davon höchstens Aufschluß über seine persönlichen Lebensbeziehungen zu den Genannten gewonnen werden; für das Verständnis des Werkes ist nichts daraus zu erschließen, denn nachdem sich endlich der „Fokus“ für alle Einzelheiten fand, kann sich als Ergebnis des Nachspürens schließlich nichts anderes herausstellen, als daß das eigentliche Modell für die Zwillingsbrüder Walt und Vult das in zwei Hälften gespaltene Ich des Dichters gewesen ist. Auch bei einem Erzähler, der so stark von Vorbildern des Lebens abhängig war, wie Th. Fontane, gilt schließlich das eigene Bekenntnis: Was wir in Welt und Menschen lesen, Ist nur der eigne Widerschein. Und wenn es nun bei Goethe so gewesen wäre, daß eines der verschiedenen Harfenmädchen, die ihm in Literatur und Leben begegnet sind, solchen Eindruck auf ihn machte, daß er die äußere Erscheinung Mignons durch sie bestimmen ließ, so wäre das eben nur ein Beitrag zur Maske und Garderobe der Gestalt, nicht der Anstoß zu ihrer |#f0190 : 166|

Erfindung und zur Ausgestaltung ihres Charakters gewesen. Mignons inneres Wesen ist die Sehnsucht, der vom Dichter selbst vor der italienischen Reise empfundene Ferntrieb; Mignons Lebensatmosphäre ist die Kunst; als Inkarnation der Poesie, der Musik, des Tanzes ist sie ein symbolisches Geschöpf, das nur ein innerliches Leben führt. Ihr Charakter aber bestimmt sich durch das Verhältnis zu Wilhelm Meister. Auch hier besteht ein psychologischer Perspektivismus, insofern Mignon, obwohl sie nicht als Figur einer Ich-Erzählung auftritt, doch durchaus mit Wilhelms Augen gesehen ist, nur in seiner Anwesenheit erscheint, nur in der Beziehung zu ihm existiert, niemals einem anderen sich vertraut und in ihrem eigentlichen Innenleben rätselhaft und unerschlossen bleibt. Solche Gestalten, die als Stimmungsverkörperungen einer persönlich erlebten Hauptgestalt in Erscheinung treten, sind als sekundäre Formen der Selbstdarstellung zu betrachten. Für diese abgeleitete Selbstdarstellung könnten unauffindbare erotische Beziehungen aufschlußgebend sein. Wo Thema und Persönlichkeit des Verfassers ein besonderes Recht dazu geben, wie etwa bei Flauberts „Versuchung des heiligen Antonius“, lassen sich in der Tat alle Halluzinationen als Objektivierungen verdrängter Triebe und Gedanken auffassen. Aber im übrigen hat die Psychoanalyse der Freudianer, wenn sie mit plumper Einseitigkeit auf libidinöse Genesis imaginärer Urbilder versessen war, viel Unfug angerichtet, namentlich in der zwangsläufigen Annahme früher Inzestgefühle gegenüber Mutter und Schwester, wie sie beispielsweise bei Gottfried Keller in der Judith des „Grünen Heinrich“ und in der Züs Bünzlin der „Gerechten Kammacher“ sich spiegeln sollten. Aus dem Ödipus-Komplex lassen sich nicht alle Rätsel der Sphinx, die der Schaffensvorgang aufgibt, zur Lösung bringen, und die Gleichstellung des Dichters mit dem Neurotiker kann zwar das Problem wieder von der Dichtungspsychologie auf die des dichterischen Schaffens hinüberspielen, aber für die eigentlichen schöpferischen Vorgänge bleibt dann so gut wie kein Raum übrig. Die Zurückführung typischer Charakterbilder auf unbewußte Kindheitserinnerungen trifft die Urschicht frühester Erlebnisse. Sie brauchen durchaus nicht immer erotischer Natur gewesen zu sein. Die nachhaltigen Eindrücke von Vater und Mutter wie von Geschwistern und Freunden bilden einen Nährboden für das Emporwachsen dichterischer Gestalten, ohne daß der mitwirkende Eindruck späterer Erfahrungen dadurch ausgeschaltet wäre. Das Bild der Mutter taucht z. B. in mehrfacher Verkörperung aus den im Unterbewußtsein |#f0191 : 167|

haftenden Kindheitserinnerungen in Brentanos „Godwi“ hervor, und bei Jeremias Gotthelf wird, wie Muschg gezeigt hat, das Weibliche immer in das Ursprunghafte, Mütterlich-Ungeheure erdhafter Fruchtbarkeit zurückgeführt. Den Vatergeist, der allerdings nicht nur auf die Erinnerung an den eigenen Vater zurückgeht, sondern als Inbegriff ewiger Ordnungen im Volk wurzelt, hat Hermann Pongs, indem er Schillers ‚Urbilder“ untersuchte, als in des Dichters Seele angelegte Mitgift, als Gebundenheit an Mitwelt und Überwelt, als tragenden Existenzgrund sittlicher Entscheidung in allen Werken und Lebensäußerungen nachzuweisen unternommen. Völker, Stämme und Familien unterscheiden sich durch eine mehr patriarchalische oder mehr matriarchalische Haltung. Gerade bei Schiller läßt sich nun aber zeigen, wie er davon unabhängig sich seine eigene Charakterologie zurechtgelegt hat. Nachdem die Abhandlung über „Naive und sentimentale Dichtung“ den Typus des Realisten, der sich durch äußere Abhängigkeiten bestimmen läßt, von dem des Idealisten, der das Gesetz seines Handelns in sich trägt, getrennt hatte, fand sich im Realisten der Schlüssel für das historische Charakterbild des Wallenstein, und in der Gestalt des Max Piccolomini wurde ihm nun der innere Gegenspieler gegenübergestellt. In solcher Seelengestaltung ist Schiller wirklich der „Psychologe des Tatmenschen“ geworden, als welchen ihn Max Kommerell beleuchtet hat. Aber oft genug entwickelte er das Gegenteil, und seine Psychologie war eigentlich die des Kontrastes. Die Spannungen waren für ihn aus früher Selbstspaltung, die den Urgrund dramatischer Auseinandersetzung bildet, hervorgegangen. Schon die beiden feindlichen Brüder Franz und Karl Moor entsprechen den Gegensätzen von Materialismus und Idealismus, wie sie der Karlsschüler in der Zeit seines Medizinstudiums in sich durchkämpfen mußte. In einer kleinen dialogischen Erzählung „Der Spaziergang unter den Linden“ sind sie als ungelöster Gegensatz einander gegenübergestellt. Für die Weiterführung hat es gewiß nicht an Vorbildern gefehlt, und beim Franz Moor ist die Anlehnung an Shakespearesche Bösewichter unverkennbar sowohl in den Charakterzügen als in den technischen Mitteln der Entfaltung. Von Shakespeare haben zwei große deutsche Dramatiker, Grillparzer und Hebbel, fast übereinstimmend gesagt, er müsse in der Anlage alle Triebe zu verbrecherischen Handlungen in sich getragen haben, und die Darstellung von Mördern sei seine rettende Abwehr gewesen, daß er nicht selbst zum Mörder werden mußte. Ähnlich sagte einmal Flaubert von sich selbst: „Ach was für Laster würde ich haben, wenn ich nicht schriebe!“ |#f0192 : 168|

Sicher hätte Shakespeare die Bosheit nicht in so menschlicher Weise verständlich machen können, wenn nicht Charaktere wie Macbeth oder Richard III. für seine schauspielerische Natur eine gewisse Selbstdarstellung bedeutet hätten. Die entwicklungsmäßige Technik ermöglichte ihm, das Werden eines Charakters bis zu seinen Taten hin sich psychologisch entfalten zu lassen, ohne dem starren Schwarz-Weiß-Schematismus von Bös und Gut, der im Barockdrama Regel wurde, zu folgen. Vor solchen Extremen schematischer Charakteristik hatte schon Aristoteles gewarnt und die Mittelcharaktere, in denen verschiedenartige Regungen verteilt seien, als die dramatisch wirksamen empfohlen. Schiller konnte nun in weiterer Entwicklung zu der Einsicht gelangen, daß auch Shakespeare und Aristoteles sich in diesem Punkte vertragen hätten, da auch die Shakespeareschen Bösewichter, selbst ein Richard III., tragische Masken von menschlicher Allgemeingültigkeit und symbolischer Repräsentation darstellten. Im Lustspiel bedeutet die Maske etwas anderes; sie bleibt, wörtlich genommen, der ursprüngliche Träger aller komischen Wirkung. Im Puppen- und Schattenspiel, in den Teufelslarven der mittelalterlichen Passionen, in den Vermummungen der Fastnachtsspiele wie in den komischen Charaktertypen der italienischen Stegreifkomödie leben Gestalten alter Tier- und Dämonentänze weiter und verbinden sich mit den Nachwirkungen des antiken und orientalischen Mimus als grotesk nachahmendes Ausleben aller animalischen und materiellen Lebenstriebe. Mit der unverwüstlichen Lebenskraft des Unkrauts haben Clown, Harlekin und Hanswurst jahrhundertelang auch die Stimmungseinheit der Tragödie wie wuchernde Schlinggewächse durchsetzt, und im Lustspiel hat sich die „lustige Person“ gegen alle Austreibungsversuche auf dem Theater behauptet, gestützt durch den Spieltrieb, durch die vox populi, durch altes Brauchtum und nicht selten auch durch literarische Autoritäten, wie im 18. Jahrhundert durch Justus Möser und Lessing. Die psychologische Menschwerdung des komischen Charakters hat nach Plautus und Terenz, ja selbst nach Shakespeare und Molière, die bestimmte tonangebende Charakterzüge wie Trunksucht, Renommisterei und Feigheit, Geiz oder heuchlerische Frömmelei personifizierten, immer wieder Rückschläge erlebt auf dem Theater. Erst der Roman ist mit feineren Charakterisierungsmitteln dem Drama vorangegangen. Immer aber ist der lächerliche Charakter, der weniger zu handeln als zu leiden hat, auf eine schmälere typologische Basis gestellt und auf geringere psychologische Mannigfaltigkeit beschränkt. Die Analyse komischer Charaktere wird |#f0193 : 169|

deshalb weit mehr herkömmliche Überlieferung zu verzeichnen haben als erlebte Selbstdarstellung, die viel mehr beim Humoristen sich findet. Die komische Wirkung pflegt im übrigen nicht so sehr aus der Anlage der Charaktere unmittelbar hervorzugehen als aus den Situationen und Motiven der Handlung.

6. F ü n f t e S t u f e : V e r k n ü p f u n g (Motive Wirklichkeitsauffassung Sprachform) a) Motive Das Motiv ist der meistgebrauchte und deshalb unklarste Begriff, der bei der Analyse sich einstellt. Kaum ein anderes Wort wird so unmotiviert zur Anwendung gebracht. Man hat es ein Schwammwort genannt, weil es alles aufsaugt und alles mit ihm sich ausdrücken läßt. Wenn in der Tat beinahe sämtliche Elemente des Gehaltes vom Stoff aufwärts zur Idee und auf der andern Seite nicht wenige Eigentümlichkeiten der Form als Motive bezeichnet worden sind, so hat zur Verwirrung auch die verschiedenartige Verwendung des Begriffes in anderen Künsten, in Architektur und Ornamentik, in Malerei und Musik, das ihrige beigetragen. Sucht man, wie es Paul Merker unternommen hat, Übereinstimmung mit kunstgeschichtlichem und künstlerischem Gebrauch, so kann sich eine Gleichsetzung von Motiv mit Bild und typischer Situation ergeben. Eine solche wäre etwa das Bild der klagenden Frau, der ein toter Mann im Schoß liegt. Das kann sowohl die Mutter Gottes mit dem Sohn als Sigune mit Schionatulander oder sogar die Matrone von Ephesus bedeuten. Merker möchte als Motiv die allgemeine thematische Vorstellung auffassen, während der Stoff die besondere Anwendungs- und Ausprägungsart darstelle. Aber wenn ein anonymer, nicht personifizierter, nicht lokalisierter, nicht zeitlich fixierter Stoff, dem die Problemstellung fehlt, gesucht wird, so käme nicht einmal eine Fabel zustande. Die körperliche Situation allein, die dagegen den bildenden Künstler zur Studie anregen kann, hat für das literarische Kunstwerk keine Bedeutung, wenn ihr jede seelische Beziehung abgeht. Und diese ist es, die wir als zugehörig zum literarischen Motiv betrachten müssen. Nach der Richtung des Seelischen hin können sich aber wieder Mißverständnisse ergeben, wenn man in Übereinstimmung mit der psychologischen Bedeutung das Motiv als Beweggrund und Antrieb zum Dichten auffaßt (Fr. Th. Vischer, Jean Paul, Jos. Körner, |#f0194 : 170|

Obenauer). In dieser Anwendung gehört der Begriff zur Psychologie des dichterischen Schaffens, während innerhalb der Dichtung das Motiv höchstens für die handelnden Gestalten einen Antrieb bedeuten kann. Eine Reihe weiterer Erklärungen sieht im Motiv ein Bindeglied zwischen Stoff und Idee. Diesen Platz nimmt es auch in unserem Schema ein, nur daß sich der Spielraum einengt; man kann ihn auf die Vermittlung zwischen Erlebnis und Problem einschränken oder auf das Verhältnis, in dem Situation, Fabel und Charaktere zum Problem stehen. Aus jedem dieser Elemente können Motive entspringen, und ebenso können sie aus der Mitte hervorgehen, aus Stimmung und Selbstdarstellung. Es gibt also vielerlei Motive, und trotzdem ist ihre Zahl nicht unbegrenzt. Im Schaffen jedes Dichters kehren gewisse Urmotive wieder, die auf tiefgehende Erlebnisse zurückführen. Gemäß ihrer seelischen Zusammenhänge aber sind sie auf typische Möglichkeiten eingeschränkt. Das hatte schon Dilthey angenommen, indem er die Entwicklung dieser begrenzten Möglichkeiten als Feld der vergleichenden Literaturgeschichte anerkennen wollte. Felix Trojan hat in diesem Sinne für alte Heldenepik und Dramatik organische Motivkomplexe (wie Kampf und Reise für den Unterschied zwischen Ilias und Odyssee) aufgestellt. In moderner Prosa- Epik könnte man ähnliche typische Verkettungen finden, etwa in Olaf Duuns „Juwikingern“ die Wiederkehr von Leichenschmaus und Hochzeitsfeier als Wendepunkten des Lebens und Treffpunkten der bäuerlichen Gemeinschaft. Wenn solche typischen Ereignisse als Motivkörper zu bezeichnen sind, so bedeuten die einzelnen Motive nur Glieder dieser Zusammenhänge. Aber nicht aus der Addition oder Multiplikation der Motive entsteht das Problem, sondern eher aus der Subtraktion, indem eines als Hauptmotiv übrig bleibt und zum besonderen Problemträger wird. Eine viel weitergehende Teilung hat Robert Petsch vorgenommen, indem er wieder vom Stoff als einer Motivzusammensetzung ausging. Er faßte als Beispiel den Stoff der Faustsage ins Auge, in der folgende Motive verknüpft sind: Aufstieg eines strebsamen Jünglings, Pakt eines Menschen mit dem Teufel, Vermählung mit einem Gespenst, Höllenfahrt eines Sünders. Jedes dieser Motive konnte auch in einen anderen Sinnzusammenhang eingegliedert sein, wie die Rolle des Teufelsvertrages bei Simon Magus, Theophilus, Militarius und der Päpstin Johanna zeigt. Jedesmal ist die Motivierung des Teufelsbündnisses eine andere; sie wechselt zwischen Ehrgeiz, Liebe, Armut, Wißbegier. Demgemäß muß die Problemstellung eine verschiedene sein.

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Petschs Stoffanalyse stellt nun sogenannte Kernstücke in den Mittelpunkt, nämlich die eigentlichen Hauptmotive, die zu Problemträgern werden, und scheidet von ihnen die Rahmenstücke, die den zeitlichen Hintergrund und die örtliche Festlegung betreffen. Er fügt noch Füllmotive hinzu, die als sinnliche Einzelheiten zur Verbindung der Kern- und Rahmenstücke dienen; schließlich gelangt er noch zu kleineren Elementen, die als wirklich unteilbare Atome anzusehen sind. Er nennt sie Züge und gibt als Beispiel die bunte Schlange, die sich vom Baum herabwindet. Man sieht, daß Petsch von der Märchenforschung herkommt, die in der Zergliederung und Registrierung der Motive das einzige Ordnungsprinzip für eine unübersehbare internationale Überlieferung finden kann. Die Unterscheidung zwischen Motiv und Zug führt wieder darauf zurück, daß beim Motiv eine seelische Beziehung walten muß entweder von Mensch zu Mensch (oder auch von Tier zu Tier in der anthropomorphisierten Fabel) oder vom Menschen zu den Dingen, zur Natur, zur Landschaft oder auch in entgegengesetzter Richtung als Eindruck der Natur auf die Stimmung des Menschen. Das, was als Zug bezeichnet wird, ist dagegen etwas Vereinzeltes; es kann auch der Zug eines Charakters sein oder eine Leidenschaft wie Haß oder Liebe; aber erst die Auswirkungen von Charakteren in einer bestimmten Richtung der Leidenschaft wie der Haß zwischen Vater und Sohn oder zwischen feindlichen Brüdern und die Liebe zur Stiefmutter oder zum Idealbild einer fernen Traumerscheinung werden dichterische Motive. Der Zug kann auch in der eigenartigen Ausschmückung eines Gegenstandes, eines Dinges, eines Menschen bestehen, und seelische Bedeutung kann er dann gewinnen, wenn er als Symbol verwendet wird, wie es Helmut Rehder an der Bedeutung der Hütte in Goethes Dichtung gezeigt hat. Wir werden aber sehen, daß noch ein weiterer Teilbegriff des Motivs möglich ist, nämlich das poetische Bild. Wenn der aus Scherers Schule stammende Otto Brahm in seinem Buch über die deutschen Ritterdramen des 18. Jahrhunderts charakteristische Motive aufzählte, so machte er keinen Unterschied zwischen technischer Handlungsvermittlung (Betrachtung von Vorgängen hinter der Szene), Schauplatz (Kerker, Herberge), Charakteren (falscher Freund), Nebenpersonen (Kinder, Einsiedler, Pilger), Situationen (Liebe zwischen den Kindern feindlicher Geschlechter, Streit zweier Männer um eine Frau) und dem, was wir wirklich Motiv nennen wollen (Gefährdung eines geliebten Lebens, erdichtete Todesbotschaft, Weiberraub, Entehrung, Gottesgericht, erzwungene Ehe). Auch |#f0196 : 172|

elementare Ereignisse wie Unwetter stellte Brahm unter die Motive und holte aus seinem Zettelkasten elf Belege heraus ohne Berücksichtigung des ganz verschiedenartigen Sinnes. Das Unwetter kann Inhalt einer rhetorischen Metapher sein und nur in dieser Form zur Handlung gehören, wie in „Othello“ V, 2: [Annotation] Nun dächt' ich, müßt' ein groß Verfinstern sein An Sonn' und Mond und die erschreckte Erde Sich auftun vor Entsetzen. [Annotation] Das ist so wenig ein wirkliches Unwetter als Schnock der Schreiner ein wirklicher Löwe ist. [Annotation] Es ist ein Gleichnis für Othellos Seelenzustand.[Annotation] Das Unwetter kann aber auch ein symbolischer Zug sein, wenn es den seelischen Aufruhr zwar nicht verursacht, aber stimmunggebend begleitet wie in „König Lear“ III, 2. Ein Motiv wird es indessen erst, wenn es in das Räderwerk der Handlungsverknüpfung eingreift wie in Schillers „Wilhelm Tell“, wo die Natur des Schweizerlandes mehrfach zum Mitspieler wird. Es kann endlich eine Schicksalsstimme bedeuten wie der „donnernde deus ex machina“ in der „Jungfrau von Orleans“. Das ist dann schon beinahe ein Problem. Vom Motiv kann immer dann die Rede sein, wenn seelische Vorgänge ausgelöst werden, z. B. wenn Werther und Lotte nach dem Unwetter in dem einen Wort „Klopstock“ den Einklang gegenseitigen empfindsamen Verstehens finden. Allerdings ist dies wieder ein sekundäres Motiv, denn es ist ein Stimmungsreflex der Ode „Frühlingsfeier“, in der das Gewitter als Stimme Jehovas das eigentliche Hauptmotiv bildet. Die anscheinend zentrale Stellung des Motivs ergibt sich aus seinen vielfachen Bezügen. Wenn Bilder und Züge keimende Motive sein können, so können die Motive wiederum Probleme in sich tragen und zur Idee hinführen. Wir können also eine Stufenreihe aufstellen, die vom Bild aufwärts führt. Wenn jemand als Esel bezeichnet wird oder gar sich selbst so nennt, wie Sosias in Kleists „Amphitryon“, so ist das bildlich gesprochen und hat nichts mit Motiv zu tun, sofern es nicht als Beleidigung weitere Folgen nach sich zieht. Als ein Zug ist dagegen der von Hermann Reich im antiken Mimus nachgewiesene Mann mit dem Eselskopf aufzufassen; zum Motiv wird dieser Zug, wenn ein Zauberer oder Gott den Menschen aus bestimmten Gründen mit solchem Attribut begabt (König Midas). Zur Motivverkettung kommt es, wenn eine in gleicher Weise bezauberte Frau den Eselsmenschen liebestoll umwirbt (Apulejus „Goldener Esel“), und die Verkettung erfährt eine kraftvolle Steigerung, wenn dieser perversen |#f0197 : 173|

Sinnestäuschung gar die zarte Königin des Elfenreichs erliegt. Damit haben wir noch nicht die ganze Fabel des „Sommernachtstraums“, sondern erst eine Situation. Das Problem, das im Kernmotiv eingeschlossen ist, enthält die Frage nach der Möglichkeit solchen Geschehens. Und die Antwort liegt in der Idee, die alles zusammenhält, nämlich dem berauschenden Liebeszauber der sommerlichen Hochzeitsnacht.

Ein anderes Beispiel: Die Situation zweier Liebenden, die sich als Kinder von Todfeinden finden, ergibt die in Bandellos Stoffgebung überlieferte Fabel für Shakespeares „Romeo und Julia“; der tragische Tod der beiden Liebenden, dem der Scheintod des einen vorausgeht, enthält das gleiche Motiv wie die im „Sommernachtstraum“ ins Komische gezogene Fabel von Pyramus und Thisbe. In Kleists „Familie Schroffenstein“ steigert sich die Motivverkettung der Fabel zu einem neuen Ausgang, indem die verblendeten Väter ihre eigenen Kinder umbringen; dieser entsetzliche Irrtum ist durch das Motiv des Kleidertausches begründet. Die Problemstellung Kleists beruht auf der von ihm erlebten Erschütterung über der Kantschen Philosophie, die ihn zum Zweifel und zur Verzweiflung an der Zuverlässigkeit aller Sinneswahrnehmung, aller Naturerkenntnis und aller Wahrheitsforschung geführt hatte. Die Idee ist in einem symbolischen Zug angedeutet, da allein der blinde Großvater die Leichen erkennt, weil seine Gefühlsgewißheit sicherer zur Wahrheit vordringen kann als alles Vertrauen auf den Augenschein. Gottfried Kellers Meisternovelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ hat die durch eine Zeitungsnachricht angeregte Fabel wieder auf die einfachste Formel gebracht, indem aus der tragischen Verkettung alles, was verhängnisvollen Irrtum bedeutete, entfernt wurde. Das Problem bestand darin, zu erklären, wie die Feindschaft der Eltern zu solcher verbissenen Härte sich auswachsen konnte, daß sie das Glück der Kinder vernichtete; die Entwicklung dieses psychologischen Problems beginnt mit dem fruchtbaren Motiv des umstrittenen Ackerrains; in der Idee führt die Naturkraft zur Überwindung aller Hindernisse, indem sie im Freitod die Liebenden ihre Vereinigung finden läßt. In Anzengrubers Komödie „Doppelselbstmord“ kommt es wiederum durch Hinzufügung eines neuen Steigerungsmotivs zur Umbiegung ins Heitere. Dadurch, daß die Liebenden es bequem finden, für ihren letzten Gruß den Abschiedsbrief eines Selbstmörderpaares aus der Zeitung zu übernehmen, führen sie ihre Angehörigen auf die falsche Fährte des Doppelselbstmordes. Dieses Problem findet nun aber mit |#f0198 : 174|

der glücklichen Vereinigung auf der Alm seine Lösung in der lebensbejahenden Idee des Sieges gesunder Natur über sentimentale Nervenschwäche und sinnlosen Hader. So wenig die allgemeinmenschlichen Ideen und Probleme immer neu sein können, so wenig macht die Erfindung noch nie dagewesener Motive das Wesen des Dichters aus. Die Nutznießung herkömmlicher Motive gereicht nicht zur Unehre, wenn sie innerlich angeeignet sind, wozu eine organische Eingliederung in die Fabel, eine Übereinstimmung mit den Charakteren und eine Unterordnung unter Problem und Idee gehören. Der Monomane Paul Albrecht, der in sechs Bänden „Lessings Plagiate“ sammelte, hat mit seiner Studie über literarische Kleptomanie, für die er die äußerlichsten Motivgleichheiten aus der Weltliteratur zusammenraffte, den Ruhm der Lächerlichkeit erworben. Wenn in „Minna von Barnhelm“ das Motiv der vertauschten Ringe auf Farquhars „Constant-Couple“, das Gasthausmotiv auf Goldonis „Locandiera“, der Charakter der Dame in Trauer auf Diderot, der des Riccaut de la Marlinière auf Regnards „Spieler“ zurückgeführt wird, so ist damit der Eigenart des Stückes, die in der Verknüpfung der Motive mit den Charakteren liegt, nichts genommen. Das Ringmotiv könnte ebensogut mit dem leichten Spiel in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ verglichen werden, und es würde sich zeigen, daß es in Lessings Verwendung als Charakterprobe Tellheims eine ganz neue Bedeutung und eine zentrale Stellung gewonnen hat. Ähnlich fragwürdig wie die überlebte Modellschnüffelei für die Analyse der Charaktere ist Auftreibung von Einflüssen und Parallelenjagd für die Motivanalyse. Übereinstimmungen sind nur bei dem Schriftsteller, der überhaupt nichts als Nachahmer ist, beweiskräftig für unmittelbare Abhängigkeit; bei andern sind sie häufig nichts anderes als Belege für die Richtung eines Zeitstils, dem zwei voneinander unabhängige Dichter mit ihrem inneren Leben, ihren Problemen und ihren Motiven in gleicher Weise unterworfen sind. Als bei dem sogenannten Preisausschreiben des Hamburger Theaterdirektors Fr. Ludw. Schröder im Jahre 1776 drei Stücke eingingen, die dasselbe Thema des Bruderzwists behandelten, war diese Übereinstimmung weder auf Abhängigkeit noch auf Zufall zurückzuführen; die Ursache lag tiefer, denn gerade dieses Thema hing in der Sturm- und Drangzeit, da die Spannungen höchster Leidenschaften und primitiver Uraffekte gesucht wurden, gewissermaßen in der Luft; die Gleichheit der Motive ist eher ein Beweis dafür als dagegen, daß Klinger und Leisewitz, die bei der Preisverteilung in engste Wahl kamen, nichts voneinander gewußt hatten. |#f0199 : 175|

Für die Behauptung von Abhängigkeiten liegt ein unerläßliches methodisches Erfordernis in dem Nachweis, daß der eine Dichter bei der Abfassung seines Werkes das des anderen wirklich gekannt haben kann. Ob es ihm überhaupt zugänglich war, hängt von der Chronologie des Erscheinens ab und von der möglichen Vermittlung. Wenn Tagebücher, Briefe oder Ausleihbücher von Bibliotheken die Kenntnis erweisen, so kann durch solche Zeugnisse der Bezichtigte sogar bei eigener Ableugnung überführt werden. Meist hat der zwingende Eindruck, selbst wenn die Abhängigkeit unbewußt blieb, auf der Disposition einer gewissen Wahlverwandtschaft, die die Aufnahme begünstigte, beruht. Oft aber kommt es nur zu einer Vermutung von großer Wahrscheinlichkeit, z. B. bleibt es bei Heinr. Leop. Wagners „Kindermörderin“ in ihrem Verhältnis zu Goethe unsicher, ob der Faust- Dichter trotz des Schlaftrunkmotivs den Vorwurf des Plagiats zu Recht erhob, denn das Thema der Kindermörderin war in jener philanthropischen Zeit von der Straße aufzulesen, und Wagner konnte sich außerdem auf bestimmte Vorgänge in der Straßburger Garnison berufen, während Goethe, wie Ernst Beutler nachwies, die Hinrichtung der Frankfurter Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt vor Augen hatte. Erich Schmidt hat in der Einleitung zu seiner Ausgabe des „Urfaust“ mit Recht zwecks methodischer Warnung auf einen anderen Fall verwiesen, nämlich auf Daudets „Rois en exile“, die unabhängig von Goethe dasselbe eigenartige Geschenkmotiv benutzten, das in der Erzählung von den „Guten Frauen“ sich findet. In der Lyrik vollends ist aus Gleichheit der Motive niemals auf Entlehnung zu schließen; fremde Einflüsse können in Sprache und Stil, in Wortwahl, Bildern, Rhythmen und metrischen Formen viel eher sichtbar werden als in den Motiven, die immer durch das eigene Erlebnis des Dichters hindurchgegangen sein müssen und mit Notwendigkeit aus ihm hervorgehen. Die Stofflosigkeit der Lyrik gibt der Situation und den Motiven eine erhöhte Bedeutung; ihrer stimmungsmäßigen Verknüpfung fällt die Herstellung des Zusammenhanges zu, der das ausmacht, was in den pragmatischen Dichtungsgattungen die geprägte Fabel bedeutet. Da die reine Lyrik keinen von außen an den Dichter herangetragenen Stoff kennt, darf das, was als lyrisches Motiv bezeichnet werden kann, nicht Element des Stoffes sein, sondern Element des Erlebnisses. In R. M. Werners großem Buche, das alle Lyrik aus dem Erlebnis herleitet, fehlt gleichwohl der Begriff des Motivs. Dafür sind mit positivistischem Schematismus drei Tabellen der lyrischen Unterarten, die mißverständlich als Gattungen bezeichnet werden, ausgefüllt. |#f0200 : 176|

Durch Kreuzung formaler und thematischer Kategorien werden über 500 verschiedene Erscheinungsformen errechnet. Wäre die Zahl der lyrischen Motive auf diese Weise zu registrieren, so würde sie sicherlich geringer sein. Man könnte aber, um sie zu ermitteln, nicht vom Stoff ausgehen, den es in der Lyrik nicht gibt, auch nicht von der Fabel, die erlebnismäßig umgeprägter Stoff ist; auch das Erlebnis, das in den pragmatischen Dichtungsgattungen zwischen Stoff und Fabel steht und dadurch bestimmbar wird, ist hier, wo solche Stützen fehlen, kein geeigneter Ausgangspunkt; es empfiehlt sich deshalb, einmal von der anderen Seite her eine Verbindung zu suchen, also von der Idee aus. Die metaphysischen Ideen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, das Wahre, das Gute, das Schöne, das Rechte, Menschheit, Vaterland, Volk, Natur, Heimat, Leben umschließen Probleme, die durch das Verhältnis des Menschen zu diesen Ideen aufgeworfen werden. Alle Probleme sind Fragestellungen, die eine Entscheidung fordern. Die Motive aber können aus solchen Problemspannungen hervorgegangene Gefühls- und Gedankenerlebnisse sein, die in der Dichtung bildhafte Gestalt gewinnen, namentlich im Parallelismus zwischen Natur und Seelenlage. Fast alle Motive der Lyrik sind in diesem Sinne symbolisch, indem ein bildhafter Naturvorgang dem Seelenvorgang zur Begleitung gegeben wird oder umgekehrt ein geistiges Geschehen sich in der Natur spiegelt. Als motivgebende Naturbilder dienen herkömmlicherweise Jahres- oder Tageszeiten mit dem Wechsel der Vegetation und der Beleuchtung, elementare Ereignisse wie Gewittersturm, Lawine, Erdbeben oder Eisgang; unaufhörliches Strömen wie im Lebenslauf des Flusses vom Quell bis zur Mündung; tiefe Stille, in der nur das Murmeln der Quellen, das Rauschen der Brunnen oder ferne Musik und nächtliche Sphärenklänge vernehmbar werden; rhythmische Bewegung der weiten Landschaft in stromdurchglitzerten Auen, weinbekränzten Hügeln und leuchtenden Wolken; Unendlichkeit in der weit hinaus erglänzenden Fläche des Meeres oder im gestirnten Himmel; bedrängende Enge in schwarzen Wäldern und tiefen Felsenschluchten. Einfache Naturvorgänge wie Morgenröte, Mittagsschwüle, Mondenglanz können hier zu kosmischen Phantasien und mythischer Naturvergottung gesteigert werden, und metaphysische Bildschaffung kann, wie Hermann Pongs an den Beispielen der Blumensymbolik, des Vogelflugs, der Flammen und der brennenden Liebeswunde gezeigt hat, sich zum Motiv auswachsen und schließlich ein ganzes Gedicht erfüllen. |#f0201 : 177|

Nicht immer ist der Parallelismus mit solcher fast epigrammatischen Prägnanz ausgesprochen wie in Goethes „Gesang der Geister über den Wassern“: „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.“ Im „Schicksalslied“ Hyperion-Hölderlins sind zwei Motive in ähnlicher Weise kontrastiert: das im heiligen Harfenspiel der Künstlerin verbildlichte lichtvolle Wandeln seliger Genien und das ruhelose Dasein des Menschen im Gleichnis des von Klippe zu Klippe fallenden Wassersturzes. Wie hier akustische und visuelle Eindrücke, musikalische und dem Auge wahrnehmbare Bewegungen zusammengestellt sind, so verknüpfen sich zwei Motive gegensätzlicher Herkunft in Mörikes „Um Mitternacht“, nämlich das visuelle Bild der gelassen ans Land steigenden Nacht und die Melodie des Schlummerliedes vom heute gewesenen Tage. Was die Quellen singen von ewiger Unrast des Lebens, das bedeutet in Eichendorffs „Sehnsucht“ das Wanderlied der vorbeiziehenden zwei Gesellen, dessen Inhalt in vielerlei Zügen die Stimmung der Sommernacht zusammenfaßt (rauschende Wälder, Marmorbilder, verwilderte Gärten, Paläste im Mondschein, lauschende Mädchen am Fenster, verschlafen rauschende Brunnen); der ganze Bilderkomplex ist als ein einziges Motiv anzusehen, das die Situation des einsam am Fenster Stehenden weiterführt, indem es seine Seele sehnsüchtig bewegt. Zwischen Eichendorff und Mörike sind mancherlei Vergleiche zu ziehen, wenn beide Dichter sich im gleichen Motiv begegnen, z. B. in dem des Gärtners, der zu einer hohen, ihm unerreichbaren Frau in Verehrung aufblickt. [Beginn Spaltensatz]

E ic h e n d o rff. Wohin ich geh' und schaue, In Feld und Wald und Tal, Vom Berg hinab in die Aue: Vielschöne, hohe Fraue, Grüß' ich dich tausendmal. In meinem Garten find' ich Viel Blumen schön und fein, Viel Kränze wohl d'raus wind' ich Und tausend Gedanken bind' ich Und Grüße mit darein. Ihr darf ich keinen reichen, Sie ist zu hoch und schön, Die müssen alle verbleichen, Die Liebe nur ohnegleichen Bleibt ewig im Herzen steh'n. [Spaltenumbruch]

Mö rik e . Auf ihrem Leibrößlein, So weiß wie der Schnee, Die schönste Prinzessin Reit't durch die Allee. Der Weg, den das Rößlein Hintanzet so hold, Der Sand, den ich streute, Er blinket wie Gold. Du rosenfarb's Hütlein, Wohl auf und wohl ab, O wirf eine Feder Verstohlen herab. [Ende Spaltensatz]

|#f0202 : 178| [Beginn Spaltensatz]

Ich schein' wohl froher Dinge Und schaffe auf und ab, Und, ob das Herz zerspringe, Ich grabe hart und singe Und grab' mir bald mein Grab. [Spaltenumbruch]

Und willst du dagegen Eine Blüte von mir, Nimm tausend für eine, Nimm alle dafür! [Ende Spaltensatz]

Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Mörike das Eichendorffsche Lied, das im „Leben eines Taugenichts“ 1826 erschienen ist, kannte; es ist sogar keineswegs unmöglich, daß er dadurch erst veranlaßt wurde, sein eigenes Gegenstück danebenzustellen. Es verliert deshalb nichts von seiner Eigenart. Beide Rollenlieder entsprechen dem Charakter der reinen Lyrik als monologische Darstellungen eines Zustandes, nämlich der demütigen Liebe zu einer hohen Frau. Das lyrische Ich nimmt bei Eichendorff schon in der ersten Zeile das Wort, während es bei Mörike zurückgehalten wird und erst in der zweiten Strophe einsetzt. Mörikes erste Strophe bleibt rein anschauend; es ist eine erzählte Situation. Die schönste Prinzessin hoch zu Roß damit ist schon der ganze Abstand von dem niederen Gärtner, der einstweilen beiseite bleibt, versinnlicht, ohne daß er schmerzhaft empfunden würde. Das zierliche Prinzeßchen auf dem schneeweißen Leibroß ist bei Mörike von Anfang an die Hauptperson. Dagegen bleibt die „vielschöne, hohe Fraue“ Eichendorffs unsichtbar; sie wohnt im Herzen des Gärtners als Gegenstand seiner Sehnsucht, als ein Wunschbild, um das sich der Liebende in unaussprechlichem Leid verzehrt. Kein einziger Zug gibt ihre äußere Erscheinung wieder. In dem Wort „hohe Fraue“ klingt etwas von mittelalterlichem Dienste an, und der Gärtner erscheint fast wie ein verkappter Minnesänger. Er möchte seinen ganzen Garten der Herzenskönigin zu Füßen legen und sie wie ein Gnadenbild katholischen Kultes bekränzen. Dagegen findet der Gärtner Mörikes in dem launischen Einfall Befriedigung, daß er an Stelle einer zu ihm herabgewehten Feder den Hut mit tausend Blüten überschütten dürfte. Diese Feder würde er treu auf dem Herzen tragen etwa wie jener Küchenjunge Leufried bei Jörg Wickram den Goldfaden der Grafentochter, die er schließlich nach allerlei Heldentaten heimführen darf. Solche Entwicklung, von der die Märchenphantasie träumen mag, bleibt bei Mörike nicht ausgeschlossen, obwohl seine eigene Genügsamkeit das holde Bescheiden in der Mitte zwischen den Extremen sucht. Immerhin hat er sechs Jahre vorher schon „Schön Rothraut“ gedichtet mit dem verwandten Motiv des Jägerknaben, der die Königstochter küßt. Mörike betrachtet die Spannung zwischen Liebe und Standesunterschied von unten her, aber ohne |#f0203 : 179|

sozialen Widerspruch, so daß sie kaum bei ihm zum Problem wird. Der Aristokrat Eichendorff dagegen erlebt sie von oben herab, auch wenn er sich in die Seele seines Gärtners versetzt und sogar Todesahnungen anklingen läßt. Hier ist ein Unterschied der Standesanschauung, ja der Weltanschauung nicht zu verkennen. Die Zeitstimmung des Eichendorffschen Liedes ist Romantik, die des Mörikeschen bürgerliches Biedermeier. Die hohe Fraue, die bei Eichendorff stimmführend in den dreifachen Reim eintritt, ist ein Akkord der unerfüllbaren Sehnsucht; dagegen ist Mörikes kapriziöses Prinzeßlein, das vielleicht gar imstande wäre, eine Feder ihres Hutes selbst herabflattern zu lassen, um damit dem kleinen Gärtner den Kopf zu verdrehen, nicht so sehr musikalischer Gefühlseindruck als Gemälde, ein Bild, das man sich von Moritz von Schwind gefertigt denken könnte. Bei Eichendorff ist alles auf Wohllaut eingestellt, und die weiche musikalische Melancholie reicht bis zum Schlußmotiv, das als Parellele zwischen dem Graben des Gartens und des Grabes den sentimentalen Todesgedanken in sich trägt. Es herrscht ein Zwiespalt zwischen scheinbar frohem Gehaben und tiefem Herzeleid Dagegen wird aller Zwiespalt bei Mörike mit urwüchsigem Humor überwunden. Alles ist sinnenfrohe Anschauung und Bewegung in tänzelndem Rhythmus, der auch seine Musik bildet. Aber der Haupteindruck ist doch visuell. Durch die impressionistischen Farbentupfen des schneeweißen Rößleins, der grünen Allee, des goldenen Sandes, des rosenfarbenen Hütleins ist das ganze Gedicht selbst zum Gärtnerwerk eines bunten Blumenstraußes geworden. Die verschiedenartige Vertonung durch Johannes Brahms und Hugo Wolf hat die Gegensätzlichkeit der Wirkung noch verstärkt, so daß niemand mehr bei Anhörung dieser Lieder denken wird, daß ihnen das gleiche Motiv zugrunde liegt. Wir kommen endlich zur Musik. Es ist fraglich, ob die im literarischen Motiv enthaltenen Gefühlserlebnisse in ihrer verschiedenen Ausdrucksweise durch musikalische Begriffe, wie Melodik, Rhythmik, Dynamik erhellt werden können. Wird nun aber das, was die Musiklehre unter Motiv versteht, in die Analyse der Dichtung hineingeworfen, so kann es, wie Karl Voßler an einem drastischen Beispiel gezeigt hat, zu verschleiernder Einnebelung in einen „Dunst von Kunstkennertum und Feinschmeckerei“ auslaufen. Mit Übernahme des musikalischen Motivbegriffes, den Nietzsche als die „einzelne Gebärde des musikalischen Affekts“ erklärt hat, würde zwar die seelische Beziehung festgehalten, auf die es beim dichterischen Motiv ankommt; aber solcher Melodieteil würde in seiner

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Ausdrucksbedeutung eher den Bildern und Gleichnissen der Sprachkunst entsprechen als dem Motiv. Was z. B. bei Heinr. von Kleist als eine der musikalischen Technik entsprechende Motivwiederkehr erkannt worden ist (Stern- und Höhenmotiv, Jagdmotiv), das besteht ausschließlich aus Bildern. Wiederum würde das „Leitmotiv“ der Wagnerschen Musikdramen, das in unterbewußte Tiefen taucht und mit wachgerufenen Erinnerungen, Stimmungen, Ahnungen unausgesprochene Seelenvorgänge vermittelt oder Ausgesprochenes bedeutsam in der Begleitung unterstreicht, eher den symbolhaften Zügen der Dichtung gleichzusetzen sein als ihren Motiven. Die Priorität der Wiederholungstechnik ist für Dichtung und Musik kaum zu entscheiden; das ausgesprochene musikalische Leitmotiv mag sich literarischem Vorgang angeschlossen haben, wie das literarische musikalischen Wirkungen nachgegangen ist. Die stehenden schmückenden Beiwörter Homers, die formelhaften Wiederholungen im Märchen, der Refrain in Ballade und Volkslied, die typischen Redewendungen und Bewegungen komischer Charaktere im Lustspiel und humoristischen Romanen, die Kristallglockentöne in Hoffmanns Märchen vom „Goldenen Topf“ und in Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ zeigen mit der steigenden Annäherung an musikalische Wirkungen ein Anwachsen der symbolischen Bedeutung dieser Züge, die zum Teil in eine andere Wirklichkeitssphäre hineinreichen, als es die der Vordergrundsdarstellung ist. Wenn wir das alles als Leitmotiv bezeichnen, so haben wir es doch nicht zu den Motiven der Dichtung zu rechnen; es bedeutet für die Dichtung etwas anderes; als bewußtes Mittel der Bindung und des Aufbaus reicht es zurück in den Bezirk der Technik; als Stimmungsmittel dagegen haben wir es bei den folgenden Punkten der Analyse wiederzufinden, bei der Frage der Wirklichkeitsdarstellung und der sprachlichen Gestaltung. Insbesondere ist es dem Rhythmus des Ganzen zuzurechnen, der in der Wiederkehr des Gleichen sein Wesen betont. In diesem Sinn hat Theodor Fontane, der von ihm gern Gebrauch machte, das literarische Leitmotiv als den „richtigen Taktaufschlag“ erklärt, der den Leser in den Geist, aus dem das Ganze geschrieben sei, einführe. b) Wirklichkeitsauffassung Das Verhältnis zur Wirklichkeit, auf das die andeutende Symbolik des Leitmotivs hinführt, steht im Zusammenhang mit dem Stil und ist dessen eigentliche Voraussetzung. Stilbezeichnungen wie Naturalismus, Realismus, Symbolismus, Idealismus bezeichnen jedesmal ein |#f0205 : 181|

anderes Verhältnis zur Wirklichkeit, und die dort zum Ausdruck kommende Haltung des Dichters ist in seiner Weltanschauung begründet. Die Analyse der Dichtung läßt das Wirklichkeitsverhältnis im Vorhof der Weltanschauung finden; wir treffen es an in der Verknüpfung der Motive, in der Ursächlichkeit des Handelns und der von außen eindringenden Ereignisse, in der Art der Schicksalsfügung, im Walten des Zufalls, im Eingreifen übernatürlicher Mächte, in der Herrschaft der Naturgesetze. Das Recht und die Geltung des Wunderbaren war ein wesentlicher Streitpunkt der rationalistischen Poetik im 18. Jahrhundert: Gottsched sprach der Dichtung alle Darstellung transzendenter Vorgänge ab und wollte ihr nichts anderes überlassen als die Nachahmung der sichtbaren Welt. Bodmer suchte in seiner Abhandlung „Über das Wunderbare“ nach Gründen für die Verteidigung Miltons und seiner Geisterwelt, ohne sich von dem damals maßgebenden Begriff der Nachahmung trennen zu können. Er fand bei Leibniz die Vorstellung möglicher Welten und konnte danach das Wunder in der Dichtung als Nachahmung einer möglichen Welt rechtfertigen. Damit waren verschiedene Wirklichkeitsschichten der Dichtung anerkannt. Als um die Mitte des Jahrhunderts der Begriff des Schöpfertums sich an die Stelle der Nachahmung setzte, wurde der Dichter sein eigener Weltschöpfer. Es kam nur darauf an, ob die von ihm geschaffene Welt in organischer Weise ihre inneren Gesetze erfüllte; dann brauchte sie nicht mit den herkömmlichen Vorgängen des Alltags übereinzustimmen. Ihre Beglaubigung mußte sie durch die lebendige Kraft der Darstellung erweisen. In diesem Sinne hat Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ am Vergleich der Geistererscheinungen Voltaires und Shakespeares aufgezeigt, daß Shakespeare den Glauben an seine Geister zu erzwingen vermag, was Voltaire nicht glücken kann. Auch bei Shakespeare sind in der Darstellung der übersinnlichen Welt wesentliche Unterschiede zu beobachten, obwohl die theatralische Verkörperung dieselbe bleibt. Es ist etwas anderes, ob die Geister in der Geschichtstragödie als Sendboten aus dem Totenreich oder als Gestalten erregter Träume sich zeigen, ob sie als Halluzinationen eines Fieberkranken durch dessen Phantasie vermittelt werden oder ob sie in Wirklichkeit auf festen Füßen stehen und objektiv sichtbar werden, wie die der Zauberkraft eines Menschen unterworfenen Gestalten des „Sturm“, oder ob sie gar unter sich sind und ihre eigene Welt bilden wie im „Sommernachtstraum“. |#f0206 : 182|

Die deutsche Klassik fand zwischen Aufklärung und Romantik hier noch keinen festen Standpunkt. In Goethes „Iphigenie“ wird die Hadesvision des Orest, die geradezu die Achse des Stückes bildet, nicht sichtbar gemacht, sondern als Traum erzählt; ebenso bleiben die verfolgenden Furien unsichtbar. Schiller vermißte später den sinnlichen Eindruck der Gewissenspeinigung und sagte unter dem Eindruck von Glucks Oper: „Ohne Furien kein Orest“; vorher hatte er die Traumerscheinung Klärchens am Schluß des „Egmont“ als „Salto mortale in eine Opernwelt“ abgelehnt und in seiner Weimarer Bühnenbearbeitung dafür gesorgt, daß der Traum Egmonts nur erzählt wurde. In der „Jungfrau von Orleans“ blieb die Berufung Johannas und ihre Verklärung ohne sichtbare Erscheinung der Himmelskönigin, aber der schwarze Ritter überschritt die Grenzen rationaler Wirklichkeitsdarstellung; bei den Plänen für eine Fortsetzung der „Räuber“ stellte sich Schiller sogar die Frage, ob es zulässig sei, mehrere Geister gleichzeitig auftreten zu lassen und untereinander in Beziehung zu setzen. Die Bühnenverwirklichung hatte, solange nicht die künstlichen Beleuchtungsmöglichkeiten im Wechsel zwischen greller Bestrahlung und verschleiernder Dämpfung verschiedenartige Wirklichkeitseindrücke vermitteln konnten, nur das gleiche Mittel der Verkörperung; die verschiedenen Wirklichkeitssphären mußten bei Tageslicht in derselben Plastik sichtbar werden, und nur die Sprache gab die Möglichkeit der Differenzierung. Das Drama läßt also Unsichtbares auf der Bühne erscheinen mit gleichem Recht, wie es unausgesprochene Gedanken im Monolog hörbar werden läßt. Wie es von der sprachlichen Führung des Monologs abhängig ist, ob er als wirkliches Selbstgespräch, als Ausbruch tiefster Erregung und innerer Zwiespältigkeit glaubhaft wird, so kommt es auch bei der Sinnwirkung der Vision darauf an, daß sie stimmungsmäßig vorbereitet ist durch den Seelenzustand derer, die ihrer teilhaftig werden. Indem Shakespeare das allen sichtbare Auftreten des Geistes im „Hamlet“ von Mitternachtsschauern begleiten ließ, während er das spätere Auftreten im Zimmer der Königin, das nur dem Erregungszustand Hamlets sichtbar wird, durch keine äußeren Stimmungsmittel vorbereitete, hat er durch Suggestionskraft der Sprache und durch technische Spannungserregung eine Bühnenillusion geschaffen, die der heutigen maschinellen Mittel entraten konnte. Ähnlich verfuhr er im „Macbeth“ mit Hexenszenen und Erscheinung von Banquos Geist. Derselbe Unterschied wie zwischen subjektiver und objektiver Geistererscheinung besteht bei Traumspiel und Märchendrama, die |#f0207 : 183|

verschiedene Illusionsgrade in Anspruch nehmen. Das Traumspiel ist in einen Wirklichkeitsrahmen eingefaßt, dessen Gestalten der Zuschauer als einfache Realität hinnimmt; die Traumhandlung aber muß er sich, auch wenn sie auf dem Theater in gleicher Körperlichkeit erscheint, als durch das Medium des Träumenden geschaut vorstellen; die Gestalten sind also doppelte Phantasiegebilde, sowohl des Dichters als des Träumenden. Es stellt sich demnach ein ähnliches Verhältnis mehrfacher Spiegelung her, wie es die eingelegte Ich- Erzählung im Rahmen des Epos, des Romans, der Novelle mit sich bringt. Das Märchendrama dagegen kennt nur Phantasiegestalten des Dichters ohne Vermittlung des Träumenden, losgelöst und verselbständigt in ihrer eigenen Welt, deren Schicksalsbegriff in der Wunscherfüllung besteht. Eine ähnliche Wirklichkeitsschicht nehmen mythische Gestalten in der Welt des Glaubens ein; sie können aber auch zum Gegenstand des Spottes werden, sobald der Glaube geschwunden ist und das Geschehen dem Maßstab der ersten Wirklichkeit überlassen wird. Übergänge von der einen Wirklichkeitsschicht zur anderen sind möglich; in Gerhart Hauptmanns Glashüttenmärchen „Und Pippa tanzt“ verfließt die naturalistisch geschaute Vordergrundshandlung erst allmählich im Durchgang durch das Symbolische zum Märchenhaften. Umgekehrt war Kleists „Käthchen von Heilbronn“ ursprünglich als dramatisches Märchen entworfen und wurde erst nachträglich nach eigenem Urteil des Dichters durch realistische Bühnenrücksichten verdorben. Die theatralische Verwirklichung verschiedenartiger Schichten ist dadurch beschränkt, daß die in jedem Fall notwendige Verkörperung als Projektion in die gleiche Vorstellungswelt und als Übertragung in eine neue einheitliche Bühnensicht erscheint, bei der sich die dichterischen Wirklichkeitszonen verwischen. Dagegen kann die Erzählungskunst viel unmittelbarer die verschiedenen Welten auseinander halten. Im großen Epos gehört das Walten der Götter und ihr Eingreifen in die Geschicke der Menschen zur Vollständigkeit des Weltbildes. Die Götter sind bei Homer schicksalbestimmende Mächte, die aber ihrerseits der Moira unterworfen sind; durch Wohlwollen oder Abneigung gegenüber den Helden, um deren Schicksal es sich handelt, stehen sie untereinander in Widerstreit; sie sind auch durch familiäre Bande mit der Heroenwelt verbunden; eine Schicht der Halbgötter ist zwischen Götter und Menschen gestellt. Wenn sich im Kampf der göttlichen Gewalten das Schicksal fügt, so sind die beiden korrespondierenden Wirklichkeiten des himmlischen und des irdischen |#f0208 : 184|

Kampfes als zwei Stockwerke übereinander geschichtet etwa wie in Kaulbachs Gemälde der Hunnenschlacht das Schlachtfeld und der Geisterkampf in den Lüften; als dritte Wirklichkeitsschicht aber kommt in der Odyssee noch das Totenreich der Unterwelt zur Vorstellung. Im deutschen Heldenepos bleibt dagegen der Blick immer auf die Realität eingestellt; im Nibelungenlied sind es menschliche Leidenschaften und ethische Gebote, die das Schicksal herbeiführen; seine Folgerichtigkeit ist unerbittlich; was kommen muß, das wissen ahnende und warnende Elementargeister schon voraus, ohne daß unter den Schicksalsgewalten gewürfelt wird. Nur in der nordischen Sage und danach in Richard Wagners Tetralogie greift die Götterwelt ein, die aber ihrerseits nicht allmächtig ist, sondern von menschlichen Leidenschaften bewegt einer übergöttlichen Schicksalsfügung sich beugen muß. Der Roman stellt, wie man gesagt hat, die entgötterte Welt dar. Aber auch in ihm kommen verschiedene Wirklichkeitsauffassungen und -schichten zur Erscheinung. Clemens Lugowski hat in seiner Untersuchung über „Wirklichkeit und Dichtung“ den Märchenroman und den Antimärchenroman der Franzosen einander gegenübergestellt. Eine märchenhafte Enträtselung der Wirklichkeit war das Thema der heroischgalanten Romane Frankreichs (La Calprenède) und Deutschlands (Herzog Anton Ulrich von Braunschweig). Die zwei einander gegenüberstehenden Welten werden dort als „die dem eigentlichen Erzähltwerden vorgegebene“ und die, „innerhalb deren von der vorgegebenen Welt erzählt wird“, getrennt, und es wird der Dualismus zwischen der Märchengesinnung und der kausalen Motivierung dessen, was nicht durch sich selbst glaubhaft ist, unterschieden. Für die Motivierung werden im Roman des 17. Jahrhunderts gelegentlich auch Züge in Anspruch genommen, deren Glaubhaftigkeit in Zweifel steht. Wenn in Grimmelshausens „Simplizissimus“ beispielsweise eine Schauplatzverwandlung vor sich geht wie im Theater, indem die Szenerie plötzlich aus der Landschaft des Stiftes Hersfeld nach der Gegend des Erzstiftes Magdeburg verlegt wird, so wird der Behelf des Hexenfluges durch eine Zwischenbemerkung ironisiert, in der der Erzähler geradezu in Märchenton verfällt: „Dann es gilt mir gleich, es mag's einer glauben oder nicht; und wer's nicht glauben will, der mag einen anderen Weg ersinnen.“ Im Gegensatz dazu steht der Antimärchenroman mit seiner Welt der Desillusionierung, und Lugowski will nun zeigen, daß Märchen und Antimärchen zwei verschiedene Seiten derselben Einstellung zur Wirklichkeit darbieten: während der Mensch sich im Märchen den helfenden Gott

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nach seinem Wunschbild formt, läßt er ihn in der Realität des Antimärchens als furchtbaren Moloch walten. Statt „Gott“ würde vielleicht besser Schicksal gesagt, denn Wirklichkeitsvorstellung und Schicksalsbegriff fallen zusammen in den Spielarten von waltender Vorsehung, immanenter Bestimmung, tückischem Zufall, mechanischem Naturgesetz. Lugowski stellt nun der Desillusion des Antimärchenromans, für die er nur französische Beispiele gibt (ein anderer Typus wäre etwa Cervantes' „Don Quixote“), das unmittelbare Verhältnis zur Wirklichkeit in isländischer Saga und germanischem Heldenlied gegenüber. Die nordische Haltung ist in einem Wirklichkeitssinn zu finden, der Mensch und Welt als Einheit sieht und im Ich keinen Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern ihre Erscheinungsform erblickt. Als Beispiel für das Wiederaufleben dieser Wirklichkeitsauffassung wird Heinrich von Kleist genannt, bei dem selbst das Wunder (Marquise von O., Der Zweikampf) und selbst die Götter (Jupiter im „Amphitryon“) ihr eingeordnet sind. Kleists Haltung wird als tiefes, unbewußtes Heimweh nach der ursprünglich eigenen Art des Fühlens und Lebens, nach der Lebensauffassung unserer altgermanischen Vorfahren erklärt; zugleich wird in ihm ein Vorläufer und visionärer Prophet des neuen Wirklichkeitsgefühls erkannt, das in zähem Kampf steht um die „Wiedererringung eines alten, neu erwachenden Urverhältnisses zur Wirklichkeit“. Der Historiker muß fragen, warum diese arteigene Haltung während beinahe eines Jahrtausends verschüttet war, und er kann die Antwort nur in einer tausendjährigen Überfremdung der deutschen Kultur finden. Trotzdem wäre die These wohl durch Zwischenglieder zu unterbauen, und die Brücke könnte ihre Pfeiler finden in Gestalten wie Wolfram von Eschenbach und Luther, vielleicht auch Klopstock und den Romantikern. Die Romantik erneuerte das Märchen deutscher Art im Gegensatz zu den französischen Feenmärchen; schon vorher war mit der Ballade eine nordische Dichtungsart wiederbelebt worden, und hier erscheint das Wirklichkeitsverhältnis eher umgekehrt: in der romanischen Romanze eine sonnenklare Sinnenwelt, in der germanischen Ballade ein düsteres Reich dämonischer Gewalten und Elementargeister voller Naturmagie. Das romantische Kunstmärchen wird man in seinen verschiedenen Spielarten nicht in dem Maße als typisch deutsch auffassen können wie die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, aber das eigenartige Zusammentreffen verschiedener Welten, einer realistischen, einer symbolischen und einer allegorischen, scheint |#f0210 : 186|

für drei nebeneinander bestehende Möglichkeiten der Wirklichkeitsauffassung charakteristisch. In Hoffmanns Märchen vom „Goldenen Topf“ ist die den rohen Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeit ein transparenter Vordergrund, durch den eine andere Welt hindurchschimmert. Der nüchterne Blick des Philisters nimmt die offenliegende Erscheinungswelt als einzige Wirklichkeit dar; hinter ihr liegt ein Zwischenreich geteilten Daseins, das hinter der Vordergrundserscheinung eine tiefere Bedeutung sichtbar werden läßt; so ist der Archivarius Lindhorst eigentlich ein Feuersalamander, und seine Töchter, von denen die eine den Namen Serpentina trägt, sind in ihrem eigentlichen Elemente Schlänglein. Als Ziel der Sehnsucht aber tut sich am Schluß ein drittes Reich auf in dem Märchenland Atlantis, in dem der Student Anselmus mit der erlösten Serpentina in Glück und Seligkeit wohnen wird. Dieses Reich der höchsten Wahrheit, in dem der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur sich verwirklicht, kommt aber nicht als erfüllte Wirklichkeit zur Darstellung, sondern bleibt Gegenstand der Sehnsucht.

Die drei Reiche versinnbildlichen drei Wirklichkeitsbereiche der Dichtung: die sinnlich wahrnehmbare Welt hat ihre eigenen Gesetze und eine Ursächlichkeit, die wir im engeren Sinn als Wirklichkeit schlechthin zu bezeichnen pflegen. Der Erkennbarkeit gesetzmäßigen Geschehens sowohl in der Natur als im menschlichen Handeln entspricht mit der Realpsychologie eine auf unmittelbare Anschaulichkeit zielende Sprache. Im zweiten Bereich gewinnt die sichtbare Wirklichkeit repräsentative Bedeutung für ein Leben, das nicht sichtbar ist. Alles scheinbar Leblose wird beseelt, und die lebendige Seele wird in Tiefen des Ahnungsvermögens, des inneren Schauens und des Glaubens geführt, für den alle Dinge Zeichen eines höheren Daseins sind. Das ist die Bedeutung des Symbols in der Dichtung, daß der einzelne konkret geschaute Gegenstand, der in der ersten Wirklichkeitsstufe absolut Geltung hat, als Relation in die zweite Schicht der Vorstellungswelt eindringt. Er bleibt innerhalb der ersten Wirklichkeitsschicht als stellvertretendes Zeichen und wird zum repräsentierenden Sinnbild, ja zum Spiegel der zweiten Welt erhoben; so wandelt sich seine individuelle Existenz zur allgemeinbedeutenden Sinngebung eines größeren Zusammenhanges. Die Sprache dieser zweiten Welt ist die der poetischen Bilder. Wenn diese zweite Welt ihre Voraussetzung in der ersten hat, der sie Bedeutung verleiht, so wird sie sichtbar nur durch ihre Beziehung zur ersten Welt und erscheint als Hintergrund |#f0211 : 187|

oder oberer Vorgang, der durch die niedere Vordergrundsbegebenheit hindurchleuchtet. Dasselbe Verhältnis, das in der Gegenwart zwischen sinnlicher Wirklichkeit und symbolischer Bedeutung besteht, ist in der Vergangenheit zwischen Geschichte und Mythos zu erkennen. Geschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten werden mythisch durch verallgemeinernde Sinngebung ihres Daseins; der Mythos hat die Transparenz des Symbols. Die dritte Welt, in der sich das Geistige verkörpert, gewinnt dagegen eine eigene Form, die von der sinnlichen Vordergrundswelt losgelöst ist und höchstens die Einkleidung ihr entnommen hat. Das ist die Allegorie, die sich von Symbolik und Mythos darin unterscheidet, daß ihre Gestalten keine Eigenexistenz in der ersten Wirklichkeitsschicht besitzen, sondern gleich aus der zweiten Schicht in die dritte übernommen wurden. Der Allegorie fehlt die dem Symbol innewohnende Doppelbedeutung; sie kann nicht gleichzeitig etwas Konkretes und etwas Gedachtes darstellen, sondern sie ist Konkretisierung eines Gedachten, Verkörperung einer Idee, die wirkliche Körperexistenz nur innerhalb der dritten, fernen Verwirklichungsschicht besitzen kann. Alles Allegorische nimmt Menschengestalt an; kein toter Gegenstand kann dazu gehören; selbst der Gral Wolframs oder der Stein der Weisen, den die Alchimisten suchen, können nur Symbole für kosmische Lebenskräfte bedeuten; dagegen ist die göttliche Sophia als Vorstellung der Mystiker und Theosophen eine Allegorie. Allegorische Gestalten können in der Wirklichkeit der ersten Schicht nicht sichtbar werden; sie können auch in der zweiten Schicht der symbolischen Wirklichkeit kein Leben gewinnen; in der dritten Welt sind sie unter sich und bestimmen den Wirklichkeitsgrad, so daß sie die symbolischen Gestalten sich gleichmachen.

Die Unterschiede sind als entwicklungsgeschichtliche Folge an der Auffassung der griechischen Götterwelt im Epos zu erkennen. Bei Homer gehören die Götter der unmittelbaren Wirklichkeit an; in der Renaissance- und Barockdichtung, z. B. Shakespeares „Venus und Adonis“, stellen sie Symbole dar; in Spittelers „Olympischem Frühling“ müssen sie als Allegorien angesehen werden. Diese Abstufung kann auch in einer einzelnen Dichtung aufeinander folgen, wofür Goethes „Faust“ ein Beispiel ist. In der Urfassung der Dichtung ist der Held ein Einzelner, und demgemäß ist auch der ihm zugesellte Mephistopheles ganz individuell vermenschlicht; in der zweiten Phase der Arbeit, die mit Prolog im Himmel und Paktabschluß |#f0212 : 188|

einsetzt, ist es zwar immer noch der in der Wirklichkeit auf festen Füßen stehende Faust, aber er ist zugleich als eine symbolische Gestalt aufgefaßt, als Repräsentant des ewig unbefriedigten Menschen, und Mephistopheles ist ihm als der ewige Versucher zur Seite gestellt. Wenn aber am Schluß des zweiten Teils die grauen Weiber Mangel, Schuld, Sorge und Not, also allegorische Gestalten, auftreten und wenn die Sorge körperlos durchs Schlüsselloch sich einschleicht, dann zieht sie Faust in ihre Welt hinüber; auch Faust ist gegen den Schluß hin bloßer Geist geworden, eine Abstraktion seiner früheren Existenz, so wie Mephistopheles es ist, wenn er mit den drei gewaltigen Gesellen Raufebold, Habebald, Haltefest sich zusammentut. Der Übergang zur Allegorie setzt sogar schon in der Mummenschanz des ersten Aktes ein; die Lustbarkeit am Kaiserhof ist einesteils als karnevalistische Feier ein Motiv des wirklichen Lebens; als Sinnbild für den mit Erfindung des Papiergeldes einziehenden Reichtum gewinnt die Maskerade zugleich symbolische Bedeutung; wenn aber das Viergespann des Plutus durch die Menge hindurchgetragen wird, ohne sie zu teilen, also als bloßer Schein ohne Körperlichkeit, dann gilt das Wort des Knaben Lenker: „Denn wir sind Allegorien, Und so solltest du uns kennen.“ Nur in der Welt der Allegorien ist es möglich, daß der im ersten Akt auftretende Knabe Lenker und der erst im dritten Akt zur Welt kommende Euphorion eine und dieselbe Person sind, wie der Dichter selbst zu glauben verlangt, ebenso daß zwischen Homunculus und Helena, die beide während der „klassischen Walpurgisnacht“ entstehen sollen, eine Beziehung, zum mindesten die des Parallelismus, waltet. Allegorie bleibt nun auch die Vermählung Fausts mit Helena, die zuerst als Zwischenspiel einer klassisch-romantischen Phantasmagorie, also als unwirkliche Handlung, eingelegt werden sollte. Später betonte Goethe ausdrücklich, daß Helena nicht als Zwischenspielerin, sondern als Heroine auftreten, als die eigentliche, wahre Helena auf antik-tragischem Kothurn, d. h. als Gestalt der Dichtung. Sie zieht, indem sie sich ihm vermählt, Faust in ihre Welt hinüber. Das arkadische Glück, das Faust mit ihr genießt, fällt deshalb nicht in die durch den Pakt eingeschlossene Lebenswirklichkeit. Sonst würde das verweilende Genießen deren Ende bedeuten, gleichviel ob die Worte „Verweile doch, du bist so schön“ gesprochen werden oder nicht. Wenn die Wette hier noch nicht verloren ist, so läßt sich der scheinbare Widerspruch zum Pakt nur auf die Weise aufheben, |#f0213 : 189|

daß eine andere Wirklichkeitsschicht angenommen wird, „eine freiere Kunst-Region“, wie Goethe gesagt hat. In ihr genießt Faust Helena, so wie ein Dichter mit seinen Geschöpfen lebt und Leben zeugt. Jeder Dichter kann der Idee der Helena Gestalt und neues Leben geben, so daß sie für ihn volle Wahrheit ist und in seiner eigenen Gestaltgebung sich verwirklicht. Faust, der im Sinn der Lebenstotalität auch durch die Sphäre der ästhetischen Welt seinen Durchgang nehmen mußte, ist in der Bindung mit Helena zum Dichter geworden. Sie ist ideelle Wahrheit, aber im Gesamtorganismus der Weltdichtung bedeutet diese ästhetische Sphäre eine Welt für sich; sie besitzt Wahrheit, aber es ist die Wahrheit der Allegorie. Ganz am Ende tritt der hundertjährige, geblendete Faust wieder in die symbolische Körperhaftigkeit zurück, und nun erfüllt sich die Wette, die im symbolischen Sinne verloren ist, im allegorischen aber als gewonnen gelten darf. Wenn hier das Verstehen der Dichtung eine Analyse ihrer Wirklichkeitsschichten notwendig macht, so werden wir fragen, ob denn auch im unmittelbaren lyrischen Gedicht solche Trennung verschiedener Realitätsstufen zu beachten ist. Die Verhältnisse liegen anders, da es sich weder um objektive Charakterdarstellung und Seelenanalyse noch um objektivierte Schauplätze und Begebenheiten handelt wie im Drama und Epos. Da der Schauplatz die Seele des Dichters ist, kommt es weniger darauf an, wie weit alle außerhalb des lyrischen Ich sich abspielenden Vorgänge der sichtbaren Welt angehören, als vielmehr auf den Grad innerer Wirklichkeit, auf den unmittelbaren Erlebnisgehalt und die Intensität der Gefühlsbeziehung. Wenn der Dichter die Erscheinung eines Geistes wirklich zu erleben glaubte, so erhält dies Gebilde auch in seiner Darstellung Wirklichkeit. In die erste Wirklichkeitsschicht gehört bei der Lyrik alles Persönliche, das als unmittelbares „Du“ in enger Fühlung, im Gegenüber, Auge in Auge angesprochen wird, also alles, was die Form der Widmung und Huldigung, des Liebesliedes, des trauernden Nachrufs in Anspruch nimmt. Ja, man kann sogar Hymnus und Gebet dazurechnen, wenn die Gegenwart des innerlich geschauten, persönlichen Gottes oder seines Bildes lebendig wird. In die zweite symbolisch-bildhafte und mythische Wirklichkeitsschicht gehört alle Naturdichtung, deren Einfühlung über bloße Beschreibung hinwegkommt, indem einem schlichten Vorgang tiefere Bedeutung beigemessen wird (z. B. Goethes „Gefunden“, das in eine Trilogie mit „Heideröslein“ und „Veilchen“ tritt) oder in und hinter den Erscheinungen ein höheres Leben von inneren Kräften, Weltseele |#f0214 : 190|

und göttlichem Walten erkannt wird (Klopstocks „Frühlingsfeier“) oder indem ein Mythus der zur Vereinigung mit dem All aufsteigenden Sehnsucht des Dichters das Bild gibt (Goethes „Ganymed“). Seitdem von einer bloß beschreibenden zu einer beseelenden Naturdichtung zurückgefunden worden ist, hat das „Naturgefühl“ fast jedes einzelnen Dichters zu Untersuchungen seiner Wesensart die Handhabe gegeben. In die dritte, allegorische Wirklichkeitsschicht gehört jedes visionäre Fernbild und jede Zwiesprache mit einem gedachten Wesen aus verkörperter Ideenwelt. Die meiste Gedankenlyrik ist, wenn sie sich nicht auf einfache Sinnsprüche aus der Erfahrung beschränkt oder Natureindrücke symbolisch ausdeutet, dieser dritten Schicht zuzuzählen. Schillers „Spaziergang“ wird zum Sinnbild eines Ganges durch die menschliche Kultur und gehört deshalb auf die symbolische Stufe; auf der allegorischen dagegen steht „Das Ideal und das Leben“. Hölderlins Hymnen an die Ideale der Menschheit schließen sich an; doch wollen sie, wie Paul Böckmann in seinem vortrefflichen Buch „Hölderlin und seine Götter“ gezeigt hat, von der Schillerschen Tatwirklichkeit zu einer Seinswirklichkeit übergehen; das gelingt erst in den späteren Hymnen, in denen nicht mehr abstrakte Ideale zu besingen sind, sondern die Götter als innere Wirklichkeiten gerufen und gefeiert werden. Auch in Rilkes Spätdichtung schichten sich drei Wirklichkeitsbereiche: der erste ist das Hiesige und Sichtbare, in dem die Dinge, die Lebenden, die scheinbar Seiendsten, zu Hause sind; der zweite ist das unsichtbare Reich des anderen Bezugs, das Leidland der Toten, das zugleich Weltinnenraum, Herzraum und wahres Dasein darstellt; jenseits des Todes aber liegt der Doppelbereich des Ganzen, das weder Diesseits noch Jenseits ist, aber vor Gott führt. Orpheus in den „Sonetten“ gehört zugleich zu den Hiesigen und Jenseitigen; die Gestalt des Engels hat an allen drei Reichen Anteil: sie erschien früher als belebtes Ding, das die Form eines plastischen Kunstwerkes hat (Engel von Chartres), in den „Duineser Elegien“ ist sie ein übergeordnetes Wesen, das kaum unterscheidet, ob es unter Lebenden geht oder Toten; drittens aber ist der Engel ein Mittler zu Gott und erscheint als letzte Wirklichkeit. Immer stellt er für den Dichter ein Gegenüber dar. Bei Stefan George dagegen im Vorspiel zum „Teppich des Lebens“ ist der Engel, der als Genius des Dichters das Lebensgesetz offenbart, ein aus ihm hervorgegangenes erhöhtes Selbst, und man kann im Zweifel sein, ob diese geistige Existenz als Symbol oder Allegorie zu gelten hat. |#f0215 : 191|

c) Sprachform Der äußerlich sichtbare Unterschied der Zeilenbildung hat, wie wir sehen, keine Bedeutung für die Trennung von Poesie und Nicht-Poesie; wohl aber ist er eine Überleitung zwischen den Wirklichkeitsschichten der Darstellung. Jedes stärkere Rhythmisieren der Sprache hebt bereits über die einfachen Alltagsvorstellungen hinaus und erhöht die Wirklichkeit. Schiller erfuhr dies beispielsweise, als er während der Arbeit am „Wallenstein“ den Übergang vollzog, der zugleich eine Wandlung zum idealistischen Stil bedeutete. Der Naturalismus kennt nur Prosa und sucht sogar in der Lyrik mit reimlos freier Rhythmisierung auszukommen (Arno Holz). Dieser Naturalismus ist nicht erst eine Mißgeburt des 19. Jahrhunderts. Schon der Zittauer Schulrektor Christian Weise, der seine theaterspielenden Schüler die Sprache des Lebens lehren wollte, erklärte: „Ich finde keinen casum im Leben, daß die Menschen in Versen reden“, und Gottsched verbot die gereimte Komödie, während er den Tragödienvers gewissermaßen als Ersatz für eine dem Zuschauer unverständlich bleibende Sprache des biblischen oder griechischen Altertums zuließ. Bei Shakespeare hat die Mischung von Vers und Prosa ihren tieferen Sinn, weil sie niedere und höhere Wirklichkeit scheidet. Deshalb mußte auch Wielands Prosa-Übersetzung, die den Naturalismus der Sturm- und Drang- Sprache nach sich zog, in einem Stück eine Ausnahme machen, in den Elfenszenen des „Sommernachtstraums“. Ebenso verfuhr Bürgers „Macbeth“-Übersetzung bei den Hexengesängen. Der Vers eröffnet den Zugang in eine höhere Welt. „Hanneles Himmelfahrt“ von Gerhart Hauptmann mag anfangs in der vulgären Sprache des Armenhauses schwelgen, aber als der Fiebertraum des sterbenden Kindes sich von den irdischen Angstzuständen zur himmlischen Verklärung erhebt, kann nur der Aufschwung der Sprache dieser Vorstellung innere Wirklichkeit verleihen. Auch die Beziehungen zwischen Vers und Gattung sind nicht willkürlich: Der breite Hexameter ist mit seinem langen Atem zum epischen Versmaß geschaffen, ja, man konnte geradezu sagen, daß der Hexameter am großen Epos mitgearbeitet habe. Wenn dagegen Kotzebue in seiner „Octavia“ dem dramatischen Monolog durch diese Sprachform römisches Kolorit geben wollte, so konnte er bloß einen lächerlichen Eindruck erzielen; ebenso ist der Gebrauch epischer Prunkstrophen in Tiecks „Kaiser Oktavian“ von undramatischer Wirkung. Der Alexandriner wiederum hat sich in der schwebenden Musikalität der französischen Sprache als dramatischer Vers bewährt; |#f0216 : 192|

durch die akzentuierende deutsche Vortragsweise wird er dagegen in klappernde Monotonie umgestimmt, und nur in der Epigrammatik des 17. Jahrhunderts ist seine zweischenklige Natur, die auch Schiller als Lockung zur Antithese empfand, schlagkräftig am Platze gewesen. Ebenso konnte der „alberne Fall und Klang“ zu treffender Charakteristik überlebter Gespreiztheit mit parodistischer Wirkung verwendet werden im Zwischenspiel von Goethes „Jahrmarktsfest von Plundersweilern“ und bei der Erzämterverleihung im zweiten Teil des „Faust“. Einer repräsentativen Würde dient der majestätische Gang des Trimeters, dieser „ernsten, langgeschwänzten Verse des erhabenen Kothurnstils“, die eine gewisse seelische Ruhelage herstellen. So ist es in der Montgomery-Szene von Schillers „Jungfrau von Orleans“ und im Helena-Akt des „Faust“, der seinen Vorklang in der Erichtho- Szene der klassischen Walpurgisnacht, seinen Nachklang im Eingangsmonolog des vierten Aktes findet. Die freie Zäsur gab dem aus England eingeführten Blankvers, der den Alexandriner in Deutschland verdrängt hat, den Vorzug. Aber erst im Antagonismus zwischen Vers und Satz, im Hinüberfluten langatmiger Perioden über alle Einschnitte, im jähen Abreißen vor dem Schluß des Verses und im schlagkräftigen Einsetzen innerhalb der Zeile wird die tempogebende Ausdruckskraft des Dramenverses entwickelt. Das Enjambement, das man als Verssprung (Heusler), Brechung (Saran) oder Verskoppel (Oppert) verdeutscht hat, ist der Pulsschlag der dramatischen Sprache. Bleibt es dagegen beim harmonisch gerundeten Gleichmaß von Syntax und metrischer Gliederung, wie vorzugsweise in Goethes „Iphigenie“, oder findet streitende Übersteigerung von Gegensätzen in der Stichomythie ihren Ausdruck, wie sie Schiller der antiken Tragödie nachbildete, so stellt sich auch beim Quinar sentenzenhafte Wirkung ein. Eine Gefahr der Monotonie bringt auch der gereimte viertaktige Trochäus mit sich, der für wuchtige Leidenschaftsentladung zu kurzatmig ist; der gelähmte Fatalismus des Schicksalsdramas wie die leichte Fügung der Verskomödie finden in solchem klangreichen Spiel, das sonst der Romanze eignet, ihre angepaßte Ausdrucksform. Daneben wird vom Madrigalvers mit seiner Freiheit in Taktzahl und Reimstellung wie vom Knittelvers mit seiner rhythmischen Mannigfaltigkeit das geeignete Versmaß für heiteres Spiel und leichte Erzählung hergegeben. Alle diese Formen sind in der gewaltigen Polyphonie von Goethes „Faust“ mit wohlberechnetem Wechsel verwendet. Wo solcher Reichtum |#f0217 : 193|

waltet, findet analytische Untersuchung die schönste Gelegenheit, den sinnvollen Zusammenhang von Gehalt und Gestalt im Kleinsten zu beobachten, die gestaltsymbolische Bedeutung der Sprachform zu ergründen und zu zeigen, wie Kurt May es mit feinfühliger Interpretation für den zweiten Teil geleistet hat, daß in den Bereichen der Sprachform sich verschiedenartige Welten und Wirklichkeiten charakterisieren. Die sprachliche Darstellungsform des großen Epos kennt dagegen nur eine Weltschau von sich gleichbleibender Ruhe. Ihr entspricht das Festhalten eines einheitlichen Metrums, sei es des rhythmisch bewegten Hexameters, sei es der dynamisch wogenden Stabreimlangzeile, sei es der mittelalterlichen Reimpaare oder der ins Unendliche sich schlingenden Terzinen, sei es umfangreicher Strophengebilde wie der Stanze und der Nibelungenstrophe. Jede dieser Sprachformen gibt dem Vortrag ein anderes Maß und Kolorit und stellt das Ganze unter andere rhythmische Gesetze und Ausdrucksmöglichkeiten. Es wäre indessen undenkbar, daß der eine Gesang eines großen Epos in Hexametern abgefaßt wäre, der andere in Stanzen, und dazwischen läge womöglich noch ein Prosakapitel. Schon in Lenaus „Faust“ und „Savonarola“ bedeutet der Wechsel der Versmaße eine Preisgabe der rein epischen Haltung und eine Hinwendung zum Dramatischen oder Lyrischen. Die ausgeprägten Formgebilde der Lyrik sind in höherem Maße stimmungsträchtig, so daß geradezu von einem Ethos der Strophenarten zu sprechen ist. Haben die sapphischen und archilochischen Strophen einen feierlichen, manchmal klagenden Charakter, die alkäischen und asklepiadeischen dagegen den des freudigen Aufschwungs, so ist das Sonett, das Christian Morgenstern dem Schachspiel verglichen hat, der Ausdruck gebändigter Leidenschaft, das Triolett gefälliges Spiel, das Ghasel die kunstvolle Arbeit eines Knüpfteppichs. Von allen lyrischen Formen gilt, daß das verstandesmäßig und gedanklich Disponierte den Ausgleich in künstlichen Gebilden sucht, zu denen auch eine schwere Wortstellung gehört, während der unmittelbarste Gefühlsausdruck sich mit schlichtester Sprache und einfachster Strophenform, wie im Volkslied, begnügen kann. Bei Analyse der Sprachform kommt es weniger auf das an, was sich sichtbar machen läßt und mit Abzählung der Silben und Takte, der Längen und Hebungen, mit der Gliederung der Strophe, mit Zäsur und Reimstellung zu erfassen ist, als auf den hörbaren Eindruck, der zum Gefühl spricht. Von dem Gitter der Stickerei hängt die Wirkung |#f0218 : 194|

nicht ab, sondern von den Farbentönen der Ausfüllung. Die Qualität der Reime, das Verhältnis der Laute im Innern des Verses, sei es durch Gleichklang der Assonanz oder Alliteration, sei es durch Abstimmung und Steigerung, bringen im Ansteigen oder Absinken der Tonhöhe eine Melodie hervor, die nun wieder getragen wird durch die dynamischen Abstufungen der Tonstärke, durch den ansteigenden oder abschwellenden Rhythmus, der in unaufhörlichem Fluß die Wiederkehr gleichmäßiger Erscheinungen bringt. Im Einklang mit dem Sinn- und Gefühlsgehalt der Wörter und Sätze ergibt sich ein ineinandergehendes Spiel und Widerspiel von Tonhöhe, Tonstärke und Tondauer, das als Ornamentik verschieden verlaufender, bald zusammentreffender, bald sich ausweichender metrischer, rhythmischer und melodischer Kurven schwer auf eine rational faßbare Linie zu bringen ist. Wenn auch durch die Becking-Kurven eine Typologie der Taktgebung ermittelt ist, die einen Teil der persönlichen Ausdrucksart festlegt, so sind die anderen Ausdruckselemente noch keineswegs mit gleicher Sicherheit charakterologisch erkannt. Wenn es zwischen Vers und Prosa die mannigfaltigsten Zwischenformen gibt wie die Reimprosa des Mittelalters, den vers libre der Franzosen, die rhythmische Prosa und die freien Rhythmen, so ist der Rhythmus das eigentlich Formgebende. Die freien Rhythmen, mit denen Klopstock in Hymnen geistlichen Aufschwunges die Sprache der hebräischen Psalmen, die im Parallelismus ihre Bindung haben, nachzubilden glaubte, bedeuten eigentlich eine Wiederentdeckung der Gesetze des germanischen Verses, für den die dynamische Akzentuierung in freier Taktfüllung ohne Silbenzählung das durch den Stabreim herausgehobene stärkste Ausdrucksmittel ist. Freier Rhythmus ist Rhythmus schlechthin, ein Hinströmen in unregelmäßigem Wechsel von Hebung und Senkung, das in der Wiederkehr gleicher Erscheinungen seine Gliederung findet. Rhythmus ist erhöhter Pulsschlag und damit der eigentliche Ausdruck der Seelenregung. Auch die Prosa hat ihren Rhythmus. Je mehr ihre Wortstellung von der Umgangssprache abweicht, um starke Ausdrucksworte hervorzuheben; je gehobener sie verläuft, desto rhythmischer wirkt sie; je rhythmischer ihre Ordnung ist, desto stärker ist ihre seelische Ausdruckskraft. Während die antike Rhetorik bestimmte Regeln für die Gliederung der Sätze (Numerus) und für den Rhythmus des Satzschlusses (Klausel) aufstellte, deren Weiterwirken Eduard Norden bis in die Renaissance verfolgt hat, ist die neuere Prosa nicht mehr rhetorisch normiert. Dagegen fühlt man heute, daß jeder Schriftsteller seinen eigenen Rhythmus besitzt, der da am stärksten zum

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Ausdruck kommt, wo die persönlichsten Gedanken und Leidenschaften in Worte gebracht sind. Die Ermittlung des persönlichen Rhythmus ist Gegenstand vieler psychologischer Untersuchungen gewesen, die sich zum Teil mit einfacher Abzählung von Hebungen und Senkungen und mit der Statistik der dabei beobachteten Erscheinungen begnügten. Über dieses mechanische Verfahren, das in subjektiver Vortragsweise keine ganz gesicherte Grundlage findet und in der bloßen Statistik zu keiner Verlebendigung zu gelangen vermag, sind neuere Versuche, unter denen Dietrich Seckels Untersuchung über Hölderlins Rhythmus hervorgehoben werden muß, in der Zielsetzung hinausgekommen. Ein noch unaufgehelltes Problem liegt im Zusammenhang zwischen dem Rhythmus des einzelnen Satzes und dem der ganzen Persönlichkeit, der auch in den größeren Aufbauformen des Kunstwerkes seinen Ausdruck findet. Was dem einzelnen Satz rhythmisches Gepräge gibt, setzt sich fort in der Bindung von Perioden, in dem Aufbau von Strophen, Kapiteln und Akten und in der harmonischen Gliederung des Ganzen, die dem Ausdruck einer Idee sich anpaßt. Im Hinblick auf diese Erscheinungen gehört der Rhythmus als Element unwillkürlicher Formgebung bereits zum Gegenstand der Stilbeobachtung.

7. D e r S t i l a) Begriffliche Grundlagen der Stilforschung Der Stil ist die zugänglichste Schauseite des Werkes, die durch viele kleine Fenster von außen her Einblick verrät in das Innere. Das weiteste Feld literarischer Untersuchung liegt in der Stilanalyse; sie ist die Analyse schlechthin oder die Analyse in zweiter Potenz, weil das, was ein analysierbares Element des ganzen Werkes bildet, nun wieder in einzelne Atome zerlegt wird, die in ihrem Verhältnis zueinander ein Ganzes ausmachen. Deshalb bedarf Begriffliches, Geschichtliches und Methodisches in diesem Abschnitt sorgfältiger Klärung und eines weiteren Ausholens. Wir widmen dem Stil einen eigenen Abschnitt und trennen ihn vorerst von den anderen beiden Elementen der sechsten Stufe, der weltanschaulichen Haltung und den Problemen. Auch müssen wir, um die Methoden der Stilforschung in größerem Umfange zu besprechen, von der durchgehenden Beschränkung auf die Analyse des Einzelwerkes absehen. Von der Technik als bewußter Formgebung, die durch überlegte Wirkungsberechnung geleitet wird, unterscheidet sich der Stil als unwillkürliche |#f0220 : 196|

Formgebung. Innerer Zwang und immanente Gesetze des Schaffens führen im wahren Kunstwerk zur notwendigen Übereinstimmung von Idee und Gestalt. Stil kann daher als die fast automatische Gestaltung unter der Herrschaft der Idee aufgefaßt werden. Es kann nicht ganz zutreffen, wenn Nadler die Sprache als das Unwillkürliche, den Stil als das Willkürliche bezeichnet; eher könnte man beim Künstler umgekehrt die Sprache das Gewollte, den Stil das Gemußte nennen. Sobald Bewußtheit eintritt, läuft der Stil Gefahr, zur Manier zu werden: er ist dann entweder Nachahmung fremden Stiles oder überlegte, mit Willen gesteigerte Handhabung wiederholt erprobter eigener Stilmittel. In diesem Sinne sah schon Kants „Kritik der Urteilskraft“ das Manierierte eines Kunstprodukts in der Sonderbarkeit eines nicht der Idee angemessenen Vortrags, der prangt und affektiert, um sich nur vom Gemeinen zu unterscheiden.

Kommt die Abhängigkeit von fremder Eigenart zu Bewußtsein, so kann sie sogar im Gefühl des Überdrusses zur Selbstbefreiung der Parodie umschlagen. Dieser Vorgang vollzog sich bei Hauffs „Mann im Mond“, der zunächst eine unbewußte Nachahmung Claurens bedeutete, bis er mit dem Bewußtsein der Abhängigkeit und erwachender Kritik sich zur karikierenden Verspottung des überwundenen Vorbildes steigerte. Ebenso muß spielerische Übung in einem entlegenen Zeitstil, wie bei der Maskerade des „Schäfers Dafnis“ von Arno Holz, mehr oder minder willkürliche Parodie werden. Ist die eigene Manier eine Überleitung des ungewollten, gemußten Stiles in handwerksmäßiges Wollen, so wird sie zur bewußten Sprachtechnik. Was Stil genannt werden darf, ist dagegen unbewußte Technik, also eingeborene Gestaltungsgabe und ausgebildeter Formsinn, der aus Temperament, Stimmung, Eingebung, Natur und Geschmacksentwicklung des Gestalters hervorgeht. Der Begriff des Stiles, der an die ursprüngliche Wortbedeutung des Schreibgriffels (griech. stlow) anzuknüpfen ist, war zunächst auf das Schrifttum beschränkt. Die Stilistik wurde ein als lehrbar aufgefaßtes System aller kunstmäßig angewandten Sprachformen und grammatisch-rhetorischen Figuren. Nachdem seit Buffon in der individuellen Schreibart die Ausprägung des Charakters beobachtet werden konnte (Le style est l'homme même), hat die Graphologie als Mittel der Charaktererkenntnis wieder eine Verbindung mit der ursprünglichen Bedeutung hergestellt, aber in dem Sinne, daß der einzelne Mensch mit allen seinen Lebensäußerungen eine Einheit bildet, so daß zwischen seiner Handschrift, seiner Schreibweise, seiner |#f0221 : 197|

Physiognomie, seinen Ausdrucksbewegungen, seinem Charakter und seinen Handlungen unlösbare Übereinstimmung herrscht. Von einem Werk der Natur, einem Berg, einem Baum, einer Blume wird man, so schön die Form ist, nicht sagen, daß es Stil habe, weil beim Naturschönen die organische Geschlossenheit als etwas Selbstverständliches empfunden wird. Berg, Baum, Blume werden stilisiert, sobald sie zu künstlerischer Gestalt gelangen. Beim Kunstschönen ist der Stilbegriff erfüllt, wenn es etwas Naturhaftes in seiner Einheitlichkeit darstellt. Zum Stil gehört jene Freiheit der Erscheinung, in der Schiller die Formel der Schönheit zu finden glaubte. Man kann Stil das relative Schönheitsideal jedes Zeitalters nennen. Überall da ist die Bezeichnung Stil anzuwenden, wo eine Einheit in der Vielheit erkennbar ist und in allen Gliedern eines Ganzen ein sich gleichbleibendes Formgepräge in Erscheinung tritt. So konnte auch ein Maler wie Anselm Feuerbach den Begriff des Stils als „Das richtige Weglassen des Unwesentlichen“ erfassen. Längst ist der ursprünglich auf die Schreibweise beschränkte Stilbegriff auch auf die anderen Künste übergegangen. Bei ihnen ist die Einheit der Ausdrucksformen als unmittelbarer Sinneseindruck sogar schneller zu erfassen als in der Dichtung; diese greifbare Einheit kann deshalb deutlicher als Ausdruck einer Weltanschauung betrachtet werden. Das gilt von Malerei und Musik, vor allem aber von der Architektur, die jederzeit das führende und ausgesprochenste Kennzeichen des Stilwillens einer Kultur gewesen ist. Nicht nur in Tempeln und Kirchen, sondern auch in Profanbauten erstehen Symbole, die der Weltanschauungsrichtung eines Zeitalters natürlichen oder krampfhaften Ausdruck geben, und im Stil eines Zeitalters spiegelt sich seine Glaubens-, Gefühls- und Vorstellungsgemeinschaft. Wo sie nicht vorhanden ist, kann kein echter Stil gedeihen, denn auch der Einzelne tritt in seiner Ausdruckseigenart aus der Gemeinschaft hervor; er wächst aus Volk und Zeit heraus. Für die bildende Kunst wurde seit Winckelmann der Stilbegriff nicht mehr als individueller Persönlichkeitsausdruck angesehen, sondern als zeitliche und nationale Bedingtheit größerer Einheiten. Der kunstgeschichtliche Stilbegriff führte weiter zum soziologischen und geistesgeschichtlichen, indem der Stil zunächst auf den Nationalcharakter und dieser wieder auf Klima, Landschaft, Lebensweise zurückgeführt wurde. Es ergaben sich Gleichungen von griechischer Dichtung, griechischer Kunst, Musik, Philosophie, Religion, Politik. In den Ausdrucksformen desselben Menschentypus schied man einen dorischen, einen ionischen, einen korinthischen Stil nach den Formen |#f0222 : 198|

der Säule und des Kapitäls und gelangte im Hinblick auf landschaftliche und zeitliche Unterschiede zur Abstraktion eines dorischen, ionischen, attischen, alexandrinischen Menschen, von denen jeder auf seiner Entwicklungsstufe als Repräsentant einer bestimmten Stilperiode gelten durfte. Mit der weiteren Abstraktion eines romanischen, gotischen, Renaissance-, Barock- und Rokokomenschen, eines Klassikertypus und eines Romantikers kamen wieder literarische Anwendungen zum Übergewicht, weil von der Literatur aus weit mehr Material zur psychologischen Erschließung solchen Menschentums dargeboten werden konnte als von den anderen Künsten. Bei der geistesgeschichtlichen Gliederung nach gleichlaufenden Zeitströmungen erwies sich indessen der Mensch eines Zeitalters als national verschieden; nicht nur die Literaturen, sondern auch die anderen Künste führten zu gleicher Zeit verschiedene Sprachen; die deutsche Renaissance erscheint als verkappte Gotik oder als vorgefühlter Barock; die deutsche Klassik gilt den anderen Völkern als Romantik; die französische oder italienische Romantik mutet uns als entstellter Klassizismus an. In dieser Perspektive treten Gotisch und Romantisch als vorzugsweise germanische Ausdrucksformen zusammen, während Renaissance und Klassizismus ihrem Ursprung und ihrer Haltung gemäß als etwas dem Germanischen Entgegengesetztes erscheinen. Man konnte sogar soweit gehen, die Renaissance als die italienische Romantik, die Romantik als die deutsche Renaissance zu bezeichnen. Die Teilung in die drei großen Kategorien Personalstil, Epochalstil, Nationalstil erschöpft noch keineswegs alle Möglichkeiten. Wenn nach Schopenhauer der Stil als Physiognomie des Geistes zu betrachten ist, so können damit noch manche andere Erscheinungsformen des objektiven Geistes gemeint sein, die sich zu großen überindividuellen Ausdruckseinheiten zusammenschließen, wie Landschaft, Generation, Gesellschaft, Volk, Zeitalter, Rasse. Überall da, wo von einem Menschentypus zu sprechen ist, der eine in Raum oder Zeit zusammengeschlossene Gemeinschaft repräsentiert, erscheint als äußere Ausprägung dieser geistigen, seclischen, gesinnungsmäßigen und weltanschaulichen Einheit der Stil. Die genannten Einheiten sind Hypostasen des Stils, und man kann von Volks- und Zeitgeist, von Stammes- und Rassenseele nur insoweit sprechen, als sie in Nationalstil, Zeitstil, Stammesstil und Rassenstil, wie in Nationaltypus, Zeittypus, Stammestypus und Rassentypus zum äußeren Ausdruck kommen. Man hat auch Gattung und Material als Bedingungen des Stils ansehen |#f0223 : 199|

wollen, aber dabei fehlt der Mittelpunkt geistiger und seelischer Einheit; beim sogenannten Gattungsstil der Dichtung wie beim Materialstil der bildenden Kunst scheint eine Verwechslung mit dem Begriff der Technik vorzuliegen. Wenn es richtig ist, daß naturalistischer und realistischer Stil vornehmlich in der Erzählung, romantischer und impressionistischer Stil in der Lyrik, klassischer und expressionistischer Stil im Drama zu betonter Auswirkung gelangen, so liegt es daran, daß die Technik jeder dieser Gattungen dem einen oder andern Stil günstigere Lebens- und Entfaltungsmöglichkeit bietet. Der Stil ist deshalb seinem Wesen nach keineswegs durch die Gattung bedingt; vielmehr verhält es sich eher umgekehrt, daß der Stilwille die Wahl der Gattung bestimmen kann. Dagegen kann eine Anwendung des Begriffes Stil auf kleinere Einheiten vor sich gehen, denn auch innerhalb des Gesamtwerkes eines Schöpfers hat jedes einzelne Stück eigenen Geist und seinen eigenen Stil, der in Harmonie zwischen Form und Gehalt besteht. Zwischen Gesamtwerk und Einzelwerk aber liegen wieder Einheiten in den Altersstufen derselben Persönlichkeit. Das Werk des jungen Goethe, das des reifen, das des alten stellen drei verschiedene Stilgebilde dar. Der junge Goethe fällt mit dem Sturm und Drang zusammen, dessen Stil schlechthin Ausdrucksform der Jugend war und sich wandeln mußte, als die Altersgenossen alterten. Der reife Goethe verkörpert die Klassik; dieser Stil ist schlechthin Ausdruck der Lebenshöhe; man kann als Jüngling keinen klassischen Stil schreiben, ohne epigonenhafter Nachahmer zu sein; höchstens kann sich im echt Jugendlichen bereits eine Anlage zu späterer klassischer Formung verraten. Der alte Goethe stimmt in manchen Zügen mit der Romantik zusammen, aber der romantische Stil seiner Zeit ist Ausdrucksform einer neuen Jugend, von der der alte Goethe durch eine oder mehrere Generationen getrennt war. Es tritt also jenes Problem in Erscheinung, das Wilhelm Pinder als Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen bezeichnet hat. Der Stil des alten Goethe ist Altersromantik, die in manchen Zügen wieder zum eigenen Jugendstil zurückkehrt, so daß eine Kreuzung von Personalstil und Zeitstil eintritt. Goethe selbst hat in seinen „Maximen und Reflexionen“ jedem Alter eine bestimmte philosophische Haltung zugeschrieben: dem Kind den Realismus, dem Jüngling den Idealismus, dem Mann die Skeptik, dem Greis die Mystik. Damit ist zugleich jeder Lebensstufe ein eigener Stil zugestanden. Auch Rilke vergleicht in einem Brief vom 26. Dezember 1911 die Sprache des Einundzwanzigjährigen einem dünnen, durchdringenden Schrei: „Die Entwicklung wird immer die |#f0224 : 200|

sein, daß man sich die Sprache voller, dichter, fester macht, und dies hat freilich nur dann Sinn für einen, der sicher ist, daß auch der Schrei in ihm unablässig, unaufhaltsam zunimmt, so daß er später unter dem Druck unzähliger Atmosphären aus allen Poren des fast undurchdringlichen Mediums gleichmäßig austritt.“ Im Hinblick auf solche selbstbeobachteten Wandlungen kann man nicht gut mit Josef Nadler den Altersstufenstil überhaupt leugnen, auch wenn die Grenzen nicht immer ausgesprochen sind und der eine Dichter größere, der andere, wie z. B. der frühreife Hofmannsthal, geringere Entwicklungen zu durchlaufen hat. Vielmehr kann man mit Nicolai Hartmann in Stilwandlungen geradezu ein Kennzeichen der Genialität finden, während Wandlungen der Manier als Sache des Talentes zu betrachten sind. Jede der Altersstufen läßt außer ihren Besonderheiten etwas dem Schöpfer Eigenes, durch alle seine Werke Durchgehendes erkennen. Diese Ausdrucksmittel, die seiner Person angehören, stellen aber vor die Frage, wie weit sie durchaus individuell sind oder anderen größeren Einheiten zugerechnet werden können, die entweder schon in der Anlage des Einzelnen herrschten oder durch seinen Bildungsgang von ihm Besitz ergriffen haben. Auf der einen Seite steht als stilbestimmend die Herkunft nach Heimat, Stamm, Rasse, Volkstum und sprachlicher Tradition; dieses Erbgut kann sich im Laufe der Entwicklung verstärken oder verlieren. Auf der anderen Seite steht die Bildung; es kann Wandel bewirkt werden durch das Erlebnis einer großen richtunggebenden Persönlichkeit, durch Welterfahrung, durch Einleben in fremde Sprachen, durch Nachbildung ihrer Eigentümlichkeiten, durch Aneignung und Übertragung ihrer Ausdrucksmittel, aber auch durch Rückkehr auf frühe Sprachstufen des eigenen Volkes, sei es in bewußter Archaisierung, sei es in spontaner Wiederbelebung. Auch die Auffrischung durch Mundartliches aus anderen Landschaften kann stilistische Bereicherung bringen. So hat Luther der deutschen Sprache Stil gegeben, indem er den Reichtum verschiedenster Tendenzen zur Einheit zusammenfaßte. b) Methodische Richtlinien Die Stilanalyse des einzelnen Werkes führt uns wieder auf die Reihenfolge von Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung zurück. Das erste ist die Bestandsaufnahme aller Stilmittel, die in dem zu analysierenden Werk in Erscheinung treten; für ihre Ordnung ist vollkommene begriffliche Klarheit der Bezeichnungen unerläßlich. Das

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zweite ist die Feststellung, was an diesen Stilmitteln echt, ursprünglich, erlebt oder erborgt, anempfunden und nachgeahmt ist. Diese Ermittlung ist nicht ohne Kenntnis der Zeitstile und ihrer charakteristischen Formen möglich. Das dritte ist die Beobachtung der Funktion, die diese Stilmittel im Organismus des Kunstwerkes erfüllen. Es handelt sich um das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen und um die Bedeutung, die ihnen im Sinn der Gesamtwirkung zukommt. Eine mechanische Statistik der einzelnen Stilelemente würde mit Errechnung ihres prozentualen Zahlenverhältnisses Wesen und Wirkung des Stiles niemals voll erfassen. Viel bedeutsamer als die Quantität ist die Intensität, die von der Echtheit, Ursprünglichkeit und Eigenprägung abhängig ist; auch kommt es auf die Bedeutung des Platzes an, an den bestimmte Stilmittel gesetzt sind. Es wäre z. B. ganz verkehrt, in einem Roman die Sprache des Erzählers und die des indirekt charakterisierenden Dialoges auf eine Stufe zu stellen; ebenso ist im Drama die Sprache einzelner Personen zu unterscheiden. Das vierte wäre endlich die Zurückführung der Stilform auf Lebenslage, Weltanschauung und Persönlichkeit des Dichters, was zugleich eine Erfassung seines Altersstufen- und Personalstils in sich schlösse. Jedes einzelne Stilelement, vor allem in der Bildlichkeit der Sprache, ist aus einer Kreuzung von verschiedenen Grundrichtungen hervorgegangen, ebenso wie die Weltanschauung eines Menschen sich aus Anlage, Temperament, Erlebnissen und großen Eindrücken gebildet hat. Eine Analyse des Einzelwerkes, die jedem einzelnen Stilelement seine Zugehörigkeit zuweisen wollte, müßte eine Verteilung auf die verschiedenen Kategorien vornehmen, die in folgendem Schema ineinandergefügt sind: Zeitwandel Einzelwerk Lebensstufe Altersgemeinschaft Periode Zeitalter Einzelwerk

1

2

Person

3

4

Heimat

5

6

7

8

Lebensraum Stamm

9

10

11

12

Sprachgemeinschaft

13

14

15

16

Rasse

17

18

19

20

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Man darf dieses Schema keineswegs so verstehen, als ob ein einzelnes Werk 20 verschiedene Stile haben könnte. Es hat nur einen einzigen Stil, aber zu diesem Besitz melden sich von rechts und links die Teilhaber. Der Dienst, den das Schema bei der Verteilung tun kann, ist in der Art eines Filtersystems zu denken, in dem zunächst alle Stilelemente, die sich bei der Analyse ergeben haben, in das erste Fach eingefüllt werden. Was darin verbleibt, sind Stileigentümlichkeiten, die bei keinem anderen Werk in gleicher Weise hervortreten und die daher den Werkstil charakterisieren. Was auch in anderen Werken, die aus derselben Lebensstufe des gleichen Dichters stammen, zu finden ist, wird in das zweite Feld übernommen; es charakterisiert den persönlichen Lebensstufenstil (Jugendstil, Reifestil, Altersstil). Was gleichbleibend in den Werken sämtlicher Altersstufen desselben Dichters zu finden ist, geht in Feld 3 über und charakterisiert den Personalstil. Übereinstimmungen mit einzelnen Werken gleichzeitig wirkender Altersgenossen gehören in Feld 4 und bilden Kennzeichen des Generationsstils. Was in Werken, die aus derselben Landschaft stammen, sich als gemeinsamer Brauch einer Lebensstufe, einer Altersgemeinschaft, einer bestimmten Periode oder eines ganzen Zeitalters darstellt, ist als heimatlicher Lebensstufenstil (5), als heimatlicher Generationsstil (6), als heimatlicher Epochalstil (7) oder als Heimatstil schlechthin (8) zu erkennen. Wenn in Werken stammverwandter Dichter auf einer bestimmten Lebensstufe (9), in einer bestimmten Altersgemeinschaft (10), einer bestimmten Periode (11), einem ganzen Zeitalter (12) sich dieselben Stileigentümlichkeiten finden, so ergeben sich Spielarten des Stammesstiles. Was sich innerhalb derselben Sprachgemeinschaft als Symptomatik einer Lebensstufe (13), einer Generation (14), einer Periode (15), eines Zeitalters (16) ermitteln läßt, ist als verschiedenartige Abstufung des Nationalstils zu betrachten. Wenn endlich rassische Eigenart auf einer bestimmten Lebensstufe (17), in einer bestimmten Altersgemeinschaft (18), in Perioden (19) oder Zeitaltern (20) hervorsticht, kennzeichnen sich damit die Merkmale des Rassestils. Sind nun in jedem Werk echten Stiles alle bedingenden Faktoren von der Altersstufe bis zum Zeitalter, von der Heimat bis zur Rasse in gewisser Weise vertreten, so lassen sich die größeren Einheiten natürlich nicht aus der Betrachtung des Einzelwerkes gewinnen; sie müssen vielmehr ihren Ausweis erbringen, um an der Teilung teilnehmen zu können; sie müssen begrifflich feststehen, um in der Analyse erkannt zu werden. Bei den sprachgeschichtlichen Kategorien des Zeitwandels ist leichter zu faßbaren Ergebnissen zu gelangen als |#f0227 : 203|

bei den unwandelbaren Einheiten des Lebensraums; so liegen die Schwierigkeiten für die Erfassung des dichterischen Rassestils gerade in der Wandelbarkeit und Mannigfaltigkeit der sprachlichen Ausdrucksmittel. Die Probleme sind da, aber sie sind noch lange nicht als gelöst zu betrachten. Die Einheiten stellen sich erst im Vergleich her, der mit Werken anderer Personen, anderer Landschaften, anderer Stämme, anderer Zeitalter, anderer Sprachen, anderer Rassen vorgenommen wird und Gemeinsames wie Gegensätzliches in Erscheinung treten läßt. Es gilt die Regel Goethes: Willst im Unendlichen zurecht dich finden, Mußt unterscheiden und dann verbinden. Ein unendlich langer Weg liegt vor uns. Für die Analyse des Einzelwerkes können die verbindenden Begriffe nicht eher nutzbar gemacht werden, als bis ihr Umfang durch unzählige Einzeluntersuchungen in allen Wesenszügen gesichert ist. Erst wenn die Einheiten in den nur ihnen eigenen charakteristischen Ausdrucksformen erkannt sind, kann das, was heute erraten wird, Gegenstand wissenschaftlichen Beweises werden; dann kann die Analyse des Einzelwerkes bis zu allen stilistischen Eigenschaften der Rasse und des Zeitalters, der Nation und der Periode, des Stammes und der Generation, der Heimat und der Lebensstufe vordringen, um die sprachliche Stilart des Werkes wie des Verfassers bis zu den letzten wahrnehmbaren Kennzeichen zu bestimmen. Diese Feststellung wäre, wenn alle Eigenheiten bekannt wären, auf den umgekehrten Weg, als er in obenstehendem Schema vorgezeichnet ist, angewiesen; die Reihenfolge würde dann von den allgemeinen Stilelementen zu den individuellen hinführen. Die Handhabung dieser Erkenntnis kann zu einem einfühlenden Verstehen der künstlerischen Form gelangen, die man beinahe einem Nachschaffen gleichsetzen darf; aber sie wird niemals schöpferisch. Es ist unmöglich, auf diesem Wege unter Entäußerung des eigenen Stils den eines anderen bis zur Verwechslung nachzubilden, so daß das Ergebnis keine Parodie, sondern ein persönlich geprägtes Stilgebilde würde. Umgekehrt aber sollte jede Nachbildung durch die Mittel kritischer Stilanalyse als unecht zu entlarven sein. Die letzten erreichbaren Möglichkeiten bestünden darin, jedes einzelne Werk zeitlich und räumlich zu bestimmen und sogar einem bestimmten Verfasser, falls er in seiner unverstellbaren Eigenart bekannt ist, ein Werk zuzusprechen, zu dem er sich selbst nicht bekannt hat. Man müßte ihn aus dem Stil heraus überführen können, so wie den Verbrecher sein Fingerabdruck verrät. Ex ungue leonem! Das dürfte

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allerdings nur bei Stilisten ausgesprochenster und im Wesentlichen sich gleichbleibender Eigenart sich erfüllen. Gleichwohl müßte das Ziel der literarischen Stilforschung in einer Treffsicherheit bestehen, wie sie die Wissenschaft auf anderen Gebieten, auf dem der bildenden Kunst und der Musik, bereits beansprucht. Die oben verzeichnete Flächenprojektion ist nun noch zu ergänzen durch eine dritte Dimension, die auf dem Papierblatt nicht graphisch verdeutlicht werden konnte. Es mögen in parallelen Ebenen die Stilmittel anderer Künste mit gleicher Schematik auf die Fläche gebracht werden. Bei universalen Schöpfern auf verschiedenen Kunstgebieten (Michelangelo, Niklas Manuel, Salomon Geßner, E. Th. A. Hoffmann, Otto Ludwig, Adalbert Stifter, Dante Gabriel Rosetti, Ernst Barlach, Kurt Kluge, Ruth Schaumann) ergibt sich aus der Zusammenlegung und Deckung die Erkenntnis eines Personalstils, der über die Ausdrucksmittel der einen Kunst hinaus sich als Formprinzip derselben Persönlichkeit erfassen läßt. Auf diese Weise kann auch eine gewisse Stilgemeinschaft gleichaltriger Landsleute, etwa der beiden Schlesier Adolf Menzel (geboren 1815) und Gustav Freytag (geboren 1816) als Grundlage eines Heimatstils ans Licht treten, wie ihn beispielsweise Paul Krannhals als organischen Faktor der Kunstentwicklung dem Zeitstil überordnen wollte. Oder man kann mit Wilhelm Pinder eine Gemeinschaft zwischen weitentlegenen Altersgenossen, die auf verschiedenen Kunstgebieten schufen, als Generationsstil feststellen, so zwischen Beethoven, Thorwaldsen, Hegel und Hölderlin, die alle vier 1770 geboren sind, und sogar zwischen Wilhelm Heinse und Goya, die das Geburtsjahr 1746 gemeinsam haben. Ein anderer Geistesgeschichtler der Kunstforschung, Max Dvořak, war schon mit einer Parallele zwischen Pieter Breughel und Shakespeare als Manieristen vorangegangen; aber da er den Vater meinte, während der Sohn mit Shakespeare gleichaltrig war (geboren 1564), so kann von ausgesprochenem Generationsstil nicht mehr die Rede sein. Dagegen darf die von Witkop durchgeführte Gleichung zwischen Beethoven und Heinrich von Kleist trotz des Altersunterschiedes von sieben Jahren wohl gelten; beide haben in ihrem Stil eine Zwischenstellung zwischen Klassik und Romantik.

Es offenbaren sich Gemeinsamkeiten der Richtung im Barockstil der bildenden Kunst wie in dem der Literatur. Marinismus, Gongorismus, Preziösentum, Euphuismus und Schwulststil bilden italienische, spanische, französische, englische, deutsche Spielarten des literarischen Zeitstils, der schließlich nicht nur in der bildenden Kunst,

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sondern auch in der Musik, vor allem in der Oper, sein Gegenstück findet. Andererseits treten Gleichheiten zwischen zeitlich getrennten Erscheinungen wie Händel und Klopstock oder Mozart und Grillparzer als Stammesstil hervor. Es kann sich auch eine mehr durch Erziehung und politische Willenskraft als durch Stammeserbteil geprägte Lebensform als Staatsstil herausbilden, wie ihn Moeller van den Bruck im „preußischen Stil“ charakterisiert hat. Daneben aber steht gewachsene Eigenart, die sich in Jahrhunderten gleichbleibt. Der mittellateinische Philologe Paul von Winterfeld wollte sogar in dem Latein der Nonne Hrotsvith von Gandersheim eine niedersächsische Heimatkunst erkennen und einer Übersetzung ins Plattdeutsche allein die stilgemäße Wiedergabe ihrer Wesensart zubilligen. Übersetzungen aus einer Sprache in die andere, die mehr oder weniger Umarbeitungen sind, offenbaren die Unterschiede des Nationalgeists aufs deutlichste nicht nur in der ethischen Auffassung, sondern auch in der Ausdrucksweise. Das springt heraus bei einem Vergleich des französischen Rolandsliedes mit dem deutschen des Pfaffen Konrad oder der Artusromane des Christian von Troyes mit Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach. Gemeinsam ist wiederum diesen mittelalterlichen Werken beider Nationen ein Zeitalterstil, der sie von Dichtungen des Altertums und der Neuzeit abhebt, aber mit Kunstdenkmälern ihrer Zeit zusammentreten läßt. Für ein späteres Jahrhundert konnte so Richard Alewyn in der Antigone-Übersetzung des Martin Opitz die Kennzeichen eines vorbarocken Klassizismus aufzeigen, der in der bildenden Kunst Parellelen findet. Aufschlußreich sind Übertragungen aus dem Gebiet der einen Kunst in das einer andern, z. B. beim Bildgedicht, bei der Programm-Musik, bei der Illustration. Die Kompositionen des „Faust“ durch Berlioz, Gounod und Busoni wie die Faustillustrationen von Delacroix stellen sich im Gegensatz zu Schumann und Liszt oder zu Cornelius als Romanisierungen dar; der Vergleich führt auf alle Merkmale des verschiedenartigen Nationalstils hin. Der Nationalstil ist nach Nietzsche die Einheit in allen Lebensäußerungen eines Volkes und somit gleichbedeutend mit seiner Kultur. Für die Dichtung geht der Nationalstil restlos auf in der Sprache, denn sie ist der totale Stilausdruck des Nationalgeistes. So hat Karl Voßler in einem geistreichen Aufsatz, der früheren Gedanken Wilhelm v. Humboldts folgt, die Nationalsprachen als Stile betrachtet und somit einen umfassendsten literarischen Stilbegriff aufgestellt. Darüber hinaus kann es sich nur noch darum handeln, |#f0230 : 206|

Sprache mit Sprache, Kultur mit Kultur, Nationalgeist mit Nationalgeist zu vergleichen, wie es Eduard Wechßler an Hand der beiden Wörter „Esprit“ und „Geist“ versucht hat. Über die Nationalitätsunterschiede hinaus kann schließlich die Übereinanderschichtung gleichartiger Ausdruckswerte in verschiedenen Künsten auf rassische Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit hinweisen. Daß der Barockstil in allen seinen Erscheinungen auf den dinarischen Menschen zurückzuführen sei, ist eine noch nicht bewiesene Hypothese Hans F. K. Günthers, die den Nachweis voraussetzen würde, daß in den bayrisch-österreichischen Alpenländern wie in Italien und Spanien von jeher barock gebaut, gemalt, komponiert und gedichtet worden sei und die zu dem Zirkelschluß führen könnte, alle Dichter und Künstler, bei denen sich schon vor dem 17. Jahrhundert barocke Stilelemente finden (z. B. Wolfram von Eschenbach und Matthias Nithard gen. Grünewald) seien Dinarier gewesen. Dagegen hat Günther selbst in dem Bildnis Hofmannswaldaus, des ausgesprochenen Hauptvertreters der deutschen Barockdichtung im 17. Jahrhundert, vorwiegend ostische Züge feststellen müssen. Solche Einwände gegen voreilige Verallgemeinerungen können die Problemstellung des Rassestiles nicht erschüttern, die sogar bis zu einem Erdteilstil weiterzuführen ist. Ein europäischer Stil erscheint als geschlossene Einheit, wenn man seine Gestalt mit den auf andere Arten des Sehens, Hörens, Denkens und Fühlens begründeten Formen ostasiatischer Architektur, Malerei, Musik, Dichtung und Bühnenkunst vergleicht. Ebenso sind rassische Anteile und Einflüsse der Neger und Indianer in nordamerikanischer Musik, wie in Tanz und Mimik erkennbar. Andererseits zeigen sich kaum begreifliche Übereinstimmungen zwischen der Kunst unzusammenhängender Erdteile wie beispielsweise den alten Ägyptern und der mexikanischen Maya-Kultur. Auch in frühgeschichtlichen Zeitaltern, aus denen keine Dichtung auf uns gekommen ist, haben Rassenunterschiede im Kunsthandwerk und Hausbau ihre Spuren hinterlassen.

Die Analyse des Wortkunstwerks kann sich indessen lediglich auf die Sprachform als unmittelbares Beobachtungsmaterial stützen, während die weitergehenden Stilbegriffe nur vergleichsweise im Auge zu behalten sind. Jede sprachliche Stiluntersuchung geht methodisch in die Irre, wenn sie sich gleich auf alle möglichen Parallelen stürzt, statt zunächst bei dem zu bleiben, was ihr zugewiesen ist. Um der Untersuchung des Sprachstils Sicherheit zu geben, bedarf es nun aber eines geschärften Unterscheidungsvermögens und einer |#f0231 : 207|

eindeutigen begrifflichen Klarheit über die Ausdrucksformen, die es zu beobachten gilt. Ein System der Stilistik tut not. Geschichtliche Stilbetrachtung erfordert sogar eine Beleuchtung von verschiedenen Seiten her, sowohl von jener Stilistik aus, die für Entstehungsraum und -zeit maßgebend war, als auch von heutigen Begriffen der Sprachkunst, die für die Gegenwart allgemeine Gültigkeit haben können. Wenn die ältesten Lehrbücher als Beispielsammlungen von Stilmustern zur Übung in der Sprachkunst bestimmt waren, so können wir sie zu diesem Zweck heute nicht mehr benutzen, wohl aber eröffnen sie das Verständnis fremdartiger Formen. So kennen wir aus den altindischen Poetiken die Bedeutung der Tropen und Figuren, die das Unausgesprochene zu dem Ausgesprochenen hinzudenken lassen, und Snorris Skaldskaparmal gibt uns einen Schlüssel für die Verschnörkelungen der nordischen Skaldendichtung. Das andere aber, was not täte, das für alle Zeiten und Völker anwendbare allgemeine System des poetischen Sprachstils und der dichterischen Ausdrucksformen, fehlt uns. Für eine vollständige, übersichtliche, geistig gegliederte, in den Sinn der Stilformen aller Sprachen eindringende, Ursache und Wirkung in Zusammenhang bringende, grammatisch, ästhetisch und psychologisch begründete Systematik des Stiles, eine poetische Sprachtheorie, deren Gültigkeit der Musiktheorie entspräche, ist noch kein Schlüssel gefunden, und es ist die Frage, ob dieser Stein der Weisen zu gewinnen ist. c) Wege der literarischen Stilforschung Die bisherigen Versuche, das fruchtbare Land zu erschließen, kann man mit einem Eisenbahnnetz vergleichen, das in eingleisigen, zweigleisigen, mehrgleisigen Linien verläuft. Der eingleisige Betrieb dient dem Sammelverkehr, der als endloser Güterzug die Gaben aller Länder daherschleppt. Die Aufschriften, die den Inhalt der Wagen bezeichnen, führen die fremdesten Namen: lateinische wie Annominatio, Inversion, Akkumulation; griechische wie Hendiadyoin, Metapher, Zeugma, Klimax, Amphibolie oder Anakoluth; halb lateinische, halb griechische wie constructio katà sýnesin; französische wie calembours, équivoques und mot propre; italienische wie concetti; nordische wie kenningar. Der alte Typus der Stilforschung, der noch an die Lehrbücher gebunden ist, häuft Beispiele zu einem Herbarium gepreßter Stilblüten ohne Pflanzenbiologie. Das Brauchbarste liegt oft im Register; die alphabetische

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Anordnung eines stilistischen Reallexikons, das alle Bezeichnungen erklärte und durch Beispiele erläuterte, würde vielleicht dem praktischen Zweck besser genügen, als der immer wieder fehlgeschlagene Versuch, ein in sich einheitliches und vielseitiges, übersichtliches und vollständiges System herzustellen. Die Methoden, nach denen man die einzelnen Wagen des Güterzuges zu verkoppeln unternahm, haben gewechselt. Am bedeutendsten war Gustav Gerbers Unternehmen, die „Sprache als Kunst“ sprachphilosophisch zu erklären, ohne auf die Grundlagen der antiken Rhetorik und Stilistik zu verzichten (1871; 2. Aufl. 1885); dagegen füllte Rich. M. Meyers „Deutsche Stilistik“ (2. Aufl. 1913) reiche Belesenheitsfrüchte in grammatisch-syntaktische Kategorien ohne rechte logische Folge; Ernst Elsters „Prinzipien der Literaturwissenschaft“ suchten im ersten Band (1897) ebenfalls grammatische Grundlagen; die Umarbeitung des fünften Kapitels zum zweiten Band (1911) erstrebte eine folgerichtige Ordnung nach den Vorgängen des dichterischen Schaffens, aber die psychologische Orientierung nach dem Wundtschen System kommt dem praktischen Gebrauch der Werkanalyse nicht entgegen, sondern bedeutet für diesen Zweck eher die Abstellung auf einem toten Geleis. Eine andere Art psychologischer Unterbauung fand die Stilistik neuerdings bei Romanisten und Anglisten. Emil Winkler unternahm es, die seelischen Werte der sprachlichen Gebilde unter den Gesichtspunkten der Sprachdenklehre und der symbolischen Lautung auf dem Boden der Einfühlungsästhetik zu ordnen. Dabei wurde eine Loslösung von den erstarrten Stilfiguren der antiken Rhetorik vollzogen nach dem Grundsatz, daß jede Einzelsprache aus ihrer Struktur heraus verschiedenartige Stilbilder schafft. Die Aufsatzsammlung Leo Spitzers hat diesen Gedanken in zwei Bänden, die „Sprachstile“ und „Stilsprachen“ betitelt sind, durchgeführt. Etwa gleichzeitig hat Max Deutschbein eine „Neuenglische Stilistik“ geschrieben, die sogar ein „Wörterbuch nach stilistischen Gesichtspunkten“ enthält. Die Forschung scheint also heute auf isolierte Behandlung jedes Sprachstils gerichtet zu sein. Aber wenn Spitzers Zuspitzung gelten soll, wonach alle Grammatik nichts anderes als gefrorene Stilistik sei, so muß innerhalb der allgemeinen Sprachwissenschaft und der Sprachpsychologie auch eine allgemeine Sprachstilwissenschaft ihre Aufgaben behalten. Sie wird auf Vergleich von Sprachgeist und Sprachkunst eingestellt sein; aber ihre Ergebnisse werden schwerlich bei der Stilanalyse des Einzelwerkes, an der sich die aufgestellten Systeme zunächst zu erproben haben, Anwendung finden. |#f0233 : 209|

Für die Bestandsaufnahme der Stilelemente einzelner Werke und einzelner Schriftsteller ist in der philologischen Periode der deutschen Literaturwissenschaft bereits mancherlei getan worden. Mit außerordentlichem Feingefühl, aber ohne System hat Albert Fries in zahlreichen Einzeluntersuchungen über Goethe, Schiller, Kleist, Platen, Wagner die Klassikertexte abgetastet. Ausgezeichnete Vorstöße in der Einzelanalyse des Werkstils sind durch Gustav Roethe unternommen worden in der Akademieabhandlung über „Brentanos Ponce de Leon“ und in dem Buch über Goethes „Campagne in Frankreich“. Das eine Mal wurden alle Brentanoschen Mittel des Wortwitzes, des Klangwitzes, der Wort- und Klangspiele, der Wortzusammensetzungen und -häufungen, das andere Mal alle Kennzeichen des kunstvollen Goethischen Altersstils im Partizipialgebrauch, in Wortstellung, Auslassung der Hilfsverben, Superlativen und Wortzusammensetzungen registriert. Das eine Mal war über Petrichs „Drei Kapitel vom romantischen Stil“, die für den Generationsstil Belege gesammelt hatten, hinausgekommen, das andere Mal über Knauths Dissertation „Goethes Sprache und Stil im Alter“, die für die Betrachtung des Altersstufenstils ein oberflächliches Beispiel gab. Weiter sind Minor und Sauer, Weißenfels und Minde-Pouet für Goethe und Kleist, Erich Schmidt für Lessing zu nennen. Von allen Zusammenstellungen des Charakteristischen ist aber zu sagen, daß die positivistische Methode der Beschreibung nicht imstande ist, die gesammelten Beobachtungen wirklich als Stil, das heißt als Einheit und inneres Gesetz der Ausdrucksform zu begreifen. Dieses Ziel war bei der Beschränkung auf sprachliche Formen ohne Ergründung ihrer seelischen Zusammenhänge und Bedingtheiten nicht zu erreichen. Der zweigleisige Verkehr bietet Gelegenheit zum Vergleich, wenn zwei in entgegengesetzter Richtung fahrende Züge an demselben Haltepunkt nebeneinander stehen. Da kann die Verschiedenheit der inneren Bedingungen aus äußerer Gegensätzlichkeit erschlossen werden. Nach einer richtigen Bemerkung Josef Nadlers ist der Stil als etwas Individuelles immer nur im Gegensatz zu einem anderen Individuellen zu erkennen: „Stil also wird sichtbar, indem Mensch gegen Mensch, Gesellschaft gegen Gesellschaft, Landschaft gegen Landschaft, Volk gegen Volk steht.“ Aus der Beobachtung des Gegensätzlichen ergibt sich eine Polarität der grundbegrifflichen Betrachtungsweise, |#f0234 : 210|

die bis auf Kants Antinomienlehre zurückzuführen ist. Die Antithesen von objektiv und subjektiv, von naiv und sentimentalisch, von Nazarenern und Hellenen, von apollinisch und dionysisch, von statisch und dynamisch, von Abstraktion und Einfühlung suchten jedesmal aus einem Begriffspaar eine allgemeingültige Zweiteilung sämtlicher Erscheinungsformen zu gewinnen. Man kann aber auch den grundsätzlichen Dualismus durch Spaltung vermehren, indem man die verschiedenen Begriffspaare, die nicht ganz identisch sind, nebeneinander stellt. So hat der Ästhetiker Johannes Volkelt mit der Methode des typisierenden Vergleichs die fünf verschiedenen Gegensatzpaare eines elementaren und vernunftgeklärten, eines naiven und sentimentalen, eines objektiven und subjektiven, eines Wirklichkeits- und Steigerungsstils und eines individualisierenden und typisierenden Stils gewonnen und zu einem weitmaschigen Netz verknüpft, das für die Erfassung sämtlicher Künste gelten sollte. Heinrich Wölfflin kam dann in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“ (1915) durch eine exakter angewandte vergleichende Methode zu fünf gegensätzlichen Kategorien veränderter Sehweise, mittels deren das Problem der Stilentwicklung am Übergang von Renaissancekunst zu Barockkunst veranschaulicht werden konnte. Die Übertragung dieser Methode von der rein kunstgeschichtlichen Betrachtung auf den Stil im allgemeinen und den Dichtungsstil im besonderen blieb nicht aus; man führte sie wieder auf den Anspruch allgemeingültiger Zweiteilung zurück. Unter den mehrfachen Versuchen war Fritz Strichs „Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit“ (1922) der bedeutendste. Die feinfühligen Beobachtungen stehen allerdings immer unter dem Systemzwang der Polarität und unter dem vorbildhaften Eindruck kunstgeschichtlicher Begriffe. Bei literarischer Stilbetrachtung aber darf es nicht so sehr auf die Art des Sehens ankommen als auf die des Spracherlebnisses. Auf sprachliche Kategorien wurde die Vergleichsmethode beschränkt in Wilhelm Schneiders „Ausdruckswerten der deutschen Sprache“ (1931), in denen aus Urteilsbildungen wie begrifflich sinnlich, klar dunkel, knapp breit nicht weniger als 17 Gegensatzpaare hervorgingen, womit eine Möglichkeit gefunden war, über die erste Stufe der Stilforschung, über die Bestandaufnahme der Stilmittel, durch Urteil und Sichtung hinauszukommen. Die Zusammenfassung der Ausdruckswerte zu noch höheren Ordnungsbegriffen blieb einer dritten Stufe überlassen, vor der haltgemacht wurde. Was mit diesen Kategorien erreicht werden kann, ist nicht nur eine Stilcharakteristik des Einzelwerkes, sondern die Beobachtungsmöglichkeit der Entwicklung. |#f0235 : 211|

Führt man zwei Werke, die auf beiden Seiten der Periodengrenze liegen, zusammen, so kann das, was sie unterscheidet, soweit es nicht durch die Verschiedenheit der Persönlichkeiten und ihrer Abstammung bedingt ist, als Kennzeichen eines gewandelten Zeitstils betrachtet werden. Man könnte das etwa an den Genovefa-Dramen von Maler Müller und Ludwig Tieck aufzeigen. Die Notwendigkeit eines mehrgleisigen Verkehrs ergibt sich aus der Einsicht, daß das System von Gegensätzlichkeiten, das grundsätzlich bei jedem Vergleich herausspringt, nur zur Abgrenzung zweier aufeinander folgender Stilarten und zur Feststellung der Übergänge tauglich ist. Die Gegensätzlichkeit ist dabei immer eine relative; absolut betrachtet würde es viel stärkere Antithesen, viel extremere Haltungen geben, als sie in Wölfflins Unterscheidung von Renaissance und Barock oder in Strichs Gegenüberstellung von Klassik und Romantik zu finden sind. Verirrt sich die Verallgemeinerung der durch polare Trennung gefundenen Kategorien in radikale Zweiteilung wie etwa bei Worringers Gegenüberstellung von Abstraktion und Einfühlung als den zwei überhaupt möglichen Grundhaltungen des Künstlers, so geht die historische Anwendbarkeit verloren. Wie dort der Begriff „Gotik“ schließlich auf alle nicht klassischen Künste bezogen wurde, so trat in der literarischen Stilkunde zeitweilig eine Überwertung des Begriffes „Barock“ ein, der auf einmal aus seiner zeitlichen Festlegung herausgenommen und auf jede Neigung zu unregelmäßiger Form, überladenem Stilschmuck und gesteigertem Gefühlsleben Anwendung fand: der Römer Tacitus, die altnordischen Skalden, der geblümte Stil des Mittelalters, Shakespeare, Klopstok, Heinrich von Kleist und der moderne Expressionismus schienen nun gleiche Stilphänomene zu offenbaren. Schon bei Strichs Zweiteilung von Vollendung und Unendlichkeit zeigte sich aber, daß es neben Klassik und Romantik noch andere Stilrichtungen sowohl im Endlichen als im Unvollendeten geben muß. Zu dieser Erkenntnis konnte jede historische Betrachtung führen, die die Stellung der Klassik und Romantik nicht nur durch gegenseitigen Vergleich bestimmte, sondern sie auch nach der zweiten und dritten Seite hin abgrenzte. Zur Vorklassik (Sturm und Drang) und zur Nachromantik (Biedermeier und Realismus) hätten mit derselben Methode des Vergleichs gegensätzliche Beziehungen hergestellt werden können. |#f0236 : 212|

Wie die Kunstgeschichte, auch wenn sie Wölfflins Ergebnisse zur Charakteristik des einmaligen Übergangs übernimmt, an dem mehrschichtigen Aufbau geschichtlicher Stilperioden festzuhalten hat, ebenso bleibt für die Literaturgeschichte die Notwendigkeit der geschichtlichen Gliederung und der Einordnung jedes Einzelwerkes in eine Stilkategorie. Nach dem unzulänglichen Versuch einer „Geschichte des deutschen Stils in Einzelbildern“, den E. Hoffmann- Krayer 1925 vorlegte, hat Emil Ermatinger ein Jahr später die Aufgabe in Angriff genommen, für vier aufeinander folgende Stilperioden der deutschen Literaturgeschichte Charakteristiken zu schaffen; der Barockstil wäre demnach als Ausdruck der Spannung zwischen natürlicher Weltfreude und kirchlich verkündeter Weltverachtung zu erfassen, der Rokokostil als Richtung eines vernünftigen Realismus; die Einheit von Sturm und Drang, Klassik und Romantik wäre unter dem Gesichtspunkt der Symbolik zu verstehen, und für das folgende Zeitalter böte sich die Benennung Realismus. Das ist eine geistesgeschichtliche Periodisierung, die Sinn und Geisteshaltung jeder Periode als Voraussetzung ihres Stils bestimmt, aber über diesen selbst so gut wie nichts aussagt; alle sprachlichen Stilsymptome, die auf dem eingleisigen Wege zusammenkamen, bleiben unbeachtet und gelangen nicht zur Einordnung in diese Sinngebung. Es ist ein Schnellzugsverkehr, der alle kleinen Stationen durchrast. Eine andere Art mehrgleisiger Ordnung beruht auf der Theorie zeitloser Typen, wie sie in Diltheys Weltanschauungslehre und geistesgeschichtlicher Psychologie zunächst nur zur Gruppierung der philosophischen Systeme bestimmt war. Von Diltheys Schülern, namentlich von Hermann Nohl, wurden die drei Typen des Naturalismus, objektiven Idealismus und Idealismus der Freiheit auch auf die Künste angewandt, wobei sich sogar eine Verbindung mit der musikalischen und sprachlichen Typenlehre von Josef und Otmar Rutz, Eduard Sievers und Gustav Becking ergeben konnte. Eduard Spranger wiederum hat in seinen „Lebensformen“ sechs ideelle Grundtypen der Individualität geschieden, und dem ästhetischen Menschen, der unter ihnen eine eigene Klasse bildet, drei Erscheinungsweisen zugesprochen: die des objektiven Eindrucksmenschen, die des subjektiven Ausdrucksmenschen und die des klassischen Menschen von innerer Form, bei dem Eindruck und eigene Gefühlswelt zum Gleichgewicht kommen. Zur Frage der dichterischen Weltanschauungstypen wird uns das zweite Buch führen. Hier ist nur noch eine der vielen Weiterbildungen zu besprechen, nämlich das Kompromiß, durch das Oskar Walzel einen Einklang zwischen Dilthey und Wölfflin herzustellen suchte, um |#f0237 : 213|

diese Synthese mit einer Typologie sprachlicher Ausdrucksformen gleichzusetzen. Zu solchem Zweck wurde unter gleichzeitiger Anlehnung an Simmel, Strich und Worringer die antike Dreiteilung der genera dicendi bei Cicero, Theophrast und Quintilian benutzt und auch der auf Dionys von Halikarnaß zurückgehende, durch Norbert von Hellingrath für Hölderlin in Umlauf gebrachte Unterschied zwischen harter und glatter Fügung nicht unberücksichtigt gelassen. Das Ergebnis besteht wieder in drei Typen, in denen die höchste Verknüpfung von Gehalt und Gestalt ihre Erfüllung finden soll. Der erste brächte eine überindividuelle Formung, die in begrifflich vereinfachtem Ausdruck den Erscheinungen des Lebens ideelle Eigenexistenz gibt und sie trotzdem einem Kanon unterwirft. Es ist die somatische und statische Kunst eines ruhenden Seins, in der der klassische Mensch des Altertums sein Formprinzip fand. Der zweite Typus stellt die Eindrücke des Lebens als Werden dar, als organische Dynamik, als ewigen Fluß, gefaßt in den einzigen Augenblick, der das innere Leben an die Oberfläche treten läßt. Ein pathetischer Wille würde dagegen im dritten Typus zum übersteigerten Ausdruck hinführen und zu neuer Abstraktion vom wirklichen Leben. Typus 2 und 3 sollen sich untereinander verhalten wie Worringers Begriff der Gotik zu Simmels Rembrandt-Deutung, während sie zum ersteren in demselben Verhältnis stehen sollen wie Wölfflins Barockreihe zur Renaissance oder Strichs Unendlichkeit zur Vollendung. Wenn angenommen wird, daß sich damit die zwei Möglichkeiten des deutschen Stils im Gegensatz zu der antiken Haltung verkörpern, so würde beispielsweise Goethe in seiner gedämpften Haltung teils dem Typus 2 zuzurechnen sein, teils als hinstrebend zum Typus 1 betrachtet werden müssen. Also wären weder Personalstil noch Zeitstil noch Nationalstil auf diesem Wege als Einheiten zu erfassen. Dafür wird eine Festlegung der verschiedenen sprachlichen Ausdrucksmittel und der besonderen Arten der Wortgebung für jeden Typus erstrebt: „Im ersten herrschen feststehende Begriffe, im zweiten die Wörter und die grammatischen Kategorien, die ein stetiges Werden, eine dauernde ruhige Bewegung bezeichnen. Die Syntax dieses Typus kennt nicht die Mittel, mit denen der dritte Typus Hemmungen aufbaut, um dann zu desto jäheren Entladungen zu gelangen. Dieser dritte Typus benötigt entweder den jähen Schrei oder aber den umständlichen Periodenbau, der gestattet, die entscheidende Wirkung weit hinauszuschieben und sie endlich wie eine späte Befreiung zu genießen.“ Bei dem dritten Typus mag an den Expressionismus der damaligen Zeit gedacht sein, bei dem zweiten an den Impressionismus; aber wo |#f0238 : 214|

sollen nun Realismus und Naturalismus bleiben? Mit Dilthey, bei dem diese beiden Richtungen im ersten Typus hätten unterkommen können, ist die Walzelsche Einteilung so wenig zur Deckung zu bringen wie mit der historischen Aufeinanderfolge, die Wölfflin berücksichtigt hatte. Offenbar sind drei Gleise zu wenig, um die mannigfaltigen Formmöglichkeiten und Richtungen nebeneinander zu stellen. Wenn Walzel diese Typen zum praktischen Gebrauch vorlegte, „um die Fülle der Züge eines Kunstwerks oder der vielgestaltigen Werke eines einzelnen Künstlers nach ihrer Gestalt zu erkennen und zu benennen“, so war diese Empfehlung vielleicht etwas verfrüht. Das System muß erst unterbaut werden; vorerst ist es auf zu wenig Induktion gegründet und spielt zuviel mit Begriffen, die aus verschiedenartigen Gedankenreihen entlehnt sind. Man kann nicht Abstraktionen miteinander in Verbindung setzen, ohne daß die konkreten Grundlagen, von denen sie abgezogen sind, auf einheitlicher Ebene liegen. Es ist übereilt, zu gliedern und zu deuten, ehe Sammlung und Kritik das ihre getan haben. Die Typologie der Grundbegriffe, die ihre Probe erst bestehen muß, erspart einstweilen noch nicht die unvoreingenommene Beobachtung aller einzelnen Merkmale des Personalstils und Zeitstils. Dafür hat gerade Walzels Schule seit dem Erscheinen seines Buches manche wertvolle Beiträge geleistet, gegenüber deren Ergebnissen die Hilfskonstruktion kaum mehr unbeeinträchtigten Bestand bewahren kann. d) Ordnungsgrundriß Befindet sich die vielgleisige Stilforschung gegenwärtig im Zustand eines Rangierbahnhofs, auf dem das unaufhörliche Hin- und Herschieben von einem Gleis zum andern den chaotischen Eindruck der Sisyphusarbeit macht, die nicht vom Fleck kommen will, so droht die Gefahr einer Verstopfung, wenn nicht die festgefahrenen Züge mit ihren Materialladungen flottgemacht werden und der Knäuel durch richtige Weichenstellung zur Lockerung und Auflösung kommt. Wir suchen nach Ordnungsgrundsätzen, die das gesammelte Material seiner Bestimmung zuzuführen erlauben. Aber die einfache Etikettierung jedes einzelnen Stilmittels als zugehörig zu einem bestimmten Zeitstil, Nationalstil oder Personalstil erweist sich als völlig undurchführbar. Das Charakteristische tritt niemals in einem einzelnen Element zutage, selbst wenn diesem ein Übergewicht zufällt, sondern höchstens in dem Mischungsverhältnis der verschiedensten Stilmittel, |#f0239 : 215|

womit eine bestimmte Ausdrucksmöglichkeit bezweckt wird. Man wird kaum dazu gelangen, die einzelne Metapher als barock, jede einzelne Interjektion oder jede Hyperbel als expressionistisch, den einzelnen Farbeneindruck als impressionistisch, das einzelne Anakoluth als naturalistisch, die einzelne Sentenz als klassisch, das einzelne Oxymoron als lateinisch, die einzelne Antithese als französisch, den einmaligen Parallelismus als biblisch, das einzelne Wortspiel als Shakespearisch, die einzelne Inversion als Kleistisch zu empfinden, sondern erst in der Wiederholung derselben Erscheinung und in ihrer Häufung entsteht der Eindruck eines bestimmten Stiles, der zugleich eine Aussage bedeutet über die Wesensart des Menschen, der ihn gebraucht und in ihm sich ausprägt. [Annotation] Zu dieser Wesenserkenntnis kann der Vergleich mit andersartiger Ausdrucksweise als Erscheinungsform einer verschiedenartigen Existenz ein vorzügliches Hilfsmittel gewähren, aber die einmalige Gegenüberstellung kann immer nur einzelne verschiedenartige Charakterzüge in Gefühlseindruck und Urteil festlegen. Um zu bündigen Urteilen über den charakterologischen und ästhetischen Stileindruck zu gelangen, muß man die verschiedenartigsten Möglichkeiten sprachlicher Formung überblicken; andererseits kann man sich keineswegs mit Registrierung der Formen begnügen, wenn man zu den seelischen Ausdruckswerten vordringen will. Die Wechselwirkung zwischen Ausdrucksform und Ausdrucksinhalt zu erhellen, ist also die eigentliche Aufgabe der Stilforschung. Dabei ist das, was als Stil, als Ausprägung eines Charakters erkannt werden soll, immer ein Verhältnis mannigfaltigster Einzelheiten sowohl untereinander als zum Ganzen. Das Ganze aber enthält, auch wenn es dank des Zusammenhanges aller Teile als organische Einheit betrachtet wird, so Vielfältiges, daß es nie und nimmer durch eine einzige Eigenschaft, sei es auch die am meisten hervortretende, zu charakterisieren ist. Ohne jeden Anspruch auf vollständige Lösung der Aufgabe, sondern mehr als Versuchsmodell soll folgendes Schema das Gegeneinanderweben von Form und Gehalt veranschaulichen, wobei zehn der gebräuchlichsten Gegensatzpaare des Eindrucks (unter Benutzung der von Johannes Volkelt, Wilhelm Schneider und anderen registrierten Polaritäten) mit den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Kreuzung gebracht sind. Diese grammatischen Kategorien sind, um die stufenmäßige Anschwellung von beiden Seiten her sichtbar zu machen, doppelt registriert, so daß jede Erscheinungsform in ein eigenes Feld eingetragen werden kann und das Ganze als eine von Schrift zu Aufbau aufsteigende Doppeltreppe erscheint: |#f0240 : 216| [Beginn Spaltensatz]

I II III IV V VI VII Schrift Einzelwort Wortzusammensetzg. Wortfolge Satzgliederung Periode Aufbau a) plastisch b) objektiv c) klar d) alltäglich e) niedrig f) sinnlich i) eindringlich k) logisch l) spielerisch m) antithetisch gehäuft [Spaltenumbruch]

VII VI V IV III II I Aufbau Periode Satzgliederung Wortfolge Wortzusammensetzg. Einzelwort Schrift a) musikalisch b) subjektiv g) verschwomm. d) eigengeprägt e) übersteigert f) begrifflich i) Abstand haltend k) phantastisch l) bildlich m) harmonisch symmetrisch Es könnte zunächst befremden, daß die Kategorien Schrift und Aufbau, von denen die eine unterhalb, die andere oberhalb des Sprachstils zu liegen scheint, mit aufgenommen sind. Die Buchstaben der europäischen Alphabete haben allerdings nichts mehr von dem magischen Bedeutungsinhalt, der dem Wortsinn chinesischer Schriftzeichen, der Bilderschrift des alten Orient, den germanischen Runen oder anderen Schriftsystemen zukommt, aber ihre Lautvermittlung ist gleichwohl nicht ganz mechanisch, und mancher Dichter der Neuzeit, z. B. Stefan George, hat in seiner Handschrift wie im Druckbild eine Eigenart betont, die durchaus zu seinen Stilkennzeichen zu rechnen ist. Der sparsame oder reichliche Gebrauch von großen Anfangsbuchstaben, die Anwendung der gliedernden Satzzeichen nach syntaktischen oder rhythmischen Rücksichten, die begriffscharfe Teilung eines Kompositum durch Trennstriche, die Einstreuung von Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen, die Einklammerung in Parenthesen, die Häufigkeit von Unterstreichung und Sperrdruck das alles kann Symptom für die Haltung einer Persönlichkeit, eines Zeitalters, eines Nationaltemperamentes sein und den in diesem Schema gebrauchten Charakteristiken wie sinnlich, antithetisch, logisch oder übersteigert entsprechen. Als Ausdrucksmittel von Stilbedeutung kann im Drama auch das stimmungsvolle Schweigen und die lautlose Bewegung angesehen werden, so wie im Lied die Pause zum Gefühl spricht. Aber das sind |#f0241 : 217|

Wirkungen, die nur durch aktive oder imaginäre Mithilfe der Schauspielkunst und Musik sich erfüllen. Im Epos müssen solche Stimmungswirkungen in Worte umgesetzt werden, und insofern ist die Erzählkunst die Vollform der Wortkunst, als sie sich einzig auf sprachliche Stilmittel zu beschränken hat. Nur von Epikern kann gesagt werden, daß sie ganz der Sprache verfallen sind und in ihr schwelgen; ein Erzähler wie Jeremias Gotthelf nannte das Wort „eine unsichtbare Hand, wunderbar und vielfach gefingert, mit der wir über unsrer Mitmenschen Gemüter streichen.“ Das einzelne Wort kann zwar, wie oben gesagt, noch nicht den Stil bestimmen, aber in seltsamen Namen, in metaphorischen Beiworten, in hyperbolischen Zahlen, in klangmalenden Verben lebt doch noch etwas von ursprünglicher alter Wortmagie weiter. In der Lyrik ist es jenes „Zauberwort“, das Jos. von Eichendorff und Annette von Droste suchten; aber auch der Erzähler Fontane konnte aus eigener Erfahrung in seiner Doppelrolle als Dichter und Journalist sagen: „Der gewöhnliche Mensch schreibt massenhaft hin, was ihm gerad in den Sinn kommt; der Künstler, der echte Dichter sucht oft vierzehn Tage lang nach einem Wort.“ Er wußte vielleicht um die französische „recherche du mot propre“ und kannte die Klage Flauberts, daß er über dem Suchen nach einem Wort schlaflose Nächte hinbringe. Das Suchen nach einem Wort muß nun zwar als Akt des Bewußtseins aufgefaßt werden; das Finden aber vollzieht sich im Unterbewußtsein der Stileinheit. Was sich leicht einstellt, sind die Lieblingswörter, in denen ein Zeitalter sein eigenstes Lebensgefühl ausgedrückt findet. Sie sind für die folgende Generation schon verbraucht und verlieren nicht nur ihren Reiz, sondern können sogar ins Lächerliche oder Gemeine versinken. Solche Modewörter wie die anakreontische „Wollust“, der geniemäßige „Kerl“, die barocke Vorliebe für „Ambra“ und „Alabaster“, die romantische für den Farbeneindruck „blau“, die optische „Ferne“, den Klangwert „Waldhorn“ und alle Zusammensetzungen mit „Geist und Seele“, endlich die expressionistischen Verba „ballen“, „schnellen“ und „steilen“ hatten nur eine begrenzte Wirkungsdauer innerhalb der deutschen Dichtersprache und bleiben charakteristisch für eine bestimmte Stilepisode. Die Analyse des Einzelwerkes muß Zeitwert und Bedeutungswandel jedes Wortes in Rechnung ziehen. Wenn früher mit Bienenfleiß sogenannte Parallelen gesammelt wurden, so hatte dieses Bemühen wenig Wert für die Erkenntnis von Abhängigkeiten, aber wohl können solche Zusammenstellungen des Wortgebrauches von Bedeutung sein für die Erfassung des Zeitstils. |#f0242 : 218|

Für den Stilgehalt des Wortschatzes würden Wörterbücher der einzelnen Dichtersprache aufschlußgebende Hilfsmittel darstellen, wenn wir ihrer mehr und bessere besäßen. Umfassende Wörterbücher des gesamten Sprachschatzes buchen, wenn auch unzulänglich, den Anteil, den große Wortschöpfer an der Bereicherung der Sprache und an ihrem Bedeutungswandel genommen haben. Das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm, das im Jahrhundert seines Werdens und Wachsens in immer reicheren Belegen sich auf die feinsten Unterscheidungen des Sprachlebens ausdehnte, hat wiederum die Sprache neuerer Dichter befruchten können. So wissen wir von Rainer Maria Rilke, dem die Vorstellungskraft des einzelnen Wortes so viel bedeutete, daß er auf der Suche nach einem Ausdruck stundenlang im Grimmschen Wörterbuch „auf die Weide ging“. Auch die Entwicklungsperioden eines Dichters finden in den Wandlungen des Wortschatzes und der Wortbedeutung ihren Niederschlag. Für die Sprache des jungen Goethe in der Zeit seiner Hymnendichtung sind Verba wie „glühen“, „anglühen“, „durchglühen“ kennzeichnend, ebenso wie die Form imperativischen Anrufs; in der Zeit des Spinozismus wird das Epitheton „dumpf“ ein besonderer Ausdruck der passiven Seelenlage; in der Reifezeit kommen die einfachen Hauptwörter zur Herrschaft; im Altersstil verstärken sich die Eigenschaftswörter, während die einfachen Verba oft durch substantivische Umschreibung ersetzt werden. Auf die sinnliche Urkraft des Verbums war Goethe zuerst durch Herder in der Straßburger Zeit hingewiesen worden, und die unmittelbare Wirkung wird sichtbar nicht nur in der Häufung der aktiven Verbalformen, sondern selbst in der Bevorzugung bewegungsreicher Partizipien an Stelle anderer Beiwörter.

Ob die am stärksten betonten Ausdruckswerte in der Form von Hauptwörtern, Beiwörtern oder Zeitwörtern uns entgegentreten und ob demnach Begriffe, Eigenschaften oder Vorgänge mehr in die Vordergrundsbeleuchtung gedrängt werden, ist für den Stilwillen von Zeiten, Völkern und Persönlichkeiten bedeutungsvoll. Schon längst hat man in der Trennung eines Nominalstils als Ausdruck statischer Ruhe, eines Verbalstils als Ausdruck dynamischer Bewegung und eines Beiwortstils, der vor allem sinnliche Anschaulichkeit in beschreibender oder beseelender Weise zu wecken sucht, eine fruchtbare Unterscheidungsmöglichkeit erkannt. Die Übertreibung Fritz Mauthners, der nach substantivischer, adjektivischer und verbaler Auffassungsmöglichkeit geradezu drei Sprachwelten trennen wollte, mag man fallen lassen, aber neuere |#f0243 : 219|

philosophische Sprachvergleichung (Herm. Ammann) spricht nach wie vor von den großen Urkategorien des verbalen und nominalen Satztypus und sieht in der durch das Verbum veranlaßten „Mitregung“ ein irrationales Element der Einfühlung, „das der Welt des Urteilens, des sachlichen Feststellens, des objektiven Berichtens ebenso fremd ist wie der Welt der Dichtung und des Traumes verwandt.“ Wenn somit im Tätigkeits-, Vorgangs- und Zeitwort der eigentliche bewegte Lebensausdruck der Sprache gefunden wird, so kann das im wesentlichen nur für die indogermanischen Sprachen gelten, deren Entwicklung dem verbalen Stiltypus den Boden bereitete. Gleichwohl hat es auch da immer Stilrichtungen gegeben, in denen die vom Hauptwort ausgelöste „Gegenregung“ im Vordergrund stand. Die altgermanische Stabreimdichtung mit ihrem rhythmischen Heraustreiben der akzentuierten Hauptbegriffe entwickelte einen ausgesprochenen Nominalstil, und dieser bleibt immer ein Kennzeichen erhabener und heroischer Haltung. Andererseits wurde im späten Mittelalter der deutsche Wortschatz durch die sprachschöpferische Tätigkeit der Mystiker um die vielen Bildungen mit -heit und -ung bereichert, die die Dinge konkreter Anschauung zu hohen Begriffen erhoben; damit wurde der Nominalstil zum Ausdruck kontemplativer Haltung. Die sprachliche Eigenprägung wirkt sich vornehmlich in denjenigen Wortkategorien aus, denen die stärkste Ausdrucksmöglichkeit zugedacht ist. Nach Max Deutschbein charakterisiert der Nominalstil die expressive und dynamische innere Sprachform neuenglischer Prosa. Ebenso wurde im Französischen die Vorherrschaft substantivischer Konstruktion beim Naturalismus beobachtet und in Zusammenhang gestellt mit einem seit 1850 zunehmenden Brauch, das Adjektivum durch Vergleichsworte zu ersetzen. Auch das attributive Substantivum (z. B. chanteur in „oisau chanteur“, das einem deutschen Singvogel entspricht), gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den durch die Dichtung, vielleicht auch durch Übersetzung beförderten Entwicklungstendenzen der französischen Sprache. Der junge Goethe hat ein einziges Mal (im Prometheusfragment) mit den Worten „der Kindheit nothe Hilfe“ eine substantivische Adjektivform gebildet, die er später durch „nöth'ge“ ersetzte. Und die drei sich jagenden Substantiva „Stock, Wurzeln, Steine“ im „Schwager Kronos“ lassen sich beinahe als adverbiale Bestimmungen zum „holpernden Trott“ auffassen. Umgekehrt hat Goethe im Alter die numinose Substantivierung von Adjektiven geliebt (das Wahre, das Tüchtige, das Schöne, das Allzuflüchtige), ebenso wie Hölderlins Spätstil das noch geheimnisvollere substantivische Partizipium (das Rettende, Reinentsprungenes) |#f0244 : 220|

zur Bedeutung bringt, worin der späte Rilke ihm nachfolgt („ein Rettendes“, 9. Elegie, Werke III, 300). Es hat Stilrichtungen gegeben, in denen das einfache oder zusammengesetzte Adjektivum als solches den Hauptträger der Anschauung bildete. Für Harsdörffer, den Verfasser des Nürnberger „Poetischen Trichters“, bedeutete das Beiwort die Klaue des Löwen. Der alte Barthold Hinrich Brockes mit seiner empiristischen Naturbeschreibung ist als malender Poet zu einem „Virtuos des Adjektivs“ geworden, und Albrecht von Haller in seiner von Lessing gerügten Beschreibung der Alpenblumen hat es ihm gleichgetan; die deutsche Romantik ist durch Fritz Strich als „Kunst des Beiwortes“ bezeichnet worden; die Brüder Goncourt sahen im „epithète rare“ die charakteristische Marke des Schriftstellers, und der auf differenzierte Sinnesqualitäten gerichtete deutsche Impressionismus (Arno Holz, Dauthendey) suchte jede Stimmungsnuance in Beiworten punktuell zu erfassen, während französischer und englischer Impressionismus den Nominalstil bevorzugten und sich dem Adjektiv und Adverb weniger geneigt zeigten. Sprachliche Eigenprägungen haben eine aufpeitschende Wirkung, so wie sie in ihrer Entstehungsweise ein Ausdruck seelischer Erregung sind. Die mannigfaltige poetische Ausdruckskraft des Zeitworts liegt nun zum Teil in der leichten Möglichkeit und Unerschöpflichkeit schallnachahmender oder lautmetaphorischer Neubildungen, für die auch die sinnliche Urkraft der Mundart unversiegbaren Zufluß bringt. Man kennt das erfinderische Nürnberger Spielzeug der Pegnitzschäfer des 17. Jahrhunderts, man bewundert den urwüchsig verschwenderischen Reichtum, in dem ein Jeremias Gotthelf schwelgte; man schüttelt den Kopf über die expressionistischen Experimente des „Sturm“ im 20. Jahrhundert, die über die Grenzen des Möglichen, d. h. über die Gesetze des Sprachlebens sich hinwegsetzten. Das ist an den berüchtigten Versen von August Stramm zu sehen: „Nacht grant Glas, ich steine, weit glast du.“ Man kann bei demselben zu früh gestorbenen Lyriker auch den Versuch beobachten, durch abkürzende Verstümmelung von Partizipien wie „kreischend“ und „keuchend“ um rhythmischer Klangwirkung willen zu neuen Adverbien und Adjektiven zu gelangen: „kreisch peitscht das Leben vor sich hin den keuchen Tod.“ Hier ist Stil sichtlich zur Manier geworden, die bei aller Achtung vor dem suchenden Formwillen doch nur in einer Greuelausstellung entarteter Kunst weiterleben wird. Das Beiwort bietet weit weniger Möglichkeit zu neuer erregender Eigenprägung als das Zeitwort; dagegen erweitert sich der Spielraum |#f0245 : 221|

seines sinnlichen Ausdruckswertes auf zwei Wegen, die allerdings beide durch Mißbrauch und Überspannung ihre Wirkung verlieren können. Der eine ist der Gebrauch von Steigerungsformen, zum Beispiel eines Komparativs, dem kein Positiv vergleichsweise gegenübersteht (Klopstock, Goethe, Hölderlin) oder eines in gleicher Weise gebrauchten Superlativs und Elativs. Der andere ist die Synästhesie, die Farbenreize durch Vorstellungen des Gehörs, Töne durch Licht- oder Farbenwirkungen bezeichnet und auch Geschmacks-, Geruchs- und Gefühlseindrücke in Wechselwirkung und Austausch bringt. Längst hat die Umgangssprache derartige Metaphern sich angeeignet, die man nicht mehr als solche empfindet, wenn von dunkeln, weichen oder silbernen Tönen, von satten, duftenden, kreischenden Farben, von schwülen Düften, übelriechenden Äußerungen oder sprechender Ähnlichkeit die Rede ist. Läppische Kosewörter des Alltags wie süß, goldig usw. sind durch Mißbrauch allmählich ihrer sinnlichen Ausdrucksfähigkeit beraubt worden. „Der Toren Mund macht süße Worte schal“, sagt Stefan George im „Vorspiel“. Auch der eigentliche Kunstgebrauch der „audition colorée“, in dem Wilhelm Heinse und die deutschen Romantiker bereits den französischen Symbolisten vorangegangen sind, schlägt nicht mehr ein; sie ist auch nicht immer echtes Erlebnis gewesen, sondern oft als virtuosenhaftes Spiel zur Manier geworden. Ebenso braucht ein als Sinneseindruck wirkendes Beiwort, wie die „braune Nacht“, das beim ersten Auftreten originell war, aber in der italienischen und deutschen Barockdichtung konventionell wurde, durchaus nicht auf individueller Naturbeobachtung zu beruhen, sondern mag eher den Farbentönen einer bestimmten Landschaftsmalerei abgesehen sein. Fragen wir endlich nach schöpferischer Eigenprägung im Hauptwort, so stehen ihr beim einfachen Nomen geringe Möglichkeiten zur Verfügung. Zwar wissen wir von Dichtern, die sich in jungen Jahren eine eigene Sprachwelt aufbauten, wie Mörike und seine Freunde mit dem Traumreich Orplid, Clemens Brentano in dem Märchenland Vaduz, Johann Peter Hebel in Lörrach mit der Naturreligion des Belchismus, ebenso Christian Morgenstern oder der einsame Stefan George mit seinen Experimenten einer neuen Spracherfindung, die im wesentlichen ein Einfühlen in die romanische Sprachwelt bedeuteten. Später heißt es in dem „Jahr der Seele“: Des Sehers Wort ist wenigen gemeinsam: Schon als die ersten kühnen Wünsche kamen In einem seltnen Reiche ernst und einsam, Erfand er für die Dinge eigne Namen. |#f0246 : 222|

Aber von den mythenbildenden Phantasien ihres Geheimbundes konnten höchstens Namen wie Weyla, Maluff oder Ulmon in die spätere Dichtung Mörikes und Bauers übergehen. Neue Wörter für alte Begriffe können sich nur durchsetzen, wenn sie von einer großen Gemeinschaft aufgenommen werden und wenn ihre Schöpfung im Strome der Sprachentwicklung getragen wird. So können nominale Neubildungen eigentlich nur als Abkürzungen, Zusammenziehungen und Ableitungen von bestehenden Wortformen Sinn erhalten (z. B. als Substantivierungen von Infinitiven oder Adjektiven), während Analogiebildungen, wie Christian Morgensterns Oste neben der Weste, durch ihre Sinnlosigkeit oft von grotesker Komik sind. Auf dem Doppelsinn vieler Nomina beruht ein hauptsächliches Stilmittel des Wortspiels. Wiederum bietet der Reichtum der Synonyma vielfältigste Möglichkeit der Variation, zu der auch die Stilmittel der Metonymie (z. B. „Himmel“ für „Gott“) und der Synekdoche („der Franzmann“ für „die französische Armee“) zu rechnen sind. Die Beschränkung nominaler Neubildungen schafft sich Ersatz in der unbegrenzten schöpferischen Entfaltungsmöglichkeit substantivischer Wortzusammensetzungen. [Annotation] Hier kommen wir auf das eigentliche Gebiet der Metapher, deren Strukturgesetze Hermann Pongs in Übereinstimmung mit anderen Sprachphilosophen auf eine primäre Zweigliedrigkeit zurückführt, aus der erst in der Verschmelzung von subjektivem Ausdruck und objektiver Geltung eine Worteinheit sich herstellte. In seinem grundlegenden Buche „Das Bild in der Dichtung“, das die organische Sprach-Entfaltung der Ausdrucksmittel als eine Morphologie der dichterischen Formen hauptsächlich mit Beispielen der deutschen Lyrik belegt, wird die Metaphorik als immer neu einsetzende Wiederholung des Sprachschöpfungsaktes aufgefaßt. Hatten sich frühe Gebilde lautmetaphorischen Ursprungs in der Gebrauchssprache zu allgemeinverständlichen eindeutigen Zeichen abgeschliffen, so durchdringt sie der Dichter erlebnismäßig mit neuem Gehalt, indem er ihnen eine andere, uneigentliche Beziehung gibt. Aus solcher Übertragung entwickelt sich eine neue Zweigliedrigkeit. [Annotation] Als erste Stufe der „Figuren“, in denen Sachsphäre und Bildsphäre sich vereinigen, betrachtet Pongs die Gleichnisse, deren abgekürzte Form auch in den kenningar der altgermanischen Dichtung (Himmelskerze für Sonne, Wundenwolf für Schwert, Kampfbaum für Herz) zu finden ist. [Annotation] Hatte man früher die Metapher überhaupt als verkürztes |#f0247 : 223|

Gleichnis betrachtet, [Annotation] so sieht Pongs ihren wesentlichen Unterschied in der Beseelung oder Erfühlung, die mit Überspringen des Vergleichens zum unmittelbaren Erschaffen eines Bildes gelangt, das als gestaltete Gefühlswelt Wirklichkeit besitzt. [Annotation] In zwei Typen der Bildschöpfung, der beseelend-urbildenden und der erfühlend-erbildenden, wird nun die Stufenfolge emporgeführt von der Du-Hyperbel und Ich-Metapher zur mythischen und kosmischen, magischen und mystischen Vollform und Schwellform, die sich schließlich nicht mehr als Formelement eines Gedichtes, sondern als das Gedicht selbst darstellt. [Annotation] Wir werden nach früheren Darlegungen zu sagen haben, daß damit eine Stufenfolge vom Bild zum Symbol, zum Motiv, zum Problem und sogar zum Ideenträger erfolgt, die über den engeren Begriff des Stils hinausgeht und mehr von der inhaltlichen als von der formalen Seite her zu betrachten ist. [Annotation] Eine andere Steigerung führt ins Äußere und nähert sich der Manier, indem sie zu den extensiven Randformen gelangt, in denen die bildende Potenz nicht mehr als Ganzheit einer großen Gestaltsschöpfung zusammengehalten wird, sondern als ornamentale Metaphernhäufung die sinnvolle Bildzusammenwirkung aufgibt. [Annotation] Dafür finden sich die reichsten Beispiele im Barockstil wie im Impressionismus und Expressionismus. [Annotation] Dagegen gab es auch Zeitalter und Stilrichtungen, die das Übermaß von Bildern verpönten, in der Metapher einen erkünstelten Zierrat erblickten und der Ausdruckskraft einfacher, stimmunggebender, sinn- und gefühlsbeschwerter Worte die Wirkung überließen. Das geschah nicht nur in der nüchternen Aufklärung, sondern mit höchster Wortkunst in Goethes mittlerer, eigentlich klassischer Stilperiode, wie in Hölderlins Spätentwicklung und nachmals bei Stefan George und Rilke. [Annotation] Die Wahl der Bilder und ihre Herkunft aus bestimmten Vorstellungs- und Erlebnisbereichen wird für den Personalstil von Bedeutung sein. Indem wir diese Fragestellung, die aus dem Bildgebrauch ins Innere der Dichterpersönlichkeit vorzudringen sucht, dem zweiten Buch vorbehalten, kehren wir zum grammatischen Charakter der Stilformen und ihrer sprachpsychologischen Bedeutung zurück. Nicht alle metaphysischen Wortzusammensetzungen haben poetische Kraft. Die Soldatensprache des Weltkrieges hat z. B. eine Unmenge origineller Prägungen geschaffen („Gulaschkanone“ für Feldküche, „Paradieskutscher“ für den Feldgeistlichen, „Karbolmäuschen“ für die Krankenschwester usw.), deren ironische Fassung sich einer Aufnahme in die Dichtersprache widersetzt; volkstümliche Neubildungen dieser Art können nur mittelbar aus der Umgangssprache übernommen werden zur Belebung eines naturalistischen Dialogs. Ähnlich ist |#f0248 : 224|

es mit der Literaturfähigkeit des englischen Slang und des französischen Argot beschaffen. Andererseits sind nicht alle neugeprägten Wortzusammensetzungen als Metaphern zu betrachten. [Annotation] Bei mehrgliedrigen Kompositen wie Goethes „Brandschandemalgeburt“ oder „Knabenmorgenblütenträume“, aber auch bei Verbalzusammensetzungen, wie dem mephistophelischen „vertripplistreichelt“ im „Urfaust“ und bei gehäuften Adjektivbildungen wie Fischarts „blaublankblendend“ liegt die sinnliche Wirkung weniger im erzeugten Bilde als in der lautsymbolischen Klangwirkung und rhythmischen Wucht. Es gibt Komposita, die noch weit mehr Glieder aufweisen als diese Beispiele, und dabei handelt es sich nicht etwa um chemische Formeln, sondern um poetische Bildschaffung. Schon Jean Paul, der den „Sammwörtern“, wie er sie nannte, eine schrullenhafte Beachtung zugewandt hat, blickte auf das Sanskrit und seine mehr als hundertsilbigen Komposita, denen er scherzend eine „Wortbandwurmstockabtreibmittellehrbuchstempelkostenersatzberechnung“ als Parodie des Wiener Kanzleideutschs gegenüberstellte. Das ist nun freilich das Gegenbild poetischer Sprachschöpfung, denn solchen Wortungetümen des Amtsschimmels fehlt jede rhythmische Gliederung und Wirkung. Im Rhythmus aber liegt die stärkste Ausdruckskraft der Wortzusammensetzung. Auch die durch Bindeworte verknüpften Nomina und Adverbia, die manchmal nichts anderes als Tautologie (voll und ganz), manchmal die Doppelfassung eines Begriffs (Hendiadyoin) darstellen und als Zwillingsformeln oft durch Alliteration oder Assonanz noch enger verkettet sind (Schimpf und Schande, Stufen und Steige, Wetter und Wind, Freie und Weite) sind von rhythmischer Wirkung; ihre Schwingung ist Ausdruck einer ruhigen Fülle und Ausgeglichenheit, wie sie Goethe in seiner mittleren, eigentlich klassischen Periode liebte. Dagegen sind asyndetische Häufungen, ob sie nun als Klimax sich steigern oder als Antiklimax sich mindern oder allein durch ihre Masse Eindruck machen wollen, wie bei Fischart und gelegentlich bei Grimmelshausen, Ausdrucksmittel unruhiger Bewegtheit, wie sie der Barockstil suchte. Die Wortstellung, an die wir mit der nächsten Stufe herantreten, dient sowohl der Sinnbetonung als der rhythmischen Wirkung, und zwar überwiegt das erste in der Prosa, das zweite in der Verssprache. Die Freiheiten des Verses sind unterschiedlich in den einzelnen |#f0249 : 225|

Sprachen, aber immer haben sie derartiges Übergewicht gegenüber der logischen Gebundenheit prosaischer Wortstellung, daß eine syntaktische Stiluntersuchung beide Arten auseinanderhalten muß. Es gibt vier Arten syntaktischer Betrachtung: eine logische, wie sie E. Husserl mit apriorischen Bedeutungsgesetzen zur Grundlegung einer „reinen Grammatik“ anwendet; eine psychologische, wie sie K. Bühlers Syntaxlehre von der Kindersprache her aufbaut; eine historischbeschreibende, wie sie beispielsweise in dem zweibändigen Werk von Wunderlich-Reis über den „Deutschen Satzbau“ ihr Material ordnet; endlich eine vergleichende, die für jede Sprache ihre eigenen Gesetze aufsucht. So hat etwa H. Brugmann die seelischen Grundfunktionen der verschiedenen Völker für die Satzbildung ihrer Sprachen verantwortlich gemacht, und unter den modernen Neuphilologen haben namentlich die deutschen Romanisten unter Voßlers Führung dem mannigfaltigen Kunstgebrauch in der französischen Wortstellung Aufmerksamkeit geschenkt unter Heranziehung deutscher Gegenbeispiele. Eugen Lerch hat sieben Typen der Wortstellung unterschieden, die er als logische, als Kontaktstellung, als Anordnung nach der Konkretheit, als rhythmische, als impulsive, als auf den Hörer eingestellte und als impressionistische bezeichnet, wobei impressionistisch nicht von vornherein als Stilbegriff zu gelten hat. Die logische Ordnung ist die Reihenfolge von Subjekt, Prädikat, Objekt, die sich erst im Lauf der Zeit herausgebildet hat; die geschichtliche Entwicklung weist dem Verbum in den indogermanischen Sprachen eine ursprüngliche Stellung am Satzschluß zu, aus der es mehr und mehr vorgerückt ist. Zum impressionistischen Typus gehört nach Lerch die Stellung des Verbs am Satzanfang, womit sich eine starke Bewegung dem Hörer sogleich entgegenwirft, z. B. in Conr. Ferd. Meyers „Römischem Brunnen“: Aufsteigt der Strahl. Es kann das Subjekt sogar bis ans Ende des Satzes zurückgedrängt werden, wie in Richard Dehmels „Verwandlungen der Venus“: da .......... legt sich sanft um meine Hand und rührt mich bis ins weheste Mark wie junge Liebe so still und stark und warm um meinen Hals gebogen, ein Arm. Ähnliche gestaute Wortstellung findet sich gelegentlich auch in der Prosa Heinrich v. Kleists: |#f0250 : 226|

„Und während draußen noch der Streithengst wiehert, und, mit den Pferden der Knechte, den Grund zerstampft, daß der Staub, als wär' ein Cherub vom Himmel niedergefahren, emporquoll: öffnet langsam, ein großes flaches Silbergeschirr auf dem Kopf tragend, auf welchem Flasche, Gläser und der Imbiß gestellt waren, das Mädchen die Türe und tritt ein.“ Den Unterschied zwischen prosaischer und poetischer Wortstellung hat Arno Holz in einem andern Beispiel aufzeigen wollen, nämlich an dem Gedichtanfang: Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf. Es ist richtig, daß die logische Wortstellung „Der Mond steigt hinter blühenden Apfelbaumzweigen auf“ reine Prosa wäre, wenn auch nicht dichterische. Dazu ist der Satzrhythmus zu schwerfällig. Gleichwohl bestehen daneben klassische Gedichtanfänge, die schlicht und klar mit dem Subjekt beginnen: Der Mond ist aufgegangen Der Mond steht hinter den Bergen. Und daneben kann man das bekannteste Mondlied stellen, das nur im Titel das Gestirn nennt, mit seinem eindringlichen verbalen Einsatz der Anrede: Füllest wieder Busch und Tal. Die dichterische Sprachwirkung findet nicht in der Syntax ihren Ausdruck, sondern im Rhythmus. Die Reihenfolge der Worte bildet nur eines unter den sieben Hilfsmitteln des Satzbaus, die in Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachwissenschaft“ aufgezählt werden. Der Psychologe Karl Bühler weiß in seiner Untersuchung „Vom Wesen der Syntax“ diese Zahl nicht zu vermehren, aber er ergänzt die musikalische Gruppe, die aus den drei Ausdruckswerten dynamische Abstufung, Modulation der Tonhöhe und Tempo besteht, noch durch eine Fülle kleiner phonetischer Variationen, die in der Schrift nicht zum Ausdruck kommen. Jenes von Sievers zunächst als Lautmelodie und dann als Schallform bezeichnete geheimnisvolle Klangverhältnis zwischen den einzelnen Lauten, das, wie schon oben (S. 194 f.) gesagt wurde, erst aus dem Zusammenwirken von Dynamik, Melodik und Rhythmik entsteht, ist mit keiner Statistik syntaktischer Formen zu erfassen; es ist das Wortlose, das nach einem Worte Klopstocks unsichtbar wie die Götter Homers durch die Reihen der Kämpfer wandelt; |#f0251 : 227|

ausgesprochen wird es erst im erfühlenden Vortrag, der dem seelischen Gehalt und seinen Schwingungen gerecht wird. Die Ausdruckswerte unseres Schemas, wie klar, harmonisch, plastisch, phantastisch, übersteigert, verschwommen, sind die nachträglich dem Text beizugebenden Schlüssel und Vortragszeichen. Die Stilunterschiede setzen sich fort in der Satzgliederung. Auch hier sind die einzelnen Sprachen von verschiedenen Tendenzen und Möglichkeiten beherrscht: das Lateinische schätzt verwickelte Konstruktionen im Wechsel mit knapper Prägnanz; das Französische ist für knappe Klarheit, das Englische für energische Bestimmtheit; das Deutsche hat in seinem Satzbau keine gerade Entwicklungslinie, sondern es hat immer wieder Rückfälle in gründliche Schwerfälligkeit und unergründliches Dunkel erlebt, wofür Gefühlshaltigkeit und Gedankenfülle, aber nicht selten auch ungeschickte Nachahmung fremder Muster Ursache waren. Dafür haben die großen Stilreformatoren wie Luther, Lessing, Nietzsche immer für scharfgeschliffene Prägnanz sprachlicher Gliederung gesorgt, und bei ihrer Leistung besteht das Wort Nietzsches zu Recht, daß man nur im Angesicht der Poesie gute Prosa schreiben könne. Über die nationalen Verschiedenheiten hinweg haben die Zeitalter ihre Maße und Maßlosigkeiten gemeinsam, aber zugleich besitzt jeder einzelne Schriftsteller seine Eigenart im Bau der Sätze, die seiner Denkform entspricht und namentlich in den Schlußkadenzen charakteristisch hervortritt. So hat R. M. Meyer für Lessing, Goethe, Schiller, Nietzsche typische Bilder des Satzbaus festzustellen vermocht. Sogar in den einzelnen Werken desselben Schriftstellers ist die Gliederung nicht die gleiche. Der feine Stilist Theodor Fontane hat z. B. unter seinen Erzählungen solche „mit und“ und solche „ohne und“ unterschieden, deren Satzbau von Thema, Stimmung und Problem abhängig war. Parataxe und Hypotaxe, Parallelismus, Antithese und Chiasmus, Wiederholung und Steigerung sind demgemäß Mittel, die eine der Grundstimmung des Werkes entsprechende Anwendung finden. Dasselbe Verhältnis, das bei der Wortverbindung im einfachen Satz und bei der Gliederung zusammengesetzter Sätze in Erscheinung tritt, setzt sich fort im Zusammenschluß mehrerer Sätze zu einer Periode. Auch da kann von antithetischem und synthetischem Aufbau, von harmonischer Symmetrie, von rhythmischer Wiederholung, spielerischer Sprunghaftigkeit, Klarheit und Verschwommenheit gesprochen |#f0252 : 228|

werden. Bisher haben wir erst wenige Untersuchungen, in denen der einheitliche Stilwille eines Werkes im Fortgang von den einfachsten Sprachmitteln bis zu den zusammengesetzten verfolgt und als Walten innerer Gesetze erkannt wird. Ein Versuch dazu ist vor einem Vierteljahrhundert in Georg Gloeges „ästhetisch-psychologischer“ Stiluntersuchung „Novalis' Heinrich von Ofterdingen als Ausdruck seiner Persönlichkeit“ gemacht worden und führte zu dem resignierenden Schlußergebnis: „Nur ein ganz großer Künstler vermöchte mit genialer Intuition aus den vereinzelten Zügen, die hier in systematischer Ordnung vorliegen, eine lebendige Einheit zu schaffen.“ Als neueres Muster einer statistisch unterbauten, aber trotzdem zum Einblick in die künstlerische Eigenart fortschreitenden Erkenntnis sei die sorgfältige Untersuchung einer Mériméeschen Novelle „La Vénus d'Ille“ durch Robert Bräuer herangezogen. Was noch übrig bleibt, nachdem in Wortstellung, Klangfiguren, Satzbau und Perioden dieselbe innere Sprachform nachgewiesen ist, würde in der Weiterführung zur nächsthöheren Einheit, dem Großbau der Periodenfügung, bestehen, und schließlich müßte dieser Weg zum Aufbau des Ganzen führen, seine Zusammenhänge mit Problem und Idee der Novelle ergründen und darüber hinaus bei der künstlerischen Persönlichkeit des Verfassers enden. Hierzu wäre vielleicht die Intuition nötig, die dem vorher eingehaltenen Gang der Untersuchung fehlt. Die inneren Gesetze des Stils durchdringen die Gliederung einer Strophe, deren festes Schema elastisch genug bleibt, um die charakteristische Prägung des Syntaktischen und Rhythmischen anzunehmen. Das gleiche Verhältnis kann sich fortsetzen als Beziehung der einzelnen Strophen zueinander und als Gliederung des ganzen Gedichts. Das gilt nicht nur für die Dreigliedrigkeit mittelalterlicher Strophen und Lieder, sondern ist auch in neuerer Lyrik zu beobachten. So hat Karl Viëtor für die Gedankenführung Hölderlinscher Oden die Folge von These, Antithese und Synthese erkannt. Dagegen kann man in den 15 Strophen von Uhlands Meisterballade „Taillefer“ die Symmetrie einer Pyramide erblicken: die drei Strophenpaare des Aufgesangs finden in den drei Strophenpaaren des Abgesangs eine rückläufige Entsprechung, die im Parallelismus von Singen, Feuer, Sturm leitmotivartige Verbindung schafft, während die drei mittleren Strophen, in denen die Spitze zusammengefaßt ist, den Übergang vom Wunsch zur Erfüllung vollzieht. Wiederum ist die Kreisform eines räumlichen Nebeneinander, das Anfang und Ende zusammenfallen |#f0253 : 229|

läßt, in den beiden Zyklen von Rilkes „Sonetten an Orpheus“ zu erkennen, und dasselbe fließende Aufbauprinzip beherrscht bereits das einzelne Stück, wie am besten an I, 23 und II, 7 zu zeigen ist, die Kuriosa in der Sonettliteratur überhaupt nur aus je einem Satz bestehen. Von solcher Beobachtung aus scheint eine Verbindung mit den von Hans Leisegang aufgestellten „Denkformen“ möglich, die in Begriffspyramide, Gedankenkreis und Kreis von Kreisen für typische sprachliche Ausdrucksweise weltanschauliche Voraussetzungen zu gewinnen suchen. In entsprechendem Verhältnis können die Kapitel eines Romans, die Szenen und Akte eines Dramas und die Gesänge eines Epos zueinander stehen. So kommen wir schließlich dahin, auch den äußeren Aufbau des Ganzen, der bisher auf der dritten Stufe unter dem Gesichtspunkt der Technik betrachtet war, als Stilform zu erkennen. Und damit endlich rechtfertigen sich Gleichungen zu anderen Künsten, wobei ein Dichtwerk als musikalisch und malerisch oder architektonisch und plastisch aufgebaut erscheint und zwischen geschlossener Form einer regelmäßigen Symmetrie und asymmetrischer offener Form unterschieden wird. So hat man für Kleist, Jean Paul und Stifter musikalischen, für Schiller architektonischen Aufbau nachgewiesen, und Shakespeare ist gemäß der Komposition seiner Werke dem Barockstil zugerechnet worden. Auf diese Weise gelangen die analysierten Schöpfungen zur Einordnung in die Bildung großer Stiltypen, die nicht auf Sprache und Dichtung beschränkt sind. Auf sie hat schon die Einzelbeobachtung vom Wortgebrauch aufwärts in steigendem Maße hingeführt. Wenn wir das Schema, das oben (S. 216) vorbereitet war, umbiegen zur Kreisform, so daß die senkrechten Schichten von außen nach innen sich zusammenschließen zu Ringen, während die waagerechten Schichten sich fächerförmig entfalten und zu einander entgegengesetzten Sektoren eingeschnürt werden, tritt das Benachbarte und Entgegengesetzte in sichtbare Erscheinung. Von der äußeren Schale der Schrift bis zu dem inneren Gerüst des von der Idee beherrschten Aufbaus steigen die Stufen, in bestimmte Richtungen geteilt, empor, und wir gewinnen das gesuchte Bild jener Drehscheibe, die der Weichenstellung Zufuhr bietet. Um die Peripherie dieser Windrose, deren Himmelsrichtungen durch die Gegensätze von Statik und Dynamik, von Ausdruckskunst und Eindruckskunst gewiesen werden, sind die Stilbegriffe, nach denen die Richtungen ganzer Zeitalter ihren Namen tragen, als Typen einzuzeichnen. |#f0254 : 230|

Der Platz, der den Stilrichtungen zugewiesen ist, darf nicht so verstanden werden, als ob mit den zwei Sektoren, die jedem einzelnen untergeordnet sind, der Stilbegriff erschöpfend charakterisiert sei. Klassik ist nicht mit den Schlagwörtern plastischer Ruhe und harmonischer Symmetrie, Expressionismus nicht mit Eigenprägung und [Abbildung] I. Schrift, II. Wort, III. Wortzusammensetzung, IV. Wortstellung, V. Satzgliederung, VI. Periode, VII. Aufbau Übersteigerung, Barock nicht mit antithetischem Lebensgefühl und musikalischer Bewegtheit, Rokoko nicht mit spielerischer Logik allein endgültig geklärt. Vielmehr umfaßt und beherrscht jeder dieser Stile mit seinen Mitteln mindestens den ganzen Halbkreis, in dessen Zenit er steht. Die beiden ihm untergeordneten Sektoren gehören ihm daher nicht allein, aber sie bilden gewissermaßen |#f0255 : 231|

die Wirbelsäule seiner Struktur; in seinen Gliedern aber füllt er nicht nur den Halbkreis, sondern er kann sich sogar wie ein Fächer über dessen Grenzen hinaus entfalten und Richtungsgegensätze, die unvereinbar scheinen, ins ich aufnehmen. Insbesondere gilt dies nun für den Individualstil jedes Schriftstellers, der selten ganz in einem Zeitstil aufgeht. Sogar jedes einzelne Werk kann, unbeschadet seiner Einheitlichkeit Besonderheiten aufweisen, die sich nicht mit dem Typus eines Zeitstils decken. Wenn die am Einzelwerk vorgenommene Stilanalyse mit ihren Beobachtungen einzelne Felder des Kreises belegt, so werden die ausgefüllten Rubriken einen vielzackigen Ausschnitt bilden, dessen eigenartige Silhouette das Charakteristische des individuellen Stiles darstellt. Wie verhält sich nun dieses Schema zu dem am Anfang des Abschnittes (S. 201) als Aufgabe gestellten Überblick über zwanzig verschiedene Stilkombinationen? Will man die begriffliche Ordnung weiter schematisieren, so müßte das charakteristische Beobachtungsmaterial, das auf die zwanzig Felder verteilt ist, nun den vorgezeichneten Kreis noch in neunzehn weiteren Exemplaren beanspruchen, wobei jedesmal das für die Lebensstufe, für die Person, für die Altersgemeinschaft, für die Heimat usw. Kennzeichnende eingetragen würde. So würden zwanzig Stilsilhouetten zustande kommen, von denen die späteren mit ihresgleichen, wie es sich aus anderen Stiluntersuchungen ergeben hat, zur Deckung gebracht werden müßten, um das Typische des Stammes und der Periode, der Sprachgemeinschaft, des Zeitalters und der Rasse allgemeingültig festzulegen zur weiteren Verwendung bei der Stilanalyse von Einzelwerken. Die Methoden einer Sprachphysiognomik, wie sie Heinz Werner angebahnt hat, liegen noch ganz in den Anfängen und haben sich bisher mehr auf die Umgangssprache als auf die Dichtung bezogen. Werden sie weitergeführt zur physiognomischen Analyse des Wortkunstwerks, so kommt die Untersuchung in ein ähnliches Stadium, wie es seinerzeit die Lavatersche Physiognomik darstellte, die im Schattenriß ein brauchbares Mittel der Charakterbestimmung finden wollte. Der Analyse eines Stilprofils kann die gleiche Aufgabe gestellt sein: es kann als Ausprägung des Geistes einer Dichtung und der Weltanschauung eines Dichters oder sogar eines ganzen Zeitalters und einer Rasse begriffen werden. Nun kann aber die Schädelform doch nur ein bescheidenes Merkmal sein für die Beschaffenheit des Hirns, in dem Geist und Seele ihr Kraftzentrum haben. Den ersten Physiognomikern sind mancherlei Mißgriffe unterlaufen, die zu den deutlicheren Charaktersymptomen, |#f0256 : 232|

wie sie in den Handlungen des Menschen gegeben sind, sich in Widerspruch setzten. So kann auch der Stil keineswegs als das einzige ausschlaggebende Charakter- und Weltanschauungskriterium betrachtet werden; man wird vielmehr der mitttelbaren Aussprache in der Dichtung mehr Bedeutung beimessen und erst danach die Übereinstimmung zwischen mittelbarer und unmittelbarer Selbstoffenbarung erkennen.

8. S e c h s t e S t u f e : D a s P e r s ö n l i c h e a) Weltanschauliche Haltung Zwischen Weltanschauung und Stilrichtung besteht eine Beziehung, die man beinahe als psychophysischen Parallelismus bezeichnen könnte, wenn man in der Weltanschauung eines Dichters die Seele seines Stils, im Stil eine Verkörperung seiner Weltanschauung erblicken will. Stilbezeichnungen wie Naturalismus, Realismus, Romantik oder Mystik haben gleiche Geltung als Benennung von Weltanschauungen. Beides entfaltet sich für ein Stück des Weges in gleicher Stufenfolge zu gleichartigen Einheitsbildungen: man kann wie vom Stil, so auch von der typischen Weltanschauung einer Rasse, einer Nation, eines Stammes, aber auch von der eines Zeitalters, einer Periode, einer Generation sprechen. Nur endet die absteigende Reihe hier beim Individuum; man kann im allgemeinen nicht von der Weltanschauung eines Werkes sprechen. Es bleibt auch zweifelhaft, ob mit dem Wandel des Stils die wechselnden Weltanschauungen verschiedener Altersstufen zu erfassen sind, da solche Änderung der Haltung und Richtung noch keine feste Prägung bedeutet. Diese ist vielmehr erst eine Gabe der Reife. Jugendliche Weltanschauungsbekenntnisse gehen meist mit der Zeit und schließen sich, auch wenn sie revolutionär sind, einem bahnbrechenden Wecker und Künder an. Je schneller sie wechseln, desto weniger ist es möglich, jedes einzelne Werk als Ausdruck einer bestimmten, im Lebenskampf gewonnenen und unabänderlich feststehenden Überzeugung aufzufassen, wie wir sie unter Weltanschauung verstehen. Die Analyse trifft auf ein ausgesprochenes Bekenntnis nur da, wo die Absicht dazu besteht, als vornehmlich bei religiösen und philosophischen Dichtungen, oder da, wo subjektives oder objektives Ringen um ein Weltbild das eigene Thema der Dichtung ist, wie beim Bildungsroman oder im Ideendrama. Je nachdem, ob es als subjektiv |#f0257 : 233|

oder als objektiv aufzufassen ist, kann sich solches Weltanschauungsbekenntnis bereits auf der vierten und fünften Stufe bei der Untersuchung der Selbstdarstellung und der Wirklichkeitsauffassung gezeigt haben. Diese Trennung entspricht dem Dualismus von subjektiver Einstellung und objektivem Weltbild, die Karl Jaspers in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ als statische Elemente der Betrachtung voraussetzt, während er das dynamische Zentrum in die bewegten und bewegenden Kräfte der Geistestypen verlegt, die Einstellung und Weltbild umfassend zusammenschließen. Solchen Geistestypus kann nicht jedes einzelne Dichtwerk, sondern nur der Dichter in seiner ganzen Person verkörpern; allenfalls spiegelt sich seine Ganzheit in großen Lebenswerken, die eine Welt für sich darstellen, wie Goethes „Faust“ oder Dantes „Göttliche Komödie“; in der Regel aber muß man eine Zusammenfassung des gesamten dichterischen Schaffens und aller Lebenszeugnisse vornehmen, um über Wandlungen und Widersprüche hinweg zum Wesenskern durchzudringen. Die Frage der dichterischen Weltanschauungstypen wird daher erst im zweiten Buch ihre Besprechung finden. Wenn Goethe im Alter sein gesamtes Schaffen als „Bruchstücke einer großen Konfession“ bezeichnet hat, so erhob er damit den Anspruch, seine Weltanschauung als etwas Gewordenes aus den manchmal widerspruchsvoll erscheinenden Zeugnissen seiner Entwicklung aufzubauen. Für die Analyse jedes einzelnen Werkes ergibt sich daraus die Folge, daß die darin erkennbare Haltung nichts anderes als ein Bruchstück bedeutet, das nach Ergänzung sucht. Beispielsweise hat der junge Goethe in der Prometheusode das Erlebnis des eigenen Schöpfertums in solcher Sturmgewalt ausbrausen lassen, daß das Gedicht als Widerspruch zur christlichen Offenbarungslehre wirken mußte und Lessings zustimmendes Bekenntnis zum Pantheismus herausforderte. Etwa fünf Jahre später entstehen aus einer anderen Lebensstimmung die „Grenzen der Menscheit“, in denen die demütigste Unterwerfung unter Götter und Schicksal verkündet wird. Man wird aus solcher Gegensätzlichkeit keineswegs eine totale Wandlung der Weltanschauung erschließen dürfen; auch in der Sturm- und Drangzeit steht der trotzigen prometheischen Haltung bereits eine ganymedische gegenüber, die zu aufgehender Vereinigung mit dem All emporstrebt. Aber auch die Altersdichtung zeigt scheinbare Widersprüche einer Bipolarität. Das Gedicht „Eins und Alles“ schließt mit den Versen: Denn alles muß in Nichts zerfallen, Wenn es im Sein beharren will. |#f0258 : 234|

Dagegen beginnt das Gedicht „Vermächtnis“ mit dem klar formulierten Widerspruch: Kein Wesen kann zu nichts zerfallen. Das ist keine aufhebende Selbstberichtigung; beides ist Bekenntnis zur gleichen Betrachtung des Seins als eines ewigen Fließens, das kein Beharren zuläßt. Von den Widersprüchen gilt, was der Dichter zu ihrer Rechtfertigung ausspricht: Immer hab' ich nur geschrieben, Wie ich's fühle, wie ich's meine, Und so spalt' ich mich, ihr Lieben, Und bin immerfort der Eine. Im Gegensatz zu dieser vielfältigen, universellen Einheit muß für manchen anderen Dichter bei der weltanschaulichen Haltung, die er einnimmt, die Frage nach der Echtheit gestellt werden. Es gibt ein Gedicht, das die Überschrift „Die Welt“ trägt: Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen? Was ist die Welt und ihre ganze Pracht? Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen, Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht; Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen, Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt. Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen, Ein faules Grab, so Alabaster deckt. Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen, Und was das Fleisch für einen Abgott hält. Komm Seele, komm, und lerne weiter schauen, Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt. Streich ab von dir derselben kurzes Prangen, Halt ihre Lust für eine schwere Last, So wirst du leicht in diesen Port gelangen, Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt. Man wird an allen Stilmerkmalen, vor allem an den gehäuften Antithesen, sogleich die Barockzeit erkennen und auch die in ihr vertretene weltverneinende Haltung finden. Und doch verrät sich in den Bildern eine Art lüsterner Weltfreude, die dem bunten Feld mehr zugeneigt ist als den Kummerdisteln, und der positiv gehaltene zweite Teil fällt mit seinem blassen, innerlich unerlebten und nicht geschauten allegorischen Schlußbild gegenüber der überladenen Sinneswirkung des ersten Teiles völlig ab. Aus anderen Gedichten, wie aus seinem Leben, das wiederum die vielen lasziven Motive seiner Dichtung Lügen straft, kennt man Hofmannswaldau genug als rechtschaffenen |#f0259 : 235|

Epikuräer, um an der Echtheit der eingenommenen Haltung zu zweifeln. Man wird sie deshalb nicht geradezu verlogen nennen dürfen, denn sie gehört wie der Stil zur Haltung der Zeit und ist bei anderen Dichtern, wie z. B. Andreas Gryphius, innerlich erlebt. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nennen, Detlev von Liliencron einmal in dem Gedicht „Betrunken“, das trotz seiner Erlebtheit nicht zu den besten gehört, den abgegriffenen Metaphernschwall parodiert: Die Welt ist das Tal der Küsse, Die Welt ist der Berg des Kummers, Die Welt ist das Wasser der Flüssigkeit, Die Welt ist die Luft des Unsinns, so stellt sich das heulende Elend des Rausches dar als naturalistisches Gegenbild der sinnlichen Weltfreude, von der der impressionistische Dichter sonst beherrscht ist. Man hat, wie es beispielsweise durch Ermatinger geschehen ist, in der ideellen Leere Liliencronscher Stimmungslyrik ein künstlerisches Manko erblicken wollen; trotzdem wird der dem Idealismus abgewandten Haltung der Charakter eines Weltbildes nicht abzustreiten sein. Nicht anders ist es bei Th. Fontane, der einmal aussprach: „Man kann seinen Pessimismus auch in rot, ja in zeisiggrün kleiden. Mehr, man kann auch wirklich dabei heiter werden, vorausgesetzt, daß man ein glückliches Temperament hat.“ Gedankendichtungen können verschiedenartige weltanschauliche Haltungen antithetisch nebeneinander stellen, wie es Schiller mit den „Worten des Wahns“ und den „Worten des Glaubens“ tat. Rudolf Unger konnte darin eine Illustration der Diltheyschen Weltanschauungstypen erblicken und das eine Gedicht als Glaubensbekenntnis des objektiven Idealismus, das andere als das des Idealismus der Freiheit erklären. Immerhin verraten schon die Überschriften und noch mehr die im einen Fall warnende, im andern Fall preisende Haltung des Dichters, zu welcher Weltanschauung er sich selbst bekannte. Bei zusammenprallenden Weltanschauungsgegensätzen im Drama braucht dagegen die Haltung des Dichters nicht klar erkennbar zu sein; ja, es ist die Frage, ob sie anders als durch das Geschehen selbst ausgesprochen werden sollte. Oft muß die Weltanschauung des Gegenspielers als Motivierung seiner Handlungen bestimmter zur Aussprache gebracht werden, als die des Helden, selbst wenn diese mit der des Dichters übereinstimmt. In den „Räubern“ entwickelt Franz Moor sein materialistisches System in folgerichtigeren Gedankenreihen als Karl Moor sein Gefühlsleben; in der „Jungfrau von Orleans“ gibt |#f0260 : 236|

der sterbende Freigeist Talbot das klare Bekenntnis eines Aufklärers, das im Wortlaut sogar an das Testament Friedrichs des Großen erinnert, während Johanna mehr durch ihre Taten, als durch Worte Zeugnis ablegt von ihrem Glauben. Auch in Goethes „Faust“ ist Mephistopheles weit mehr als der Titelheld Vertreter einer Weltanschauung, die er als Kritiker der Schöpfung verneinend und zersetzend formuliert. Wenn er so auftritt, ist er aber nicht der Gegenspieler Fausts, sondern der des Herrn. Wird des Faustdichters eigene Weltanschauung maßgebend offenbart, so geschieht es weder durch Faust noch durch Mephistopheles, sondern durch göttliche Stimmen am Anfang und Ende der Weltdichtung. Aber nun ist sowohl beim Prolog als beim Epilog im Himmel wahrzunehmen, daß zwar die sittliche Einstellung, mag man sie aktiv, kontemplativ oder mystisch nennen, die des Dichters ist, daß aber das Weltbild, weder das sinnlich-räumliche noch das metaphysische seiner eigenen Weltanschauung entspricht. Für den Prolog im Himmel hat Heinrich Rickert nachgewiesen, daß die kosmische Vorstellung in den Gesängen der Erzengel die des ptolemäischen Weltsystems ist, anders als etwa in Klopstocks „Messias“, wo mit dem kopernikanischen System Übereinstimmung hergestellt ist. Für den Schluß des Ganzen hat Goethe selbst zugegeben, daß er eine Anleihe bei den festgeprägten Himmelsvorstellungen der mittelalterlich katholischen Weltanschauung habe machen müssen, um den Helden zur Gnade gelangen zu lassen. Eine andere Haltung mag man in dem „nicht so vieles Federlesen!“ des „Westöstlichen Divan“ erkennen. Außerhalb der dramatischen Gegensätze stehende Gestalten sind die besten Sinndeuter des Geschehens. In diesem Sinn rechtfertigt Schiller die Wiedereinführung des Chores, den er als einen „allgemeinen Begriff“ bezeichnet: „Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen.“ Was heißt das anderes, als daß der Dichter den Chor als ein Organ und Sprachrohr für die Kundgebung seiner Weltanschauung gebrauchen kann! Nach der Auffassung Grillparzers bedeutete der antike Chor den Zoll, den der tragische Dichter dem Geist des Volkes brachte; er war aber zugleich ein Schild gegen alle Verdächtigungen seiner Gesinnung. Ehe er den Chor einführte, hatte Schiller, ebenso wie Goethe, bereits ein anderes Hilfsmittel aus der antiken Dichtung übernommen, nämlich die Sentenz, die in knappster Form wesentliche Weltanschauungsgrundsätze |#f0261 : 237|

vermittelt („Es erbt der Väter Segen, nicht ihr Fluch“, „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“). Sentenzen sind epigrammatische Aussprüche, die aus dem Organismus des Kunstwerks herausgenommen, ein selbständiges Weiterleben führen und zu mancherlei Lebensfragen in Beziehung zu setzen sind. Sie haben zwar ihre besondere Beziehung zur Grundidee des Werkes, dessen Blumenschmuck sie bilden, aber ihre Wurzeln haben sie doch nicht eigentlich in der inneren Form des Kunstwerks, sondern in einem anderen Erdreich, eben in der Weltanschauung des Dichters. Ihr Vorkommen ist eine Stileigentümlichkeit, die indessen nicht nur der Klassik zugehört; sie können sich ebensogut im realistischen Roman finden, etwa in den Gesprächen, die der alte Fontane in einer Plauderstunde liebevoll ausgestaltet hat. Auch da ist es oft so, daß die Bonmots nicht dem Charakter einer bestimmten Person angehören und aus ihm heraus allein verständlich sind, sondern daß sie einem Mitteilungsbedürfnis des Verfassers entspringen, genau so wie die allgemeinen Betrachtungen, mit denen er als Erzähler sich in Beziehungen zur Leserwelt setzen darf. Aus solchen Sentenzen und Aphorismen kann die Analyse eines umfangreichen Einzelwerkes wenigstens Teilvorstellungen von der Weltanschauung eines Dichters gewinnen. Nietzsche hat in seiner „Geburt der Tragödie“ dem Roman, den er auf das Vorbild des platonischen Dialogs zurückführen wollte, die Stellung einer „ancilla philosophiae“ zuerkannt. In der Tat hat man zeitweilig den unepischen Bestandteilen großer Romane mehr Schätzung entgegengebracht als den epischen, und aus dem monströsen „Arminius“ des Lohenstein sind alle Sinnsprüche ausgezogen worden als „Arminius enucleatus“ oder „Lohensteinius sententiosus“. Ähnliches könnte ebensogut bei modernen Gesprächsromanen wie „Helianth“ oder „Zauberberg“ geschehen. Der Roman bietet wie das Drama Gelegenheit zur Auseinandersetzung verschiedenartiger Weltanschauungen, nur daß sie weniger zum dramatischen Zusammenstoß gelangen, sondern mehr im duldsamen Nebeneinander oder gar in epischem Nacheinander sich entfalten. Insbesondere gehört es zum Wesen des Bildungsromans, daß der Held zur Weltkenntnis durch Gegensätze hindurchgeführt wird, die sich vor ihm auftun, und daß seine Entwicklung in vielfältigen Auseinandersetzungen zur Eroberung einer eigenen gefestigten Lebensauffassung gelangt. Dieses Ziel kann in der Abwandlung verschiedener gedanklicher Systeme erreicht werden, wie in Wielands „Agathon“, oder im Durchgang durch ästhetische, religiöse, pädagogische und ökonomische Lebenssphären, wie in Goethes „Wilhelm Meister“, oder |#f0262 : 238|

durch die Bekanntschaft mit einer besonderen Philosophie, wie sie Gottfried Kellers Grüner Heinrich bei den Feuerbachianern auf dem Grafenschlosse erlebt. Die Auseinandersetzungen können sich in breiten Gesprächen vollziehen, die die Entwicklung des Helden begleiten, oder in Tagebucheinlagen und Briefen, die als Ruhepunkte der Selbstbetrachtung den Fortschritt der Erzählung hemmen. Es können episodische Gestalten eingeführt werden mit dem einzigen Zweck, durch ihre Lehren, Warnungen und Weissagungen dem Leben des Helden eine neue Wendung zu geben. Zu ihnen gehören Gurnemanz und Trevrizent in Wolframs „Parzival“, der Narr, der Jupiter zu sein vorgibt, in Grimmelshausens „Simplicissimus“ und die Abgesandten der Gesellschaft des Turms im „Wilhelm Meister“. Als Raisonneure kommen solche Mahner und Warner auch außerhalb des Bildungsromans vor, z. B. in der Gestalt des Mittler in Goethes „Wahlverwandtschaften“. Manchmal haben derartige Figuren auch nur die Ansicht der Gesellschaft zu vermitteln, wie oftmals bei Fontane, der allerdings selten sich in Widerspruch dazu stellt. Wie weit Meinung und Weltanschauung des Dichters vertreten wird, entscheidet sich im allgemeinen mit der Frage, ob der Verlauf den geäußerten Ansichten recht gibt, ob die Befolgung oder Außerachtlassung ihres Rates dem Helden zum Wohl oder zum Verhängnis ausschlägt. Unbedingte Richtigkeit pflegen die Lebensregeln im Märchen zu haben, das, wenigstens in seiner deutschen Form, eine ausgesprochen optimistische Weltanschauung bekundet. Es ist bei Betrachtung der dritten Stufe bereits angedeutet, in welchem Maße die Prägung der Fabel von dem Weltbild des Dichters abhängig ist. Auch andere Elemente der Analyse, wie wir sie in Stimmung und Absicht, in Psychologie, Motiven und Charakteren fanden, stehen mit diesem Zentrum in Zusammenhang. Die Schicksalsbegriffe von Zufall, höherer Fügung und strenger Ursächlichkeit, von Willkür oder Zwang des Handelns, die Wertbegriffe von Standhaftigkeit im Leiden und Todesüberwindung, von sittlicher Freiheit, von Pflicht der Entscheidung und Selbstbehauptung, die Relationen endlich zwischen Schuld und Sühne, Belohnung der Tugend und Bestrafung des Lasters, von diesseitiger und jenseitiger Vergeltung sind durch das Weltbild des Dichters bestimmt. Der Ausgang jeder Tragödie und jeder Komödie zwingt zu einem Bekenntnis. Wir wissen, wie schwer es Lessing wurde, das Ende der „Emilia Galotti“ zu gestalten, bei dem eine Schuld der Heldin gefunden und die Bestrafung des Prinzen einer höheren Gerechtigkeit überlassen werden mußte. Wir erkennen Grillparzers von Schopenhauer beeinflußten Pessimismus, |#f0263 : 239|

wenn am Schluß der „Medea“ der ungetreue Jason zur härtesten Strafe, zu der des Weiterlebens, verurteilt wird. Die ganzen Fragen der tragischen Schuld und der poetischen Gerechtigkeit bedeuten weniger ästhetische als weltanschauliche Postulate, bei denen Wirkung und Erfolg auch vom Einvernehmen mit den herrschenden Anschauungen eines Kulturkreises und eines Zeitalters, eines Volkes und einer das Publikum bildenden Gesellschaftsschicht nicht unabhängig sind. b) Problemstellung Der bisherige Weg der Analyse führt bereits an mehreren Stellen auf den Begriff des Problems als Kern der Dichtung hin: sowohl bei der Fabel und ihren Motiven als bei den Charakteren und ihrer Psychologie erwies sich die Problemstellung als das Verbindungsglied der Kette, in der diese Elemente mit der das Ganze beherrschenden Idee verknüpft sind. Jedes Problem bedeutet eine Fragestellung, die in der Idee ihre Beantwortung finden muß, und eine Idee kann zur dichterischen Gestaltung gelangen nur in der Lösung von Problemen. Wenn der dichterischen Idee selbst eine Polarität zugeschrieben wird, wie es durch Ermatinger geschieht, so weist diese Spannung entgegengesetzter Begriffe vielmehr auf ein zugrunde liegendes Problem, das nach Lösung verlangt, zurück. Wenn andere wiederum in Freiheit und Unsterblichkeit keine Ideen, sondern Probleme sehen wollen, so rechtfertigt sich dieser Brauch nur, solange Antithesen wie zwingende Notwendigkeit oder ewiger Tod der Freiheit und Unsterblichkeit gegenüberstehen. Von den Problemen gilt, was Jaspers als „antinomische Struktur des Daseins“ an den sogenannten „Grenzsituationen“ aufgezeigt: „In jedem der Fälle: Kampf, Tod, Zufall, Schuld liegt eine Antinomie zugrunde. Kampf und gegenseitige Hilfe, Leben und Tod, Zufall und Sinn, Schuld und Entsündigungsbewußtsein sind aneinander gebunden; das eine existiert nicht ohne das andere.“ Immer liegt im Problem ein Entweder-Oder, gleichviel ob es sich um Fragen praktischer Lebensgestaltung oder theoretischer Erkenntnis, um ethische Grundsätze, Menschendeutung, letzte weltanschauliche Entscheidungen oder metaphysische Wahrheiten handelt. Die Problemspannung kann das Erlebnis des Dichters gewesen sein, von dem die Aneignung des ganzen Stoffes und die ganze Konzeption des Werkes ihren Ausgang nahm. Wenn beispielsweise Rousseaus Denkwürdigkeiten den Plutarch rühmten, weil er nur große Tugendhafte oder erhabene Verbrecher darstellte, und in diesem Zusammenhang |#f0264 : 240|

der Graf von Lavagna als würdiges Gegenstück aus der neueren Geschichte genannt wurde, so stand der junge Schiller vor der Frage, welcher der beiden Typen menschlicher Größe in seinem Fiesco zu verkörpern sei. Es handelte sich um das Problem des Verhältnisses von Persönlichkeit und Staatswohl, das schon in den „Räubern“ berührt war, und als die Waagschale nach der Seite des Verbrechens gegen die Freiheit sank, wurde ein Gegengewicht geschaffen: dem Helden wurde ein großer Tugendhafter im starren Republikaner Verrina gegenübergestellt. Ein ähnliches Charakterproblem entrollte Heinrich von Kleist gleich im ersten Satz seines „Michael Kohlhas“, indem er auf einen der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen der Zeit vorbereitete. Hier lag das Problem in der Frage: wie kann man aus Rechtschaffenheit zum entsetzlichen Menschen werden? Nicht selten ist der Vorwurf einer Dichtung von vornherein als solche Fragestellung formuliert worden. Beispielsweise schrieb Theodor Storm über seine Novelle „Ein Bekenntnis“ an Gottfried Keller: „Mein Thema: Wie kommt ein Mensch dazu, sein Geliebtestes zu töten? und wenn es geschehen, was wird mit ihm?“ Auch Büchners „Woyzeck“ hat in der ersten Frage sein Problem gefunden. Die Frage des „Warum“ kann sogar in der Dichtung selbst aufgeworfen werden, wenn sie keine Antwort darauf zu geben weiß. So heißt es am Schluß von Müllners Schicksalsdrama „Die Schuld“: Das W a r u m wird offenbar, Wenn die Toten auferstehen. Rudolf Unger, der nach Wilhelm Dilthey am tiefsten in die Probleme dichterischer Lebensdeutung eindrang, sieht in den großen, ewigen Rätsel- und Schicksalsfragen des menschlichen Daseins den Kerngehalt alles Dichtens. Wenn von ihm vier Beispiele gegeben werden im Schicksalsproblem, im religiösen Problem, im Verhältnis zur Natur und in der Auffassung des Menschen, so schließt jede dieser Lebenssphären wieder vielerlei verschiedene Fragestellungen in sich, die zu Problemen der Dichtung werden können. Zum Schicksal werden die Gegenpole von Freiheit und Notwendigkeit, von Geist und Natur, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit gerechnet, deren zweites Paar auch unter das Verhältnis zur Natur, deren drittes ebensogut unter die Auffassung vom Menschen gestellt werden könnte. Zum religiösen Urproblem sind die Gegensätze zwischen der Endlichkeit des Menschen und seinem unaustilgbaren Streben nach dem Unendlichen und Ewigen gezählt, aber neben den subjektiven Verhältnissen zum Unsichtbaren und Übernatürlichen, die in vielerlei Gegensätzen |#f0265 : 241|

wie Gefühlsgewißheit oder Vernunftbeweis, Autorität oder persönliches Erlebnis, Glaubensdogma oder inneres Schauen, Fanatismus oder Toleranz sich auswirken, stehen die objektiven Gegensätze der Gottesvorstellung wie Transzendenz oder Immanenz, und die religiösen Schicksalsfragen wie Erbsünde und Erlösung. Solche Weltanschauungsfragen werden zu Problemen, sobald in der Dichtung ein äußerer oder innerer Kampf um sie geführt wird. Aber in gleicher Weise kann sowohl eigenes Gottgefühl als die Seelenlage des Menschen, der für einen Gott gehalten wird (Gutzkows Maha Guru, Hauptmanns Emanuel Quint) zum Problem werden. Das dritte von Unger genannte Grundproblem des Daseins, das Verhältnis des Menschen zur Natur, kann in Furcht und Aberglauben, Unterwerfung und technischer Bewältigung wieder zu den Schicksalsfragen hinüberreichen, während Fragen wie Vererbung, Anpassung und Rasse bereits dem Kulturproblem sich nähern. Auch Liebe und Tod werden zu den problematischen Naturformen des Menschenlebens gerechnet, und die Gegensätze, die beiden gegenüberstehen, sind lieblose Ichsucht und ideelle Todesüberwindung. Das vierte Feld liegt in den gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen, wie Familie, Staat, Bildung und Beruf; die Begriffspaarung ist im Verhältnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft, Individuum und Staat, Eigennutz und Gemeinsinn, Selbstentwicklung und Erziehung gegeben. Doch könnten die Problemkreise noch weitere Ausbreitung finden im Ethischen (Gesetz oder Selbstbestimmung, Pflicht oder Neigung, Schuld oder Verhängnis, Sein oder Schein, Wert oder Unwert des Lebens), wie im Ästhetischen (Schön oder Erhaben) und im Politischen (Volk und Menschheit). Die Steigerung zum Problem läßt sich, wie schon oben (S. 173) gezeigt, aus der Stufenfolge von Bild, Zug und Motiv heraus entwickeln. Beispielsweise gibt die Ähnlichkeit zweier Menschen, die sich aus dem Gesicht geschnitten zu sein scheinen, ein Bild der Vererbung. Ein Zug ist die auch im Charakter sich auswirkende Angleichung an die Vorfahren, die im Stammbaumroman eine Rolle spielt. Zum Motiv wird das Charaktererbteil, wenn es sich in Handlung umsetzt. Die körperliche Ähnlichkeit schafft weiter als Erkennungs- oder Verwechslungsmotiv sowohl im Komischen (Menächmen, Shakespeares Lustspiele) als im Tragischen (Grillparzers „Ahnfrau“; das Doppelgängermotiv in Hoffmanns „Elixieren des Teufels“ oder W. v. Scholz' „Perpetua“) und sogar im Tragikomischen (Kleists „Amphitryon“, insofern der Held am Schluß als Erscheinungsform Jupiters erklärt wird), dankbare Situationen. Als Problem aber tritt die |#f0266 : 242|

Vererbung in Erscheinung, wenn sie umkämpft wird, wenn sie einen angeborenen oder prätendierten Rechtsanspruch auf Reich und Thron begründet oder wenn sie als Fluch ein ganzes Geschlecht bedroht. Im einen Fall kann die Bestimmung entweder nach vielen Prüfungen sich durchsetzen (Wolframs „Parzival“) oder sie kann trügerisch zusammenbrechen (Schillers „Warbeck“ und „Demetrius“); im andern Fall erfüllt sich entweder das unausweichliche Verhängnis (Schillers „Braut von Messina“, Ibsens „Gespenster“, Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“), oder die blutsmäßige Bedrohung wird willensmäßig überwunden (Goethes „Iphigenie“, Hauptmanns „Friedensfest“) oder es kann sogar eine zwiefache Lösung in Parallele gesetzt werden (Hesses „Hyazinth und Goldmund“). Während Gottesvorstellung und Schicksal sich in religiösen Problemstellungen zusammenfinden, gehören auf der anderen Seite Liebe und Tod zueinander; sie stellen nach einem sinnreichen Bilde Paul Ernsts die beiden Arme des Gottes der Dichtung dar, dessen Schultern die Unendlichkeit peitscht; aber sie bilden zugleich die ewigen Probleme der Philosophie des Lebens. „Philosopher c'est apprendre à mourir“ lautet ein Ausspruch Montesquieus, der die Bedeutung des „Memento mori“ für Selbstschau und Weltbetrachtung kennzeichnet. Das dichterische Todesproblem, dessen literarhistorische Verfolgung mit Ungers Arbeiten über Herder, Novalis, Kleist einen entscheidenden, durch Walter Rehm, Fr. W. Wentzlaff-Eggebert und viele andere verfolgten Anstoß erfahren hat, läßt für die Frage Tod oder Unsterblichkeit die ideelle Lösung offen in einer Reihe von Glaubensvorstellungen: dem lebenden Leichnam bei primitiven Völkern, dem Totenheer der alten Germanen, der Erhaltung der Entelechie in Goethes Sinn, den Übergang in ein höheres Leben nach christlicher Vorstellung, dem Sternenleben nach Kinderträumen, der körperlichen Wiederkehr, der Seelenwanderung, der Weltseele, der unio mystica und dem pantheistischen Eingehen in das All. Die Auffassung der Liebe, der Paul Kluckhohn ein grundlegendes Buch gewidmet hat, führt gleichfalls zu Unendlichkeitsvorstellungen. Teils reichen sie in Urewigkeit zurück wie Präexistenz und Androgynenmythus (Platons Gastmahl), und nehmen in poetischer Gestaltung die Frageform des Problems an (Goethes: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke ... Sag, was will das Schicksal uns bereiten?“), teils erstrecken sie sich als Liebe, die das irdische Leben überdauert, in künftige Ewigkeit (El. Rowe, „Friendship in Death“ und ihre empfindsamen Nachahmungen; ewige Liebe des Künstlers zu seinem Ideal

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bei E. Th. A. Hoffmann). Liebe und Tod treten in Verbindung durch die Probleme des Liebestodes und der Todesliebe. So ist Friedrich von Hardenberg nach dem Verlust seiner Braut zur Weltanschauung eines magischen Idealismus gelangt, kraft dessen er die Wiedervereinigung mit der Geliebten erzwingen wollte, wie es die „Hymnen an die Nacht“ allegorisieren. Das Motiv des Nachsterbens aber kommt im Problem der inneren Selbstvernichtung durch gewolltes Auslöschen des Lebenstriebes zum Triumph der Liebesidee in Kleists Penthesilea und Grillparzers Hero, wie in Wagners Senta, Elisabeth und Isolde. Und in Rilkes Spätdichtung gelangen die Liebenden erst jenseits des Todes zu wirklichem Können. Bei allen Zusammenhängen zwischen dichterischer und philosophischer Problemstellung liegt der Unterschied darin, daß dichterische Lebensdeutung immer an konkreten, wenn auch erfundenen Einzelfällen und Konflikten aufgezeigt wird, die als symbolisch gelten dürfen, während die Antwort der Philosophie eine abstrakte ist, die nicht aus dem Einzelfall hervorgeht, sondern höchstens zu dessen begrifflicher Erfassung verhelfen kann. Wenn Rudolf Unger nun der Dichtung eine Hilfsstellung für die Philosophie beimessen möchte, weil sie dem verallgemeinernden Denken bereits vorgearbeitet hat durch Auswahl, Steigerung, Deutung und Sinngebung des Rohstoffs der Wirklichkeit, so geht diese Auswertung des Verhältnisses einseitig vom Standort der Philosophie aus. Die literaturwissenschaftliche Analyse wird dagegen mehr an sich selbst denken und sich weniger der Philosophie dienstbar machen, als vielmehr deren Hilfe in Anspruch nehmen für die Klärung, Ergründung und Benennung der dichterischen Problemstellung. Dabei müssen neben dem Standpunkt heutiger Beurteilung, dem eine jetzt geltende Systematik Wegweiser und Maßstab sein kann, nicht minder die zur Zeit des Entstehens herrschenden weltanschaulichen Strömungen, in deren Licht der Dichter sein Erlebnis sah, wie seine eigenen, persönlichen Lebensprobleme zur Deutung herangezogen werden. Es ist derselbe Fall wie bei der dichterischen Psychologie, die gleichfalls aus den zur Entstehungszeit geltenden Seelenvorstellungen wie aus den persönlichen Erlebnissen verstanden werden muß und daneben nach allgemeingültigen Gesetzen des Seelenlebens überprüft werden kann. In ihrer lebenswahrsten Gestaltung bietet sie Anschauungsmaterial für die wissenschaftliche Seelenkunde. So wird auch hier nach Ungers methodischen Richtlinien „die positive Arbeit an den Einzelproblemen und die Ausbildung einer philosophisch orientierten Prinzipienlehre und heuristischen Topik zweckmäßigerweise Hand in Hand gehen.“ |#f0268 : 244|

9. S i e b e n t e S t u f e : G e i s t u n d I d e e Die Beziehung des Begriffes „Idee“ auf die Dichtung hat in ihren vielfältigen Spielarten eine wechselvolle Geschichte. Aus dem Neuplatonismus der Renaissance emporgestiegen, findet das Wort in Scaligers Poetik eine mehr aristotelische als platonische Anwendung, wird von Winckelmann in den Mittelpunkt seiner Kunstbetrachtung gestellt, von Herder seiner Transzendenz beraubt und mit naturphilosophischer Immanenz ins Innere des Kunstwerks verlegt, bei Goethe durch den Begriff des Urphänomens verdrängt und in Hegels Ideenlehre dem absoluten Geist untergeordnet. In positivistischer Reaktion gegen die konstruktiven Auslegungen hegelianischer Ästhetiker gab die Dichtungslehre des 19. Jahrhunderts zeitweilig den Begriff Idee ganz auf. Scherers Poetik wollte nichts davon wissen und glaubte mit Stoff, Thema, Vorwurf, Hauptmotiv auszukommen; zur gleichen Zeit hat auch Dilthey davor gewarnt, in jeder Dichtung eine Idee zu suchen, wobei er auf das Inkommensurable in Shakespeares „Hamlet“ hinwies und auf alle vergeblichen Bemühungen, dort eine Idee ans Licht zu ziehen. Wollte Dilthey damals das zu allgemeingültiger Bedeutung erhobene Erlebnis an die Stelle der Idee setzen, so hat seine spätere Entwicklung dahin geführt, in der Weltanschauung des Dichters den ideellen Kern seiner Gestaltung zu erblicken. Von da führt der Weg weiter zur Thronerhebung des Problems durch Unger, zur Wiederherstellung der Idee durch Ermatinger, zur Krönung des Geistes durch Cysarz, und gegenwärtig scheint sich bei Pongs eine Identität von Idee und Existenz herzustellen.

Für das Verhältnis zwischen Problem und Idee ist im vorausgehenden Abschnitt eine Formel gefunden worden, wonach die Idee sich als entscheidende Lösung des Problems offenbart. Fragen wir weiter, woher diese Entscheidung stammt, so werden wir zur Weltanschauung des Dichters zurückgeführt. Wenn oben gesagt ist, daß die einzelne Dichtung keine eigene, totale Weltanschauung haben kann, so bleibt ihr doch der Ausdruck einer bestimmten Idee vorbehalten. Idee ist aber die auf ein Problem bezogene und in seiner Lösung ausgeprägte weltanschauliche Haltung des Dichters. Die dichterische Idee scheint damit zum Organ der Weltanschauung herabgesetzt, aber zugleich ist sie innerhalb der Dichtung zur entscheidenden Bedeutung erhoben. Man kann sagen, daß die Idee ihre Wirksamkeit entfaltet, wenn der Dichter etwas von seiner eigenen Weltanschauung in die schwebende Waagschale der Problemstellung wirft. |#f0269 : 245|

Die Idee gäbe, wenn wir bei diesem Bilde bleiben wollen, mit ihrem Tiefgang erst dem Ganzen Halt und Gewicht so wie das Schiff, erst wenn es seine Ladung hat, gesteuert werden kann. So sieht Emil Ermatinger in der Idee den dynamischen Mittelpunkt der ursächlichen Ordnung aller inhaltlichen Elemente; er läßt die ganze Vielheit einzelner Gedanken und Problemstellungen von ihr ausstrahlen. Das gegenseitige Verhältnis von Idee, Stoff und Form erblickt Ermatinger in demselben Anschauungsbild eines Dreiecks, das unser an den Eingang dieses Kapitels gestelltes dispositionelles Schema entworfen hat (S. 111). Aber indem er Idee und Stoff sich in der Form zur Einheit vermählen läßt, legt er das, was wir als Spitze des Dreiecks ansahen, auf den Boden. Die Verbindung von Idee und Stoff bildet bei ihm die Basis, auf der sich die Form aufbaut. Wir legten dagegen Stoff und Form zugrunde und begrenzten das aufsteigende Ineinanderwirken von Gehalt und Gestalt durch die Schenkel, die in der Idee als der Spitze des Dreiecks oder dem Gipfel der Pyramide zusammentreffen. Die Idee liegt dann nicht im Kiel des Schiffes, sondern bildet Kapitänsbrücke oder Flaggenmast; sie ist gewissermaßen der Dachfirst des Hauses, dem alle Glieder als Tragpfeiler dienen. Alle Gedanken, alle Gestalten, alle Motive, alle Problemstellungen stehen in Verhältnis zu ihr und zeigen den Weg zur Idee, selbst wenn sie ihr ausweichen und entgegengesetzt erscheinen. Für die Genesis des Kunstwerkes wäre dieses Bild zweifellos irreleitend, denn die Idee ist entstehungsgeschichtlich keineswegs das letzte Glied des Gefüges. Nur einmal, beim „Gyges“ hat Hebbel festgestellt, daß zu seiner eigenen Überraschung, wie eine Insel aus dem Ozean, erst bei Abschluß des Stückes die Idee der Sitte als alles bedingend und bindend hervorgetreten sei. Daran wird richtig sein, daß diese Zentralidee erst jetzt ihm bewußt wurde, während sie doch wohl von Anfang an als ein verhüllter Gipfel zu dem Ideen-Hintergrund gehörte, den der Dichter bei allen Arbeiten wie eine die Landschaft abschließende Gebirgskette vor sich sah. Von manchen Theoretikern des Schaffensvorganges, z. B. Pierre Audiat, ist die schöpferische Idee (l'idée créatrice) wie der Geist, der über den Wassern schwebt, an den Anfang der Schöpfung gesetzt worden. Die Analyse dagegen kann ihre genetische Rolle erst rückläufig erschließen, nachdem die Idee gefunden ist, und dieses Ergebnis stellt sich in der Tat als letztes erst nach Aufnahme der ganzen Dichtung her. Manchmal kommt die Idee am Ende eines Werkes zur Erörterung, wie der Staatsgedanke in Kleists „Prinz von Homburg“ V, 5 und in Hebbels „Agnes Bernauer“ V, 10. Entscheidend für die Lösung der Problemstellung kann sogar |#f0270 : 246|

das letzte Wort einer Dichtung sein, z. B. in Schillers „Braut von Messina“: Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld. Auch Goethe hat im Chorus Mysticus, der den Schluß der Faustdichtung bildet, den tiefsten Sinn des Ganzen zusammengedrängt, ohne daß man allerdings in diesen Versen eine problemlösende Idee erkennen könnte. Dagegen hat er selbst gelegentlich den vorausgehenden Engelchor als Schlüssel zum Verständnis des Werkes bezeichnet: Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen. Will man in der Tat an dieser Stelle die Idee des Werkes offenbart finden, so hat man in der Zweigliedrigkeit keine Polarität zu sehen, sondern eine Steigerung. Ein Ideenkomplex entsteht im Zusammentreffen von zwei geistigen Mächten. Das eine ist die in den Menschen gelegte Kraft unstillbaren Strebens, das andere die in Gott ruhende ewige Liebe. Das erste wird Problem im Pakt des ersten Teiles, aus dem die Idee des unbezwingbaren Strebens trotz aller Irrungen siegreich hervorgehen soll (entsprechend der Voraussage des Prologs im Himmel). Das zweite Problem ist das der irdischen und himmlischen Liebe, das im ersten Teil mit dem Erlöschen von Fausts Leidenschaft endet, also mit einer Niederlage des Menschen, während es im zweiten Teil durch die entgegenkommende Liebe von oben dem guten Ausgang entgegenwächst. Wie schon bei Gelegenheit der Fabel (S. 140) erwähnt wurde, hat der Faustdichter selbst es nicht wahrhaben wollen, daß alles von ihm auf den Faden einer einzigen durchlaufenden Idee aufgereiht worden sei. Umgekehrt kann man in andern Fällen, wo der Dichter selbst den Sinn eines Werkes nachträglich zusammengefaßt hat, zweifeln, ob damit das Rechte getroffen wurde. So hat H. A. Korff bestritten, daß mit den späten Widmungsversen der „Iphigenie“: Alle menschlichen Gebrechen heilet reine Menschlichkeit wirklich die Idee der Dichtung, die Goethe selbst später als „verteufelt human“ bezeichnete, ausgesprochen sei. |#f0271 : 247|

Die Idee braucht nicht als Zitat, als geflügeltes Wort, als zum Mitnehmen eingewickelter Gebrauchsgegenstand dargereicht zu werden, wie der moralische Satz in der Aufklärungspoetik. Mit Recht sagt Ermatinger, die Idee sei nicht Grundgedanke, Lehrsatz, sichtbare Moral, sondern als seelische Schau und Triebhraft „ein imaginärer Punkt, der im Unsichtbaren wirkt“. Man könnte sie also dem Augenpunkt eines perspektivischen Gemäldes vergleichen, auf den alle Linien in ihrer Verkürzung hinführen. Es bleibt dabei eine Stilfrage, ob die Lage dieses Punktes, der im Unendlichen zu denken ist, sichtbar wird, wie es bei klassischer zentraler Komposition der Fall ist, oder ob, wie bei der Winkelperspektive der Barockmalerei, die Linien sich seitwärts verlieren, so daß der imaginäre Punkt außerhalb des Bildes zu denken ist. 10. S y n t h e s e n Wenn die Idee allen Elementen der Dichtung übergeordnet ist, so wäre zu zeigen, wie sie zu dieser Suprematie gekommen ist, wie sie aus dem Stoff aufsteigt, nach der Form blickt, Erlebnis und Stimmung bildet, die Wahl der Gattung entscheidet, die Fabel prägt, die Absicht klärt, an die Technik Bedingungen stellt, die Psychologie in Bewegung setzt, in Selbstdarstellung sich ausspricht, die Charaktere unter sich zwingt, die Motive wählt, mit der Wirklichkeitsauffassung sich in Übereinstimmung setzt, die Sprachform und den Rhythmus beseelt, im Stil ihr Gewand webt, in der Weltanschauung ihren Boden hat, in den Problemen ihr Sprungbrett findet, und wie sie so sich aufschwingt zum Thron, der ihr die Herrschaft gibt, unter der allen Untertanen ein harmonisches Einvernehmen gewährt ist. Diese neue Bindung aller in der Analyse voneinander gelösten Glieder bedarf aber der Tragkraft des Hauptelementes, das in dem bisher zugrunde gelegten Schema eingeklammert war, nämlich der Persönlichkeit des Dichters. Ohne ihn ist keine Kausalität möglich. Die Idee kann nicht aus dem Stoff geboren werden, ohne daß der Dichter sie in den Stoff gelegt hat. So wenig der Stoff ohne den Keim der Idee zu lebendiger Gestaltung gelangte, ebensowenig kann die Idee konkrete Existenz gewinnen, ohne daß der Dichter sie persönlich aus dem Reich der Mütter heraufgeholt und sich angeeignet hat. Nicht von einer abstrakten Idee, sondern nur von der lebendigen Kraft des Dichters aus ist die Genesis des Werkes darzustellen und das Geschaffene nachzuschaffen. Einer Wiederholung des Entstehungsvorganges in allen seinen Phasen, den günstigen Falles der Einblick

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in die Werkstatt des Dichters durch seine Selbstbekenntnisse ermöglicht, kann kein wesentliches Element, das bei der Analyse gefunden war, entgehen. Analyse und Genesis kontrollieren sich also gegenseitig, denn sie gehen denselben Weg in entgegengesetzter Richtung, indem die eine vom Werk aus den Dichter sucht, die andere vom Dichter aus das Werk aufbaut. Früher einmal habe ich ihr Zusammengehen dem Bau eines Tunnels verglichen, der von beiden Seiten aus in Angriff genommen wird. Die Berechnung erweist sich als richtig, wenn die Bohrungen in der Mitte zusammentreffen; die Durchschlagstelle ist der Prüfstein der Methode. Dabei ist mit allen Widerständen zu rechnen, die ein zu sprödes oder zu brüchiges Material bietet. Voraussetzung der richtigen Errechnung muß auf beiden Seiten Kenntnis der geologischen Schichten sein und Feststellung der Struktur. Auf seiten des Werkes haben wir diese Beschaffenheit durch die Analyse kennengelernt; auf seiten des Dichters stehen wir vor Geheimnissen. Was weiterhelfen kann, ist erstens die Vertrautheit mit dem Menschen, seiner Wesensbeschaffenheit, seinem äußeren und inneren Leben und seiner typischen oder individuellen Schaffensweise, zweitens die Vertrautheit mit den Gesetzen des dichterischen Schaffens als generellem Vorgang. Diese Bedingungen weisen die Genesis des Dichtwerkes den Betrachtungen des zweiten Buches zu. Daneben aber gibt es eine Reihe weiterer synthetischer Verwertungen der in der Analyse gewonnenen Elemente. Jedes kann zusammengetan werden mit seinesgleichen in kategorienmäßiger Gruppierung. Die Stoffe, Situationen, Fabeln, Charaktere, Motive und Probleme sind typologisch zu ordnen; die Formen der Gattung, der Technik, der Psychologie, der Sprache und des Stils können auf ihre Entwicklung hin untersucht werden. Da jeder Teil auf das Ganze schließen läßt, und da das Verhältnis sich aufrechterhält bei Ausdehnung auf das Gesamtwerk eines Dichters, eines Zeitalters, einer Landschaft und eines Volkes, so kann man aus dem Querschnitt zu einer Charakteristik des Ganzen gelangen. Nur wird diese um so dünner und oberflächlicher sein, je weiter das gruppenmäßig zusammengefaßte Element von der geistigen Spitze entfernt bleibt. Die sogenannte Stoffgeschichte kann so gut wie nichts für die Wesensart des Ganzen erbringen, es sei denn, daß sie die verschiedenartige Behandlung desselben Themas psychologisch, stilistisch und völkerpsychologisch auswertet; auch die Betrachtung einzelner Formen, z. B. des deutschen Hexameters, des deutschen Madrigals, des deutschen Sonetts oder des deutschen Ghasels im Vergleich mit antikem, orientalischem oder romanischem Versbau kann sowohl zu entwicklungsgeschichtlichen als zu charakterologischen |#f0273 : 249|

und völkerpsychologischen Ergebnissen führen; die Geschichte der einzelnen Gattung, z. B. des Dramas, läßt sich innerhalb einer Nationalliteratur, eines Kulturkreises (Creizenach) oder sogar der Weltliteratur (Klein) unternehmen, aber Viëtors Versuch, die ganze Geschichte der deutschen Literatur nach Gattungen zur Darstellung zu bringen, ist bei verdienstvollen Einzeldarstellungen geblieben.

Dagegen muß eine Gesamtdarstellung der Technik sich nach den Einzelgattungen verteilen, wobei sie mehr auf systematische als entwicklungsgeschichtliche Betrachtung zielen wird. Auch Motivgeschichte und Stilgeschichte sind als repräsentativer Ersatz für vollständige Literaturgeschichte in Angriff genommen worden. Desgleichen fehlt es nicht an Versuchen, die Weltanschauung und die Wirklichkeitsauffassung (Fricke, Lugowski) als Richtschnur zu wählen; die Menschendarstellung ist als günstiges Beobachtungsfeld durch Heinz Kindermann zum methodischen Spezialgebiet erklärt worden in Nachfolge Diltheys, der bereits die Nachbarschaft von Dichtung und Anthropologie erkannt hatte. „Literaturgeschichte als Problemgeschichte“ zu betreiben, hat Unger befürwortet, ohne zu bestreiten, daß es auch andere Blickpunkte und Dimensionen gebe, und Martin Heidegger hat diese Wendung als eine Bewegung zur Seinsfrage anerkannt. Endlich gibt es Geistesgeschichte und Ideengeschichte. Der weiteste Ausblick bietet sich von den Gipfeln, weil alle Richtungen auf sie hinführen und alle Elemente ihnen unterworfen sind. In dieser Höhenlage hat schon Hermann Hettner die Entwicklung überschauen wollen; sehr viel weiter ist H. A. Korff gestiegen, der seinen „Geist der Goethezeit“ als „Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte“ bezeichnen durfte. Trotz dieser sublimen Stoffüberwindung wird aber neben der Ideengeschichte auch die von Hettner verworfene Geschichte der Bücher und nicht minder die der Dichter, der Gesellschaftsschichten, der Landschaften und der Stämme ihr Recht behalten. Von allen diesen Darstellungsmethoden, die im dritten Buch unter dem Begriff der „Ordnungen“ zur Sprache kommen werden, muß gelten, daß sie die Analyse der Einzelwerke voraussetzen, und dies um so mehr, als die Einzelwerke nur nach bestimmten Elementen ihrer Existenz in Betracht gezogen werden. Aus der Analyse der Einzelwerke sind die Fäden gesponnen, mit denen das Gewebe großer Darstellungen zusammengewirkt werden kann. |#f0274 : E250|

VIER TER HAUPTTEIL DEUTUNG UND WERTUNG Das Werk selbst ist kein Ende, sondern eine Mitte: es kann als Schlußstein in einem Bogen, der von Seele zu Seele geht, als Gerät des Lebens begriffen werden. Das Werk hat durch die opferhafte Selbstentäußerung des schaffenden Geistes etwas erhalten, was ein Gegenstand von sich aus nie hat: nämlich Sinn, eigene Bündigkeit; es ist geistgeladene Materie geworden. Und hier setzt nun die Tatsache des Verstehens ein, nimmt von der anderen Seite das Werk gleichsam in Empfang und läßt sich von ihm zu den Höhen und Tiefen seines Sinngehalts führen. H a n s F re y e r. 1. D a s V e r s t e h e n Die philologische Methodenlehre, die sich in einer Stufenfolge von sprachlicher und sachlicher Interpretation, von niederer und höherer Kritik des Textes wie von niederer und höherer Hermeneutik aufbaut, gelangt nach Untersuchung aller Fragen des Sprachstandes und Wortschatzes, der usuellen und occasionellen Wortbedeutung, der Sinngebung im Einzelnen und der Formgebung im Großen mit ihrer höchsten Zielsetzung kaum über die im vorigen Hauptteil behandelten Aufgaben der Analyse hinaus. Übrig bleibt das, was Goethe zum Ziel setzt, nämlich „das Innere, Eigentliche einer Schrift zu erforschen und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte und inwiefern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde“. Alles andere, die Quellen- und Gattungsbestimmung, die Erschließung des biographischen Anlasses und persönlichen Gehaltes, der Erlebnisse, des Planes, der Absicht, der Motive und Probleme kann zu einer Feststellung und Handhabung der Elemente führen, ohne daß das geistige Band erfaßt wird, das alles zusammenschließt und uns mit seiner Wirkung in Bann zieht. In seiner Handhabung liegt das eigentliche „Verstehen“, das man im Anklang an Goethes Wort als ein „Erkennen von innen“ bezeichnet hat. Die Methodenlehre des Sprachforschers Hermann Paul wollte mit psychologischem Mechanismus dieses geistige Band als eine seelische Gleichstellung von Verfasser und Leser erkennen. Das „Verstehen“ |#f0275 : 251|

eines Textes sollte dann zustandekommen, „wenn in unserer Seele eben die Vorstellungsassoziationen erzeugt werden, welche der Urheber desselben in der Seele derjenigen hat hervorrufen wollen, für die er bestimmt ist“. Dagegen erhebt sich als erster Einwand die Frage, ob ein Werk der Selbstbefreiung, das aus Lebenskrisen und innerem Zwang hervorbrach, überhaupt auf ein bestimmtes Publikum berechnet gewesen sein muß. Stifter sagt im „Nachsommer“: „Der Künstler macht sein Werk, wie die Blume blüht, wenn sie auch in der Wüste ist und nie ein Auge auf sie fällt. Der wahre Künstler stellt sich die Frage gar nicht, ob sein Werk verstanden werden wird oder nicht.“ Wie mancher, der zu seinem eigenen Behagen schrieb, mag nicht anders gedacht haben als Wilhelm Raabe, der den Erzähler der „Alten Nester“ Gott dafür danken läßt, daß er nicht weiß, an welche Leser sich das eben Niedergeschriebene wenden wird. Andere mögen bei der Niederschrift nur an einen einzigen Leser gedacht haben. Aber auch, wenn es ein bestimmter Kreis war, so ist zu fragen, wie zunächst die Gesellschaft, der ein Text zugedacht war, und wie danach ihr Geist festzustellen sei. Durch Widmungen oder Berichte ist solcher Leserkreis unter Umständen zu ermitteln, aber damit ist immer noch nicht erfaßbar, welches seine Vorstellungsassoziationen waren. Selbst dann, wenn der ursprüngliche Widerhall, von dem wir annehmen, daß er beabsichtigt war, in Urteilen kundgegeben ist, bleibt es höchst ungewiß, ob wir heute die gleichen Assoziationen als Eindruck des Textes zu erleben imstande sind. Der von Paul geschilderte Vorgang kann sich eigentlich nur bei Verständigung durch das gesprochene Wort von Mensch zu Mensch herstellen, wenn räumliche und zeitliche Gegenwart durch keinerlei Trennung behindert und der Sprachgebrauch gleichgestimmt ist. Ohne solchen Kontakt ist völlige Identität der Vorstellungsassoziationen unerreichbar. Auf welche Weise dürfte es möglich sein, gegenüber Dichtungen, die für die ritterliche Gesellschaft des Mittelalters bestimmt waren, wie Minnesang und höfische Epik, ohne weiteres die entsprechende Seelenhaltung zu finden, durch die das Verstehen verbürgt sein soll? Nicht viel anders ginge es mit den gesellschaftlichen Idealen des Absolutismus, wie sie in der klassischen Tragödie Frankreichs gepflegt wurden. Und denken wir an Dantes „Göttliche Komödie“ so ist das ganze kosmische System, das sich in den drei Reichen des Inferno, Purgatorio und Paradiso aufbaut, nur aus den Vorstellungen mittelalterlicher Glaubenswelt zu verstehen. Das religiöse, naturwissenschaftliche, politische, gesellschaftliche und ethische Weltbild |#f0276 : 252| einer anderen Zeit und Kulturstufe ist einzuschalten. Wenn auch die dichterische Kraft der Vision unmittelbar in Bann schlägt, so bleibt für den unvorbereiteten Leser außer den sprachlichen Schwierigkeiten viel Seltsames und Unerklärliches. Die vom Dichter gewollten Vorstellungsassoziationen sind also durch den Erklärer erst auf großen Umwegen historischer Reflexion zu erwecken. Wenn französische Theoretiker, z. B. Pierre Audiat, an die Möglichkeit einer vollständigen Reproduktion des Werkes aus der Einsicht in die inneren Entstehungsbedingungen glauben, so muß dieses Verfahren bei fremder Sprache, die zugleich Ausdruck anderen Denkens ist, an der Verschiedenheit des geistigen Raumes scheitern. Aber selbst bei einem nur zeitlichen Abstand entsteht das von E. G. Kolbenheyer hervorgehobene Hindernis, daß die Lautgebilde und Werkmittel der eigenen Sprache für uns verändert sind, „weil wir in einem anderen Anpassungszustand des eigenen Volksstammes stehen“. Will eine literarhistorische Methode bei Dichtungen entlegener Zeiten und Länder die Vergegenwärtigung dadurch gewinnen, daß sie die Kulturlage des Jahrhunderts und die gesellschaftliche Verfassung der einstigen Leserschaft, für die das Werk bestimmt war, in Rechnung zieht und sich mit historischer Einfühlung und Phantasie danach umzuschalten bemüht, so verdoppelt sich die Aufgabe, und man nähert sich den Gefahren eines Kreisfehlschlusses. Es müssen erst die allgemeinen Voraussetzungen verstanden werden, ehe es an das einzelne Werk geht, und diese allgemeinen Voraussetzungen sind wiederum großenteils erst aus dem Verstehen vieler einzelner Werke jener Zeit zu gewinnen. Kommt man zu dem einzelnen Werk, dann liegen sowohl in den Absichten des Urhebers als in der Reaktionsfähigkeit des Publikums, für die es bestimmt war, unbekannte Variabeln. Selten sind die verschiedenen Voraussetzungen so deutlich erkennbar wie bei Vergleich der beiden altdeutschen Evangelienharmonien. Beim niedersächsischen „Heliand“ sind die darstellerischen Mittel heidnischer Heldenepik zur Volkspredigt verwendet, die eine Hörerschaft von Laien für die christliche Idee gewinnen soll; die Mönchsdichtung Otfrids von Weißenburg sucht dagegen, wie schon die verschiedenen Vorreden besagen, auf dem Weg über die kirchlichen Vorgesetzten zu den Gläubigen an Höfen und in Klöstern vorzudringen. Trotz dieser sichtbaren Unterschiede bleibt das, was den Verfassern und dem Publikum beider Dichtungen gemeinsam war, die Glaubensvorstellung und Seelenlage des noch nicht lange christianisierten Germanen, für den Menschen der Gegenwart und sein unmittelbares Erleben verschlossen. |#f0277 : 253|

Man müßte in die Besonderheiten des Gefühlslebens und der Vorstellungswelt, die jedes einzelne Werk mit seinem Zeitalter gemein hat, eindringen können; man müßte, um zeitlich bedingte Schöpfungen zu verstehen, sich dem Typus des Schöpfers und des Empfängers innerlich angleichen. Voraussetzung für ein bewußtes Einleben wäre die Erkenntnis des Typus. Aber, was für die Wesensbestimmung des mittelalterlichen, des gotischen, des Renaissancemenschen oder des sentimentalen Menschen zutage gefördert worden ist (Hoffmann, Worringer, Scheffler, Wieser) besteht in Konstruktionen, die meist nur aus einem Ausschnitt des Ganzen, aus einem bestimmten Ausdrucksgebiet, sei es Dichtung, Kunst, Philosophie oder religiöses Leben, abstrahiert sind und schon deshalb einseitig sein müssen. Bestenfalls stellen solche Erkenntnisse ein Brillenglas her, das den Blick schärft, aber ohne eigenes Augenlicht unnütz ist. Was soeben von den mittelalterlichen Christusdichtungen gesagt wurde, gilt nicht minder, wenn auch unter anderen Zeitumständen, von der einzigartigen Wirkung des Klopstockschen „Messias“, die auf einer durch pietistisches Gefühlsleben erweichten Seelenhaltung des Menschen der Aufklärungszeit gegründet war. Man kann sich in die Empfindsamkeit mittels aller religions- und kulturgeschichtlichen Quellen einzuleben suchen, aber man wird durch dieses Zeitverstehen dennoch zu einem anderen Erlebnis der Dichtung gelangen, als es das der Zeitgenossen war. Eine Probe sind die verschiedenen erfolgreichen Versuche, für den „Messias“ in Vortragsveranstaltungen unserer Zeit eine neue Gemeinde zu werben; die Auswahl der Partien, in denen das Machtwort der Dichtung heute zum ergreifenden Klang wird, ist ganz verschieden von der, die den stillen Leser des 18. Jahrhunderts mit tiefsten Eindrücken erschütterte. Wie hier die einstige Wirkung und die heutige sich in notwendigem Gegensatz befinden, so sind auch heutiges und einstiges Verstehen nicht zu vollständigem Einklang zu bringen. Die Assoziationsfähigkeit des Interpreten bleibt an sein persönliches Erleben gebunden, so daß sein eigenes Verstehen wie das, zu dem er andere anleitet, ebenso subjektiv sein muß als die ästhetische Würdigung, die nach jener Theorie Hermann Pauls nur als geschichtlich feststellbare Wirkung objektiv erfaßbar wäre. Eine Zusammenfassung aller geschichtlichen Urteile aber würde bestenfalls ein einstmaliges „Verstandenhaben“ vermitteln, das uns großenteils fremd bleiben muß. Selbst wenn wir uns bemühen, diese Fremdheit in geschichtlichem Erfassen zu überwinden, so werden wir für unser eigenes unmittelbares Verstehen des Werkes kaum eine andere Förderung erfahren können, als daß wir |#f0278 : 254|

in früheren Urteilen das bestätigt finden, was unsere eigene Empfindung ist. Solche Übereinstimmung muß zu dem Schluß führen, daß unmittelbar ästhetisch erfühlbar und sinngemäß verstehbar bei jedem Werk der Ferne nur das Überzeitliche und Überräumliche ist, was unabhängig von besonderen Kultur- und Geschmacksverhältnissen uns allgemein menschlich berührt. Das Wort Goethes bestätigt sich: „Im Grunde verstehen wir nur, was wir lieben.“ Der Umweg des geschichtlichen Verstehens aus allen uns fremden Voraussetzungen kann nur ein „Zuverstehensuchen“ und ein möglichst geringes Mißverstehen bedeuten. Das wäre die größtmögliche Annäherung an ein unerreichbares Ziel. Anders als die philologische, kulturhistorische, völkerpsychologische und soziologische Methodenlehre faßt der Philosoph den Begriff des „Verstehens“. Seit Wilhelm Diltheys Anknüpfung an Schleiermachers Hermeneutik ist es zum Kernbegriff einer geisteswissenschaftlichen Psychologie und zum Pfeiler für die theoretische Grundlegung der gesamten Geisteswissenschaften geworden. Die Theorie des Verstehens ist als gegebenes Zwischenglied zwischen der Arbeit der einzelnen Geisteswissenschaften und der Philosophie anerkannt; die Philosophie wird, weil die Regelung der Erkenntnis und Sinndeutung aller geistigen Gegebenheiten in ihre Hand gelegt ist, zum Knotenpunkt und zum Wegweiser, der seine Arme nach verschiedenen Richtungen ausstreckt. Die Entwicklung der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, wie sie Joachim Wach in einem dreibändigen Werk dargestellt hat, steht in Verbindung mit den Anweisungen für hermeneutische Praxis, und ihre Betrachtung kann trotz des Willens zu einheitlicher Begriffsbildung nicht verhehlen, daß Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Kunstwissenschaften notwendigerweise ihre besonderen Wege gehen. Auf die schon von Schleiermacher gestellte Frage, ob die Hermeneutik als Kunst oder als Wissenschaft anzusehen sei, kann die Antwort der drei Gebiete nicht ganz die gleiche sein. In der Fragestellung liegt bereits die Anerkennung, daß sowohl Wissenschaft als Kunst an dem Werke der Auslegung mitzuwirken haben; die Antwort hat eigentlich nur das Gewichtsverhältnis der Beteiligung zu bestimmen und zu entscheiden, ob es mehr darauf ankommt, daß Wissenschaft sich in ihrer Anwendung durch Kunstsinn leiten läßt, oder darauf, daß künstlerisches Denken sich unter wisssenchaftliche Leitung stellt. Daß das Verstehen von Kunstwerken, gleichviel, ob man es als Nacherleben, Nachschaffen, Einfühlen, Sichhineinversetzen oder von |#f0279 : 255|

innen gewonnenes Anschauen des Seelischen bezeichnet, auch bei rein rezeptivem Verhalten mehr als alles andere Verstehen von den Organen künstlerischen Schaffens getragen werden muß, liegt auf der Hand. Für Kunstverstehen, mehr noch für Kunsterklären als Anweisung zum Verstehen und am meisten für Besprechen eines Kunstwerkes in darstellender Vermittlung seines alle Eindrücke verbindenden Sinnes ist künstlerisches Empfinden und künstlerische Darstellungsgabe unerläßliche Voraussetzung. Dem unmusikalischen Menschen fehlt mit dem Gehör jede Empfänglichkeit zum Genießen eines Musikwerkes. Wie sollte er es verstehen können, geschweige denn anderen verständlich machen? Der Mensch ohne angeborenen Schönheitssinn wird vielleicht einer gewissen Geschmacksbildung fähig sein, aber ohne ein farbenhungriges Auge, ohne das feinste Fingerspitzengefühl des Tastsinnes, ohne rhythmisches Mitschwingen im Hinblick auf Bau und Gliederung, ja ohne einen gewissen Antrieb zum Nachbilden der aufgenommenen Sinneseindrücke wird er nicht imstande sein, über Werke der bildenden Kunst ein selbständiges Urteil zu gewinnen und anderen die Augen zu öffnen. Ebensowenig wird ein Mensch ohne motorisches Körpergefühl und mimische Ausdrucksgabe auf die Bewegungseindrücke der Tanzkunst oder des Schauspiels mit Verständnis eingehen können. Vollends erweist sich der amusische Mensch blind und taub gegenüber den Werten der Dichtung, und wenn es so ist, können alle Methoden der Welt sein Gebrechen nicht heilen. Es bleibt der Satz des Empedokles in Geltung, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden könne, und es stellt sich das Gleichnis des Plotin ein, das Goethe zu seiner berühmten Anwendung umprägte: „Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?“ Die Dichtung ist weder Ohrenkunst allein noch Augenkunst, sondern Kunst allseitiger Phantasiesinnlichkeit, und wenn der Dichter mit allen Sinnen das Leben in sich aufgenommen und ihm seinen Sinn gegeben hat, so muß der Verstehende mit gleicher Sinnesanspannung im Auditiven, Visuellen und Motorischen das gestaltete Leben entgegennehmen und seinen Sinn begreifen. Bewegliche Phantasie muß auf alle Anregungen eingehen; sie muß Bilder und Gleichnisse in lebendige Vorstellung umsetzen, muß Farben-, Licht- und Klangreize empfinden, Wohllaut, Rhythmus und Dynamik der Sprache erfühlen, innere und äußere Bewegung miterleben, Landschaft und Innenräume schauen und ihre Stimmung einatmen, menschliche Züge durchdringen |#f0280 : 256|

und Charaktere erfassen, Affekte und Sehnsüchte durchbeben, Handlungen in ihrer Folgerichtigkeit und ihren notwendigen Folgen erkennen, Vordeutungen merken und Spannungen spüren und in allem den Sinn des Ganzen erfassen, des Zusammenhanges aller Glieder bewußt sein und die Begegnung mit dem Geiste suchen, aus dem das Werk hervorgegangen ist. Und schließlich bedarf es nicht nur sprachlichen Feingefühls, um Stil und Form der Dichtung persönlich zu begreifen, sondern eine dem Dichter gewachsene und ihm sich angleichende Sprachkunst allein kann die Eindrücke zusammenfassen, die sein Werk erweckt. Denn literarisches Verstehen ist letzten Endes nicht Sache eines Einzelnen, sondern einer Gemeinschaft, deren Vorsprecher der Besprechende ist. Der Dolmetscher einer großen Dichtung aber steht mit seiner Gemeinde nicht vor dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck des sichtbaren oder hörbaren Werkes selbst, wie im Museum oder im Konzertsaal, sondern, weil das Wesen der Dichtung Phantasiesinnlichkeit ist, muß er sie mit Phantasie begreifen; er muß sie als Geist erscheinen lassen und ihr dazu die notwendige Atmosphäre schaffen. Besprechen ist Beschwören, ein Heraufbeschwören des Geistes, der in dem Werk verborgen ist und alle Teile zusammenhält. Antwortet der Geist nicht dem an ihn ergangenen Ruf, so ist er entweder nicht vorhanden, oder der Berufende versteht nicht die in Anwendung zu bringende Zauberformel. Es ist, wie der Romantiker Friedrich Schlegel in Anklang an Jakob Böhme, an Schelling und an das Faust-Fragment ausgesprochen hat, eine Art magische Handlung, die hier zu verrichten ist: „Wer entsiegelt das Zauberbuch der Kunst und befreit den verschlossenen heiligen Geist? Nur der verwandte Geist.“ Man kann danach sagen, daß der Deuter der Dichtung ein versetzter Dichter sein sollte. Kein Eigenschöpfer, dessen Geist eine ihm gehörige Welt aufbaut, sondern vielleicht ein gehemmter Dichter, der mangelnde Schöpfungskraft durch Einfühlung ersetzt und seinen Lebensdrang in einem zweiten Leben erfüllt findet, gleich dem Übersetzer, der in Mitempfindung und Nachgestaltung fremde dichterische Welten sich anzueignen vermag, wenn er ihre Sprache versteht, oder gleich dem Schauspieler, der mit seiner Menschengestaltung gedichtetem Leben Deutung gibt, indem er es sinnvoll erfühlend nachlebt und nachspricht. Die Hemmungen eigenen Schaffens begünstigen das Nachschaffen: sie lenken verborgene dichterische Gaben in die Bahn des Verstehens; sie verweilen bei beobachtendem Erkennen und gelangen in angewandtem Kunstsinn auf die Wege der Wissenschaft, die nun der Sinndeutung ihr Ziel setzt und das Erkannte Begriff werden läßt. So wird auch beim Verstehen des Kunstwerkes Tatsache, was Hans |#f0281 : 257|

R. G. Günther vom Verstehen des Menschen sagt, daß es nicht ein Wiederverwirklichen von bereits Verwirklichtem sei, sondern grundsätzliches Entwirklichen in Umbildung, Symbolisierung, Typologisierung und Projektion eines plastischen Gebildes auf eine Ebene. Dieser Vorgang kann bis zur begrifflichen Prägung einer schlagwortartigen Formel führen, als Schlüssel, auf dessen Druck alle geheimnisvollen Pforten der Dichtung aufspringen sollten. Hat der Dichter selbst solche Losung ausgegeben, so scheint man sich getrost ihm überlassen zu dürfen, aber man wird doch selten mehr als einen bloßen Wink zum Verstehen finden. Wenn z. B. Heinrich von Kleist das Verhältnis zwischen „Penthesilea“ und „Käthchen von Heilbronn“ dem Plus und Minus der Algebra gleichsetzt, so ist das nur ein verbindlicher Hinweis auf die innere Verwandtschaft der beiden polar entgegengesetzten Frauencharaktere, in denen das widerspruchsvolle Wesen des Dichters sich spiegelt. Kündigt Jean Paul seinen „Titan“ als „den großen Kardinal- und Kapitalroman“ an, so bestimmt er damit nur die Stellung, die er diesem Werk in seinem Gesamtschaffen beimißt. Bezeichnet Friedrich von Hardenberg das Thema seines „Heinrich von Ofterdingen“ als „Poesie der Poesie“ im Gegensatz zur „Poesie der Prosa“, die in Goethes „Wilhelm Meister“, dem „Candide gegen die Poesie“, herrsche, so zeigt er damit mehr ein Mißverstehen Goethes, als daß er dem Verstehen seines eigenen Werkes die letzte Pforte öffnet. Nennt Gottfried Keller seinen „Grünen Heinrich“ während der Qualen der Umarbeitung den „alten Sündenroman“ und den „dämonischen Simpel“, so beweist sein Überdruß, daß er kein Verhältnis mehr zur Urgestalt hatte. Manches Dichterwort kann sogar bedeuten, daß der Verfasser sich selbst und sein Werk schließlich nicht mehr verstanden hat. Gefährlicher noch sind geistreiche oder oft nur witzige Schlagworte feuilletonistischer Kritik. Wenn Goethes „Faust“ die „deutsche Göttliche Komödie“ und Hölderlins „Hyperion“ ein „griechischer Werther“, Luthers „Ein feste Burg“ die „Marseillaise des Protestantismus“, Lessings „Nathan“ der „Zwölfte Anti-Götze“, seine „Emilia Galotti“ ein „gutes Exempel dramatischer Algebra“, Klopstocks „Messias“ ein „Emblem der Langeweile“, Schillers Wallenstein ein „Ifflandscher Hofrat in der Uniform des Dreißigjährigen Krieges“ genannt wurde, so gehen die Beziehungen, Vergleiche und Vorstellungsassoziationen fast durchweg an Kern und Wesen des zu verstehenden Werkes vorbei. Die blendende Zauberformel, die ein Sinngebilde des eigenen Geistes ist, kann eine Fata Morgana aufleuchten lassen, die keinen Aufschluß gibt und als Blendwerk und Irrlicht sogar zum Mißverstehen verleitet. |#f0282 : 258|

Diese Verfälschung droht dann einzutreten, wenn man allzu geistvoll wird, d. h. wenn der Geist des Deuters sich selbst ins Licht setzt und den Geist des Objekts überstrahlen will. Dem ins Innere eindringenden Verstehen, mit dem das Entstehen und Bestehen des Werkes erhellt wird, vermag überraschendes Blitzlicht und sprühendes Feuerwerk keine dauernde Klarheit zu geben. Weil alles Verstehen sich in Mitteilung umsetzen will und erst in der Mitteilung zur Klarheit, erst im Widerhall zur Sicherheit gelangt, sprechen wir von der Deutung als einer aus dem Verstehen erwachsenden Aufgabe der Literaturwissenschaft. Auslegung ist nach Heidegger die Ausbildung des Verstehens und Zueignung des Verstandenen. Deutung fassen wir als die Weitergabe der Auslegung auf. Es handelt sich darum, die Lebensdeutung, die in der Dichtung enthalten ist, zu verstehen, und dieses Verstehen muß wieder in Deutung umgesetzt werden, indem es anderen vermittelt wird. Ist der Dichter ein Mittler des Lebens, so ist der Ausleger, dem die Deutung zufällt, ein Mittler des Verstehens. Er hat ohne Preisgabe seines eigenen Standortes sich in zweifacher Weise einzuleben und hineinzuversetzen in die Seele des Werkes, das er zu deuten hat, und in die Seele derer, für die er die Deutung unternimmt. In diesem Sinne muß er drei Sprachen beherrschen: erstens die der Dichtung, zweitens seine eigene, drittens die der Hörer, deren Verständnis er erwecken will. Die Deutung steht in einer dreifachen Abhängigkeit, und die Frage, für wen sie unternommen wird, ist dabei von nicht geringer Wichtigkeit. 2. D i e W e r t u n g Mit der Deutung verbinden wir als etwas Untrennbares die Wertung. Zwar hat man von Wertfreiheit gesprochen, namentlich beim geschichtlichen Verstehen, und hat in der voreingenommenen Beurteilung eine trübende Gefährdung des Verständnisses befürchtet. Aber solche Objektivität ist beim Kunstwerk nicht zu erzwingen, weil der Sinn bereits einen Wert darstellt und weil im Verstehen notwendigerweise eine Bewertung sich herstellen muß. „Alles verstehen“ heißt hier nicht „alles verzeihen“, sondern: alles als sinnvoll und zweckmäßig erkennen. Im Gelingen dieser Erkenntnis liegt eine Urteilsbildung, im restlosen Gelingen sogar nichts anderes als Bewunderung.

Dem Verstehen sind Grenzen gesetzt nach unten und nach oben; der Sinn liegt, wie Gomperz gesagt hat, zwischen den Gegensätzen von Sinnfreiheit und Sinnlosigkeit. Man kann in der Allgemeinverständlichkeit |#f0283 : 259|

einen Wert erblicken; Bürger, der Erneuerer der deutschen Volksballade, hat sogar die Popularität geradezu als das Siegel der Vollkommenheit gepriesen. Aber man kann nicht einmal sagen, daß Allgemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit gleichbedeutend seien; volkstümlich ist vielmehr gerade das, was Zusammenhänge, die nicht auf der Oberfläche liegen, herzustellen aufgibt, wie Rätsel, Sprichwort, Gleichnis, Symbolik. Das Allzuverständliche, Alltägliche, Platte, das der Sinneserfühlung und -deutung gar keine Aufgabe stellt weder in Form noch Gehalt, bleibt unter der Grenze des Verstehenswerten, denn das Verstehen beginnt erst angesichts eines Unverstandenen. Stefan George soll es sogar geradezu als ein Zeichen der Minderwertigkeit erklärt haben, wenn ein Dichter von allen verstanden würde. Etwas an sich Unbedeutendes kann immerhin verstehenswert sein, wenn es in weiter zeitlicher und räumlicher Ferne liegt, den Rest einer verlorenen Welt oder eines verschlossenen Seelenlebens darstellt, und als dessen bescheidener Sinnträger zu betrachten ist. Insofern stellen auch die harmlosesten künstlerischen Lebensäußerungen der Naturvölker ihre Aufgabe des Verstehens, die in einer Überbrückung der weiten Ferne zu lösen ist. Auch der primitivste Volkssang übt einen ästhetischen Reiz aus, ohne daß sein Sinngehalt irgendwelche Probleme zu stellen scheint; vielmehr muß das Verstehen hier auf die symbolischen Ausdrucksformen des einfachsten Gefühlslebens und auf sein Miterleben gerichtet sein. Darin hat Hermann Ammann sehr richtig zwischen dem logischen Zusammenhang anderer Geisteserzeugnisse, die überpersönliche Gültigkeit beanspruchen, und dem Bewußtsein seelischer Gemeinschaft, den das lyrische Gedicht hervorbringt, unterschieden, daß er dort das Verstehen mit Begreifen, hier mit Ergriffenwerden gleichsetzt. Aber der Wert mehrt sich, wenn Überpersönliches und Persönliches zusammentrifft, und er steigert sich beim Ineinandergreifen ästhetischer, sozialethischer, religiöser und politischer Gegebenheiten; er wächst im Ringen um das Verstehen, in der Verwicklung und Tiefendimension der Probleme, die es zu enträtseln und in einheitlicher Sinnesklarheit als kunstvollen Zusammenhang zu begreifen gilt. Dieser Möglichkeit sind indessen Schranken gesetzt. Zwar hat Goethe von den poetischen Produkten gesagt: „Je inkommensurabler, desto besser!“ und er hat sich nicht gescheut, in seine Altersdichtung manches hineinzugeheimnissen, was nicht jeder verstehen konnte und sollte. Aber wo eine Sinneseinheit überhaupt nicht zu gewinnen ist, wo der beherrschende Geist im Dunkel bleibt und sich auf keinen Ruf enthüllen |#f0284 : 260|

will, schwindet der Wert, und was durchaus unverständlich bleibt, scheint nicht die erfolglose Mühe zu lohnen, die an die Deutung verschwendet wird. Wo liegen indessen die Grenzen? Was ein Verfasser selbst nicht verstanden hat, muß, auch wenn der sprachliche Aufwand noch so groß ist, als künstlerisch mißglückt betrachtet werden. Aber wenn alles, was sinnlos zu sein scheint, ohne weiteres als wertlos verworfen wird, so besteht die Gefahr voreiliger Aburteilung, die schließlich nicht die Unverständlichkeit, sondern den Unverstand bloßstellt. Sinnlos erscheint jedes Wortgebilde, dessen Sprache man nicht versteht, und wenn das Objekt gleichwohl seine unerkannte Intention besitzt, so liegt die Schuld des Nichtverstehens beim Subjekt, das sich nicht bemüht hat, die ihm fremden Hieroglyphen und Chiffren lesen zu lernen. In seinem paradoxen Fragment „Über die Unverständlichkeit“ hat Friedrich Schlegel es geradezu als Vorzug gepriesen, wenn die harmonisch Platten gegenüber einem irrationalen Geisteswerk hilflos bleiben. Das Heil der Familien und Nationen, der Staaten und Systeme wollte er von dem Unbegreiflichen abhängig sein lassen: „Ja, das Köstlichste, was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst, hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte.“ Die dunklen Offenbarungen eines Jakob Böhme, eines Hamann sind mit ihren sprachlichen Schwierigkeiten durch das zähe Bemühen, jeden Begriff und jeden einzelnen Ausspruch aus der Gesamtheit einer eigenartigen Gedankenwelt und ihrer Zusammenhänge zu erklären, erhellt worden. Der Gedankengang eines schwer verständlichen Werkes ist schwerlich in blitzartiger Intuition mit einem Handstreich ohne Vorbereitung zu bezwingen. Erst nachdem ein Trommelfeuer Bresche geschlagen hat, kann der Angriff der Vordringenden und Nachdringenden den Drahtverhau aller Hindernisse überwinden. Dank der Gemeinschaftsarbeit eines Jahrhunderts darf man den zweiten Teil des „Faust“ heute nicht mehr als unverständlich und wertlos verspotten. Goethe selbst schrieb einmal an Heinrich Meyer, der rechte Leser des Faust werde sogar mehr finden, als er selbst der Dichter geben konnte. (20. 7. 31.) Auch Rilkes „Duineser Elegien“ erschließen beim ersten Lesen schwerlich den tiefen Zusammenhang ihrer Lebensauffassung, wenn sie auch durch die Bilder, durch die sprachliche Bewegung und ihren Wohlklang gefangennehmen. Aber eine eifrige Forschung ist auf dem Wege, dank der brieflichen Hinweise des Dichters und |#f0285 : 261|

dank systematischer Sinnesdeutung ihrer eigenen Sprache und ihrer Grundvorstellungen das durchdachte System einer Harmonie von Gedanken und Aufbau zu erkennen und damit erst den vollen Wert dieser Dichtungen als Lebensdeutung zu erobern. Selbst die Wahnsinnsgedichte eines Hölderlin verlangen Achtung. Wenn ihre Sprache kaum verständlich scheint, so ist sie doch kein sinnloses Lallen, gleichviel ob man sie als Abglanz früherer Sinngebung und Nachklingen des wohllautenden Instrumentes oder als Offenbarungen eines dem Irdischen Entrückten werten will. Selbst wenn das einzelne Stück für die Auslegung nicht viel Neues hergibt, behalten sie doch Wert und Bedeutung in ihrer Zugehörigkeit zum Gesamtwerk des Dichters. Die wertende Deutung des Einzelwerkes kann sich zweierlei Aufgaben stellen. Sie kann alle Elemente der Analyse als einen Akkord empfinden, so daß in ihrem völligen Sinneszusammenhang eine Erscheinungsform des Geistes und der vollendete Ausdruck einer tiefen Idee begriffen wird. Sie kann zweitens in genetischer Erfassung, wenn Erlebnis und Anstoß bekannt sind, die während der Ausführung sich steigernde und zur vollkommenen Bewältigung der erlebten Schicksalsprobleme reichende Verwirklichung der künstlerischen Absicht als Auswirkung eines inneren Gesetzes verfolgen. Wenn diese beiden Wege zusammentreffen, kommt die höchste Bewertung des Kunstwerkes zustande, das schließlich „schlank und leicht, wie aus dem Nichts entsprungen“, von aller stofflichen Schwere entbunden vor dem verstehenden Beschauer schwebt. Nachdem es alle Proben bestanden hat, kann es als eine von den Entstehungsbedingungen losgelöste, erlebnistranszendente Objektivation des Geistes betrachtet werden, als Durchbildung des Gehaltes in reiner Gestalt, als freies Sein, als Erfüllung jener klassischen Idee des Schönen, das selig in sich selbst ist. Indessen gibt es auch Dichtungen, deren Sinn nicht in ihrer Form aufgeht, sondern deren Bedeutung über sie selbst hinausreicht kraft einer von ihrem Gehalt ausgehenden Wirkung, die sich nicht im Ästhetischen erschöpft. Sie laden nicht zu ruhiger Betrachtung ein, sondern rütteln zu leidenschaftlicher Erregung auf. Das sind Werke der anspannenden, energischen Schönheit, wie sie Schillers Ästhetik in Gegensatz stellte zur schmelzenden, lösenden Wirkung. Im religiösen, vaterländischen, humanitären und sozialen Gemeinschaftserleben liegen überästhetische Wirkungen, deren Ruf mit nicht geringerer Leidenschaft beseelt, als Leid und Freud persönlichen Erlebens. Volksgeist oder Zeitgeist, mit dem die Sinngebilde geladen sind, bilden einen Sprengstoff für die reine Form, und wenn ihre befreiende Explosivkraft |#f0286 : 262|

die Mauern der Befangenheit niederlegt, so werden Tausende taumelnd im Sturm mitgerissen. Nationalhymnen, Choräle, Kriegslieder und Marschgesänge politischer Bewegungen bewähren ihre zündende Wirkung erst als Verschmelzung von Text und Melodie in verbindendem Gemeinschaftsbekenntnis. Sie werden getragen von einem unterirdischen Strom der Geschichte und führen mit sich die unbewußte Erinnerung an unzählige Quellen der Begeisterung, die mit ihnen hervorbrachen. Die heiligende Weihe kann solchen Gesängen schon mit der Entstehung zuteil geworden sein oder bei späteren Anlässen sich gesteigert haben (der Choral von Leuthen); aber sie können bei versickerndem Strom ihre Wirkungskraft wieder verlieren wie die Geißlerlieder des Mittelalters oder das Rheinlied von Nikolaus Becker. Dann ist ihr Wert nur noch ein geschichtlicher, der uns Lebensziele und Zeitstimmung vergangener Perioden in ihren Massensuggestionen verstehen läßt. Auch im Drama stellen sich durch räumliche oder zeitliche Bindung außerästhetische Beziehungen zum Leben der Gemeinschaft her. Schillers „Wilhelm Tell“ steigerte erst durch Volksaufführung am Vierwaldstätter See, dem Schauplatz des Geschehens, seinen Wert als Schweizer Nationalfestspiel. Die geistlichen Dramen des Mittelalters haben erst durch den Feiertag, für den sie bestimmt waren, ihre Weihe erhalten. Ähnliche Wirkung stellt sich heute noch alljährlich dar, wenn Vondels „Gisbert van Amstel“ in Amsterdam zu Silvester gespielt wird oder Goethes „Faust“ an den beiden Ostertagen in Weimar oder endlich Wagners „Parsifal“ an vielen Orten als Karfreitagsaufführung und außerdem nach dem Willen seines Schöpfers regelmäßig in den Bayreuther Festspielen. Solch symbolischer Bedeutungswert wird mancher Dichtung erst lange nach ihrem Entstehen zuteil. Ein Drama, wie Kleists „Hermannsschlacht“ ist in seinen leidenschaftlichen Haßverzerrungen und seinem furchtbaren Wirklichkeitssinn entstehungsgeschichtlich zu begreifen aus der Zeitlage, die die Gleichung zwischen Hermann Marbod und Preußen Österreich einerseits, zwischen den Römern und Napoleon andererseits der tragenden Freiheitsidee auferlegte. Die Deutung des Werkes muß auf die damalige Aktualität eingehen, ohne daß damit das volle Verstehen gewonnen ist, denn dazu ist die Ganzheit der deutschen Geschichte als Hintergrund notwendig. Zur Zeit des Entstehens ist die von Kleist beabsichtigte politische Wirkung keine geschichtliche Tatsache geworden, ebensowenig zur Zeit des Erscheinens. Als das Werk zehn Jahre nach dem Tode des Dichters ans Licht gezogen wurde, mußte der Aufruf, der noch 1813 gezündet |#f0287 : 263|

hätte, im Leeren verhallen. Die politische Wirkung hat sich erst in späteren Zeiten eingestellt. Es tritt also in Erscheinung, was Nicolai Hartmann als „geschichtliches Aufrücken künstlerischer Schöpfungen“ bezeichnet hat. Das Werk ist nun nicht mehr rein historisch zu betrachten als dramatisiertes Flugblatt, das zum gemeinsamen Befreiungskampf Preußens und Österreichs aufrufen wollte und seine Wirkung damals verfehlt hat; die Gestalt des Realpolitikers Hermann ist auch nicht mehr als Vorläufer Bismarcks zu würdigen; jetzt vielmehr, nachdem die Auferstehung der Nation neue Begriffe von Einheit und Freiheit mit sich gebracht hat, kann die hier gestaltete Idee des politischen Führertums als großartige Vorausnahme aller geschichtlichen Erfahrung aufgefaßt werden. Ähnliches geschah in den Jahren des Zusammenbruchs, als Grabbes „Hannibal“ aus der Vergessenheit auftauchte und erschütternde geschichtliche wie menschliche Analogien erkennen ließ. Wenn man in der allgemeingültigen Weisheit und dem Sehertum einer Dichtung nicht nur das eigene Zeitgeschehen sich spiegeln sieht, sondern in solcher Bewährung geradezu eine auf bestimmte gegenwärtige Ereignisse und Zustände gerichtete Weissagung sehen will, läuft man wiederum Gefahr, Beziehungen in eine Dichtung hineinzulegen, die ihr nicht innewohnen. Es handelt sich bei derartiger Wiederkehr des Gleichen um innere Gesetze und geschichtliche Notwendigkeiten des Geschehens und um wiederholte Objektivierung des Geistes. Die überzeitliche Gültigkeit der Idee offenbart sich gleicherweise im geschichtlichen Verlauf wie in der dichterischen Gestaltung. Hier muß der lebende Geist dem objektivierten Geist der Dichtung verstehend entgegenkommen, ohne ihn seiner Freiheit zu berauben. Es darf nichts untergelegt werden, was dem Werke nicht innewohnt, aber die Auslegung wird immer das finden, was dem eigenen Standort am nächsten liegt. Deshalb wird die Deutung aller Dichtungen und insbesondere der größten, die die Zeiten überdauern, immer in einer Wandlung begriffen sein und sich niemals in einer endgültigen Formel befestigen. 3. W a n d e l d e r W e r t e Am klarsten kommt die ständige Metamorphose der Deutung bei der Aufführung von Dramen und in der Gestaltung von Bühnencharakteren zur Erscheinung. Die Theatervorstellung ist die sinnfälligste, anschaulichste und eindringlichste Deutung, die einer Dichtung zuteil werden kann, aber zugleich die willkürlichste, weil der Darsteller sich nicht selbst aufgeben darf, sondern als Ausleger in |#f0288 : 264|

voller Person sich einsetzen muß. Man braucht nur an die Bühnenschicksale des „Hamlet“ oder „Faust“ zu denken, um zu beobachten, wie jedes Zeitalter seine eigene Auffassung solcher Stücke durchführt. Jeder selbständige Darsteller versteht seine Rolle anders, und darin findet nicht nur die Wandlung des Bühnenstils ihren Ausdruck, sondern auch die veränderte Stellungnahme zum Sinn der Dichtung. Es ist richtig, wenn Nicolai Hartmann zum Wesen der ästhetischen Schau überhaupt eine synthetische Ergänzung von seiten des Schauenden hinzurechnet, die in ihrem Spielraum der Freiheit des Künstlers verwandt ist. Insbesondere steht diese Freiheit dem deutenden Ausleger zu, der Aktualität der Wirkung zu suchen hat und andere lehren muß, das Werk vom Standort und Geist der Zeit aus zu verstehen.

Es mag sogar an den Satz Kants erinnert werden, daß es nichts Ungewöhnliches sei, einen Verfasser besser zu verstehen, als er sich selber verstand. Ist dieser Ausspruch auf philosophische Wahrheiten gemünzt, so kann er bis zu einem gewissen Grade auch in der Dichtungsdeutung Bestätigung finden, ohne daß zu dem oben (S. 227 f.) Gesagten ein Widerspruch entsteht. Wenn die Dichtung Gefäß göttlicher Ideen ist, so kann sie sehnsuchtsvolle Vorahnungen künftiger Erfüllung enthalten, die dem Verfasser kaum bewußt werden. Im Mittelpunkt von Grimmelshausens „Simplizissimus“ steht beispielsweise jene Weissagung eines Irren, der sich für den Gott Jupiter hält und die Absicht verkündet, einen teutschen Helden zu erwecken, der die ganze Welt bezwingen und zwischen allen Völkern Frieden stiften werde. Die äußere Einkleidung scheint nichts als Hohn und Spott über utopische Phantastereien anzudeuten, und so haben es vielleicht die meisten Zeitgenossen verstanden, soweit sie nicht den wehmutsvollen Kontrast zur Wirklichkeit empfanden. Aber der Inhalt der Verheißung ist keineswegs verworren, wenn er auch alles zusammenschließt, was in einem Jahrtausend an mystischen Erwartungen und rationalen Erwägungen, wie die Welt zu bessern wäre, gehegt wurde, von den apokalyptischen Märchenvorstellungen eines Wunderschwertes, das alle feindliche Gewalten bannt, bis zum Auftreten eines aus dem Volk aufsteigenden Diktators nach Art Cromwells in England und den neuen Projekten wissenschaftlicher Organisation, wie sie Leibniz vertrat. Um die Bedeutung der patriotischen Phantasie, die alles in einem großen Wunschtraum vereinigt, zu verstehen, muß man sich der Herkunft und der Beziehungen der Motive bewußt sein. Dann erweist es sich als undenkbar, daß Grimmelshausen alles, was im deutschen Volke seit Jahrhunderten als heilige Hoffnung und Sehnsucht lebte, |#f0289 : 265|

und alles, was an vernunftgemäßen Gedanken der Weltbesserung seiner eigenen Zeit neue Wege zeigte, verhöhnen wollte. Die Absicht war vielmehr, ein hohes Ideal als Gegenbild der trostlosen Gegenwart aufleuchten zu lassen. Die Möglichkeit dazu boten jene literarischen Formen, mit denen Moscherosch und seine Fortsetzer in Gesichten, Giordano Bruno, Trajano Boccalini und andere in Göttergesprächen ihre Urteile über Zeit und Welt ausgesprochen hatten. Grimmelshausen konnte indessen im realistischen Roman nicht Jupiter selbst auftreten lassen; so ließ er den Narren seine Rolle spielen, und es gelang ihm durch einen genialen optischen Kunstgriff, in die Mitte des düsteren Zeitbildes einen starken idealistischen Lichteffekt zu werfen, ohne daß er sich zu dem Glauben, der seiner Sehnsucht entsprach, offen zu bekennen brauchte. Vielmehr blieb er von Anfang bis Ende seiner Schriftstellerei der skeptische Weltbetrachter, der im Zwielicht zwischen den Gegensätzen von Schwarz und Weiß, von Höhe und Tiefe sich mit gesundem Menschenverstand und Wissenstrieb zu behaupten suchte. Je mehr aber mit der Zeit die politische Wirklichkeit sich wandelte und je mehr sich von dem, was vollkommen irreal erschienen war, realisierte, desto mehr gewann die Verheißung an Gegenwartsnähe, und desto ernstere Bedeutung fiel ihr zu. Schließlich war das Auftreten dieser der Wirklichkeit entrückten Wirklichkeitsgestalt nicht mehr als Episode, sondern als ideeller Mittelpunkt des Romans zu verstehen, an dem die Probleme von Weltwirken und Weltabkehr, von Wahn und Wahrheit, von beständiger Unbeständigkeit sich mit dem Hintergrund der Zeitlage verknüpfen und zugleich von ihm ablösten. Grimmelshausens Roman ist ein treffendes Beispiel für das Wachsen einer Dichtung im Laufe der Jahrhunderte. Der abenteuerliche Simplizissimus hat auch als Buch seine Abenteuer gehabt. Damit ist nicht der äußere Zuwachs gemeint, nämlich das sechste Buch und die Kontinuationen, mit denen der Dichter selbst sich den geschlossenen Aufbau verdarb, sondern das allmähliche Reifen, das dem Wirklichkeitssinn kommender Zeiten und seinem Verstehen immer neue Seiten erschloß. Von den lehrhaften Zeitgenossen trotz seines buchhändlerischen Erfolges oder vielleicht gerade deswegen als elende Lumpenscharteke verkannt, von den Nachahmern zerpflückt und zu Tode gehetzt, wurde dieses bis auf den Namen des Verfassers in Vergessenheit geratene Werk Grimmelshausens erst von den Romantikern wieder ausgegraben; aber es wurde auch in der Folgezeit mehr als Kulturbild denn als Kunstwerk geschätzt, bis man das Wunder des Zusammenklanges |#f0290 : 266|

von Gehalt und Form erlebte und neben der planmäßigen Durchführung die Echtheit und Ursprünglichkeit volksverwurzelter Lebenshaltung zu würdigen begann. Die Belesenheit des fleißigen Exzerptors, die Anlehnung an Motive des Schelmenromans und der Schwankliteratur und die Hineinziehung des Wissensschatzes fremder Kompendien in seine eigene kleine Welt ist dieser Anerkennung nicht im Wege. Der Vergleich mit den fremden Mustern zeigt vielmehr gerade die Eigenart und Arteigenheit des Volksschriftstellers. Die echt deutsche Haltung des besinnlichen Humors ordnet ihn der Linie zu, die mit vielen Unterbrechungen von Wolfram von Eschenbach bis zu Jean Paul und Wilhelm Raabe führt. Grimmelshausen konnte unter die ewigen Deutschen aufgenommen werden, und diese Bewertung ist es schließlich, die seinem Werk als dem wahrsten Ausdruck deutscher Art, den jene Zeit finden konnte, Eingang in die Weltliteratur zu bahnen im Begriff ist. Die größten Dichtungen sind es, die im Aufstieg durch die Jahrhunderte ihre Kraft bewähren, indem sie jeder Zeit etwas Neues, das gerade für sie gesprochen zu sein scheint, zu sagen imstande sind. In ihrem Reichtum bleiben sie dennoch unergründlich. Die Deutung des Goetheschen „Faust“ findet kein Ende, und namentlich der zweite Teil offenbart immer neue Ausblicke auf Lebensfragen der Gegenwart. Aber man muß dieser Symbolik ihr Fließendes lassen, ohne den ewigen Strom in einen Fischteich abzuleiten, aus dem man schmackhafte Leckerbissen für die Tagesmahlzeit angelt. Man darf die Deutung nicht festnageln auf erzwungene Aktualität, wie es in manchem Faust-Kommentar geschehen ist. In solcher Didaktik bekennt das Verstehen selbst seine ephemere Beschränktheit und setzt dem unendlichen Leben der Dichtung ein endliches Ziel, durch dessen Treffpunkte sie zur brauchbaren Tendenzschrift erniedrigt wird. Goethe selbst hat sich manchmal Gedanken gemacht über die Antizipation des Lebens durch die Dichtung; im eigenen Leben und Schaffen hatte er Gelegenheit, die gestaltende Vorausnahme kommender Ereignisse zu beobachten. Im Grunde ist jede große Dichtung ihrer Zeit voraus und überragt sie. Wer am Fuße des Berges steht, sieht nicht den Gipfel; der wächst, wenn man ihm näher kommt, aber das scheinbare Wachsen hat seinen Grund im Aufsteigen und allmählichen Hinterherkommen des Verstehens. Weit häufiger als der Anstieg ist indessen die entgegengesetzte Bewegung zu beobachten. Während Goethes klassische Werke einen viel langsameren Weg zur allgemeinen Anerkennung gehen mußten, als etwa dem „Werther“ beschieden war, haben die Werke anderer |#f0291 : 267|

Poeten den Gipfel ihres Erfolges gleich bei Erscheinen im Sturmlauf errungen und sind dann von Stufe zu Stufe herabgesunken, bis sie in völlige Vergessenheit untertauchten oder nur als Denkmäler unbegreiflicher Geschmacksverirrung dem Gedächtnis erhalten blieben. Der Überschätzung durch die Zeitgenossen folgte schon bei der nächsten Generation eine abgestumpfte Gleichgültigkeit, die sich zum Überdruß oder gar zur Verachtung steigerte, so daß weder der einstige Erfolg noch das Werk selbst mehr verstanden werden konnte. Übrig bleibt höchstens noch eine aufschlußgebende Bedeutung für das geschichtliche Verstehen des Zeitalters, das solche Werke hervorbrachte, und für den Geschmack, der sie zum Erfolge kommen ließ. Man muß bei der Beurteilung derartigen Bedeutungswandels zwei verschiedene Gruppen auseinanderhalten, deren Schicksale als Spekulationserfolg und Modeerfolg zu trennen sind. Auf der einen Seite stehen die Werke, die dank geschickter Berechnung und sicherer Technik einen Massenerfolg errangen, der ihnen auch gegenüber gewissen Publikumsinstinkten treu bleibt. Sie wurden indessen von ernsthafter Kritik ihrer Zeit bereits als unecht bekämpft, wie das etwa der Fall war bei Kotzebues Bühnenreißern, die zur klassischen Zeit selbst über Deutschlands Grenzen hinaus den Spielplan beherrschten und ihre unverwüstliche Wirkung auch heute noch nicht ganz verloren haben. Zur anderen Gruppe sind Werke zu rechnen, die zu ihrer Zeit nicht nur die Durchschnittsleserschaft, das „Man“, von dem Heidegger spricht, sondern die Besten und Einsichtigsten zu kritikloser Begeisterung hinrissen, weil darin neue Provinzen des Seelenlebens erschlossen und den edelsten Gefühlen des Zeitalters Ausdruck gegeben wurde. Als Beispiele solcher Wirkung sind die moralischen Familienromane zu nennen. „Unsterblich ist Homer, unsterblicher bei Christen der Brite Richardson“ lautete ein Epigramm Gellerts, das Lügen gestraft wird durch die Tatsache, daß diese Modelektüre der empfindsamen Zeit heute nur noch unter historischen Gesichtspunkten zu würdigen ist. Die Zeit ist darüber hinweggegangen. Ein ähnlicher Fall ist der des Humoristen Lawrence Sterne, bei dessen Tod Lessing schrieb, daß er ihm mit Vergnügen ein paar Jahre von seinem eigenen Leben geschenkt hätte, dem Jean Paul, der ohne ihn kaum zu denken wäre, die Totalität eines Welthumors zusprach, und von dem Goethe wünschte, daß auch das 19. Jahrhundert „wieder erführe, was wir ihm schuldig sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden können“. Sein |#f0292 : 268|

„Tristram Shandy“ heißt für einen ernsthaften Dichter unserer Zeit wie E. G. Kolbenheyer „eine Monstrosität, die heute kein vernünftiger Mensch auszulesen imstande ist“. Die verschiedenartigen Erscheinungen des Zeiterfolgs stellen unterschiedliche Ansprüche an ein geschichtliches Verstehen. Im Fall der Spekulationserfolge muß es von der typischen, für jedes Zeitalter in gleichem Maße geltenden Eindrucksfähigkeit und Geschmackshaltung der großen Menge, im Fall des Modeerfolges von der charakteristischen Geistesbeschaffenheit eines bestimmten Zeitalters den Ausgang nehmen; im einen Fall liegen die Elemente der Analyse, durch deren aufdringliches Hervortreten das Gleichgewicht gestört wird, bei Situationen, Absicht und Technik, im anderen Fall bei Wirklichkeitsauffassung, Weltanschauung und Problemen; im einen Fall ist das Phänomen des Erfolges mehr soziologisch, im anderen Fall mehr geistesgeschichtlich zu begreifen. Neben den stetigen Entwicklungsrichtungen des Steigens und Sinkens ist aber auch die fluktuierende Bewegung eines wechselnden Auf und Nieder als häufige Erscheinung zu verfolgen. Nicht nur die Bewertung einzelner großer Werke, etwa der „Äneis“ des Vergil oder des Klopstockschen „Messias“, hat im Lauf der Jahrhunderte periodische Schwankungen durchgemacht; auch das Nachleben einzelner Dichter zeigt in wechselnder Wertschätzung den Zickzacklauf einer Fieberkurve. Namentlich steht, wie wir schon sahen, die Statistik des Bühnenspielplans wie ein Wetterhäuschen vor uns, das über Sonne und Niederschläge im Schicksal des Dramatikers Rechenschaft gibt. Selbst die Klassiker sind von den Schwankungen nicht unberührt; es hat Zeiten der Shakespeare-Erweckung, der Goethe-Ferne, der Schiller-Renaissance und der Grabbe-Entdeckung gegeben, denen dann wieder Gegenschläge folgten. Unter den attischen Tragikern steht bald Aischylos, bald Sophokles, bald Euripides an der Spitze; ebenso schwankt das Stilbild der französischen „haute tragédie“ im Kurs. Für die Stil- und Geistesrichtung ganzer Zeitalter wie Barock, Sturm und Drang, Romantik gab es im Urteil der Nachwelt Hausse und Baisse. Aber diese Schwankungen sind weder als mechanisches Gesetz noch als Walten des Zufalls zu verstehen, sondern als Wandlungen des Geschmacks, der Empfänglichkeit und seelischen Bereitschaft zum Mitgehen, wie der ästhetischen Grundsätze und der Autoritäten, deren Geltung von unzähligen, kaum übersehbaren Faktoren des Zeiterlebens abhängig ist. Selbst die Dichtungsgattungen haben oftmalige Verschiebung ihres Gewichtsverhältnisses erlebt; es gab epische, lyrische, dramatische |#f0293 : 269|

Epochen gemäß dem Stoff und den Problemen des Zeiterlebens, aber die Wertschätzung stimmt nicht immer mit der Produktionsstärke überein. Beispielsweise hat die deutsche Poetik des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts dem Heldenepos traditionell den ersten Rang zuerkannt, und es hätte nicht an Gegenständen für epische Darstellungen gefehlt; trotzdem ist jene Zeit gerade auf diesem Gebiet unfruchtbar gewesen. Etwas Ähnliches ist es, wenn Meister der Novelle wie Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Paul Heyse mitten in der Blütezeit der Erzählungskunst nach dem Lorbeer des Dramatikers hungerten. Auch die stammhafte Veranlagung für Pflege einer bestimmten Gattung kann sich wandeln. Während die Schweiz im 16. Jahrhundert in einer Blütezeit dramatischen Schaffens stand, ist im 18. und 19. Jahrhundert dieser Strom versiegt. Während Österreich im Mittelalter Stammland des Minnesanges war, ist im 19. Jahrhundert die Lyrik so sehr hinter dem dramatischen Trieb zurückgetreten, daß man geradezu die lyrische Unfruchtbarkeit eines Grillparzer als sein „bayrisches Erbe“ bezeichnen konnte. Endlich sind für die Stellung der Dichtung überhaupt gegenüber den anderen Künsten Wertschwankungen im Gesamtbewußtsein von Volk und Menschheit zu beobachten. Die periodische Generationsfolge, in der Wilhelm Pinder die Entfaltung von Architektur, Plastik, Malerei und Musik aneinanderreihte, nahm zwar die Dichtung von der Einordnung in diese schematische Entwicklung aus, aber einen rhythmischen Wechsel ihrer Leistung und Einschätzung wird man gleichwohl innerhalb jeder Kultur kennen. Und schließlich hat sogar die Geltung der Künste überhaupt im Verhältnis zu anderen Kulturwerten ihr Auf und Nieder erlebt. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Leistungshöhe und Empfänglichkeit, bei der man kaum im einen die Ursache des andern erkennen kann. Haben die Künstler, in deren Hand der Menschheit Würde gegeben ist, ihr Publikum erzogen, oder sind sie von ihm emporgetragen worden, wie jener Hamburger Pfahlbürger meinte, der beim Abschied des großen Schauspielers Schröder ausrief: „Wie hefft em billd't.“? Sind in klassischen Zeitaltern die Künste groß geworden, weil man sie zu schätzen und zu fördern verstand, oder sind die Künste so hoch geschätzt worden, weil sie in unerreichter Blüte standen? Oder ist es ein einheitlicher Zeitgeist, der Entstehen und Verstehen im Gleichgewicht hält? Dem widerspricht die oben gezeigte Erscheinung des Aufrückens und Wachsens ebenso wie die verschiedenartige Abhängigkeit der Künste von wirtschaftlichem Aufstieg, politischer Macht und völkischem Willen, wovon die Baukunst wohl |#f0294 : 270|

den stärksten, die Dichtkunst, wenigstens in Deutschland, vielleicht den geringsten Eindruck gibt. Jedes einzelne Werk, jeder Dichter, jede Dichtungsepoche hat ihre Wirkungsgeschichte, in der sich zunächst weniger ihr eigenes Wesen kundgibt als die wechselnde Richtung der Zeiten in den Widersprüchen ihrer Beurteilung. Nur indirekt, insofern das Verstehen eine Verwandtschaft, das Mißverstehen ein Abgewandtsein des jeweiligen Zeitgeistes gegenüber Werk und Dichter offenbaren, sind Rückschlüsse aus der Wirkung auf die Wesensart eines Werkes möglich. Vielleicht kann man aus der Spannweite der Pendelschwingung kontrastierender Urteile etwas über Sicherheit oder Unsicherheit des Wertes erschließen. Die Wirkungsgeschichte bietet der Geschmacksgeschichte kaum nennenswertes Material, wenn sie keine unbegreiflichen Widersprüche aufweisen kann. Je überschwänglicher dagegen Lob und Tadel auseinandergehen, desto weniger ist ein objektiver, fester Wert zu erkennen, und desto mehr dienen die Urteile zur Charakteristik derer, die sie aussprachen, so daß Wirkungsgeschichte mit Geschmacksgeschichte gleichzusetzen ist. Je geringer die zeitlichen Gegensätze ausschwingen, desto mehr kann die Wirkungsgeschichte zur Wertbestimmung beitragen. Wenn sich die Schätzung des Werkes geschichtlichen Schwankungen entzieht, nähert sie sich jener unerschütterlichen Wertbeständigkeit, die Nicolai Hartmann das „Stehenbleiben des Monumentalen“ nennt. Es gibt aber auch literarische Denkmäler aus ältesten Zeiten, deren einstmalige Wirkungskraft nur aus der Tatsache ihrer Erhaltung zu erschließen ist, wie schon bei der Frage der Überlieferung (S. 69 f.) erörtert wurde. Ihr Wert bleibt von jedem Wandel des Geschmackes unabhängig, weil er in ihrem Alter, in ihrer Einmaligkeit, ihrer repräsentativen Bedeutung für Zeitalter, Sprachstand, Bildungswelt beruht. Die Erhaltung der Patina als einer darüber liegenden Schicht, die dem ursprünglichen Kunstwerke nicht angehörte, verbietet eine tieferbohrende Analyse. Die Deutung aber darf sich nicht auf das Einzelwerk beschränken, sondern sie muß ihre Schlüsse ziehen auf die Beschaffenheit einer ganzen Kultur, als deren Sinnbild das erhaltene Teilstück zu verstehen ist. 4. W e r t m a ß s t ä b e Die Quersumme geschichtlicher Urteile, die zum Mythus geworden ist, darf dem Ausleger eines Werkes nur als Bestätigung eigener Eindrücke, nicht als wesentliche Grundlage seines eigenen Verstehens

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bedeutungsvoll werden, selbst wenn er in der dauernd von ihr ausstrahlenden Wirkung die eigentliche Existenz einer Dichtung erkennen will. Die Überschau über alle von ihr ausgeübten Eindrücke und über alle im Laufe jahrhundertelanger Geltung gefällten Urteile entheben ihn nicht der Pflicht, den Wert aus eigenem Eindruck zu begründen. Der objektivierenden Rechenschaft über das persönliche Erleben eines Kunstwerkes und dem Übergang zu seiner Deutung und Wertung können drei Maßstäbe dienen, von denen der erste mehr die innere Beziehung des Werkes zum Dichter, der zweite mehr den nach außen gehenden Eindruck des Werkes auf den Betrachtenden, der dritte die Beziehung des Werkes zur Welt erfassen will. Der eine trifft die seelische und menschlich-individuelle Bedeutung des Werkes mit der Frage nach der E c h t h e i t , der zweite die ausstrahlende Kraft des Werkes mit der Frage nach der G r ö ß e , der dritte die Weltbeziehung und gültige Bedeutung des Werkes mit der Frage nach seiner S i n n b i l d h a f t i g k e i t . Jeder dieser Maßstäbe ist in vierfacher Richtung anzuwenden als Einschätzung nach dem ä s t h e t i s c h e n , dem e t h i s c h e n , dem r e l i g i ö s e n , dem v o l k h a f t e n Wert. Auf die Fläche gebracht stellt die Kreuzung dieser Wertkategorien sich in folgendem Schema dar: ästhetisch ethisch religiös volkhaft Echtheit Größe Sinnbildhaftigkeit a) Echtheit: Im ä s t h e t i s c h e n Eindruck offenbart sich die Echtheit als widerspruchsloser Einklang und organisches Gleichgewicht aller Elemente, die sich bei der Analyse ergeben haben, also der Harmonie zwischen innerer und äußerer Form, zwischen Erlebnis und Gestaltung, zwischen Stil und weltanschaulicher Haltung, zwischen Technik und Problemen, zwischen sprachlicher Darbietung und Idee. Die e t h i s c h e Echtheit tritt aus dem gewissenhaften Ernst hervor, mit dem Probleme und Ideen aus der Tiefe eigensten Erlebnisses geschöpft und als folgerichtige |#f0296 : 272|

Grundanschauungen, Erziehungsgedanken und charaktervolle Lebensmaximen durchgebildet sind. Die r e l i g i ö s e Echtheit offenbart sich als Innerlichkeit wahrhaften Bekennertums, das aus Zwang der Überzeugung und Kraft der Entscheidung hervorgeht. Die v o l k h a f t e Echtheit wurzelt in arteigenem Verwachsensein mit dem Empfinden der Gemeinschaft und in dem rassebewußten Verantwortungsgefühl einer Gegenwart, die mit Geschichte und Zukunft des eigenen Volkes und der Menschheit sich verknüpft fühlt. In jeder der vier Kategorien ist aber auch eine Wertverneinung als Feststellung der Unechtheit möglich. Die Gegensätze liegen auf dem Felde des Ä s t h e t i s c h e n im Einseitig-Artistischen, in spielerischer Routine, angelernter Effekthascherei und unorigineller Nachahmung, die kein selbsterrungener organischer Ausdruck des eigenen künstlerischen Willens ist. Auf dem Felde der E t h i k ist das Unechte im Konventionell-Moralischen, in verlogenen Gefühlen, falscher Sentimentalität, unsicher schillernder Koketterie oder frecher Frivolität zu finden, was sowohl in der Gesinnung des Dichters als in den dargestellten Charakteren und in der Motivierung der Handlung zum Ausdruck kommen kann. Auf r e l i g i ö s e m Boden liegt das Unechte im Mangel fester Weltanschauung, in haltlosem Zwiespalt und Widersprüchen, in Pietätlosigkeit, erheucheltem oder verleugnetem Glauben und starrem Dogmatismus, der die Bekenntnisformen nicht mit persönlichem Leben und erkämpfter Überzeugung zu erfüllen vermag. In der Beziehung auf das V o l k h a f t e wirkt unecht jede Verleugnung der angestammten Eigenart und jedes manierierte Nachlaufen hinter fremden Moden. Es ist nun die Frage, ob Echtheit oder Unechtheit in allen vier Kategorien durchaus übereinstimmen werden, oder ob ein positiver Wert in der einen Richtung sich mit Wertlosigkeit in anderen Beziehungen vermengen kann. Es ist denkbar, daß, wie z. B. im Fall Heine, eine künstlerische Echtheit im Ästhetischen bestehen mag, der aber keine Festigkeit im Ethischen und Religiösen gegenübersteht, während die vierte Kategorie subjektive Echtheit im Bekenntnis der rassischen Heimatlosigkeit und aller ihrer Folgewirkungen, aber objektive Unechtheit in bezug auf den erhobenen Anspruch der Volkhaftigkeit zur Erscheinung kommen läßt. Dabei bleibt zweifelhaft, ob das Echte oder Unechte schon im einzelnen Werk zum unverkennbaren Augenschein werden kann, oder ob erst der Vergleich mehrerer Werke, ja der Überblick über das gesamte Schaffen und der Blick auf die Persönlichkeit des Dichters aus Einheitlichkeit oder Widersprüchen endgültige Schlüsse erlauben. |#f0297 : 273|

b) Größe: Im ä s t h e t i s c h e n Eindruck stellt sich die Größe zunächst als ein organisches Verhältnis zwischen den äußeren Proportionen des Umfangs und der menschlichen, schicksalhaften oder sogar kosmischen und metaphysischen Bedeutung des Gegenstandes dar, wie etwa in Dantes „Göttlicher Komödie“ oder in Goethes „Faust“. Dazu kommt Kraft und Reichtum der Darstellung in allen Formen des Sprachausdrucks, im Format der Menschengestaltung und der göttlichen Erscheinungen, in der Naturbetrachtung und in aller Motivierung des Geschehens. Die e t h i s c h e Größe kommt in der Tragweite der behandelten sittlichen Probleme und ihrer Lösung zum Ausdruck, wie in der Gestaltung der Charaktere und ihrer Motive, im idealistischen Wollen, im Pflichtgedanken, in Opferbereitschaft und in der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber einem unerbittlich waltenden Schicksal. Die Größe des r e l i g i ö s e n Gehaltes beruht auf leidenschaftlicher Glaubenskraft und sehnsüchtiger Hingabe, auf unendlichem Weltgefühl und metaphysischer Blickrichtung. Die Größe des V o l k h a f t e n liegt in der Bezogenheit des Einzelschicksals auf das Ganze, in weiter geschichtlicher Schau, im lebendigen Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft und in bewußter politischer Haltung. Auch hier kann der Gesamteindruck absoluter Größe beeinträchtigt werden durch Mangel an Gleichgewicht; es können Verzeichnungen eintreten durch verhältnismäßige Überbetonung einer bestimmten Wertkategorie, z. B. der ethischen Probleme und Gedanken in Schillers „Jungfrau von Orleans“, wie in den meisten Dramen Hebbels und Ibsens, der religiösen Gefühle in Zacharias Werners „Martin Luther“, des Politischen in Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ und des bodenständig Volkhaften im Gegenstück Grabbes. Es kann die ästhetische Wirkung darunter leiden, daß die Durchführung in ihrer Gestaltungskraft sich dem Gehalt als nicht ebenbürtig erweist wie bei der alltäglichen Lustspielhandlung, die um die Ringparabel in Lessings „Nathan“ herumgelegt ist, oder in Jean Pauls Romanen bei ihrer manchmal in Gefühlsseligkeit zerfließenden Breite. Die negativen Werte des Kleinen und Niedrigen offenbaren sich als Bedeutungslosigkeit des Vorwurfs und Schwächlichkeit des Ausdrucks im Ä s t h e t i s c h e n , als menschliche Belanglosigkeit, Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit und Roheit im E t h i s c h e n , als schwankende Unsicherheit gegenüber dem Walten des Zufalls, als Verschwommenheit, Unselbständigkeit oder Glaubenslosigkeit im R e l i g i ö s e n , als |#f0298 : 274|

dekadente Pathographie, zersetzender Psychologismus und überhebliche Einzelgängerei im V o l k h a f t e n . Ganze Zeitalter werden durch repräsentative Werke dieser Art in ihrer Kleinheit gekennzeichnet, so daß der Verfasser, der dem Geist der Zeit seine Stimme lieh, kaum die volle persönliche Verantwortung zu tragen hat. Auf der anderen Seite können deshalb Vorzüge liegen, die jenen Werken einen geschichtlichen Wert als Ausdruck ihrer Zeitstimmung verleihen. Der Wahrheitsfanatismus, die unerbittliche Elendsmalerei von Degeneration, Laster und Häßlichkeit bei den Naturalisten am Ende des 19. Jahrhunderts oder der Expressionisten nach dem Weltkrieg haben keine Größe, aber sie entbehren nicht der Echtheit im Ausdruck materialistischer Öde oder perversen Zeiterlebens; ebensowenig darf der von ihnen bekämpften Schönfärberei der vorausgehenden Generationen eine Sinnbildhaftigkeit für den Geist des üppigen Epigonentums abgestritten werden. c) Sinnbildhaftigkeit Dieser Begriff umfaßt alles das, was ein Werk über sich selbst und seine Vereinzelung emporhebt und ihm einen bedeutunggebenden Wert verleiht durch tiefere Beziehungen auf Menschheit und Weltgeschehen, auf Volk und Zeit, auf Geschlechter und Lebensalter. Auf ä s t h e t i s c h e m Gebiet liegt der sinnhildhafte Wert im symbolischen Lebensgehalt, in der Naturbeseelung und in der Leuchtkraft, mit der ewige Ideen durch die Gestalt hindurchschimmern; im E t h i s c h e n erscheint sinnbildhaft der Wirklichkeitssinn, der das Schicksal als Weltgesetz unter dem Gesichtspunkt notwendigen Geschehens walten läßt und für jeden Konflikt allgemein gültige Lösungen von typischer Bedeutung findet. Im R e l i g i ö s e n tritt die Sinnbildhaftigkeit als Ausdruck unmittelbaren inneren Gotteserlebnisses beim Einzelnen wie als Glaubensform, die eine Gemeinschaft umfaßt, in Erscheinung; im V o l k h a f t e n als schicksalmäßige Gebundenheit an die Gemeinschaft und als Spiegelung des Ganzen in Sprache, Charakteren, Lebensbräuchen, Gesinnung und Denkweise. Den Gegensatz bildet das, was aus Mangel an Sinnbildhaftigkeit bedeutungs- und beziehungslos ist. Es erscheint im Ä s t h e t i s c h e n als abstrakte Konstruktion und seelenlose Beschreibung, im E t h i s c h e n als das leere Spiel des Zufalls oder die mechanische Kausalität des Determinismus, im R e l i g i ö s e n als nihilistischer Materialismus, im V o l k h a f t e n als Beziehungslosigkeit zur Gemeinschaft. Das Sinnbildhafte gehört so sehr zum Dichterischen, daß man sich ein |#f0299 : 275|

formvollendetes Werk ohne symbolische Bedeutung überhaupt nicht denken kann und daß das Fehlen jeder sinnbildhaften Züge nicht nur Wert und Gültigkeit sondern geradezu den Charakter der Dichtung aufhebt. So erblickte schon der junge Hebbel als werdender Dichter in der Symbolisierung seines Innern durch Schrift und Wort die Aufgabe seines Lebens. Sinnbildhafte Werte können bereits in den einzelnen Teilen einer Dichtung sichtbar werden. Dazu gehört ein bloßer Titel, der, wie „Sturm und Drang“, einer ganzen Periode und ihrem Wirrsal den Namen gegeben hat; dahin rechnen Charaktere, in denen sich wie in Parzival, Werther oder Hyperion religiöse Erlebnisse, Zeitstimmungen oder Freiheits-. Lebens- und Bildungssehnsüchte eines Standes, einer Gesellschaft, eines Kulturzeitalters und eines Volkes spiegeln oder auch deren Schwächen in humorvoller Selbstkritik offenbaren. So darf Ibsens Peer Gynt sinnbildhaft genannt werden für den Norweger, wie de Costers Ulenspiegel für den Flamen, Cervantes' Don Quixote für den Spanier, Daudets Tartarin für den Südfranzosen, Jacobsens Niels Lyhne für den Dänen, Lewis' Babbitt für den Nordamerikaner. Zu diesen bezeichnenden Volkstypen gehören auch alle die Sagen- und Schwankhelden anonymer Herkunft, in denen die Phantasie eines Stammes oder einer Landschaft sich charakterisiert und verkörpert; ebenso werden geschichtliche Gestalten durch Mythisierung sinnbildhaft, und es kommt darauf an, wie ein Neugestalter diese Wesenszüge persönlich erfaßt. Motive sind sinnbildhaft, wenn sie als bezeichnend und deutend auf die Charakteristik einer Zeitlage, eines Stammes oder bestimmter geschichtlicher Vorgänge übertragen werden können; so symbolisieren die rasch dahinsterbenden indischen Blumenmädchen in Lamprechts „Alexander“ die kurze Dauer der höfischen Dichtung, oder jene „Frau Welt“, die in der Erzählung Konrads von Würzburg dem Herrn Wirnt von Gravenburg gegenübertritt, stellt die Nichtigkeit aller ritterlichen Ehren und Freuden dar als bezeichnend für den Verfall der höfischen Ideale. Das Sinnbildhafte ist endlich der Bereich, in dem allein die Ideen zu sichtbarer Gestaltung gelangen können, ohne als Allegorien abstrahiert zu werden. Sinnbildhaft repräsentative Bedeutung kann ein einzelnes Werk für die Gesamtleistung seines Dichters gewinnen ebenso wie ein einzelner Dichter sinnbildhaft werden kann für die ganze Dichtung seines Zeitalters und die geistige Haltung seines Volkes. |#f0300 : 276|

d) Geltung Die Anwendung dieser Wertmaßstäbe führt durchweg vom einzelnen Werk zur Persönlichkeit seines Schöpfers, selbst wenn diese unbekannt sein sollte. Dem Namen nach kann sie unbekannt bleiben; als Mensch tritt sie gleichwohl in greifbaren Umrissen hervor und erweckt Liebe, wenn die Echtheit ihrer Natur sichtbar wird, wenn ihre Größe erscheint und wenn die Vertretung der Heimat, des Stammes, der Rasse, aber auch der Generation und des Zeitalters in der Eigenart jedes Werkes sich ausspricht. Gleichgültigkeit und Abneigung entstehen, wenn die Proben der Echtheit, Größe und Sinnbildhaftigkeit nicht bestanden werden. Während Liebe dauerndes Weiterleben verbürgt, pflegen die Gegenstände der Gleichgültigkeit und der Abneigung sich unrettbar in Vergessenheit zu verlieren. Mit der Frage nach Geltung der Werte innerhalb einer umfassenden Darstellung und nach der Rolle, die dem einzelnen Werk und der einzelnen Dichtergestalt in der Literaturgeschichte beschieden sein kann, soll dem letzten Buch des zweiten Bandes nicht vorgegriffen werden. Aber im Rückblick auf bisher Besprochenes ist jetzt schon daran festzuhalten, daß das einzelne Werk, wenn es nicht als Mannequin in einer Modeschau des Zeitgeschmacks unterzubringen ist, sondern selbständige Bedeutung beansprucht, nur durch die Beziehung zu seinem Schöpfer in die Literaturgeschichte eingefügt werden kann. Der Name des Dichters sagt nichts, wenn die Werke fehlen, wie etwa bei Heinrich v. Ofterdingen oder Bligger v. Steinach. Aber das Werk ist obdachlos ohne Vorstellung von seinem Dichter. Fehlt der Name, so lebt der Dichter doch unter dem seines Werkes, etwa so wie ein unbekannter Bildhauer als Naumburger Meister oder ein unbekannter Maler als Meister des Marienlebens zur geschichtlichen Persönlichkeit werden kann. Es ist beinahe so wie mit Voltaires Gottesbegriff: wenn es ihn nicht gäbe, müßte man ihn erfinden, wie es denn auch mit unbekannten Größen, als welche Homer oder der Dichter des Nibelungenliedes erscheinen, geschehen ist. Sie leben in ihren Werken bis zu jener Ewigkeit, von der einmal Caroline Schelling ein hyperbolisches Bild entworfen hat: „Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln, aber wenn die Welt einmal aufbrennt wie ein Papierschnitzel, so werden die Kunstwerke die letzten lebendigen Funken sein, die in das Haus Gottes gehen dann erst kommt Finsternis.“ |#f0301 : E277|

ZWEITES BUCH: DER DICHTER ER STER HAUPTTEIL DAS LEBEN Eh' er singt und eh' er aufhört, Muß der Dichter leben. Goethe. 1. G r u n d s ä t z l i c h e s Die Grenze zwischen analytischer und synthetischer Literaturwissenschaft scheint den Begriff des Dichters mitten zu durchschneiden. Nicht als ob durch diese Trennungslinie eine Begriffsspaltung einträte und die organische Einheit des Dichters in ihrer Totalität, Substanz oder Grundauffassung sich veränderte. Aber Sehweise und Richtung der Beleuchtung wechseln. Es ist, als ob zwei Hälften gleich den entgegengesetzten Phasen des Mondes sich ablösten, wobei die jedesmal belichtete Seite nach außen scharf begrenzt ist, während sie innen zu einem ungewissen Dunkel hin sich öffnet. Man hat geradezu von einer „Antinomie“ zwischen Persönlichkeit und Werk in der biographischen Darstellung gesprochen; wiederum hat man sich bemüht, durch Untertitel wie „Der Mann und das Werk“ die beiden einander ergänzenden Teile des Ganzen zusammenfassend in Beziehung zu setzen. Dabei stellt das Kollektivum „Werk“ als Einheit von vielerlei eine Synthese dar, während die Einzahl „Mann“ nach Analyse verlangt. Von anderer Richtung aus gesehen kann es sich aber umgekehrt verhalten: ebenso wie die einzelnen Werke Gegenstand der Analyse waren, wird im Begriff des Dichters sich alles das synthetisch vereinheitlichen, was aus der Einzelbetrachtung der Werke für das Bild ihres Schöpfers zu gewinnen war. So sind Analyse und Synthese eigentlich nicht zu trennen; sie müssen in ständiger Wechselwirkung bleiben, wie es J. Huizinga für die Geschichtswissenschaft formuliert hat: „Um die Analyse beginnen zu können, muß im Geist bereits eine Synthese vorhanden sein.“ In der Sehweise einer Dichtergeschichte, wie sie oben (S. 65 f.) gefordert wurde, stellt der Einzelne nicht weniger dar als die Summe des von ihm Geschaffenen. Oder sogar mehr, insofern das organische Ganze der Gestalt die Addition der Teile an Wert übersteigt. Zunächst |#f0302 : 278|

aber führt bereits die Zusammenfassung zu einer Einheit. Der Weg, der ausging von der im Text vorliegenden Leistung, führt weiter zu den anderen Texten gleichen Ursprungs und findet schließlich sein Ziel im Dichter. Der Dichter bildet den Abschluß der Perspektive, die Zusammenfassung und den Treffpunkt, auf den man von verschiedenen Seiten hingeführt wird; er bedeutet den Generalnenner für die „Gesammelten Werke“, von denen jedes einzeln verstanden sein will, ehe aus ihrer Vielfältigkeit das Gesamtbild der literarischen Persönlichkeit sich ergibt. Der Durchbruch zu dieser wesenhaften Einheit, in der alle Schöpfungen ihren unmittelbaren Ursprung haben, kann als erste Etappe zusammenschauender Synthese betrachtet werden. Von da aus eröffnen sich im Blick auf Vorgänger, Gleichstrebende und Nachfolger die Perspektiven einer literarhistorischen Einreihung. Man kann auch tiefer schauen und weiter zurückgehen, indem man, wie Josef Nadler zur Begründung seiner Familien- und Stammestheorie ausgeführt hat, die Persönlichkeit als etwas von allgemeineren Mächten Abhängiges und Bewirktes betrachtet. Damit würde der Urheberbegriff zum Anfangsglied einer höheren Begriffsbildung. Vorerst aber müssen wir bei der vermittelnden Ursacheneinheit haltmachen, ohne bereits das nächsthöhere Ganze in jenen allgemeineren Mächten zu suchen. Alles geht durch den Dichter. Es gibt keine unmittelbare Abhängigkeit eines Werkes von einem anderen; sie ist nur mittelbar möglich, indem der Verfasser des einen dem Einfluß des anderen erlegen ist. Selbst ein Plagiat charakterisiert den Plagiator und wird nur durch seine Wesensart verständlich. Es gibt keine bestimmenden Einwirkungen von erziehenden Bildungsmächten, Standesauffassungen, gesellschaftlichen Anschauungen, Strömungen des Zeitgeistes und religiösen Erlebnissen, die nicht zunächst die Persönlichkeit des Schöpfers erfaßt hätten, ehe sie in seinen Werken zum Niederschlag kommen konnten. Auch die Zugehörigkeit zu Rasse, Volkstum, Stamm und Familie ist immer durch die Lebenseinheit des Einzelnen vermittelt. Dabei scheint das Leben des Dichters allerdings nur insoweit in Betracht zu kommen, als es dichterisch gestaltet ist oder wenigstens für die Gesamtheit der Werke einen Rahmen bildet, der sie in ihrer Folge und Gliederung überschauen läßt. Der Philosoph Benedetto Croce will deshalb überhaupt nicht die menschliche, sondern ausschließlich die dichterische Persönlichkeit, nicht das Grundwesen des Dichters, sondern nur die Entwicklung seiner Kunst zum Gegenstand der Untersuchung werden lassen. Im biographischen Prinzip sieht er |#f0303 : 279|

eine natürliche Neugier, die zur Enttäuschung führen kann, wenn sich hinter dem Künstler, Philosophen und Mann der Wissenschaft weniger Anteilerregendes findet, als man erwartet hatte. Diese Enttäuschung hat beispielsweise Friedrich Hebbel erlebt, als er den vorher von ihm vergötterten Ludwig Uhland in Tübingen besuchte. Trotzdem wird man sagen dürfen, daß der Eindruck des Menschen oberflächlicher war, als das vorangegangene Erlebnis des Dichters, und daß sich bei näherem Umgang auch das Verhältnis zum Menschen vertieft hätte. Aber kann nicht umgekehrt die Erwartung übertroffen werden? Und kann sich nicht auch die entgegengesetzte Enttäuschung einstellen, wenn ein Werk in seiner Wirkung nicht das erfüllt, was man sich nach der Person des Verfassers versprochen hatte? Die Zielrichtung ist umgekehrt, sobald die Einheit der schöpferischen Persönlichkeit bekannt ist und die verschiedenartigen Werke als ihre Ausstrahlung aufgefaßt werden müssen. Der Fall scheint vornehmlich in der Gegenwart möglich, in unmittelbarer Lebensnähe eines Dichters, dessen Persönlichkeit uns vertraut, dessen äußere Erlebnisse uns bekannt sind, den wir beim Schaffen beobachten und dessen entstehenden Werken als neuen Selbstoffenbarungen mit Spannung entgegengesehen wird. So schreibt z. B. Heinr. v. Kleist an Friedr. de la Motte Fouqué, als er dessen neuestes Werk erwartet und von seinem eigenen „Zerbrochenen Krug“ eine Probe sendet: „Die Erscheinung, die am meisten, bei der Betrachtung eines Kunstwerks, rührt, ist, dünkt mich, nicht das Werk selbst, sondern die Eigentümlichkeit des Geistes, der es hervorbrachte, und der sich, in unbewußter Freiheit und Lieblichkeit, darin entfaltet.“ Für wissenschaftliche und geschichtliche Betrachtungen kann ein ähnliches Verhältnis auch in der Vergangenheit gegeben sein, wenn das Leben eines Dichters sich vollständig vergegenwärtigt, wenn seine Persönlichkeit in außerdichterischen Zeugnissen, Bekenntnissen und Taten offen vor uns liegt, wenn Dasein und Persönlichkeit menschliche Werte darstellen auch ohne Bezug auf die Werke. Wenn, wie Friedrich Schlegel von Lessing sagte, er selbst mehr wert war als alle seine Talente, dann können die Dichtungen als Beiwerk des Lebens betrachtet werden. Sie gleichen den Planeten im Kreislauf um die Sonne oder dem Ring des Saturn, der die Erscheinung des Ganzen formgebend bestimmt, oder den Monden, die sich um das Gestirn bewegen, aus dem sie hervorgingen und an das sie, wenn auch äußerlich losgelöst, nach ihrem inneren Gesetz gebunden bleiben. Zwar klagte ein Dichter wie Anton Wildgans, daß die Sehnsucht, „eins zu sein mit seinen dunklen Taten“, keine Erfüllung finde: |#f0304 : 280|

Aber immer haben die ihr Leben Abgetrennt von mir und neben Mir geführt wie kühle Saaten, Die die Hände, jene mühevollen, Die sie säten, nicht erkennen wollen. Trotzdem bleiben die Werke bei allem Trennungsschmerz Fleisch und Blut des Dichters; sie gehören ihrer Substanz nach zu seinem Leben und werfen ihr Licht auf den Urheber zurück als Ausprägungen seines Wesens. Die Aufhellung ihres Lebenszusammenhanges wird also zu einem Mittel, die schon bekannte Wesensart des Schöpfers in tieferem Einblick zu erschließen. Die Werke dienen der Deutung des Lebens. So sah Wilhelm Dilthey in der Biographie die literarische Form des Verstehens von fremdem Leben und den inneren Ausgangspunkt zur Entwicklung einer psychologischen Wissenschaft. Man kann allerdings fragen, ob nicht eine Biographik, für die Seelenkenntnis zum Selbstzweck wird, mit mehr Recht dem Bereich der allgemeinen Menschenkunde als dem der Literaturwissenschaft zuzurechnen sei. Aber kann Seelenkunde überhaupt Selbstzweck sein? Kein Charakter vermag psychologisch zu interessieren, den nicht außergewöhnliche Leistungen, Handlungen oder mindestens Anschauungen auf irgendeinem Gebiet bedeutungsvoll machen. Die gestellte Frage wird für die Literaturwissenschaft wesenlos, wenn die Probleme der Biographie sich auf nichts anderes als auf die seelischen Ursprünge der Kunstwerke beziehen. Die Einsicht in den Schaffensvorgang, die man als Biographie des literarischen Werkes bezeichnen kann, wird zur Analyse des Dichters, sobald das psychologische Verstehen sich nicht mehr auf die im Kunstwerk dargestellten Vorgänge richtet, sondern statt des gestalteten Seelenlebens die gestaltenden Kräfte sucht. Dann wird die Entstehungsgeschichte, die außerhalb des Werkes einsetzt, in allen ihren Bindungen nacherlebt. Sind die genetischen Verbindungslinien, die vom Dichter zum Werk führen, aufgedeckt sowohl für jede einzelne Dichtung wie für das gesamte Schaffen, so kann man auch den umgekehrten Weg zurücklegen und, vom Werke aus an den Dichter anknüpfend, die Beziehungen suchen, die sich zwischen seinem Leben und seinen Schöpfungen offenbaren. Aus diesen Zusammenhängen ist der dichterische Mensch zu analysieren. Namentlich durch die mehr oder minder positivistische Methodenlehre der Franzosen Henequin Lacombe, Paulhan, Paschal, Audiat ist die Dichteranalyse in den Mittelpunkt aller literarhistorischen Aufgaben gestellt worden. Die Psychologie des Dichters wird nach dieser |#f0305 : 281|

Einstellung begrenzt auf der einen Seite durch die ästhetische Analyse des Werkes, auf der anderen durch die soziologische Analyse der Umwelt. So wenig indessen die im dritten Hauptteil des ersten Buches besprochene Werkanalyse sich allein auf die ästhetische Beurteilung beschränken konnte, so wenig vermag die jetzt in den Mittelpunkt tretende Analyse des Dichters mit Individualpsychologie oder Psychoanalyse sich zu erschöpfen. Vielmehr kann eine zur Normierung und Typisierung neigende psychologische Betrachtungsweise höchstens gewisse gesetzmäßige Verbindungslinien herstellen zwischen zerstreuten Wesenszügen, die bei Sammlung des biographischen Materials gewonnen werden. An der Deutung dieses Materials und an der Zurückführung auf seine Ursachen müssen alle anderen Wissenschaften vom Menschen, zum mindesten Anthropologie, Biologie, Charakterologie und Soziologie Anteil nehmen. Es sind teils der Naturwissenschaft teils der Gesellschaftswissenschaft angehörige Hilfskräfte, die schon Wilhelm Scherer anrief, als er das Wesen des Dichters mit den drei Kategorien des E r e r b t e n , E r l e b t e n und E r l e r n t e n zu erfassen glaubte. Das eine betrifft die Vorwelt, das andere die Innenwelt, das dritte die Mit- und Umwelt des Dichters. So werden bereits die drei Ordnungen des Raumes, der Zeit und der Gesellschaft vorweggenommen, denen, wie im dritten Buch zu zeigen ist, der Einzelne zugeteilt werden kann. In seinen Lebensraum ist der Dichter hineingeboren als Glied eines Volkes, eines Stammes, einer Familie und als Erbe seiner Ahnen. Die Lebenszeit, die von Geburt und Tod begrenzt ist, bringt ihn in Schicksalsgemeinschaft mit seiner Generation und läßt ihn an allem Geschehen teilnehmen. Der Lebenskreis, in dem er sich bewegt, vermittelt die Einflüsse, die in seinem Schaffen sich spiegeln. An der bequemen Formel Scherers haben geisteswissenschaftliche Psychologie, Intuitionsphilosophie und Phänomenologie nachmals wegen der darin zutage tretenden positivistischen Orientierung scharfe Kritik geübt. Heute, da die schroffe Scheidung von Natur und Geist sich wieder gemildert hat und die Schlagbäume zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung vor biologischer Betrachtungsweise hinfällig werden, kann die Dreiheit ihre Auferstehung erleben. Allerdings hat sich das Gewicht etwas verschoben: das Erlernte dürfte nicht mehr die Bedeutung haben, die man ihm einst mit mehr oder weniger mechanischer Feststellung sogenannter „Einflüsse“ beimaß; das Erlebte, das erst durch Dilthey zum Zentralbegriff erhoben wurde, ist auch nicht mehr allein ausschlaggebend; das Ererbte dagegen lenkt alles Augenmerk in viel |#f0306 : 282| höherem Maße, als es zu jener Zeit möglich war, auf sich. Der Dichter ist zugleich Erbe und Erblasser; er ist ein Mittelglied mehrerer Ketten und Wirkungsreihen, die in ihm teils Anfang teils Ende finden. Das rassisch bedingte Körper- und Geistesverhältnis, das in Leibesbeschaffenheit und Antlitz äußerlich sichtbar wird, führt bis zu unbekannten Quellströmen der Urzeit zurück; weiter hat der Dichter im Erbgang Gesinnung und Glauben, Brauch, Recht und Denkart seines angestammten Volkstums als heiliges Pfand überkommen; er schaltet und waltet im tausendjährigen Reich der Sprache und wuchert mit dem ihm anvertrauten Pfunde; er ist mit Kolbenheyers biologischer Metaphysik zu sprechen in seiner Konstitution „der erbbedingte Reaktionskomplex und Funktionsexponent des lebendigen Plasma, das sich auf seinen Anpassungswegen der Individuation in weiteren und engeren Formen (Art, Stamm, Familie, Einzelwesen usw.) bedienen muß“. Der Dichter ist also artgebunden durch das Blut seiner Vorfahren wie durch Überlieferung und Erziehung seiner Familie. So ist er auch in seinem Dasein durch Natur, Selbstbestimmung und Pflicht gegenüber der Gemeinschaft an Fortpflanzung und Mehrung dieses Erbteils gehalten. Er kann es verschleudern, verschwenden und verleugnen; er kann es als eine Last mit sich herumtragen und „feindselig gegen alles Ererbte“ sein, wie Rilke einmal sagte, oder er kann es als etwas aus dem Bewußtsein Verlorenes suchen wie Chamissos Peter Schlemihl seinen Schatten; immer verdankt er doch Leben und Existenz den Wurzeln seines Ursprungs. Indessen muß gesagt werden, daß auch beim geborenen Dichter alles, was er als Anlage geerbt hat, nicht mehr bedeuten kann als eine günstige Empfänglichkeit für die einmaligen göttlichen Gaben des Genies, die erst durch das Leben zur Entfaltung gebracht werden. Das Erbteil einer empfindlichen Aufnahmefähigkeit für alle sinnlichen und gefühlsmäßigen Eindrücke des Lebens, das Erbteil einer kühnen Einbildungskraft, die aus jenen ins Innere aufgenommenen Lebenseindrücken eine eigene Weltschöpfung aufbaut, und das Erbteil einer packenden Ausdrucksfähigkeit in sprachlicher Gestaltung und Formung des inneren Lebens bilden den Mutterboden, durch den das Schicksal seinen aufreißenden Pflug zieht, in den die Erlebnisse keimhaltigen Samen streuen und aus dem ein günstiges Klima reifende Frucht in sprießendem Wachstum aufgehen läßt. Die rassische, stammhafte und familienmäßige Erbbedingtheit wird also bei der Analyse der dichterischen Persönlichkeit die erste Voraussetzung bilden, ohne daß damit die letzten Zugänge zur Individualität geöffnet wären. |#f0307 : 283|

2. E r e r b t e s Rasse, Stamm und Sippe sind die drei Grade körperlicher und geistiger Erbgemeinschaft, deren Bereich sich über den unendlichen Weg vom dunkeln Ursprung der Menschheit bis zur Geburt des Einzelnen erstreckt. Wenn auch die Rasse das Weiteste, räumlich und zeitlich Umfassendste ist, so gehen die beiden anderen Begriffe doch nicht in ihrer Summe auf. Aus einer urzeitlichen Rasse können vielerlei Völker und Stämme hervorgegangen sein, ebenso wie in einem Volk verschiedene Rassen vermischt sind. In einem Stamm können unzählige Familien verzweigt sein, ebenso wie in einer Familie der Blutstrom verschiedener Stämme zusammenfließt. Das Volk ist nicht Teilbegriff einer Rasse, wenn auch bestimmte Rassenmerkmale in seinem Typus vorwiegen mögen. Ebenso wenig läßt sich der Stamm, der nach alten Mythen auf einen Urvater heroischer oder göttlicher Abkunft zurückgeht, in lauter Familien auflösen, wenn auch die Familie das Sinnbild und das Fortpflanzungsmittel des Stammes darstellt. Im Laufe der Jahrtausende sind neue Rassen, im Laufe der Jahrhunderte neue Völker und Stämme entstanden, und neue Familien bilden sich fortwährend in rasse- und stammerhaltender oder rassezerstörender Funktion. Wenn Weltgeschichte und Weltverkehr für Kreuzung von Rassen, für Ineinanderaufgehen von Völkern und Stämmen, für Wanderung und Wechsel von Landschaft und Heimat, für Blutverbindung fremder Familien oder für Seßhaftigkeit, Inzucht und Häufung des Erbgutes gesorgt haben, so ließ das Würfelspiel des Schicksals aus dem Urbestand immer neue Mischungen hervorgehen, als deren letzter Wurf jedesmal ein Einzelner anzusehen ist. In seiner Eigenart müssen wir die ererbten Züge suchen, weil er in Lebenskräften und Geisteshaltung durch sie bedingt ist. Dieses Erbgut kann in der äußeren Erscheinung des Dichters sich offenbaren. Das R a s s i s c h e ist in Schädelform, Augen-, Haar- und Hautfarbe, Körperbau, Haltung, Gang und Ausdrucksbewegungen erkennbar, während Volkszugehörigkeit und Sprache ebenso wie Geburtsort und Familienname schon oft zu rassischen Fehldiagnosen geführt haben. Für die Merkmale des S t a m m e s , dessen rassische Züge nicht einheitlich zu sein brauchen, kommt als formgebend und stilbildend die Sprache hinzu. Die Tätigkeit der Gesichtsmuskeln ist es, die nach Fritz Lange in die ererbte Grundform neue Züge als Eindrücke von Erlebnissen und Erfahrungen, Umwelt und Beruf einzeichnet. Wenn vor allem die gewohnheitsmäßige Artikulation der Sprache gestaltenden Einfluß auf das Antlitz und seine Muskulatur |#f0308 : 284|

ausübt, so können sich typische Erscheinungen herausbilden, wie sie Willy Hellpach, ausgehend vom „fränkischen Gesicht“, in der Physiognomik der deutschen Volksstämme beobachtet hat. Schon Lavater sprach von der Naturgeschichte der Nationalgesichter, und Clemens Brentano hat in seiner heiteren Novelle „Die mehreren Wehmüller“ Ausdruck und Motiv übernommen. Hellpach will für solche Einheitsbildungen nicht die Rassenzusammensetzung verantwortlich machen, sondern sieht sozial-psychische Ursachen in regionalem Temperament und regionaler Mundart. Zum Wesen des Stammes gehört seine Heimat und der Boden, mit dem er verwurzelt ist. Als F a m i l i e n e r b t e i l endlich übertragen sich zusammen mit Rassen- und Stammesmerkmalen die konstitutionellen Eigentümlichkeiten, die mit persönlichen Temperaments- und Charakteranlagen in Übereinstimmung stehen. Sie sind, wie Ernst Kretschmer gezeigt hat, für Art, Richtung und Stil des dichterischen Schaffens wie für Temperament und Lebensauffassung bestimmend, womit aber nicht gesagt ist, daß ererbte Konstitution und ererbte Dichtergabe von derselben Seite stammen müssen. Goethe wenigstens hat in vielzitierten Versen, deren meist unbeachtet bleibender Zusammenhang die Originalität und Selbständigkeit des Individuums ironisch in Frage stellt, sein eigenes Familienerbteil deutlich getrennt: Vom Vater hab' ich die Statur, Des Lebens ernstes Führen, Vom Mütterlein die Frohnatur Und Lust zum Fabulieren. Die erbbedingten Eigenschaften spiegeln sich auch im Schaffen des Künstlers. Die Selbstdarstellung, zu der jedes Werk bewußt oder unwillkürlich sich ausprägt gibt den Gestalten des Bildhauers und Malers, ja selbst der Sehweise des Landschafters, den Proportionen des Architekten, dem Rhythmus des Musikers, den Bewegungen des Tänzers und Schauspielers Formen, die seiner eingeborenen Anlage, seiner Sinnesempfänglichkeit, seinen Schönheitsidealen, seinem inneren Gesetz und seiner persönlichen Haltung entsprechen. So können auch dichterische Gestalten, je nachdem ob sie mit Sympathie oder Antipathie dargestellt sind, als Typen oder Gegentypen des rassischen, stammhaften und konstitutionellen Bildes ihres Schöpfers angesehen werden. Schiller hat gewiß in Karl Moor und Fiesko nicht sein Selbstbildnis geben wollen, aber doch steht die indirekte Schilderung beider, gleichviel ob sie mit dem Auge des Hasses oder der Liebe gesehen ist, nicht in Widerspruch zum eigenen Rassetypus des Dichters. (Moor: „sein langer |#f0309 : 285|

Gänsehals, seine schwarzen feuerwerfenden Augen, sein finsteres überhangendes buschichtes Augenbraun“; Fiesko: „stolz und herrlich trat er daher, nicht anders als wenn das durchlauchtige Genua auf seinen Schultern sich wiegte.“) Dagegen sind im mißgestalteten Franz Moor, der ja eigentlich seinem Bruder gleichen müßte, ferner im Juden Spiegelberg, im Mohren Muley Hassan, im kriecherischen Sekretär Wurm die Gegentypen mit mehr oder weniger humorvoller Abneigung gezeichnet. Wiederum hat Hebbel seinen orientalischen Frauengestalten, ob sie nun Judith, Mariamne und Rhodope heißen, durchaus nordische Charakterzüge verliehen. Geschulter Blick kann Rasse und Stamm, ja sogar Konstitution des Schöpfers aus den von ihm gestalteten Gebilden ablesen wie aus der Gestalt seiner eigenen Bildnisse. Vielleicht sind die Gebilde sogar zuverlässigere Blutzeugen, weil sie mehr Ursprünglichkeit besitzen, während die Porträts, die man als rassekundliche Zeugnisse der Vergangenheit heranziehen muß, bezeichnender sein können für Sehweise und Wesensart der Maler als für die der Dargestellten. Das gilt namentlich für die älteren Zeiten; beispielsweise erkennt man in den Minnesängergestalten der Heidelberger Liederhandschrift mehr Anpassung an die Motive der Dichtungen als individuelle Charakteristik. Trotzdem darf das, was an sichtbaren Spuren des Lebenswandels eines Dichters erhalten ist, nicht übersehen werden. Gemälde und Zeichnungen, Plastiken, Silhouetten und Kopfabgüsse stellen nicht nur für oberflächliche Anschauung gefällige Illustration dar, sondern sie können je nach Zuverlässigkeit zum wissenschaftlichen Studienmaterial werden. Neben Beschreibungen des äußeren Eindrucks und zufällig überlieferten Körpermessungen sind auch museale Erinnerungsstücke unter Umständen von gewissem Vorstellungswert; freilich können solche Reliquien nur dann wissenschaftliche Wichtigkeit beanspruchen, wenn die daraus gewonnenen Schlüsse auf die äußere Erscheinung des Dichters und seine rassischen, stammhaften und konstitutionellen Merkmale in irgendeinen aufschlußgebenden Zusammenhang zu bringen sind mit der dichterischen Eigenart. Die Behandlung des Materials, das für die körperliche Erscheinung eines Dichters überliefert ist, unterliegt gleichen Grundsätzen wie der überlieferte Text; die Reihenfolge ist auch hier: Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung. Die Ikonographie stellt ähnliche Aufgaben wie die Bibliographie; Dichtermuseum und Bilderatlas bedeuten als Arbeitsstätte und Material ungefähr dasselbe wie Bibliothek, Archiv und Bücherkatalog. Wenn eine vollständige Sammlung des Bild|#f0310 : 286|

materials vorliegt, wie sie etwa für Goethe in den Werken von Rollett, Zarncke und Schulte-Strathaus, für Schiller durch O. v. Güntter, für die ganze deutsche Literaturgeschichte durch Könnecke unternommen worden ist, so wird die damit verbundene Prüfung jedes einzelnen Stückes, die Ausscheidung des Unechten, die Anzweiflung des Unsicheren, die Feststellung des Ursprünglichen, die Ermittlung des Darstellers, seines Könnens und seiner Treue sowie die vergleichende Untersuchung etwaiger Abhängigkeit vorausgesetzt. Mit der Datierung verbindet sich die Eingliederung in den überlieferten Lebensgang und die Beobachtung äußerlicher Wandlung, in der sich nicht nur das allmähliche Reifen und Altern, sondern auch der tiefgegrabene Eindruck der Erlebnisse und der Wechsel der Lebensstimmungen offenbart. Übrig bleibt dann noch die Deutung nicht nur der einzelnen Stücke, sondern des ganzen Materials, dem ein physiognomisches Gesamtbild der Persönlichkeit, ihrer Ursprünge und ihrer Entwicklung abzugewinnen ist. In der Auswertung des Materials trennen sich die anthropologischen Gesichtspunkte, die auf das Gruppenmäßige und Typische zielen, von den literaturwissenschaftlichen, die das Individuelle erfassen sollen. Wenn mit einer gewissen Vorliebe die Bilder großer Männer, deren Genealogie, Lebensgeschichte, Persönlichkeit und Leistung als bekannt gelten, zum Studienmaterial für Rassen- und Stammesforschung herangezogen werden, so geschieht es in der Absicht, ihre im Äußeren ausgeprägte Wesensart als Baustein für den Beweis typischer und artgemäßer geistiger Leistung zu verwerten. Nicht das Verstehen des einzelnen und seiner Schöpfungen, das vorausgesetzt wird, sondern der Beweis einer Übereinstimmung von Morphologie und Psychologie und die Feststellung allgemeiner Zusammenhänge zwischen körperlicher und geistiger Ausdrucksform bilden das Ziel. Die Literaturwissenschaft dagegen müßte gerade das, was anthropologisch erst ermessen werden soll, als gegeben voraussetzen; sie müßte mit den unerschütterlich feststehenden Ergebnissen der Rassen- und Stammesforschung als Tatsachen rechnen dürfen, sowohl um sie für das verstehende Eindringen in die Wesensart eines Dichters zu verwerten als auch umgekehrt, um aus Gesinnung und Gestaltungsweise unanfechtbare Schlüsse auf die Blutzugehörigkeit ziehen zu können. Mangels fester Formeln für das Verhältnis zwischen der körperlichen und geistigen Natur des Menschen bleibt die gegenseitige Hilfeleistung unsicher. Die Literaturwissenschaft läuft Gefahr, in den von Rassen- und Stammesforschung ihr überlieferten Ergebnissen ein allzu weitmaschiges Netz von Grundsätzen entgegenzunehmen, während |#f0311 : 287|

umgekehrt die von der Literaturwissenschaft an die Anthropologie übermittelten Fälle in bezug auf die geistige Leistung Ausnahmen darstellen, auf die keine Gesetze zu gründen sind. a) Rasse Die Zusammenarbeit der aufblühenden Rasseforschung und der jugendlichen Literaturwissenschaft befindet sich vorläufig in tastenden Anfängen. Auf der einen Seite wird sie erschwert nicht nur durch eine schwankende Terminologie (westlich oder mediterran, ostisch oder alpin, fälisch oder dalisch), die zudem ungewiß läßt, welche Rassen als primär, welche als sekundär anzusehen sind. Dazu kommt, daß die psychologische Ausdeutung der Rassenmerkmale noch keineswegs einheitlich geklärt ist. Auf der anderen Seite liegt das Hindernis darin, daß die Literaturwissenschaft für die älteste Zeit so gut wie gar kein, für die neuere Zeit aber verhältnismäßig wenig eindeutiges Bildmaterial zur rassischen Diagnose beisteuern kann. Schädelmessungen, wie sie schon bei Gräberfunden der Vorgeschichte einen typischen Durchschnitt ermitteln lassen, stehen für Dichter der mittleren und neueren Zeit selten zur Verfügung; auch da ist das Material nicht immer zuverlässig, wie die peinlichen Schicksale der Schillerschen Gebeine zeigen. Aus den Schiller-Bildnissen aber und mehr noch aus seiner Dichtung werden verschiedene Ergebnisse gezogen: Otto Hauser z. B. bezeichnet ebenso wie Richard Weltrich Schiller als rein nordisch in Leben und Schaffen, während Hans F. K. Günther einen dinarischen Einschlag betont, der sich auch in Schillers Stil, in einer überfliegenden, ausladenden Sprache, die den Wirklichkeitssinn und das Abstandhalten der nordischen Art zurückdrängt, äußern soll. Bei Heinrich von Kleist besteht ebenfalls ein Widerspruch nicht nur in der Bildüberlieferung (zwischen der umstrittenen Maske, die auch für Achim von Arnim in Anspruch genommen wurde, und der besser beglaubigten, aber weniger sagenden Miniatur), sondern ebenso in der geistigen Haltung und im Stil der Dichtung. Hier sieht Günther die nordische Rassenseele von einer krankhaften Veranlagung durchsetzt, die von ihm als Störung der Erbanlage angesehen wird. Auch von den Werken werden nur „Robert Guiskard“ und „Michael Kohlhaas“ als rein nordisch anerkannt. Die Bildnisse konnten bei dieser Charakteristik, die einer eigentlichen Bestimmung der rassischen Elemente ausweicht, kaum eine Rolle spielen. Je näher wir der Gegenwart kommen, desto eher findet sich dank reicher photographischer Überlieferung die Möglichkeit exakterer |#f0312 : 288|

anthropologischer Untersuchung. Die seltene Gelegenheit, Rasse und Volkstum einer lang ansässigen und in sich ziemlich abgeschlossenen Bevölkerung, aus der mehrere Dichter, nämlich die drei Brüder Kinau (darunter Gorch Fock) und Hinrich Wriede, hervorgegangen sind, statistisch aufzunehmen, bot das Fischerdorf auf der Altona gegenüberliegenden Elbinsel Finkenwärder. Die Bevölkerung hat sich zwar nicht als durchaus reinrassig erwiesen, aber die nordischen Kennzeichen in Schädelform, Augen-, Haar- und Hautfarbe herrschen doch in ungewöhnlich reichem Maße vor. Gerade die vier Dichter scheinen allerdings in ihrem Äußeren nicht ganz der Reinkultur des Typus von Finkenwärder zu entsprechen und die in ihrer Generation hervortretende Begabung ist in früheren Zeiten des Fischerdorfs nicht bemerkbar, so daß ein bedeutungsvoller Beitrag für die Erbbestimmung dichterischer Anlage aus dieser sorgfältigen Untersuchung ebenso wenig herausspringen konnte als bei mangelnder Ahnentafel die Erklärung der Abweichungen. Anders liegt es in dem Falle Wilhelm Raabes, dessen Abstammung durch den neuesten Biographen Wilhelm Fehse eingehende Untersuchung erfahren hat. Führt die Ahnentafel väterlicherseits zurück auf das Bergmannstum des Harzes, dessen Urwelt den symbolischen Hintergrund vieler Erzählungen bildet, so hat sich damit das Blut der Ebene vermischt, deren Geschlechterreihe im Gelehrten- und Beamtentum des Braunschweigischen (Schottelius) eine ehrenvolle Rolle spielte. In Raabes Körperlichkeit mischen sich nordische Züge, zu denen die hohe, schlanke, langbeinige Gestalt, der stark nach hinten ausladende Langschädel, das schmale, hellhäutige Gesicht, die graublauen Augen und das dunkelblonde Haar gehören, mit Zügen, die der fälischen Eigenart zugeschrieben werden, wie die viereckige Gestaltung der Stirn und die breitgeformte Nase. Aber damit ist noch nicht gesagt, welche Rassenzüge der väterlichen, welche der mütterlichen Familie zugeschrieben sind. Wahrscheinlich hat schon früher mehrfache Kreuzung stattgefunden. In Raabes geistiger Wesensart sind dieselben Widersprüche bemerkbar: der Drang nach freiester Persönlichkeitsentfaltung, das eigenwillige Schöpfertum, die von einer scharfen Intelligenz gebändigte Phantasie, die abstandhaltende innere Vornehmheit dürfen als Eigentümlichkeiten nordischer Haltung in Anspruch genommen werden, während die innere Einsamkeit, das Behagen der Enge, die nüchterne Sachlichkeit und die hellseherische Mystik dem fälischen Wesen zufallen. Aus dieser Gegensätzlichkeit zwischen rationalen und irrationalen Kräften werden nun die Spannungen und Konflikte des Raabeschen Lebens und Dichtens erschlossen, deren Überwindung |#f0313 : 289|

schließlich dem Lebensgefühl des Humors gelingen konnte. Was aber dessen Art betrifft, so wird durch Siegfried Kadner der gröbere und deftige fälische Humor getrennt von dem feineren und milden nordischen, der bei Raabe wohl vorwiegt. Der Gegensatz der beiden verwandten und oft vermischten Rassen kann nicht allein für die Widersprüche in Raabes Persönlichkeit entscheidend sein; sicher haben auch berufliche und gesellschaftliche Erfahrungen, Gewohnheiten, Schicksale der Vorfahren und die landschaftliche Verschiedenheit ihrer Herkunft mitgewirkt. Immerhin stellt der beobachtete Zwiespalt vor ungeklärte Probleme, denen Erbforschung und Literaturwissenschaft in gemeinsamer Arbeit weiter nachgehen sollten, nämlich inwieweit überhaupt rassische Zwiespältigkeit Konflikte schafft, die dem in sich widerspruchsvollen Dichter Erlebnis werden und ihn ohne Bewußtsein der Ursache zur Auseinandersetzung und selbstbefreienden Gestaltung zwingen. Die Fragestellung kann nicht bis zu der Folgerung ausgedehnt werden, daß eine absolut reinrassige Herkunft, wie sie bei der europäischen Vermengung äußerst selten, wenn nicht geradezu ausgeschlossen sein muß, weniger gewaltsame Spannungen kenne und künstlerisch minder produktiv bleibe. Oder gar, daß Dichtung überhaupt erst aus Rassengegensätzen entstehe. Aber es ist nicht zu verkennen, daß die Untersuchungen über die Ursprünge des Genies, die seinerzeit Reibmayr unternahm und die neuerdings von Kretschmer wieder aufgenommen wurden, auf einen Vorzug der Kreuzung artverwandter Rassen hinführten. Auf jeden Fall liegt in der Verschiedenheit der von den Eltern ererbten Charakteranlage und in den daraus folgenden inneren Spannungen eine Vertiefung und Bereicherung der Erlebnisfähigkeit des werdenden Dichters. Man denke an E. T. A. Hoffmann, dessen Doppelleben als gewissenhafter Beamter und ausschweifendes Genie wie dessen ständiges Erlebnis des Gegensatzes zwischen Philister und Künstler auf die Wesensverschiedenheit der Eltern und ihrer Familien zurückzuführen ist. Moderne Gestaltungen des Gegensatzes zwischen Bürger und Künstler scheinen auf ähnlicher Gegensätzlichkeit der Erbgrundlagen zu beruhen. Wie dem auch sei, es besteht die Forderung, den Auswirkungen verschiedenartiger Blutbindung in allen erkennbaren Fällen nachzugehen. Andere Literaturen geben dazu vielleicht noch mehr Anlaß und bessere Beobachtungsmöglichkeit als die deutsche; z. B. Nordamerika, wo die Rassenprobleme des Schmelztiegels noch in jüngerer Zeit zu verfolgen sind, oder Großbritannien, wo die wallisischen, schottischen, irischen, angelsächsischen und normannischen Elemente in der Siedlungsgeschichte |#f0314 : 290|

faßbar werden. Bisher ist aber diesen Vorgängen von Mundartforschung und Volkskunde, die ganze Gruppen und Landschaften als Einheit aufzunehmen in der Lage sind, mehr Beachtung geschenkt worden als von der Literaturgeschichte. Mir ist keine Biographie Lord Byrons bekannt, bei der die Auswirkung englischschottischer Blutmischung in seiner Dichtung analysiert würde; dagegen wird bei Dante Gabriel Rossetti in Bernhard Fehrs Darstellung Italienisches und Englisches unterschieden, freilich mehr als Bildungseinfluß denn als Erbteil. Die gleichen Probleme komplizieren sich bei Joseph Conrad (Korzeniowsky) 18571923, wenn das, was ukrainisch, was polnisch, was etwa jüdisch und was englisches Bildungsgut ist, sich sondern ließe von dem Einfluß exotischer Erlebnisse, die das Thema seiner Erzählungen bilden. Für Deutschland hat Joseph Nadler vor allem im Kolonisationsgebiet einen günstigen Boden zur Aufhellung geistesgeschichtlicher Probleme gefunden. Er hat neuerdings in Auseinandersetzung mit Günther der Rassenkunde die Aufgabe gestellt, für die beiden räumlich weit getrennten Wohngebiete der ostischen Rasse, nämlich Oberrhein und Ostmitteldeutschland, „die räumliche Dichte bestimmter geistiger Vorgänge“ zu prüfen. Hatte sich ihm vorher das ostdeutsche Kolonisationsland als Ursprungsland der Romantik dargestellt, so konnte er die Augen gegenüber der Tatsache nicht verschließen, daß auch in Westdeutschland schon im 18. Jahrhundert vorromantische Strömungen ihr Quellgebiet haben. Die Übereinstimmungen führen zu der Frage, ob nicht diese beiden Gegenden durch die Vorherrschaft der ostischen Rasse zu Kernlandschaften des denkerischen und mystischen Geistes in Deutschland geworden seien. Indessen hat dieser Geist auch am Niederrhein seinen Sitz, und Ernst Kretschmer sucht ihn auf Grund von Rassekarten auch dort durch alpine (ostische) Einsprengsel zu erklären. Diese Fragestellungen, die weit über die Analyse der einzelnen Persönlichkeit hinausgehen, werden im dritten Buch zu erörtern sein. Bleiben wir zunächst bei der Erbanlage einzelner Persönlichkeiten, so stellt unter den Romantikern eine Gestalt wie Ludwig Tieck vor das Rätsel, wie dieses in der Metropole der Aufklärung aufgewachsene Berliner Kind überhaupt zum Romantiker werden konnte. Wenn jetzt die amerikanische Biographie von Edwin H. Zeydel es wahrscheinlich macht, daß das illegitime Pflegekind des Pfarrers Latzke, das der Seilermeister Johann Ludwig Tieck aus Jeserig bei Brandenburg heimführte, eine Russin zur Mutter hatte, so klärt sich aus dem großmütterlichen slawischen Erbe vielleicht die lässige Apathie und |#f0315 : 291|

weiche Stimmungshingabe des Dichters auf, die wiederum ihr Gegengewicht in einem vom Vater ererbten, sehr nüchternen kritischen Intellekt fand. Der innere Widerstreit zwischen den beiden Anlagen mag die Voraussetzung bilden für die Selbstzersetzung des Romans „William Lovell“ und für die stimmungzerstörende Form der Ironie, die in den Literaturkomödien in Blüte steht. Ein anderes Beispiel haltloser Zerrissenheit aus rassischem und volkhaftem Zwiespalt mag in der italienisch-französisch-deutschen Blutmischung Clemens Brentanos, die Chamberlain zu Unrecht als die einer syrosemitischen Bastardfamilie charakterisierte, sich darstellen. Weiter wird man bei Paul Heyse, der das epigonale Artistentum nachgoethischer Zeit mit gewissem Glanz repräsentierte, das Erbteil der jüdischen Mutter nicht verkennen, wenn man seine weichliche Wesensart mit fester verwurzelten Zeitgenossen wie Gottfried Keller, Theodor Storm oder Wilhelm Raabe vergleicht. Mit Recht führt Ludwig Finckh die Geschlossenheit seines Wesens auf rein schwäbische Abstammung zurück. Rilke wiederum wollte seine „gründlichen Beziehungen zur französischen Geistigkeit“ aus der elsässischen Herkunft seiner mütterlichen Familie erklären, was mehr kulturellen als rassischen Einschlag bedeuten würde. Auch das versprengte französische Blut der Friedrich de la Motte Fouqué, Willibald Alexis, Theodor Fontane, Luise von François, die alle nach Norden gerichtet sind, stellt vor Aufgaben rassischer Untersuchung, denen die Forschung bisher erst geringe Aufmerksamkeit entgegenbrachte.

Während der Bahnbrecher der genealogischen Literaturforschung, August Sauer, als seine letzte literarische Gabe eine seitenlange, nach Ländern geordnete Aufzählung aller deutschen Schriftsteller, deren Ahnen aus der Fremde kamen, hinterließ, machte schon vorher Fernand Baldensperger auf das fremdstämmige Blut in der französischen Dichtung aufmerksam, das aus Italien bei Scudéry, Rivarol und Zola, aus Spanien bei Guez, Balzac, Laclos, Florian, aus England bei Moncrif und Gresset, aus Deutschland bei George Sand sich herleitet. Rassenkundliche Untersuchungen sind an diese Feststellungen noch kaum angeknüpft worden. Auf die sichtbar nordische Herkunft des Normannen Flaubert, der von sich selbst sagte, „je suis Allemand“, hat Günther hingewiesen, aber auch hier hätte nicht weniger als bei Kleist die krankhafte Anlage, die Flaubert mit dem Epileptiker Dostojewski teilte, beachtet werden sollen. Weiter bleibt die Fortwirkung des Negerblutes der beiden Dumas, die in ihrem Äußeren sich nicht verbirgt, zu erforschen. Die schwarze Rasse war auch in der Abstammung des Russen Alexander Puschkin vertreten, der zum Urgroßvater mütterlicherseits |#f0316 : 292|

einen in Frankreich erzogenen Neger, der der Leibmohr Peters des Großen wurde, gehabt hat. Unter den deutschen Dichtern aber hat man in Ferdinand Freiligraths löwenartigem Haupt negroide Züge entdecken wollen. Sollten danach die eigenartigen afrikanischen Phantasien des „Mohrenfürst“ und „Löwenritt“ als Atavismen aufgefaßt werden dürfen? Bei solchen unerforschten Zusammenhängen fehlt vorläufig jede Erfahrung dafür, über welchen Zeitraum hinaus und bis zu welchem Grad der Verdünnung derartige Einsprengsel noch wirksam sein können; denn die biologischen Pflanzen- und Tierexperimente, die durch zahllose Generationen die Erhaltung bestimmter Erbmerkmale erweisen, haben noch keine unmittelbare Beweiskraft für das Fortleben geistiger Eigenschaften durch ebenso viele Glieder. Als beinahe erheiterndes Beispiel des Äußersten an Kombinationsmöglichkeit sei eine Folgerung aus Goethes Ahnenreihe erwähnt. Die elfte Geschlechterfolge führt im 15. Jahrhundert auf die Frankenberger Familie Soldan, deren Vorfahr nach Familienüberlieferung ein im Anfang des 14. Jahrhunderts getaufter Türke (oder Araber) Sadok Seli Soltan gewesen sein soll. Wäre es demnach erlaubt, die Flucht in die Patriarchenluft des Ostens, die der Dichter des „Westöstlichen Divan“ antrat, als Wirken einer geheimen Stimme des Blutes, die in ferne Ahnengefilde lockte, aufzufassen? Damit nicht genug. Ein jüdischer Sprachforscher, der nach den Grundsätzen der Finckschen Sprachtypenlehre Übereinstimmung zwischen Goethes Alterssprache und der türkischen Syntax entdeckt hatte, glaubte nun in dem „Tropfen Türkenblut“ die Erklärung und schlagende Bestätigung seiner Hypothese zu finden. Mündliche Familientraditionen stellen immer eine sehr unsichere Quelle dar. Nach dem Genealogen Karl Knetsch, der die grundlegende Ahnentafel Goethes aufgestellt hat, ist jene abenteuerliche Verbindung der Frankenberger Familie Solden mit dem seligen Sadok zu bezweifeln. Aber wohl läßt sich auf Grund dieser Ahnentafel errechnen, daß über die Marburger Familie Orth im 16. Jahrhundert das Blut sowohl Karls des Großen als seines Gegners Widukind in Goethes Adern gekommen ist. Was lassen sich daraus für Schlüsse auf seine staatsmännische Begabung ziehen, zumal auch andere Fürstlichkeiten wie Heinrich der Vogler, Otto der Große, die Staufer Friedrich Barbarossa, Heinrich VI. und Friedrich II. sowie Landgraf Ludwig von Thüringen und die heilige Elisabeth in die Reihe der Vorfahren treten. Ferner ist in der Ahnenreihe ein Minister wie der Kanzler Brück und ein Maler wie Lukas Cranach vertreten. Trotzdem gewährt das rassische |#f0317 : 293|

Bild Goethes keine ungemischte Freude; der Dichter, dessen Vatersname auf gotische Abstammung hinweist, scheint kein rein nordischer Mensch gewesen zu sein. Walter Rauschenberger, der diesen Schluß aus vorhandenen Ahnenbildern zieht, glaubt aber, daß gerade auf dem mannigfaltigen Erbanteil, der an mehrere Rassen und fast an alle deutschen Stämme gebunden ist, der Universalismus Goethes in seiner einzigartigen allumfassenden Menschlichkeit gegründet sei. Dagegen hat Walther Tröge behauptet, die gewaltige dichterische Leistung Goethes habe ihre blutsmäßige Voraussetzung in seinen thüringischen Bauernahnen, denen er die Kraft für seine Sendung verdanke. b) Stamm Als Josef Nadler 1934 das Verhältnis zwischen Rassenkunde, Volkskunde und Stammeskunde in ihrer Bedeutung für die literaturwissenschaftliche Methode abwog, sprach er der Rassenkunde keineswegs die große Bedeutung ihrer Aufgaben ab und zweifelte nicht an der endlichen Lösung: „Erst von der Rasse her sind die letzten Aufschlüsse zu erwarten, die weder die Volkskunde noch die Stammeskunde geben können.“ Aber es wurde demgegenüber der Vorteil betont, in dem sich gegenwärtig noch die beiden anderen Wissenschaften befinden, weil nicht mehr Fragen von ihnen und an sie gestellt zu werden brauchen, als sie zu beantworten in der Lage sind. Damit brach Nadler eine Lanze für seine eigene Lehre, die von ihm in vielen grundsätzlichen Darlegungen erörtert, vor allem aber in der großen „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ zur Anwendung gebracht ist. Auch in dieser glänzenden und bestechenden Darstellung, die auf viele bisher kaum geahnte Zusammenhänge überraschendes Licht wirft, sind indessen die klaren Beantwortungen, soweit sie den Einzelnen betreffen, an Zahl geringer und methodisch primitiver als die Fragestellungen.

Gegen die Einseitigkeit, mit der die Stämme als die eigentlichen Spieler des Dramas auf die Bühne geführt werden, wie gegen die Zweiseitigkeit, die im Wechsel und Ineinanderwirken mit den stammhaften Verkörperungen auch die Umwelt und den landschaftlichen Hintergrund als Wandeldekoration mitspielen läßt, sind mancherlei Bedenken geäußert worden. Das letzte Wort der Auseinandersetzung, das zurzeit vorliegt, faßt höchte Anerkennung in dem Urteil zusammen, daß ein Buch von deutscher Art und Kunst, eine Geschichte der Einswerdung des deutschen Volkes entstanden sei, bei dem die Literatur nur das Belegmaterial für die Stammeskunde bilde, so daß System und |#f0318 : 294|

Quintessenz des Werkes eigentlich in der kleinen Schrift „Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes“ vorliege. Eine synthetische Betrachtungsweise ist damit gekennzeichnet. Ihr ist weniger an der Dichtung gelegen, als an dem Menschen, der sich in ihr ausspricht, und im Menschen wird nicht der Dichter gesucht, sondern die Stammesseele, deren Sprachrohr er ist. In der Tat hat Nadler einmal auf einer Soziologentagung erklärt, es komme nicht darauf an, etwas aus den Stämmen herzuleiten, sondern Material zu erschließen für die Erkenntnis des Stammesproblems. Indem wir die Besprechung dieser Methode den Ordnungen des Raumes im dritten Buch zuweisen und die Erörterung der Darstellungsgrundsätze dem fünften Buch vorbehalten, müssen wir uns hier zunächst auf den entgegengesetzten Standpunkt stellen und fragen, was wir von der Analyse des Stammeserbes beim einzelnen Dichter zu erwarten haben. Wir begegnen aufs neue dem schon oben beobachteten Unterschied zwischen anthropologisch-typisierender und psychologisch-individualisierender Zielsetzung. Es ist etwas anderes, ob die Ergebnisse der Einzelanalyse von vornherein zu Bausteinen eines allgemeinen Systems bestimmt sind oder ob ein fertiges und zuverlässiges System bei der Analyse des Einzelnen zur Verfügung steht. Um der Zusammenfassung willen muß Nadler viele Ergebnisse der Einzelanalyse übergehen; die Zwangslage der Einordnung läßt nicht zu, daß der verschiedenartige Blutanteil bei einem Dichter in gleichem Maße zu Recht kommt; jeder muß in seinem Paß zu einem bestimmten Stamm Farbe bekennen. Selten wird den beiden Faktoren Herkunft und Umwelt ein Gleichgewicht zugestanden wie bei dem alemannisierten Rheinfranken Fischart. Unter Umständen ist einmal das Landschaftliche ausschlaggebend wie bei dem geborenen Hessen Grimmelshausen, dessen Familie thüringischen Ursprungs ist und der als Dichter des Schwarzwaldes Anschluß bei den Alemannen findet. So entscheidet die Gelegenheit, auf welches Feld des Schachbrettes die Figur geschoben wird, und der Meister kann seine Partie immer nur um den Preis gewagter Opfer gewinnen. Die Figuren haben verschiedene Bewegungsmöglichkeit: die eine kann als Bauer nur zu den unmittelbaren Vorfahren rücken; die andere durchquert als Läufer das ganze Feld, um an einem fernen Urahnen Anschluß zu suchen, die dritte biegt als Springer um die Ecke und findet neben der gradlinigen Abstammung eine Bestimmung in der landschaftlichen Umgebung; der vierten sind wie der Königin Bewegungen aller Art erlaubt. Goethe z. B. vertritt zunächst durchaus das fränkische Stammesblut. Da aber die deutsche Klassik in Thüringen ihren angestammten Boden hat, bleibt unausgesprochen, ob dem Klassiker

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Goethe bereits im Blute seiner zahlreichen thüringischen Ahnen das Schicksal vorausbestimmt war oder ob er erst mit der Übersiedlung nach Weimar in den landschaftlichen Bannkreis klassischer Weltschau trat. Wie der Stil, so erscheinen auch einzelne Gattungen stammhaft bestimmt; es muß beispielsweise dem bayrisch-österreichischen Spieltrieb die Anlage für Drama und Theater seit frühester Zeit angeboren sein (vgl. oben S. 269), während die Begabung des schwäbischen Stammes in der Lyrik glänzt. Schiller scheint eine Ausnahme zu bilden. Es hätte besser gepaßt, wenn er bajuwarischen Stammes gewesen wäre. Für die Herleitung des dramatischen Naturells wäre deshalb die Abstammung von einer wappengleichen Tiroler Adelsfamilie Schiller von Herdern, die der Freiburger Archivar Albert nachzuweisen suchte, willkommen. Inzwischen aber haben schwäbische Genealogen die lückenlose Ahnenreihe der Remstaler Weinbauern Schilcher bis ins 14. Jahrhundert hinaufgeführt. Dem Biographen Richard Weltrich, der die zusammenfließenden Blutströme sorgfältig prüfte, blieb nichts anderes übrig, als die dramatische Begabung auf einen von der mütterlichen Seite herkommenden fränkischen Einschlag zurückzuführen. Nadler nun liebäugelt zunächst noch mit der Familie Schiller von Herdern, während er später eine ununterbrochene alemannische Entwicklungslinie des Dramas aufzudecken sucht, die von Nikodemus Frischlin über den aus Ehingen stammenden Jesuiten Bidermann, den „Höhepunkt der bairischen Barockkunst“, zu Schiller führt, in dessen Geist Frischlinus redivivus ersteht. Das sind Versuche, stammesmäßig zu begründen, was Günther durch den dinarischen Einschlag rassisch erklären wollte. Unter den blutmäßigen Vorfahren Schillers findet sich im übrigen keiner, der als Dichter oder Dramatiker hervorgetreten wäre. Dem harten Beruf des Winzers, dem auch Grillparzers dinarische Vorfahren oblagen, wird man schwerlich einen zum Drama führenden Erbeinfluß zuschreiben. Es bleiben noch zwei Probleme zu besprechen, die sich aus dem Verhältnis von Stamm und Rasse ergeben. Einmal taucht die Frage auf, ob ein aus Rassenmischung hervorgegangener Stamm tatsächlich als psychische Einheit gelten darf. Wenn Erich Schmidt im Eingang seiner Lessingbiographie von den zweierlei Obersachsen sprach, den meist ruhig daheimbleibenden, sanften, artigen, wortreichen, maßvollen, verträglichen, geduldigen (Leibniz, Gellert, Ludwig Richter) und den rastlosen, heftigen, eigenrichtigen, wuchtigen, kampfbereiten (Pufendorf, Lessing, Fichte, Moritz Haupt, Richard Wagner, H. v. Treitschke), so bezeichnet er einen Gegensatz, der in der Siedlungsgeschichte |#f0320 : 296|

seine Erklärung finden kann. Ob man aber die unternehmenden Kämpfernaturen auf die Germanen, die anderen auf das Slawentum zurückzuführen hat oder ob es sich umgekehrt verhält, ist nicht sicher. Daß der Name Lessing slawischen Ursprunges ist, entscheidet nicht die Abstammung; es könnte auf dem Gehöft, das den Namen „Wäldchen“ trug, ein germanischer Siedler gesessen haben, dessen Nachkommen sich nach ihrer Heimat nannten. Nadler bestreitet das und führt auf eine Abstammung von tschechischen Hussiten das Ruhelose, Entwurzelte und den Mangel an geschichtlichem Empfinden zurück. Ebenso sieht Sauer in Heinrich v. Treitschke, dem allerdings das geschichtliche Empfinden nicht fehlte, den Nachkommen hussitischer Eiferer. Im Falle Lessings beruht die Annahme auf einer ungesicherten Tradition, an der die Familie selbst nicht festhält. Aber selbst wenn ein Vorfahre zehnten Grades über den Kamm des Erzgebirges gekommen wäre, so bliebe es zwar möglich, aber nicht zwingend notwendig, daß unter Hunderten von Ahnen nun gerade sein Erbteil allein sich ausschlaggebend durchgesetzt hätte. Es besteht die weitere Frage, inwieweit und auf wie lange der heimatgebundene Stammescharakter unverändert bleibt. Wenn sogar die Rasse unter klimatischen Einflüssen und verwandelten Lebensformen im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden durch Auslese sich ändern kann, wie neuere anthropologische Forschung feststellte, so wird derartige Wandlung in viel höherem Maße den Stamm treffen, dessen Einheit sich erst in Lebens- und Schicksalsgemeinschaft geformt hat. Er ist nicht allein in Sprache und Sitte, sondern auch in ständischem Berufsleben, Erziehungswesen und Verfassung den Bedingungen der Landschaft unterworfen, die er sich zu eigen machte und mit der er verwuchs. Dabei ist das geistige Leben des Stammes und seine Schöpferkraft auch von politischen Geschehnissen nicht unbeeinflußt geblieben. Mit den kulturellen Schwerpunkten des deutschen Geisteslebens verändert sich sogar die Häufigkeit besonderer Begabungen in ihrer Verteilung auf die einzelnen Stämme. Das zeigen die zu oberflächlicher Übersicht geeigneten Tabellen und Karten, die Kurt Gerlach in Nachfolge Nadlers angefertigt hat und die für die verschiedenen Zeiträume keineswegs das gleiche Bild geben. Vielmehr hat, wie gerade Nadler zeigt, fast jedem Stamm des deutschen Volkes einmal sein Tag in der Geschichte geglänzt, in dem alle seine Gaben zu besonderen Ehren kamen. Außer der familienmäßigen Blutsverbindung gehören zu den aufbauenden Komponenten des Stammes die geopolitischen Faktoren und alle die Einwirkungen, die Willy Hellpach als „Geopsyche“ zusammenfaßt. |#f0321 : 297|

Man kann, wie beim einzelnen Menschen, so auch beim Stamm von erworbenen Eigenschaften sprechen, und es ist die gleiche umstrittene Frage, bis zu welchem Grad daraus dauernde Prägung werden kann, die sich vererbt. Das Problem gilt für den Stamm, wenn er, wie in der Völkerwanderung, unter andere Lebensbedingungen versetzt wird, und er betrifft in gleicher Weise den Vereinzelten, der sich in der Diaspora befindet. Wenn die Ahnen bereits die unmittelbare Stammeszugehörigkeit aufgegeben haben, indem sie fern von ihrem Ursprung Wurzel schlugen, wie weit kann dann noch bei den Enkeln von Stammesbewußtsein oder unbewußter Erhaltung ererbter Art die Rede sein? Schon von der zweiten Generation der Losgerissenen läßt sich sagen, daß zwar die Blutgebundenheit nicht erlöschen kann, daß aber die etwaige Preisgabe aller angeeigneten Lebensformen und Bräuche, insbesondere der Sprache, dem Stamm der Väter fremd werden läßt. Bei dem besten Willen zur Arterhaltung bleibt immer fraglich, wieviel den Nachkommen noch durch Erziehung und festgehaltenen Brauch mitgegeben werden oder wieviel davon ohne diese Vermittlung erhalten bleiben kann. Für die mögliche Übertragung erworbener Eigenschaften bildet aber weniger der Stamm als die Familie das gegebene Feld der Beobachtung. c) Konstitution und Charakter Der engste Bezirk, in dem die Vererbung nicht nur Möglichkeit, sondern unentrinnbare Notwendigkeit bedeutet, ist die Ehe, die das Rätsel „Aus zwei mach eins“ verwirklicht, indem ein eigenes Neues aus zweierlei Erbmassen sich bildet. Vater und Mutter sind Träger und Vermittler des Erbgutes zweier Familien, die mit den verschiedenen Vermögen an rassischen und stammhaften Anlagen auch einen verschiedenartigen Bestand an geistigen und körperlichen Dispositionen aufwiesen, deren Charakter sich nicht nur aus Berufstradition, konfessioneller Bindung, Umwelteinflüssen und Geschicken herleitet, sondern auch in bestimmter physischer Konstitution Form gewonnen hat. Bei den geistigen Anlagen treten wieder die Fragen der Übertragbarkeit erworbener Eigenschaften auf. Wenn man von Stefan George sagte, daß ihm der mittelalterliche Katholizismus im Blut lag, ohne daß er irgendwelchen kirchlichen Einflüssen in seinem Leben nachgegeben hätte, so ließe sich die ererbte Mentalität ebensowohl rassisch als stammhaft begründen, da es den Glaubensbekenntnissen an ethnologischen Voraussetzungen ihrer Verbreitung nicht fehlt. Ältere Erbforschung, deren Gedankengänge heute nicht mehr verfolgt |#f0322 : 298|

werden, hat sogar das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie aufgefaßt und angenommen, daß die gehäuften Erfahrungen vergangener Generationen in der protoplasmatischen Substanz der Zelle vererbbar seien und im Unterbewußtsein weiter wirken. Es war ein romantischer Gedanke von Carus (1846), den 30 Jahre später Ewald Hering erneuerte, der in R. Semons Lehre von der „Mneme“ zurückkehrte und den Ludwig Klages im Begriff des „Vitalen Gedächtnisses“ wieder aufgenommen hat. Wilhelm Jordan hatte ihm in seinen „Andachten“ im Sinne eines biogenetischen Gesetzes Ausdruck gegeben: Erinnerung ist's, womit im Mutterschoße Du selbst, o Mensch, erst alle Daseinslose, Die deine Ahnen langsam einst erstiegen, Befähigt bist, in Monden zu durchfliegen. Der Ahnenglaube, wonach nicht nur Charaktere, sondern Schicksale und Erlebnisse der Vorfahren erbgedächtnismäßig im Blute getragen werden, ist ein beliebtes Motiv der Dichtung, das neuerdings zu Gestaltungen wie dem „Cornet Rilke“, Maria Wasers „Geschichte der Anna Waser“ und Jakob Schaffners „Gang nach St. Jakob“ Anlaß gegeben hat. Die Dichter ahnen in ihrem eigenen Leben die Wiederkehr der Vorfahren. Der Drang nach räumlicher Weite, der im Anblick des Meeres Erfüllung findet, ließ Jeremias Gotthelf an eine im Bremischen ansässige Familie Bitzius Anknüpfung suchen, um sich diese Sehnsucht hereditär zu erklären. Ebensowenig überlieferungsmäßige Grundlage hatte Hermann Löns, in dessen Adern schweres westfälisches Bauernblut sich mit literarischer Tradition mischte, seine Vorfahren im Fischerberuf zu suchen; es war eine lediglich aus eigener naturidyllischer Neigung heraus gefühlsmäßig erschlossene freie Ahnenwahl. Metempsychotische Dichterphantasie kann zu Erscheinungen führen, die der französische Psychologe Pascal als „pseudo-hérédité“ bezeichnet. Als ein Beispiel führt er Flaubert an, der gelegentlich mit der eingebildeten Erinnerung an frühere Existenzen kokettierte: „Mon individu actuel est le résultat de mes individualités disparues. J'ai été le bâtelier sur le Nil, leno à Rome du temps des guerres puniques, puis rhéteur grec dans Suburre, où j'étais dévoré des punaises. Je suis mort, pendant la croisade, pour avoir mangé trop de raisin sur la plage de Syrie. J'ai été pirate, moine, saltimbanque et cocher. Peut-être empereur d'Orient aussi.“ Berufstradition braucht nicht erworbene Eigenschaft zu sein, sondern kann auf Erbanlage beruhen, wie an den Erfinderfamilien der Siemens und Krupp, an der Gelehrtenfamilie Planck, deren Begabung |#f0323 : 299|

auf theologischem, juristischem und naturwissenschaftlichem Gebiet sich entfaltete, bei der Mathematikerfamilie Bernoulli, der Musikerfamilie Bach, den Malerfamilien Holbein, Breughel, Tischbein, Kaulbach zu sehen ist. Allerdings handelt es sich bei Musik und Malerei um Künste, für die nicht nur ererbte Anlage, sondern auch persönliche Unterweisung und Begabungsförderung von seiten des Vaters in Betracht kommt. Diese Übermittlung des Handwerksmäßigen spielt bei der Dichtung keine Rolle, es sei denn, daß man an die isländischen Skalden denkt, deren Beruf teilweise das Privileg bestimmter Sippen gewesen zu sein scheint. In neuerer Zeit gibt es trotz der Schlegel, Dumas, Daudet, Hawthorne, Kurz, Seidel, Huch kaum ein Beispiel für Dichterfamilien, bei denen sich die Gabe in außergewöhnlichem Maße und in lückenloser Folge über mehr als zwei Generationen gleichen Namens vererbt hätte. Wohl aber kommt es vor, daß bei einem Urenkel die schlichte lyrische Ausdruckskraft des Ahnen wieder hervorbricht, wie bei Hermann Claudius, dem Nachfahren des Wandsbecker Boten. Es kann auch eine Enkelin sein, wie Lulu v. Strauß und Torney, deren Großvater Victor v. Strauß schon in einem Roman „Das Erbe der Väter“ (1850) das Problem angeschnitten hatte, das die Enkelin in ihrem Jugendwerk „Ihres Vaters Tochter“ wieder aufnahm. Wie unter den Jenaer Romantikern Carolinens Wort von der Verschrobenheit als dem Familienübel der Brentanos verbreitet war, so ging unter dem preußischen Militäradel das Sprichwort um, alle Kleists seien Dichter. Aber bei den drei Vertretern, die diese Familie der Literaturgeschichte geschenkt hat, bei Ewald v. Kleist, Franz v. Kleist und Heinrich v. Kleist, die nicht in unmittelbarer Erbfolge verwandt waren, hat sich der Dichterberuf im offenen Gegensatz zur militärischen Familientradition herausgebildet; bei dem Größten unter ihnen kann man neben der vaterländischen Gesinnung allenfalls die Ruhmsucht, die zu so vielen Kränzen noch einen auf die berühmte Familie herabringen wollte, als verpflichtendes Ahnenerbe in Anspruch nehmen. Dagegen hat einem Detlev v. Liliencron der Junker im Blut gesteckt, obwohl er schon durch die Mesalliance seines Großvaters um den Besitz, von dem er als Mäzen und Poggfred-Schloßherr träumte, gekommen war; sein Dichtertum erwuchs aus dem Offiziersberuf, aber seine Widersprüche lagen zwischen aristokratischer Haltung und erdgebundener Sinnlichkeit. Ähnliches hat Strindberg („Der Sohn einer Magd“) empfunden. Der Bergmannsberuf, den Zacharias Werners Luther-Drama in der schönen Gleichung zwischen der Reformation und dem Ausgraben |#f0324 : 300|

eines verfallenen Schachtes symbolisierte, hat auch in Wilhelm Raabe und Paul Ernst tiefdringende poetische Nachkommen gefunden. Im ganzen sind unter den Dichterahnen verhältnismäßig wenig Bauern, mehr Handwerker und viele Gelehrte zu zählen. Dabei gewinnt die Landpfarre, in der religiöse Bildungswelt, Volkstum und freie Natur zusammenwirkten, besondere Bedeutung als Dichterwiege. Niemals aber ist der Dichterberuf an eine Kaste gebunden, sondern immer wieder tauchen aus der Tiefe wunderbare Kräfte auf, für die man im Erbe der Vorfahren keine Erklärung findet: der Maurersohn Friedrich Hebbel, der schon im fünften Jahr zu dichten begann und sich durch eiserne Willenskraft und vielseitige Förderung zu den Bildungsquellen seiner Entwicklung durchrang, oder in jüngster Zeit die Arbeiterdichter Lersch und Bröger oder die schwedisch-finnische Dienstmagd S. Salminen, die Verfasserin des Romans „Katrina“. Die Berufstradition der Pfarrerfamilie kann man namentlich bei Lessing verfolgen, dessen juristischer Großvater schon eine Schrift „De religionum tolerantia“ verfaßte. Der Enkel Gotthold Ephraim fühlte sich in der Gabe des Zornes ganz als Erbe seines Vaters, des eifernden Primarius von Kamenz, und rief dessen Iraszibilität an: „Nun mach bald, was du machen willst, knirsch mir die Zähne, schlage mich vor die Stirn, beiß mich in die Unterlippe! Indem tue ich das letztere wirklich, und sogleich steht er vor mir, wie er leibte und lebte mein Vater seliger. Das war seine Gewohnheit, wenn ihn etwas zu wurmen anfing: und so oft ich mir ihn einmal recht lebhaft vorstellen will, darf ich mir nur auf die nämliche Art in die Unterlippe beißen.“ Hier erstreckt sich die Vererbung bis zu den charakteristischen Ausdrucksbewegungen des Affektes, und man denkt an jene wunderbare Mischung von Eigenheiten und Zügen eines Geschlechts, für die Jakob Grimm in der Gedächtnisrede auf seinen Bruder Wilhelm Zeugnis ablegt: „Da hält ein Kind den Kopf oder dreht die Achsel, genau wie es Vater oder Großvater getan hatte, und aus seiner Kehle erschallen bestimmte Laute mit denselben Modulationen, die jenem geläufig waren; die leisesten Anlagen, Fähigkeiten und Eindrücke der Seele, warum sollten nicht auch sie sich wiederholen?“ Die sichtbare Übereinstimmung zwischen ererbten Gewohnheiten und Seelenleben, zwischen Ausdrucksformen des Leiblichen und Geistigen, zwischen Körperbau und Charakter steht neuerdings als Gegenstand morphologischer und psychologischer Forschung im Vordergrund. Der Psychiater Ernst Kretschmer hat die Grundtypen leptosomer, asthenischer oder athletischer Leibesbeschaffenheit auf der einen Seite sowie pyknischen Körperbaus auf der anderen Seite in Parallele gesetzt |#f0325 : 301|

mit zwei verschiedenen Seelenlagen, die nicht nur in krankhaften Auswüchsen, sondern auch als Eigenschaften gesunder Menschen zu beobachten sind: schizothym und zyklothym. Es handelt sich dabei um Erbanlagen, die sowohl in den rassischen Merkmalen als auch in den geheimnisvollen Erscheinungen der inneren Sekretion begründet zu sein scheinen. Sie können deshalb in den verschiedenen Lebensphasen des Individuums Veränderung erfahren, die sich wieder seelisch auswirkt. Kretschmer unterscheidet danach zwei Gruppen in Künstlertemperament und Ausdrucksart, in Weltanschauung und Stil. Die einen sind die Idealisten, die anderen die Realisten. Hochgewachsen und hager sind die Pathetiker, Romantiker und formvollendeten Stilkünstler; sie haben „autistische“ Neigungen zur Absonderung von den Mitmenschen und zum humorlosen Ernst; sie schwanken zwischen heroischen und idyllischen Kontrasten und kennen nicht die Mitteltöne des ruhigen und naiven Geschehenlassens und Genießens. Zu ihnen werden vornehmlich Dramatiker und Lyriker gezählt, wie Schiller, Grillparzer, Kleist, Grabbe, Hölderlin, Novalis, Platen, aber auch der Epiker Tasso. Die wohlbeleibten Pykniker zyklothymen Temperaments dagegen stehen als Realisten und Humoristen mitten in der Welt und lassen die Dinge an sich herankommen. Auch sie sind nicht durchaus glückliche Naturen, sondern zeigen zirkuläre Neigung zu periodischen Schwankungen, zeitweiligem Stimmungswechsel und sogar zu melancholischen Gemütserkrankungen. Bei ihnen überwiegt der Stofftrieb den Formtrieb, und sie wenden sich als Dichter der unstilisierten Prosa und der episch breiten Erzählung mit gemütswarmer und farbig reicher Einzelschilderung zu. Die Alemannen Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf, Hermann Kurz, aber auch der Rheinfranke Goethe und der Mecklenburger Fritz Reuter werden zu dieser Gruppe gerechnet. Bei Legierungen aber wie der humorvollen Phantastik Mörikes, dem romantischen Realismus Hebbels, dem sentimentalen Humor Jean Pauls, der beschaulichen Pathetik Raabes und dem kritischen Menschenverstand Lessings werden auch gemischte Körperformen erkannt. Diese Zwischenstufen, die sich mannigfach vermehren lassen, beweisen eine größere Reichhaltigkeit der Erscheinungsformen als der aufgestellten Typen. So hat der Psychologe E. R. Jaensch als Kritiker des Kretschmerschen Systems vielleicht nicht ganz unrecht, wenn er nur dem pyknischen Typus, der auf Grund schwäbischen Beobachtungsmaterials gefunden ist, volle Gültigkeit zuerkennt und in dem Gegentypus der Nichtpykniker vielerlei wesensverschiedene Haltungen vereint sieht. Allerdings hat Jaensch mit seiner eigenen Typologie des |#f0326 : 302|

Eidetikers und des Integrierten, von denen im zweiten Hauptteil dieses Buches zu sprechen ist, (S. 345 ff.) sich demselben Einwand ausgesetzt, da er den Gegentypen der Nicht-Eidetiker und Desintegrierten zunächst keine positive Bestimmung geben konnte, sondern erst später dem vielfach differenzierten Integrationstypus den des Synästhetikers gegenüberstellte.

Wie weit diese körperlichen und seelischen Anlagen auf rassische Eigenschaften und stammhafte Eigentümlichkeiten zurückzuführen sind, ist noch nicht geklärt, obwohl Kretschmer sowohl wie Jaensch bereits Versuche zur Anknüpfung gemacht haben. Wenn auch die schizothymen Züge mehr der nordischen, die zyklothymen Züge mehr der ostischen Rasse zu entsprechen scheinen und der erste Integrationstypus nach Jaensch in England, der zweite vor allem in Süddeutschland, der Synästhetikertypus in Frankreich zu Hause sein soll, so sind die Unterschiede von Schmalwüchsigkeit und Breitwüchsigkeit wie die Charakter- und Temperamentverschiedenheiten gleichwohl in allen Rassen, auch den nicht europäischen, vorhanden; die Konstitutionsunterschiede spiegeln sich selbst in den ostasiatischen Buddhatypen. Eine Weiterbildung des Kretschmerschen Systems im Kompromiß mit älterer Typologie und neueren psychologischen Experimenten stellt sich in der psychiatrischen Charakterkunde von Hermann Hoffmann und in der pädagogischen von Gerhard Pfahler dar. Pfahlers Buch „Vererbung als Schicksal“ nimmt wieder besonders Bezug auf die dichterischen Anlagen und gewinnt aus der Mischung von verschiedenen Graden der Aufmerksamkeit und Perseveration, der Ansprechbarkeit des Gefühls und der vitalen Energie zwölf Grundformen menschlicher Erbcharaktere. Für die Einordnung der Dichter ist die Unterscheidung von festem und fließendem Gehalt bestimmend, aus der sich zwei Gruppen ergeben, die weder rassisch noch stammhaft geschieden sind. Zum Typus des festen Gehaltes, der sowohl Kretschmers schizothymer Konstitution wie Schillers sentimentalischen Menschen und der Introversion des Züricher Psychiaters Jung analog ist, werden außer Hölderlin, Schiller, Hebbel auch C. F. Meyer, Stefan George und Rilke gerechnet; zu den Charakteren fließenden Gehaltes, die den Zyklothymen, den Naiven, den Extravertierten, den Farbensehern entsprechen, rechnen Fritz Reuter, Ludwig Thoma, Jeremias Gotthelf, Matthias Claudius, Gottfried Keller. Diese Einteilung wird durchkreuzt von einer vertikalen Unterscheidung nach den Gegensätzen starker und schwacher Aktivität, wobei Schiller, Kleist, Reuter und Keller auf die eine, Rilke und Claudius auf die andere Seite treten. Offenbar zielt diese Gliederung weniger auf den Stil als auf die Gattung: starke |#f0327 : 303|

Aktivität prädestiniert zu Drama und Erzählung, schwache zur Lyrik. Pfahler macht sogar den Versuch, durch ein primitives Schulbeispiel die Erbbestimmung einer Dichterfamilie zu veranschaulichen: der Vater besaß starke vitale Energie, enge fixierende Aufmerksamkeit, starke Perseveration, starke Ansprechbarkeit des Gefühls nach der Unlustseite und konnte infolgedessen zum Tragiker werden; der Sohn hatte von der Mutter weite fluktuierende Aufmerksamkeit, schwache Perseveration, starke Ansprechbarkeit des Gefühls nach Lustseite mitbekommen und schrieb infolgedessen Romane; der Enkel aber hat das Grundfunktionsgefüge des Großvaters geerbt, nur sind Aufmerksamkeit und Gefühlsansprechbarkeit zurückgetreten, so daß er nun als Gelehrter auf dem Felde der Naturwissenschaft seine Gaben bewähren kann. Namen sind nicht genannt, und es bleibt zweifelhaft, ob der Fall, der an sich möglich ist, aus der Erfahrung stammt; es ist kein großer Tragiker bekannt, dessen Sohn Romane schrieb und dessen Enkel Naturforscher wurde; vielmehr macht die Mannigfaltigkeit des Lebens immer einen Strich durch solche Rechnungen, und die Lebenstragik hat den meisten tragischen Dichtern männliche Nachkommen versagt oder, wie im Fall Schiller, bei gesunder Erbfolge keine weitere dichterische Bewährung gebracht. d) Genialität Literarhistoriche Genealogie wird zur Genialogie, wenn sie den Ursprüngen der Dichtergabe nachgeht. Die Erbforschung, die aus dem Erfahrungsstoff der Literaturgeschichte Schlüsse ziehen will, ist indessen auf sehr lückenhaftes Material angewiesen. Eine so große Rolle das Zwillingsmotiv in der Dichtung spielt, so wenig ist ein Fall eineiiger Zwillinge, die nach Erbgesetzen als Dichter die gleiche Entwicklung hätten nehmen müssen, bekannt. Anders liegt es bei den Musikern, unter denen der Vater Johann Sebastian Bachs einen ganz gleich gearteten Zwillingsbruder hatte. Geschwister ungleichen Lebensalters, wie sie um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts besonders häufig gleiches Erbgut bedeutsam vertraten (Humboldt, Schlegel, Hardenberg, Tieck, Brentano, Eichendorff), haben sich meist (mit Ausnahme der Gebrüder Grimm) nach den Unterschieden ihrer Anlagen und Charaktere auseinander gelebt. Es wäre zu untersuchen, wie weit die Verschiedenheit der Gaben und Charaktere in solchen Fällen mit dem Übergewicht des väterlichen oder mütterlichen Erbteils zusammenhängt. Es ist behauptet worden, |#f0328 : 304|

daß die ererbte Begabung bei Musikern in der Regel vom Vater ausging. Stefan George meinte, wie Sabine Lepsius erzählt, daß der Mann überhaupt immer die Begabung vom Vater habe und ihm ausschließlich ähnlich sähe, was in seinem Fall zutraf. Rilke, der seine Erziehung von der Mutter erhielt, würde das Gegenteil gesagt haben. Arthur Schopenhauer, der Sohn einer bedeutenden Mutter, wollte es geradezu als Gesetz ansehen, daß der Intellekt von der Mutter, die irrationalen Gaben vom Vater vererbt würden. Ebenso schrieb Sainte Beuve der Mutter entscheidenden Einfluß zu. Neuere Erbforschung scheint ihm Recht zu geben. Auf jeden Fall ist es eine einseitige Anwendung der Stammestheorie, wenn in der Regel der väterlichen Aszendenz nachgegangen wird. Genealogische Bemühungen haben mehrere Urmütter ermittelt, in denen die Ahnentafeln bedeutender Dichter und Philosophen zusammentreffen. So entdeckte Hanns Wolfgang Rath in Regina Bardili, geb. Burckhardt (15991669), eine schwäbische Geistesmutter, zu deren Nachkommen Uhland, Hölderlin, Schelling, Gerok, Ottilie Wildermuth und der Philosoph Niethammer gehören, während Eduard Mörike auf ihren Stiefbruder zurückzuführen ist. Eine poetische Ahnfrau von ähnlicher Bedeutung findet sich unter Goethes Aszendenz in Esther Ley, geb. Ritter (7. Ahnenreihe). Für sie ist keinerlei Zeugnis dichterischer Begabung beizubringen, wenn man nicht aus der Tatsache, daß ihr Mann poeta laureatus war, Schlüsse ziehen will. Aber durch sie ist Goethe mit Hegel, Uhland, Hauff, Gerok und J. J. Moser blutsverwandt.

Was die weibliche Dichtergabe betrifft, so hat Ina Seidel im Hinblick auf eigene Erbabhängigkeit feststellen wollen, daß in fast allen Fällen „der Funke der Anlage im Zickzack von der männlichen, der väterlichen Linie auf die weibliche „töchterliche übersprang“. Die Literaturgeschichte kennt Gegenbeispiele. Die märkische Sappho Anna Luise Karsch, die als Viehmagd auf dem Lande aufgewachsen war, vererbte ihre Gabe als poetisches Kunkellehen über die Tochter Karoline Klenke und die Enkelin Helmina von Chézy bis zum Urenkel, dem Romanschriftsteller Wilhelm von Chézy, mit dem sie dann erlosch. Aus den einzelnen Gliedern dieser Reihe ist zu sehen, daß in ihrer Schriftstellerei mehr dem Zeitstil Tribut gezollt wurde als einer bestimmten Richtung der Erbanlage. Ähnliches gilt von der langen Ahnenreihe, die sich von der empfindsamen Sophie von Laroche über Maximiliane Brentano, Bettina von Arnim, Gisela Grimm bis zu Elisabeth von Heyking und Irene Forbes-Mosse hinzieht. Alle tragen geniale Züge und stehen in ihrer Zeit. Unter den Kindern der von Goethe |#f0329 : 305|

einstmals geliebten Maxe Laroche hat aber das einzige, das sich zum wirklichen Genie entwickelt hat, Clemens Brentano, keine Fortpflanzung erlebt, und es ist die Frage, ob aus jenem Achim Ariel, den ihm die Dichterin Sophie Mereau schenkte und der nur fünf Wochen alt wurde, bei Lebensfähigkeit ein Dichter erstanden wäre. So endet in Clemens ein Seitenzweig der Erbreihe, während durch die Nachkommen seiner Brüder der Name in der Wissenschaft weiter zu hervorragenden Ehren gelangte. Das Wort Goethes, wonach eine ganze Familie eines Tages alle bisher vereinzelten und angedeuteten Anlagen in einem ihrer Glieder ausspreche, ebenso wie ein ganzes Volk in einem oder mehreren Männern seine sämtlichen Verdienste zusammenfasse, hat nur im Vordersatz mit Erbgesetzen zu tun. Daß aber dann höchste Steigerung und Zusammenfassung soviel wie Erschöpfung bedeuten kann, hat in Goethes eigener Familie tragische Bestätigung gefunden. Das dichterische Genie scheint einen besonderen Fall innerhalb der Erbgesetze darzustellen; es beruht zwar auf Erbanlagen, aber es ist nicht vererbbar. Wenn es dem einmaligen günstigen Zusammentreffen von vielerlei Erbgut entstammt, so kann der damit gesegnete Mensch doch nicht in jedem Sinne glücklich genannt werden. „Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon liebten“, so hat zwar Schiller, nicht ohne Beziehung auf Goethe, den Günstling des Schicksals gepriesen: Ihm ist, eh' er es lebte, das volle Leben gerechnet; Eh' er die Mühe bestand, hat er die Charis erlangt. Trotzdem hat gerade Goethe im Alter das bittere Wort gesprochen, er könne sich keines Augenblicks in seinem Leben erinnern, in dem er wahrhaft glücklich gewesen sei. Das Genie aus Geburtsanlage bedarf zu seiner Entwicklung eines Lebens voller Schmerz und Entsagung. Dichtung ist dem vertiefenden Leid verpflichtet, so wie die Perle nach einem Worte Rückerts als Krankheitsträne der Muschel aufzufassen ist. Hofmannsthal spricht in einem Brief an Stefan George von dem purpurnen Licht verklärter Wundmale, das sein Werk ausstrahle. Es wird soviel Selbstopferung in eigenen Qualen und mitfühlender Hingabe an die Grausamkeiten des Daseins vom Dichter gefordert, er wird von soviel Leidenschaften verzehrt und muß sich soviel Schmerz von der Seele schreiben, daß Christian Morgenstern geradezu sagen konnte, ein Dichter müsse siebenundsiebzigmal als Mensch gestorben sein, ehe er als Dichter etwas tauge. Auch die Erbanlagen, die ihm als Disposition zu Krankheit und körperlichem wie seelischem Leid in die Wiege |#f0330 : 306|

gelegt werden, haben ihren schicksalhaften Anteil an dem Gebot des „Stirb und werde“, in dessen Zeichen sich die Entwicklung des Dichtergenies vollzieht.

3. L e b e n s g a n g u n d S c h i c k s a l a) Daten Drei Wege der Darstellung eines Dichterlebens sind gekennzeichnet durch die verschiedene Art, sich mit dem Zahlengerippe des äußeren Verlaufs abzufinden. Das an geschichtliche Zeitfolge und Kausalität gebundene biographische Herkommen führt nach Musterung der Ahnenreihe an die Wiege des Helden und läßt ihn mit dem Tage seiner Geburt und unter den Aspekten dieser Stunde von Jahr zu Jahr fortschreitend zur Hauptperson werden. Eine auf die Problemstellung des Lebens und der Dichtung gerichtete essayistische Gestaltung dagegen zieht es vor, mit einer charakteristischen, sinnbildhaften und spannungweckenden Situation des entwickelten Daseins einzusetzen und die Daten der Geburt und des frühen Werdens an einer nebensächlichen, mehr oder minder versteckten Stelle verschämt nachzuholen, da diese Tatsachen doch nicht ganz verschwiegen werden können. Ein rein künstlerisches Dichterporträt aber verschmäht alle Zahlen und gibt sie höchstens in einer Zeittafel am Schlusse zur Orientierung bei, so wie bei einem Gemälde für Angaben über die Lebenszeit des Dargestellten Platz bleibt auf dem Rahmen oder in einem daruntergesetzten Täfelchen, das dem Museumskatalog entspricht.

Als Reaktion gegen die positivistische Überschätzung des Meßbaren entsteht eine ausgesprochene Abneigung gegen alles Ziffernmäßige, das sprachkünstlerisch nicht in Eigenform zu bringen ist. Damit verbindet sich eine Geringschätzung des übertriebenen Aufwandes, den die Einzelforschung im Dienste unwesentlicher Feststellungen verschwendet hat. Weiter kommt dazu die Gewißheit, daß die Lebensdaten berühmter Männer als Bestandteil des Schulwissens und der allgemeinen Bildung längst bekannt sind, daß sie im Konversationslexikon und auf Abreißkalendern gefunden werden und daß die Presse unzählige Schreiber ins Brot setzt, durch die bei Gelegenheit jedes Jubiläums die Anlässe des Gedenkens ins allgemeine Bewußtsein zurückgerufen werden. Die drei Darstellungsmethoden stehen in einer entwicklungsgeschichtlichen Reihenfolge, die auch von der Bedeutung des Gegenstandes abhängt. Zunächst hat, wie Walter Muschg in seiner Untersuchung |#f0331 : 307|

über „Das Dichterporträt in der Literaturgeschichte“ anerkennt, die historisch orientierte Biographie als „Gefäß für die Dokumente des Dichterlebens“ den Vorrang. Sie bleibt ein „die Ideen nur andeutendes Vorspiel“, wenn mit Sammlung und Kritik des biographischen Materials eine bisher noch nicht getane Arbeit geleistet werden mußte. Sind diese Aufgaben restlos erfüllt, so kann die vollständige Wiederholung feststehender Ergebnisse zum lähmenden Ballast werden; eine Biographie, die als Nachschlagewerk alles Wissenswerte vermitteln will, wie die auf zwölf Bände berechnete Goethe- Biographie, die Wilhelm Bode begann, verliert das Wesentliche der Erscheinung aus dem Auge und wird unlesbar. Das ist nicht erst eine Erfahrung unserer Zeit, sondern schon der alte Christoph Martin Wieland hat den klugen Ausspruch getan: „Wo es mir darum zu tun ist, zu wissen, was für ein Mann einer war, ist ein einziger Zug, der uns in das Innere seines Geistes und Herzens blicken läßt, wichtiger als ganze Bogen voll gleichgültiger Begebenheiten wiewohl freilich im gewissen Sinn an großen Menschen nichts Gleichgültiges ist.“ Für vollständigen Überblick über den äußeren Verlauf eines bedeutenden Lebens gibt es brauchbarere Hilfsmittel, die wissenschaftlicher Sammeltätigkeit zu danken sind. Da ist z. B. die von Flodoard Freiherrn v. Biedermann knapp zusammengestellte und erweiterungsfähige Chronologie „Goethes Leben“ oder die von seinem Vater begonnene und von ihm neu bearbeitete Sammlung von „Goethes Gesprächen“ zu nennen. Für Schiller sind die ausführlichen Regesten Ernst Müllers vorhanden, die fast jeden Tag des Lebens ausfüllen, sowie die Zusammenstellung aller Urkunden und Berichte in dem dreibändigen Werk „Schillers Persönlichkeit“. Die Tabellen werden gerade dadurch nützlich, daß sie auf jede darstellerische Färbung verzichten; außer Kommentierung und kritischer Beleuchtung der Zuverlässigkeit jedes Einzelberichts verbieten auch die vollständigen Zusammenstellungen des Urkundlichen alle persönliche Einmischung des Sammlers. Eine Darstellung, die sich von solchem Rohstoff befreit sieht, darf zur Gliederung des Ganzen fortschreiten, die um so klarer herauszuarbeiten ist, je mehr die Probleme des Lebens in Zusammenklang gebracht werden können mit denen der Dichtung. Endlich winkt als letztes Ziel die eindringende Deutung, mit der die Gesamterscheinung von ihrem Wesenskern aus erkannt und nach ihrer Lebensidee im überzeitlichen Sein erfaßt wird. Damit ist die völlige Überwindung des Rohstofflichen erreicht durch eine Gestaltung, der gleichwohl das ganze biographische Material in unerläßlicher Vorarbeit zum Unterbau dienen muß. Nirgends darf die eigene Auffassung um einer

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aphoristischen Konzeption willen in Widerspruch treten zu den überlieferten Tatsachen, und weder mag leichtfertige Unkenntnis als Entschuldigung dienen, noch ist der spielenden Phantasie erlaubt, da, wo ein Problem liegt, willkürliche Entscheidungen zu treffen. Darin bestehen die wissenschaftlichen Schranken, die der künstlerischen Freiheit des Biographen gesetzt sind. Wer mit dem Stoffe ringt, darf den Ring, der ihm gezogen ist und der von den Kampfrichtern kontrolliert wird, nicht verlassen. Solch Großkampf einer um das letzte gehenden Entscheidung ist indessen nur bei einem gewaltigen Lebensstoff, dessen Bewältigung den härtesten Widerständen begegnet, lohnend und durchführbar. Es gibt daneben Mittelgewichts- und Leichtgewichtskämpfe. Bei einem Dichter mittlerer Bedeutung ist, nachdem die erste Aufgabe der historischen Biographie Erfüllung gefunden hat, kaum über die zweite Aufgabe des problem- und geistesgeschichtlichen Essays, der den Typus in seine Zeit stellt, hinauszukommen. Bei einem Kleinen genügt überhaupt die Ermittlung der Lebensdaten, um sein Werk nach Lebensraum, Lebenszeit und Gesellschaft einzugliedern in den Gesamtverlauf. Hier kommen wir zur lokalgeschichtlichen Würdigung und zu jener Wertung, die Benedetto Croce (oben S. 63) nur als kulturgeschichtlich anerkennen will. Der italienische Philosoph hat selbst ein Beispiel gegeben in der reizvollen Skizze über Goethes ersten italienischen Sprachlehrer Domenico Giovinazzi, wobei es ihm sichtliches Vergnügen bereitete, dem Literarhistoriker zu zeigen, auf welchem Wege einer solchen, an sich unbedeutenden Persönlichkeit, die nur als Statist fungiert, hätte auf die Spur gekommen werden können. b) Hilfsmittel Die Quellen für die zeitliche Festlegung eines Lebenslaufs unterscheiden sich zunächst kaum von denen der archivalischen Geschichtswissenschaft: Kirchenbücher, Urkundensammlungen, Zeugenunterschriften bei Verträgen, Gerichts- und Magistratsprotokolle, Zunftbücher, Schul- und Klosterakten, Universitätsmatrikeln, Aufgebote, Geburtsanmeldungen von Nachkommen und Totenbücher lassen die Grenzsteine eines Lebens am Anfang, in der Mitte oder am Ende entdecken. Von den damit gegebenen festen Punkten aus kann eine Strecke nach vorwärts oder rückwärts abgeschritten werden. In der Neuzeit zeigt die Fülle der Nachrichten manchmal Widersprüche, zwischen denen, z. B. bei Ermittlung der Geburtstage von Schiller und Kleist, erst ein endgültiger Ausgleich geschaffen werden mußte. Für |#f0333 : 309|

Heine wurde diese Datierung bei den unwahrhaftigen Angaben, die er selbst gemacht hat, sogar ein Problem. In älteren Zeiten dagegen ist man für jedes überlieferte Datum so dankbar, daß man an seiner Glaubwürdigkeit ohne Not nicht zu rütteln wagt. Nicht immer ergibt sich der Fund eines wichtigen Datums methodischer Nachforschung, sondern oft fällt er als Beisteuer nachbarlicher Hilfeleistung ab, wie es etwa bei Ermittlung des Ackermanndichters geschah (oben S. 99 f.). Schwerlich wäre ein Walther-Biograph darauf gekommen, die Reiserechnungen des Wolfger von Ellenbrechtskirchen zu durchstöbern, in denen das einzige urkundliche Zeugnis für das Leben Walthers von der Vogelweide versteckt ist. Vergebens hatte man alle Vogelweidhöfe in Tirol und anderen Gegenden beachtet, um etwas über die Familie zu erfahren, und umsonst hatte man im Würzburger Lusamgärtlein eine Grabinschrift gesucht. Aber hier stand zu lesen, daß der Bischof von Passau und spätere Patriarch von Aquileja am Martinstage des Jahres 1203 Walthero cantori de Vogelweide in der Gegend von Zeiselmauer 5 solidos spendierte, damit er sich einen Pelzrock für den nahenden Winter anschaffen könne. Daß er damit der Bitte eines verlorenen Spruches von Walther entsprach, ist nicht ausgeschlossen; aber ein Riesengebäude von Hypothesen über Walthers Parteistellung und über Wolfgers politische Bedeutung konnte außerdem auf dieser Notiz errichtet werden. Auch ein Grimmelshausen-Forscher wäre kaum darauf verfallen, die Kirchenbücher von Offenburg einzusehen, um daraus etwas zu erfahren über die am 30. August 1649 vollzogene Vermählung des ehrbaren Johann Jakob Christoff v. Grimmelshausen, des löbl. Elterschen Regimentes Secretarius, des Herrn Johanns Christoffel, Burger zu Gelnhausen Sohn, mit der tugendsamen Catharina Henningerinn, der Tochter eines Wachtmeister-Leutnants. Es ist vielmehr so, daß eine Grimmelshausen-Forschung überhaupt erst mit der Entdeckung dieser Urkunde ins Leben treten konnte. Vorher war der Verfasser des Simplicissimus als Samuel Greifenson von Hirschfeld oder Melchior Sternfels von Fuchsheim in den Bücherverzeichnissen zu finden, und nun erst war der Beweis erbracht, daß die achtundzwanzig Buchstaben des kaum weniger auffallenden Namens Christoffel von Grimmelshausen, unter dem die höfischen Romane „Dietwald und Amelinde“ und „Procimus und Lympida“ erschienen waren, kein Pseudonym darstellen. Von hier aus fand man den Weg nach der Geburtsstadt Gelnhausen und zu weiteren Spuren der dortigen Familie; nach der anderen Seite konnte man den Lebensweg weiter verfolgen zum Amtssitz des Prätors von Cernhein, mit welchem Anagramm der Schultheiß von Renichen |#f0334 : 310|

die Vorrede seines Lebensromanes gezeichnet hatte. In Renchen fand sich auch die Sterbeurkunde. Von dem bayerischen Obersten Johann Burkard Freiherrn v. Elter kam man zu seinem Schwager, dem Freiherrn Hans Reinhard v. Schauenburg, der vorher dasselbe Regiment und die Festung Offenburg kommandiert hatte. Das Familienarchiv der Freiherrn v. Schauenburg erschloß eine Menge von Urkunden über Grimmelshausens Tätigkeit nach dem Kriege als Schaffner und als Wirt „Zum silbernen Stern“ in Gaisbach bei Oberkirch. Auf der Spur der Obersten v. Schauenburg und v. Elter kam man zum Münchener Reichsarchiv, wo die Kriegsberichte an den Kurfürsten von Bayern in den Schriftzügen des Regimentsschreibers und sogar mit Zeichnungen von seiner Hand erhalten sind und die Standorte des Regiments in den letzten Kriegsjahren überliefern. So ist es schließlich dahin gekommen, daß von kaum einem anderen Dichter des 17. Jahrhunderts so viele Lebenszeugnisse erhalten sind als von dem bis vor 100 Jahren unbekannten Verfasser des Simplicissimus. Zwei große Bände konnte die Urkundensammlung füllen, die der Marburger Archivdirektor Gustav Könnecke zusammengebracht hat und die J. H. Scholte aus seinem Nachlaß herausgab. Aber eine Lücke liegt in den Jugendschicksalen von der Entführung durch die Kroaten bis zur Verlegung der Götzschen Dragoner aus Westfalen nach dem Schwarzwald. Diese Spanne umfaßt gerade die Kriegsabenteuer des Heranwachsenden, die im Roman dargestellt sind. Und nun entsteht die Frage, bis zu welchem Grad die Romanhandlung, die in den Anfangs- und Endpunkten Spessart und Schwarzwald sich mit dem Leben des Dichters deckt, als Ganzes eine autobiographische Lebensdarstellung bietet. Hier muß abgezogen werden, und alles, was sich als herkömmliches Roman-, Novellen- und Schwank-Motiv oder als Entlehnung aus historischen Quellen („Theatrum Europäum“) erweist, ist aus der Lebensgeschichte zu streichen, ebenso alles das, was einen chronologischen Verstoß gegenüber dem geschichtlichen Verlauf darstellt. Dann bleiben nur Hessen und Westfalen mit den Hauptpunkten Hanau und Soest als erlebte Schauplätze übrig. c) Dichtungen als biographische Quellen Die Frage, wie weit aus der Dichtung Angaben über das Leben herausgelesen werden dürfen, macht das besondere Problem aus, durch das sich literarhistorische Biographik von der historischen unterscheidet. Zunächst erscheint eine ganz einfache Gleichung folgerichtig: soweit Dichtung aus dem Leben hervorgegangen ist, müssen Rückschlüsse aus |#f0335 : 311|

der Dichtung auf das Leben erlaubt sein. Blicken wir von hier aus noch einmal auf Grimmelshausen, so hat es sich der Vorredner der posthumen Gesamtausgabe von 1683/4, die „Der aus dem Grabe der Vergessenheit wiedererstandene Teutsche Simplicissimus“ betitelt ist, leicht gemacht, indem er die Schicksale des Romanhelden einfach mit denen des Verfassers identifizierte. Das war, wie wir eben sahen, unberechtigt. Umgekehrt konnte, wie oben (S. 102 f.) gezeigt wurde, ein Zeitgenosse Grimmelshausens, Johann Beer, erst durch die Übereinstimmungen zwischen seinem Leben und seinen Dichtungen ermittelt werden. Offenbar hängt es von der Wesensart des Dichters, von der Beweglichkeit seiner Phantasie oder dem Tatsachensinn seines Realismus ab, bis zu welchem Grade seine Lebensgestaltung an wirkliche Verhältnisse gebunden ist. Von diesem Unterschied zwischen Ichdichtern und Sachdichtern soll im zweiten Hauptteil (S. 354) die Rede sein. Die Beurteilung hängt aber nicht allein von dem Typus des Dichters ab, sondern auch von den Wirklichkeitsbegriffen seiner Stammesart, seines Standes, seiner Gesellschaft und seines Zeitalters. Das Programm einer groß angelegten Untersuchung über „Wahrheit und Dichtung im Mittelalter“, an deren Durchführung der allzu frühe Tod ihn hinderte, hat Arthur Hübner 1933 der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgelegt. Es sollte sich dabei hauptsächlich um die Auffassung geschichtlicher Wahrheit in der epischen Dichtung handeln, aber auch die Wirklichkeitsverhältnisse, die dem Minnesang zugrunde lagen, kommen in Betracht. In der Scheinwelt der höfischen Dichtung herrscht ein Spiel poetischer Fiktion, das begründet ist in den romanischen Anschauungen von hoher Minne als Lehensdienst und unterwürfigem Werben um eine meist verheiratete Herrin. Ähnliche Entfernung von wirklichen Lebensverhältnissen bleibt auch noch im Petrarkismus des 16. und 17. Jahrhunderts erhalten. Aber schon Wolfram v. Eschenbach hat die Konvention durchbrochen, indem er die herkömmliche Form des Tageliedes zu einem Preis des ehelichen Glückes umbog, und Walther von der Vogelweide tat ein Gleiches, indem er eine neue Konvention dörflicher Tanz- und Liebeslieder schuf, die sich an verlorene volkstümliche Dichtung anschloß. Die Literarhistoriker aber hatten Unrecht, die aus seinem Leben einen Roman von aufeinanderfolgenden Erlebnissen hoher und niederer Minne machen wollten ähnlich wie man es mit der Corinna in Ovids „Amores“, mit Catulls Lesbia oder mit Dantes Beatrice und Petrarcas Laura versucht hat. R. M. Meyer hat durch eine parodistische Anwendung auf Goethes Lyrik diese Deutungsweise mit billigem Witz ad absurdum geführt. Dabei war |#f0336 : 312|

gerade Goethe in einer für frühere Jahrhunderte kaum denkbaren Weise wirklicher Erlebnisdichter. Aber sein Leben ist in der Dichtung Symbol geworden, und wenn er von seinen Gelegenheitsgedichten sagte, sie seien alle durch die Wirklichkeit angeregt und hätten darin Grund und Boden, so heißt es ein anderes Mal von den „Wahlverwandtschaften“, alles sei darin erlebt, aber nichts so dargestellt, wie es erlebt worden sei. Diese Äußerungen führen zu dem Unterschied von Leben und Erleben, der im zweiten Hauptteil dieses Buches zu besprechen ist. Schon die Zeitgenossen haben Goethes Dichtung falsch verstanden; sie haben Berichtigungen des „Werther“ verfaßt, weil sie ihn als Schlüsselroman lasen und das Schicksal des Selbstmörders Jerusalem wiedergegeben glaubten, oder sie waren gekränkt, weil sie, wie Lottes Bräutigam Kestner, ihr eigenes entstelltes Bild am Pranger sahen. Unmittelbare Wirklichkeitsspiegelung ist im „Werther“ weniger bei den menschlichen Verhältnissen zu finden, als in den Naturerlebnissen, für deren Niederschlag vielleicht die echten Briefe Goethes an Merck Verwendung fanden. Wohl gibt es Romane autobiographischen Gehaltes, wie „Anton Reiser“, „Lucinde“, „Der grüne Heinrich“ oder in neuerer Zeit Liliencrons „Leben und Lüge“, Schaffners „Johannes“ und „Der kleine Held“ von W. v. Molo, die zwar nicht durchweg, aber doch in bestimmten Partien als Darstellung eigener Lebenslage oder als Jugenderinnerung aufzufassen sind. Die Liebe Heinrichs zu Anna kann man, nachdem Hunziker alle Übereinstimmungen in Glattfelden festgestellt hat, zur Lebensgeschichte Gottfried Kellers rechnen, so wie die „Bekenntnisse eines Ungeschickten“ zu der Friedrich Schlegels. So hatte wohl auch der Gotthelf-Biograph Walter Muschg recht, wenn er aus den verhüllt autobiographischen Romanen „Bauernspiegel“ und „Leiden und Freuden eines Schulmeisters“ mancherlei zur Aufhellung des inneren Lebens von Bitzius verwertete, zumal dieser selbst in einem Brief verraten hatte, wie sehr die unterdrückte Natur der Käser und Jeremias einer inneren Lage des Verfassers entsprach. Mit mehr kritischer Vorsicht sind indiskrete Abrechnungen wie George Sands „Elle et lui“ oder d'Annunzios „Fuoco“ zu betrachten, in denen unter ein erlebtes Liebesverhältnis ein nicht unvoreingenommener Schlußstrich gemacht wird. Als Theoretiker der biographischen Darstellung redete Muschg in der oben erwähnten Abhandlung auch der Anekdote das Wort, weil sie der eigentliche Träger der Symbolik sei: „Sie zeugt, wenn auch schwach und meist durch das Auge Dritter gesehen, von der sagen|#f0337 : 313|

oder mythenbildenden Kraft der Persönlichkeit. Sie gibt nur den Charakter, nicht die geschichtliche Wirklichkeit des Helden wieder.“ Wenn Nietzsche sagt, aus drei Anekdoten sei es möglich, das Bild eines Menschen zu geben, so rechnete er mit der Treffsicherheit des Karikaturisten. Wird der Dichter zum Anekdotenhelden, so pflegen allgemein-menschliche Züge einseitig hervorzutreten. In einem Bändchen „Gottfried-Keller-Anekdoten“ beispielsweise findet sich fast ausschließlich das Bild des rauhbeinigen Saufkumpans überliefert, das eine Maske des Dichters war. Auf jeden Fall muß die Einschränkung gelten, daß die symbolhafte Anekdote als solche zu kennzeichnen ist und nicht mit beglaubigten Tatsachen durcheinander gebracht werden darf. Beispielsweise ist jene ergreifende Erzählung Moritz Hartmanns von dem wahnsinnigen deutschen Dichter, der wie ein Geist unter den griechischen Götterbildern eines französischen Schloßparks auftaucht, trotz ihrer symbolischen Bedeutung für den von Apoll Geschlagenen nicht als urkundlicher Aufschluß über die Erlebnisse Hölderlins bei der Heimwanderung aus Bordeaux zu verwerten. d) Selbstbekenntnisse A u t o b i o g r a p h i e n . Die Anekdote spielt auch in den Selbstdarstellungen, die für die Technik der Biographie vorbildlich wurden, eine wichtige Rolle. In „Dichtung und Wahrheit“ bedeutet der Besuch des jungen Leipziger Studenten bei Gottsched und die Ohrfeige, die der mächtige Perückenträger dem säumigen Diener verabreicht, ein schlagkräftiges Sinnbild für die Begegnung zweier Generationen. Man wird sie deshalb nicht mit jedem Zug als wirklichen Vorfall in Goethes Leben einsetzen dürfen. Nicht anders ist es mit dem faustischen Vorklang des Frankfurter Gretchen, mit dem Märchen vom „Neuen Paris“ oder mit der Sesenheimer Idylle. Heinrich Düntzer hat mit hoffnungsloser Nüchternheit nachgewiesen, daß der nächtliche Ritt nach Sesenheim niemals stattgefunden hat, sondern dem Gedicht „Willkommen und Abschied“ nacherzählt wurde. Ebenso hat man feststellen müssen, daß der Familienbestand des Sesenheimer Pfarrhauses in der Zahl der Kinder dem Personal des Goldsmithschen „Vicar of Wakefield“ angeglichen ist. Nachdem in kritischen Untersuchungen von Gustav v. Loeper, Gustav Roethe, Karl Alt und Kurt Jahn alle künstlerischen Rücksichten, die im Titel des Werkes gerechtfertigt sind, alle Schwächen von Goethes Gedächtnis und alle Hilfsmittel, die er benutzte, erkannt wurden, bleibt die höhere Wahrheit des Kunstwerkes bestehen; |#f0338 : 314|

aber eine Biographie, die geschichtliche Wirklichkeit sucht, kann sich gelegentlicher Berichtigung von „Dichtung und Wahrheit“ nicht entziehen.

T a g e b ü c h e r u n d B r i e f e . Wären Tagebücher Goethes aus der von ihm dargestellten Jugendzeit erhalten, so würden sich chronologische Berichtigungen aller Art auf Schritt und Tritt einstellen; es ist aber fraglich, ob der Dichter seine Selbstbiographie unter solcher Kontrolle überhaupt geschrieben hätte. Für die Weimarer Jahre, für die er alle Stützen seines Gedächtnisses zur Hand hatte, bedeuteten sie keine Förderung. Die geplante Fortsetzung von „Dichtung und Wahrheit“, deren Schema vorliegt, blieb unausgeführt, weil die allzu nahe Wirklichkeit und der bedrängende Lebensstoff keine darstellerische Distanz finden ließen. Erst mit den Reisen durch die Schweiz und nach Italien konnte Goethe die Lebensbeschreibung fortsetzen, weil er in den eigenen Reiseberichten, die in die Ferne führten, bereits geformte Unterlagen besaß. Auch Briefe sind indessen nicht immer objektive Quellen, da sie sich nach dem Verhältnis zum Empfänger richten und manchmal durch allerlei Rücksichtnahme gefärbt sind. Die Berichte, die Goethe aus Italien an Frau v. Stein und an den Herzog richtete, haben verschiedenen Charakter, und die Redaktion des Reisewerkes mußte einen Ausgleich herstellen. Von fremden Fälschungen müssen wir natürlich absehen, aber auch Briefe, deren Echtheit einwandfrei feststeht, geben durchaus nicht immer zuverlässige Lebensnachricht. Die Meldungen z. B., die Schiller aus Bauerbach nach Stuttgart schickte, enthalten erfundene Angaben über Aufenthalt und Reisepläne, um etwaige Verfolgung auf falsche Fährte zu lenken. Auch Goethe hat, wenn er sich selbst auf der Flucht fühlte, wie bei der winterlichen Harzreise und bei der Fahrt nach Rom, die Aufenthaltsorte verheimlicht, bis das Ziel, dessen Bezwingung eine Schicksalsfrage bedeutete, erreicht war. Heinrich v. Kleist wiederum hat über Zweck und Ergebnis seiner Reise nach Würzburg in Briefen an die Braut so dunkle Andeutungen gemacht, daß ihr Sinn noch heute umstritten ist. R e i s e e i n d r ü c k e : Beschreibungen ferner Länder, die in literarischer Form vor die Öffentlichkeit treten, können, auch wenn sie nicht von Schellmuffsky oder Münchhausen verfaßt sind, mehr enthalten, als der Verfasser sah. So hat Joseph Bédier nachgewiesen, daß Châteaubriand gar nicht alle Gegenden Amerikas, die er beschrieb, selbst zu besuchen imstande war, sondern daß er die Berichte anderer Reisender mit solcher Einfühlung und so starkem Kolorit verarbeitete, daß seine Schilderungen den Eindruck der Echtheit erwecken. Auch |#f0339 : 315|

Fontane ist bei seinen „Wanderungen durch die Mark“ nicht ohne fremde Hilfe ausgekommen. Bei Schiller wollte man nicht glauben, daß der Dichter des „Wilhelm Tell“ den Vierwaldstätter See nicht gesehen habe, von dem er nach Beschreibungen, mündlichen Erzählungen und Karten ein so anschauliches Bild entwarf. In anderer Weise wiederum hat Jean Paul, ohne Italien zu kennen, im „Titan“ die Borromäischen Inseln und Ischia als traumhafte Phantasielandschaften mit glühendem Farbenrausch in sprachliche Musik gesetzt. Goethe dagegen hätte Mignons Sehnsuchtslied nicht angestimmt, ohne Berg, Wolkensteg und Teufelsbrücke mit eigenen Augen gesehen und die Italien-Sehnsucht auf der Höhe des Gotthard mit eigenem Herzen erlebt zu haben. Auch Lord Byron begann seinen „Prisoner of Chillon“ unter unmittelbarem Eindruck des Schlosses, dessen Gefängniszelle er besucht hatte; er hat mit seinem Manfred das Hochgebirge erklettert, und er schwamm selbst von Sestos nach Abydos, um die Leistung Leanders zu erproben. Aber daraus ist keine Herodichtung entstanden. Chamissos „Salas y Gomes“ wiederum ist durch den Anblick des verlassenen Eilands angeregt, aber wenn man nicht von der Weltreise des Dichters wüßte, würde man ebensowenig als bei anderen Robinsonaden auf erlebte Wirklichkeitseindrücke schließen. Wollte man alle lokalen Angaben aus Dichtungen als erlebt ansehen, so käme man zu phantastischen Folgerungen, und aus jedem Dichter würde ein Weltreisender. Eher sind umgekehrte Schlüsse erlaubt. Aus der geographischen Unbekümmertheit, mit der Calderon Jerusalem ans Meer verlegte und Shakespeare Böhmen als eine Insel behandelte, darf man wohl folgern, daß sie diese Länder nicht einmal auf einer Karte gesehen haben. Dagegen ist für das dänische Lokalkolorit im „Hamlet“ anzunehmen, daß dem Dichter Schilderungen vorlagen von englischen Schauspielern, die Kroneborgs Schloßterrasse kannten. Lokaltreue ist immer von der Art der dichterischen Einbildungskraft abhängig und von der Nahrung, die sie benötigt. Der Romantiker Achim v. Arnim, der in den „Kronenwächtern“ das alte Waiblingen aus seiner Phantasie geschildert hatte, ließ bei einem späteren Besuch den Wagen am Tor umkehren, weil die Stadt seiner Vorstellung nicht entsprach und für ihn so nicht existieren sollte. Der finnische Dichter Koskenniemi erzählt dagegen, daß er in seiner Jugend von Florenz träumte und daß dieses phantastische Traumbild so fest in seiner Einbildungskraft haften blieb, daß der spätere Besuch der Arno-Stadt mit den ganz anderen Eindrücken es nicht verdrängen konnte. Flaubert wiederum hielt es für nötig, als Vorstudien zu den „Versuchungen des heiligen Antonius“ und zu „Salambo“ Reisen nach Ägypten und Tunis |#f0340 : 316|

zu unternehmen, um die Atmosphäre Nordafrikas einzufangen und Klima, Art, Sitten und Lebensweise der Menschen zu beobachten. Er glaubte schließlich, in „Salambo“ etwas gemacht zu haben, „was Karthago ähnlich sieht“. Aber es bleibt die Frage, ob die Farbenorgien des von ihm gezeichneten Stadtbildes archäologisch soviel getreuer sind als das Traumbild von Florenz, das Koskenniemi in sich trug. L e b e n s w i r k l i c h k e i t u n d D i c h t u n g . Der phantasievolle Dichter ist, auch da, wo er zuverlässigste Wirklichkeit geben will, gar nicht dazu imstande; er ist immer ein Künstler, der nach Goethes Wort „aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet, dessen erborgtes Dasein uns bezaubert“. Wie es im „Westöstlichen Diwan“ heißt: Dichten zwar ist Himmelsgabe, Doch im Erdenleben Trug. Immer wieder drängt sich die Frage auf, welchen Zweck es denn haben kann, gegen die Fata Morgana, mit der die Magie des Dichters in Bann schlägt, eine nüchterne Wirklichkeit auszuspielen. Man kann antworten, daß auch der Luftspiegelung irgendeine Wirklichkeit zugrunde liegt und daß die Wissenschaft zur Erklärung des Mediums, das solches Fernbild fortpflanzte, verpflichtet ist. Zur Errechnung der Strahlenbrechung muß aber der Ausgangspunkt ermittelt werden. Wieder ist es Goethe, der als Naturwissenschaftler sich mit allen Erscheinungen der Spiegelung befaßte und in ihnen ein Gleichnis für die innere produktive Kraft des Menschen fand. In einem Aufsatz „Wiederholte Spiegelung“ hat er das Nachklingen seines Sesenheimer Erlebnisses den entoptischen Erscheinungen verglichen, die durch wiederholte Spiegelung die Leuchtkraft der Farben nicht abschwächen, sondern steigern: „ein jugendlich seliges Wahnleben, das sich unbewußt eindrücklich in dem Jüngling abspiegelte und viele Jahre in seinem Inneren fortgehegt wird, kommt nach langer Zeit in lebhafter Erinnerung zur Aussprache nach außen und spiegelt sich somit abermals ab, das Bild drückt sich andern ein, die an der Örtlichkeit aus Trümmern von Dasein und Überlieferung eine zweite Gegenwart schaffen, und diese Spiegelung fällt auf den alten Liebhaber zurück, in dessen Seele sich die Gegenwart der Geliebten von ehemals wieder lieblich erneuert.“ Wenn nach diesem Gleichnis das Erlebnis bereits als produktives Verhalten zum Leben erscheint, so finden wir Übereinstimmung mit der Stufenfolge, die ein Spruch Goethes unter Benutzung Leibnizscher Begriffe herstellt: „Das Höchste, was wir von Gott empfangen haben, ist das Leben, die rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt ... Die zweite Gunst des |#f0341 : 317|

von oben wirkenden Wesens ist das Erlebte, das Gewahrwerden, das Eingreifen der lebendig bewegten Monas in die Umgebungen der Außenwelt, wodurch sie sich selbst erst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich Begrenztes gewahr wird ... Als drittes entwickelt sich nun dasjenige, was wir als Handlung und Tat, als Wort und Schrift gegen die Außenwelt richten.“ Von der zweiten und dritten Stufe wird erst an späteren Stellen dieses Buches zu sprechen sein: vom Erlebnis im zweiten Hauptteil, der dem Seelenleben des Dichters gilt, während die als Wort und Schrift gegen die Außenwelt gerichtete Tat als Schaffensvorgang das Thema des dritten Hauptteils bilden soll. Zunächst haben wir bei der ersten Stufe, dem Leben der Monade, zu bleiben. e) Schicksal Geburt und Grab bedeuten Anfang und Ende des individuellen körperlichen Lebens. Wenn Goethes Selbstdarstellung im Einklang mit dem ersten orphischen Urwort großen Wert legt auf den Zeitpunkt des Eintritts ins Leben, so daß der geheimnisvolle Sternenglanz astrologischer Zusammenhänge auf die Mittagsstunde des 28. August geworfen wird, fallen Dichtung und Wahrheit zusammen. Die Stunde mag unfaßbarem Einfluß der Gestirne als der Sinnbilder kosmischer Gesetze unterliegen; der Tag, auf den die reife Frucht fällt, bringt in seinem gesetzmäßigen Abstand von der Empfängnis alle erbmäßige Einwirkung zum Abschluß und prägt die Form, die ihrer lebenden Entwicklung entgegenstrebt; die Jahreszeit ist von Gewicht für die ersten Lichteindrücke des Kindes und legt den Grund für die Aufnahmefähigkeit seines Erlebens; das Jahr der Geburt aber bedeutet zwangsläufige Einordnung in eine Altersgruppe von Zeitgenossen, die sich zur Schicksalsgemeinschaft verkettet, indem sie gemeinsam lernt und alle großen Ereignisse der Zeit auf gleicher Altersstufe und in gleicher Empfänglichkeit miterlebt. So ist das Datum der Geburt entscheidend für die ineinander webende und wirkende Dreiheit von Ererbtem, Erlebtem und Erlerntem, die erst in der Stunde des Todes auseinander fällt. Der Tod aber ist schon mit dem Zeitpunkt der Geburt gesetzt, als äußerste Lebensgrenze, die mit fortschreitenden Jahren immer bedrohlicher naherückt. Gesteigertes Naturgefühl sucht den Kontrast des täglich wiederkehrenden Sonnenaufgangs und des immer neu erwachenden Frühlings als tröstende Symbole auf, wie es in Herders „Tithon und Aurora“ geschieht, oder Abendstimmung und herbstliches Welken werden mit

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ahnender Wehmut empfunden. Der Tod übt vorgreifenden Einfluß auf das Leben aus, sei es, daß seiner sichtbaren Ankündigung ausgewichen wird, wie es durch den alten Goethe geschah, sei es, daß die drohende Ruhe allem Wollen und Schaffen eine überstürzte Beschleunigung gibt. Der Tod kann mit Bewußtsein in das eigene Leben hineingezogen werden, wie bei Novalis, der das Sterben als einen philosophischen Akt betrachtete, oder bei Kleist, der den Tod als ewigen Refrain des Lebens erkannte, oder bei Rilke, dessen Gebet dahin ging, seinen eigenen Tod zu haben: Das Sterben, das aus jenem Leben geht, Darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Und ähnlich schreibt schon der von Rilke so sehr geliebte Jacobsen: „Ich glaube, jeder Mensch lebt sein eigenes Leben und stirbt seinen eigenen Tod, das glaube ich.“ (Frau Marie Grubbe, 17. Kap.) Auch das Erlebnis des Todes anderer kann zum Schicksalsmotiv des eigenen Daseins werden. So kam Zacharias Werner dazu, dem 24. Februar, an dem er seine Mutter und seinen Freund Mnioch verlor, verhängnisvolle Bedeutung beizumessen, und Novalis begann mit dem Todestag der Sophie v. Kühn eine neue Zeitrechnung. Auch Jean Paul spielt beim Emanuel des „Hesperus“ wie im „Quintus Fixlein“ mit solchem Fatalismus und soll sogar selbst einmal, wie der Schwede Atterbom erzählt, seinen Todestag vorausgesagt haben, ohne daß diese Ahnung sich erfüllte. Tod und Liebe stehen in innerer Lebensverbindung, denn auch die Liebe unterliegt biologischen Gesetzen. Das Goethe-Buch des Psychiaters P. J. Moebius erregte 1903 Aufsehen mit der Beobachtung eines siebenjährigen Rhythmus im Liebesleben und poetischen Schaffen Goethes. Durch Hermann Swoboda wurde dieser Gedanke pythagoräischer Zahlenmystik, der schon in der Fließschen Periodenlehre medizinisch begründet worden war, aufgenommen und zu der Theorie ausgebaut, daß jedes siebente Jahr des Menschen ein Hochjahr an körperlicher und geistiger Zeugungskraft sei. Als Voraussetzung für die Erzeugung eines Genies wird Zusammentreffen desselben Siebenjahrs-Pulses in Homorhythmie der beiden Elternteile angenommen; irgendeine Beziehung zur Siebenzahl wird bei fast allen großen Dichtern, sei es in ihrem eigenen Leben, oder in dem ihrer Eltern nachgewiesen, und wo die Rechnung nicht völlig aufgeht wie bei Goethe, kann es durch Kreuzung mit dem weiterwirkenden elterlichen Siebenjahr-Rhythmus erklärt werden. Der Geopsychologe Hellpach und der Psychiater Kretschmer sind |#f0343 : 319|

von diesem Beispiel der Goetheschen Lebenskurve in gleicher Weise angezogen worden und suchen nach Erklärungen, teils aus dem Einfluß kosmischer Perioden, teils aus der zirkulären Konstitution. Aber es muß gesagt werden, daß die Projektion der Wochentage auf Lebensphasen nicht ungezwungen durchzuführen ist. Zweijährige Erregungsperioden sollen nach Kretschmer mit siebenjährigen Zwischenpausen abwechseln. Das würde neunjährige Gesamtperioden ergeben. Wenn aber 1767 (Kätchen Schönkopf) und 1772 (Lotte Buff) als die ersten Höhepunkte aufgefaßt werden, so fällt der weit stärkere Erregungszustand des Sesenheimer Erlebnisses und des erwachenden Sturm- und Drang-Geistes gerade in die Mitte der angenommenen Pause. Die Tatsachen wollen sich dem klinischen Bild nicht einfügen. Für die Mitte des Lebens muß Kretschmer selbst zugeben, daß die periodische Wellenbewegung verwischt ist; er läßt in diesen Jahren größter geistiger Gesundheit an die Stelle erotischer Erlebnisse die Freundschaft mit Schiller treten, die 1794 einsetzt und 1800/1 einen Kulminationspunkt erreicht; man kann aber nicht sagen, daß die dazwischenliegenden sieben Jahre, in denen Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Balladen, Hermann und Dorothea entstanden und der Faust wieder aufgenommen wurde, die Bedeutung einer schöpferischen Pause hätten. Im Alter allerdings, das in den Jahren 1807/8 (Minchen Herzlieb), 1814/5 (Marianne v. Willemer), 1821/3 (Ulrike v. Levetzow) drei mit gesteigerter Schaffenskraft verbundene Liebeszustände bringt und dann noch einmal 1830/1 mit dem Abschluß des Faust zu einer erstaulichen produktiven Leistung sich steigert, scheint die Lebenskurve den angesetzten regelmäßigen Wellengang zu bestätigen. Es ist aber wesentlich, daß nur für den abnormen Zustand wiederholter Pubertät, den Goethe den genialen Naturen zuschreibt, diese Periodizität zu erkennen ist, während, wie man wohl sagen darf, für den jungen Goethe die Liebe Normalzustand war. Die Goethe-Biographie würde in einen Systemzwang geraten, wenn sie diesen Siebenjahresplan als periodisches Aufbauprinzip benutzen würde. Wohl aber muß sie eine grundlegende Beobachtung gelten lassen, nämlich die, daß Liebe bei Goethe immer vor der Geliebten da war, daß er Friederike fand, weil er einen Gegenstand für die in ihm klingenden Liebeslieder suchte und daß er Suleika besang, noch ehe ihm Marianne v. Willemer erschienen war. Denselben Zustand hat Jean Paul, obwohl er kein Lyriker war, seinem Albano, dem Helden des „Titan“ beigelegt, in dessen Herz bereits Freundschaft und Liebe war, bevor er einen Freund und eine Geliebte gefunden hatte. Ein anderes schicksalbestimmendes Wirken des Daimon, das sich in Goethes |#f0344 : 320|

Jugend mit beinahe gesetzmäßiger Regelmäßigkeit durchsetzt, ist die von Schuldgefühl und Selbstquälereien begleitete plötzliche Flucht vor der Liebe und vor jeder gesellschaftlichen Bindung. Die Analyse des Psychiaters deutet auf Triebambivalenz und sieht die Problematik solches biologisch begründeten Liebes- und Gefühlslebens mit den Voraussetzungen der genialen Persönlichkeit und mit den Folgerungen aus ihrer Anlage verbunden. Wenn Kretschmer auf ein Wort Nietzsches verweist, wonach die konstitutionelle Triebnatur eines Menschen bis in die letzten Gipfel seines Geistes hinaufragt, so verkennt er anderseits nicht die Gefahr einseitiger Überspitzung. Die ist den Psychoanalytikern oft zum Verhängnis geworden, indem sie den Zugang zu allen seelischen Entwicklungen mit dem einzigen Passepartout unterbewußter Triebe öffnen wollten. Sie blieben dabei auf der niederen Stufe des Lebens, die noch kein bewußtes Erlebnis und noch weniger Dichtung geworden ist, sondern nur unmittelbare oder mittelbare Grundlage für das eine wie das andere bildet. Niemals bringt Triebleben von sich aus Dichtung hervor, sondern in der Dichtung liegt eine selbständige Kraft, das dunkle Triebleben ins Bewußtsein zu ziehen, es durch lösende Aussprache zu überwinden und durch diese heilende Selbstbefreiung krankhaften Zuständen zu entrinnen. So wird Dichtung selbst zur rettenden Flucht aus der Lebenswirklichkeit. „Wenn ich nicht Dramas schriebe, ginge ich zugrunde“, hat Goethe einmal bekannt in der Zeit, da das Drama „Stella“ für das bedrängende Erlebnis einer Doppelliebe zum Ventil werden mußte. Das Fluchtmotiv, das im Mittelpunkt dieses Dramas steht, scheint einen besonderen Schicksalszug im Leben der Dramatiker auszumachen. Bei Grillparzer hätte Swoboda das Siebenjahr bestätigt finden können, war er doch 28 (4 × 7) Jahre alt, als er nach Italien reiste, und 7 Jahre später trat er seine erste Reise nach Norddeutschland an. Bei Goethe fallen die Zeiten dramatischen Schaffens mit den Fluchtperioden zusammen, wie sich an Götz, Clavigo, Egmont, Faust, Iphigenie, Tasso zeigen läßt. Mit Schillers Flucht aus Zwang und Enge der Heimat ist es anders beschaffen; da war die dramatische Entladung bereits vorausgegangen, und die Flucht sicherte die einzige Möglichkeit zur Freiheit weiteren dichterischen Schaffens. Der Charaktergegensatz Goethes und Schillers, den Ludwig Klages durch ein Mehr von Lebensabhängigkeit und ein Mehr von Geistesabhängigkeit bezeichnen will, veranschaulicht sich in dem verschiedenen Verhältnis zwischen Leben und Dichtung. Schillers Leben wird gelenkt durch den Willen zur Dichtung, während Goethes Dichtung von dem Willen zum Leben getragen wird; es gibt noch ein drittes Verhältnis, |#f0345 : 321|

das sich willenlos den Lebenswellen überläßt, aber das kann nur dem lyrischen, nicht dem dramatischen Menschen zu eigen sein. Nur selten, bei der Flucht von Mannheim nach Sachsen (Charlotte v. Kalb) und bei der Entfernung von Dresden nach Tharandt (Henriette v. Arnim) spielt für Schiller die Befreiung aus erotischen Konflikten mit; die weiteren Schauplatzveränderungen seines Lebens sind von ebenso klarbewußter Zielsetzung der dichterischen Entwicklung bestimmt, wie die ideellen Bildungsreisen in die Welt des Altertums, der Geschichte und der Philosophie. Der Weg nach Thüringen, die vorübergehende Rückkehr zur Heimat, die Übersiedlung von Jena nach Weimar um des Theaters willen und die noch im letzten Lebensjahr geführten Verhandlungen über eine Berufung nach Berlin lassen die starke Zielbewußtheit erkennen. Es ist trotz der Störung durch Krankheit und Todesnähe eine ziemlich gerade verlaufende Schicksalslinie, deren letzte Wendung der Tod, der schon vorher sich angemeldet hat, vereitelte. Aber sein Schatten hat das Licht feuriger Kraftanspannung verstärkt. Bei Lessing vollzieht sich die häufige Schauplatzveränderung in einem unruhigen Rhythmus, der in dreifach gespaltenem Lebensziel seine Ursache hat: das dramatische Schaffen findet in Leipzig, Potsdam und Hamburg, die kritische Publizistik in Berlin, die gelehrte Betätigung in Wittenberg, Breslau und Wolfenbüttel angemessene Daseinsbedingungen. In plötzlichen Sprüngen fluchtartigen Charakters vollziehen sich die schroffen Übergänge, die zugleich durch die bald anziehende, bald abstoßende Polarität zwischen dem rauschenden Strom der Welt und der stillen Welt der Bücher bedingt ist. Noch weit jäher und unstäter kreuzt der Zickzack-Kurs eines Heinrich v. Kleist stoßweise von Ort zu Ort; die Verbindungslinien zwischen Potsdam, Frankfurt, Paris, Bern, Weimar, Königsberg, Dresden, Berlin bilden ein schwer zu entwirrendes Diagramm seines vom Dämon gejagten Lebens. Die Lebensläufe der Lyriker zeigen nicht solche Plötzlichkeit überraschender Willensantriebe, sondern suchen in minder kontrastreichen Kurven, aber mit nicht geringerer Unrast nach Veränderung der Eindrücke. „Uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhen“, steht über dem heimatlosen Dasein der Hölderlin, Brentano, Platen, Lenau, George, Rilke. Dagegen setzt der Erzähler sich gern und bald zur Ruhe, um schließlich in unveränderter Seßhaftigkeit auf seinem Beobachtungspunkt gegenüber dem Leben, das er an sich herankommen läßt, zu beharren. Wieland in Weimar, Jean Paul in Bayreuth, Gottfried Keller in Zürich, |#f0346 : 322|

Adalbert Stifter in Linz, Theodor Storm in Husum, Wilhelm Raabe in Braunschweig, Hermann Stehr in Schreiberhau können als Beispiele solches Sicheinnistens genannt werden. Am beharrlichsten war wohl der Berliner Theodor Fontane, dessen Sarg aus derselben Wohnung in der Potsdamer Straße 134c herausgetragen wurde, die er ein Vierteljahrhundert vorher bezogen hatte. Gleichviel wie es mit dem ursächlichen Zusammenhang beschaffen sei, ob die auf stille Lebensbeobachtung verlegte Ruhe des Daseins zur epischen Haltung des Berichtes hinführt oder ob es die beschauliche Erzählkunst ist, die ein Dasein ruhiger Lebensbeobachtung fordert, ein schicksalhafter Zusammenhang zwischen Charakter, Lebensgang und Dichtungsgattung ist unverkennbar. Die leidenschaftliche Ausdruckskraft des Dramatikers und die eindrucksempfängliche Innerlichkeit des Lyrikers verschmähen das Gleichgewicht seelischer Ruhelage und verlangen nach Gegensätzlichkeit und Wechsel im eigenen Erleben, während der Erzähler mehr auf reiche Bildungseindrücke der ihn umgebenden Welt angewiesen ist und sie zu erarbeiten Grund hat. So wird sich die Periodisierung des Lebens beim Dramatiker und Lyriker mehr nach den inneren Erschütterungen und Problemen, bei dem Epiker mehr nach den Eindrücken der Umwelt und dem Fortgang der Zeit zu richten haben. Für beides gilt die von Goethe in den allgemeinen Betrachtungen der „Farbenlehre“ empfohlene Dreiteilung, wonach das Leben jedes bedeutenden Menschen, das nicht durch einen frühen Tod abgebrochen wird, in den Epochen der ersten Bildung, des eigentümlichen Strebens und der Vollendung sich abstufen läßt. 4. A n p a s s u n g u n d B e e i n f l u s s u n g Erbgut und Umwelt sind die beiden Hauptfaktoren, die als Entelechie und Determination, als innere Entwicklungsrichtung wie von außen her formende Kraft im Leben des einzelnen Ausgleich suchen und beim Aufbau der Persönlichkeit ineinander wirken. Wenn in Goethes orphischen Urworten die zusammengehörigen Paare Daimon- Eros und Tyche-Ananke getrennt werden, um sich in einer der Lebensfolge entsprechend veränderten Reihe zu umschlingen, so entspricht es dem Ineinanderübergreifen innerer und äußerer Schicksalsfügung. Zeitweilig hat die Wissenschaft den Einflüssen der als Tyche und Ananke bezeichneten Bestimmungen übertriebenes Gewicht beigemessen, aber niemals konnte sie so weit gehen, den Menschen in seinem Sein und Handeln ausschließlich als Produkt der Umwelt aufzufassen, |#f0347 : 323|

da diese ja keine Substanz hervorbringen kann. Selbst die sinnloseste materialistische Formel „Der Mensch ist, was er ißt“ kann das nicht gemeint haben; noch weniger war es der Sinn der oft einseitig mißverstandenen deterministischen Milieutheorie. Wenigstens hat Taine die rassische Erbanlage ausdrücklich vorangestellt vor der Umwelt, weil sie durch diese erst geformt werden soll. Auf der anderen Seite kann die äußerste Folgerichtigkeit von Erb- und Rassenlehre trotz der bestimmenden Entwicklungsmächte des Blutes, zu denen Daimon und Eros zu rechnen sind, die notwendige Mitwirkung der Umwelt nicht ausschließen. Und wenn es nur soweit ginge, daß die Rasse sich die ihr entsprechende Umwelt schafft oder sucht, wie nach neueren biologischen Lehren (v. Uexküll) die Umwelt nicht etwas das einzelne Lebewesen Bestimmendes, sondern eine durch seine Sinne bestimmte Merk- und Wirkwelt darstellt, seine Eigenwelt, wie man zwecks Vermeidung von Mißverständnissen zu sagen vorschlug.

Neben die Kraft des Blutes stellt sich die des Bodens und wenn nicht außerdem die Einwirkung geistiger Kräfte anerkannt werden müßte, wo blieben dann alle Bemühungen der Seelsorge, der Erziehung, der Heilkunst ebenso wie alle Fortschritte der Kultur und Technik, wenn sie auch noch so fragwürdig sind? Wo bliebe schließlich der Sinn der Dichtung, wenn sie nicht nur als selbstbefreiender Ausdruck, sondern als mitreißender Wirkungswille und als Sendung, für die eine Umwelt vorauszusetzen ist, betrachtet wird? Am wenigsten kann der Dichter in seinen Daseinsbedingungen von der ihn umgebenden Welt losgelöst werden, verdankt er ihr doch allen Erlebnisstoff, den er formt und an dem er sich bildet. Wie im dichterischen Erlebnis Inneres und Äußeres, Schöpferisches und Leidendes einander entgegenstreben, miteinander ringen und sich durchdringen, so ist es auch im Werdegang der dichterischen Persönlichkeit. Zweierlei Verhalten, das zur Entwicklung und Wandlung führt, ist dabei zu unterscheiden: die Aktivität eines mehr oder weniger bewußten Hineinwachsens in die Umwelt mit allen ihren zugehörigen Bereichen; anderseits die Passivität der Hingabe an von außen wirkende Einflüsse. Im Grunde geht beides zusammen, und das Mehr oder Weniger hängt von dem Verhalten der Umweltfaktoren ab. Aktive Anpassung stellt sich gegenüber einer passiven Ruhelage ein; passive Unterwerfung gegenüber aktiv eindringenden und fordernden Mächten. Unveränderlich sind, soweit sie als Ganzes dem Einzelnen gegenüberstehen, die in sich beruhenden Verhältnisse des Raumes, wie Haus, Heimat, Landschaft, Sprache, Volkstum, zu denen der Werdende anschmiegend und |#f0348 : 324|

sich einfügend vordringt, auch wenn er nicht in sie hineingeboren ist. Eingreifend mit dem Anspruch auf Formung, ja oft auf Vergewaltigung sind die dem Zeitgeist verschriebenen, in wirkenden Persönlichkeiten verkörperten Bildungsmächte wie Schule und Lehre, Vorbild und Führertum; zu ihnen gehört sogar die Dichtung selbst in ihrer ganzen Dynamik. Alles dringt auf den Werdenden ein, und er muß sich von ihm mitreißen lassen, wenn er nicht zum Widerstand gereizt wird. a) Familie Zwischen den Gegensätzen steht die Familie, die beides bedeuten kann: Erbgut und Umwelt, feste Überlieferung und eingreifende Bildungsmacht. Sie selbst schließt in ihrer Zusammensetzung oftmals Gegensätzliches zusammen; die Wesensverschiedenheit der Eltern in bezug auf religiösen Geist und Erziehungsgrundsätze führt zu Auseinandersetzungen zwischen Verstand und Gefühl, deren unbewußter Gegenstand das Kind ist. Schiller beispielsweise trug weit mehr Charaktererbgut seines rationalistischen Vaters als seiner pietistischen Mutter in sich; aber die Mutter, in deren Händen die erste Erziehung lag, wußte die Kinder zu religiösen Ekstasen mitzureißen wie bei jenem Spaziergang, da sie auf der Höhe des Berges schwärmerisch niederknieten und den Allmächtigen anriefen. Goethe wiederum war viel mehr Kind seiner mit pietistischen Kreisen befreundeten Mutter; aber die Sorge für die Heranbildung faßte der rationalistische Vater als seine Lebensaufgabe auf. In beiden Fällen also setzt die Erziehung mit einem Gegensatz gegen das dominierende Erbgut der Anlage ein; aber das tiefere Erlebnis stieg doch aus dem Unterbewußtsein auf; schließlich haben die Müttergestalten in Goethes Dichtung und umgekehrt die Väter in Schillers Dramen das Übergewicht behalten. Wenn sich andere Glieder der älteren Generation einmischen, wenn ihnen gar nach dem Tode des einen Elternteils oder nach Trennung der Ehe eine Mitverantwortung zufällt, so mehren sich die Konflikte. Der Großvater v. Labes bei Achim v. Arnim, der Komtur v. Hardenberg bei Novalis, die Tante Massow bei Kleist, die Tante Möhn bei den Brentanos, der Owehonkel und Tante Füßchen bei Hoffmann, Tante Pinchen bei Fontane sind Gestalten, deren Geisteshaltung und Persönlichkeit zu erforschen sind, um die ernsten oder heiteren Erlebnismotive, die aus ihrer Einwirkung sich ergaben, zu erkennen. Von nicht geringerer Bedeutung aber ist das frühe Verhältnis zu Geschwistern, seien es ältere Schwestern, wie Ulrike v. Kleist, die eine fast mütterliche Haltung annehmen, seien es jüngere, wie Cornelia |#f0349 : 325|

Goethe, an der der Bruder zum Schulmeister werden wollte. Die psychoanalytische Annahme frühester Inzesterlebnisse, von der schon oben (S. 166) die Rede war, kann nur dann von literarhistorischer Bedeutung sein, wenn sie, wie bei Lord Byron, wirklich dichterisches Erlebnis und, wie im „Manfred“, als solches gestaltet wurde. b) Heimat Der Biograph, der die Ursprünge seines Helden sucht, muß wortwörtlich in Dichters Lande gehen. Es genügt nicht, daß er Landkarte oder Stadtplan vor sich hat und aus Urkunden, Bildern und Beschreibungen auf seinem Schreibtisch ein Papiermodell aufbaut, das nur die Haltbarkeit eines Kartenhauses besitzt. Er muß sich selbst auf die Wanderschaft begeben, muß Land und Leute, Sitte, Art und Redeweise des Volksschlages kennenlernen, um mit offenen Sinnen die Atmosphäre der Dichterheimat in allen ihren Stimmungen aufzunehmen. Dieselbe Luft einzuatmen, die das Kind einsog, zu den von der gleichen Morgensonne bestrahlten alten Giebeln aufzuschauen und unter den noch heute dort spielenden Kindern ein Ebenbild zu finden, die bergbekränzten Fluren zu durchstreifen, die den Natursinn des Dichters weckten, die Geisterstimmen des Wipfelrauschens, das murmelnde Lied des Flusses und den Glockenschlag der alten Turmuhr zu vernehmen wie einst wenn es möglich ist, bei veränderter Welt noch etwas von all diesem Kindheitszauber der Heimat zu erhaschen, so ist der Lebensquell der Darstellung erschlossen. Je besser die Erinnerung des Dichters selbst die Umwelt, in der er heranwuchs, festgehalten hat, desto mehr Verpflichtung besteht, die Farben seiner Darstellung in eigenem Augenschein aufzufrischen. Goethes Selbstdarstellung ist ein biographisches Muster für das Mitgehen mit dem Helden in der schrittweise sich aufhellenden Weitung des Horizontes. Konzentrische Kreise entwickeln sich wie Ringe auf dem Wasserspiegel; der Weg führt vom Fensterausblick des Zimmers durch das Haus und zu seiner Baugeschichte, vom Haus auf die Straße, von der Straße in die Stadt, von der Stadt zu ihrer Geschichte und von der Geschichte zur Vergegenwärtigung der Zeitereignisse, die Frankfurt in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rückten. „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“ wuchs dieses Großstadtkind heran, aber es fehlt in der Darstellung seiner Frühentwicklung zunächst der Sinn für Natur, dessen Erweckung erst einer späteren Periode vorbehalten ist. Anders verlaufen die Knabenjahre Hölderlins, der sich vom „Wohllaut des Haines“ erzogen fühlte; seiner Kindheit sind, wie |#f0350 : 326|

Dilthey schön gezeigt hat, die weichen Linien der lieblichen Hügellandschaft, die ein Gefühl der Geborgenheit, des sich Anschmiegens und doch Sich-Fortsehnens vermitteln, frühe Begleitmusik; Hölderlins Griechentraum hat später dem niegesehenen Sehnsuchtsland manche Farben seiner ersten Kindheitseindrücke verliehen, sowie seine Kindheitserinnerungen griechische Form annahmen. Jean Paul wiederum hat weniger die Landschaft als das wärmere Verhältnis zu den Menschen im Auge, wenn er die Enge der Heimat bevorzugt: „Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern wo möglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen.“ Mit der Eindrucksfähigkeit des Dichters und mit seiner tiefen Empfänglichkeit für Sinneseindrücke steht die Klarheit der haftenden Erinnerungsbilder im Zusammenhang und die Stärke des Gedächtnisses, das weiter als bei anderen Sterblichen zurückreicht. Rudolf G. Binding sah als früheste Erinnerung den Garten vor sich, in den er, noch ehe er gehen oder sprechen konnte, hinausgetragen wurde; Spitteler wollte das Bild der goldnen Türme von Solothurn als Erinnerung aus dem dritten Lebensjahr in sich tragen; der finnische Dichter Koskenniemi weiß, daß er in Gesellschaft seines Vaters, den er bald danach verlor, an der Grenze des ersten und zweiten Lebensjahres zum ersten Male das Meer erlebt hat, und dieses Erlebnis rechnet er als seinen eigentlichen Geburtstag. Victor Hugo hat seine Kindheitserlebnisse noch in spätester Dichtung verwendet, und Balzac erklärte, er habe von Kindesbeinen an Erinnerungsbilder umrissen und fertig wie Wirklichkeit vor sich gesehen. Wir werden auf diese als „eidetisch“ bezeichnete Anlage zur Hervorbringung innerer Vorstellungsbilder im zweiten Hauptteil zurückkommen; hier sei nur bemerkt, daß nach den Untersuchungen von Jaensch diese Gabe namentlich den Kindern verliehen ist, während sie bei Erwachsenen sich verliert. Weil aber der Dichter in Empfänglichkeit und innerer Vorstellungskraft Kind bleibt, sind gerade die frühesten Eindrücke von dauernder Bedeutung. Wichtig wird die Heimatlandschaft nicht nur durch das Naturbild, durch Klima, Luft, Licht, Farben und Linien, sondern auch durch ihre geschichtlichen Beziehungen. Es ist möglich, daß bei dem Knaben Grimmelshausen, so wenig Bildung er genoß, schon in der alten Reichsstadt Gelnhausen angesichts der Kaiserpfalz Barbarossas ein Sinn für Vergangenheit und geschichtliches Leben erwachte, dem er später in historischen Romanen und als Kalenderschriftsteller nachging. Der Phantasie des Knaben Herder haben sich die Trümmer der alten Deutschordensburg über seiner Vaterstadt Mohrungen eingeprägt, und die Heimatlandschaft blieb noch in späteren Jahren die immer wiederkehrende |#f0351 : 327|

Szenerie seiner Träume. Auf Klopstock hinterließ die Vaterstadt als Stammsitz sächsischer Königsmacht weit nachhaltigeren Eindruck, als der Humanismus Schulpfortas, der ihn für seine erste Bildungsepoche zum „Lehrling der Griechen“ stempelte. Es ist bezeichnend, daß er später den Schauplatz der Varus-Schlacht in der Nähe Quedlinburgs suchte und daß er seinen Bardiet „Hermannsschlacht“ an Ort und Stelle zwischen den Felsen des Bodetals sich gespielt dachte. Wilhelm Raabe wiederum hat geglaubt, daß bei Stadtoldendorf, wo er seine Schulzeit verbrachte, in den Waldhöhen des Ith der „Campus Idistavisus“ des Tacitus zu finden sei, und das nahegelegene Odfeld, in dem er ein „Odinsfeld“ sah, hat er als Schicksalslandschaft nicht nur zum Schauplatz, sondern geradezu zum Helden einer seiner großen historischen Erzählungen gemacht. Die altehrwürdige Herzogsstadt Heinrichs des Löwen, die Raabe sich später als Alterssitz aussuchte, konnte wiederum die beiden Frauen unserer Zeit, die im Geschichtsroman ihr Stärkstes geleistet haben, schon mit den ersten Kindheitseindrücken auf geschichtliche Weltbetrachtung lenken: Ricarda Huch und Ina Seidel. Die zweite hat bekannt, daß das Deutschland der alten Kaiser und Herzöge, der grauen Burgen und Dome, der großen Ströme und Waldgebirge, der bunten Bauern- und Bürgerkultur und jener immer noch spürbaren Tradition der Verbundenheit mit dem heiligen römischen Reich ihr ebenso wirklich wie unwirklich war: „Ich lebte in ihm und aus ihm wie ein Baum aus seinem Erdreich, der auch nicht weiß, welche Kräfte sein Wachstum speisen.“ Von Walter Scott aber, dem Neubegründer des historischen Romans, hören wir, daß er schon als Kind in den Schlössern seiner Heimat zwischen alten Tapeten und Ahnenporträts wundersame Nerveneindrücke hatte. „Die Vorstellung von mittelalterlichen Gewaltwesen und Aberglauben erfüllte ihn mit einer Furcht, die etwas Ansteckendes hatte.“ Wo Denken und Dichten in der Gestaltung geschichtlicher Stoffe ihr Feld finden, pflegt der Keim schon in frühen Kindheitserlebnissen zu liegen. Wenn ererbter geschichtlicher Sinn, wie z. B. bei Theodor Fontane, außerdem durch den Vater lebendige Förderung erfährt, so gehen wir von Anlage und Umweltanpassung bereits zu den Bildungseinflüssen weiter. Dazwischen liegt, was an Mythen, Sagen, Märchen und Liedern der Heimat mit der Landschaft verbunden ist und zugetragen, zugeraunt und zugesungen wird. Die gruseligen Geschichten, die der kleine Grillparzer von Mägden erzählt bekam, die schreckerregende Ballade von der „Großmutter Schlangenköchin“, die die

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Geschwister Brentano in der Kindheit hörten, die Märchenerzählungen der Mutter, die den Knaben Mörike zur Erfindung eigener Geistergeschichten anregten, sind für die Entwicklungsrichtung der Kindesphantasie bereits bedeutungsvoll geworden. Nicht minder haben die Spiele mit Geschwistern und Altersgenossen, bei denen der werdende Dichter sich oft schon erfinderisch hervortat, z. B. der junge Schiller als Prediger, der junge Goethe als Theaterleiter, der junge Lessing als Liebhaber von Büchern, die er noch kaum lesen konnte, sinnbildhafte Bedeutung für das spätere Wirken. Im Spiel wächst das Kind zuerst in die Gemeinschaft des Volkstums hinein; mehr spielend als lernend gelangt es zugleich in den ersten Besitz der Sprache noch ehe es zur Schule geht. c) Lehrer und Leiter Während der Raum der Heimat und Kindheit eines Dichters zum eigenen Erlebnis des Darstellers werden muß und nicht ohne ein gewisses Maß von Intuition und dichterischer Empfindung ermessen werden kann, beansprucht die Schulzeit und die Zusammenfassung alles dessen, was „erlernt“ wurde, mehr objektives Zeitverstehen. Hier hat der Pädagoge mitzusprechen aus Kenntnis der nationalen und lokalen Bildungsgeschichte, aus geistesgeschichtlicher Einsicht in die Erziehungsgrundsätze des Zeitalters, aus erfahrener Urteilsfähigkeit über die möglichen Erfolge und Mißerfolge der angewandten Lehrsysteme und aus Vertrautheit mit den typischen Erscheinungen der Jugendpsychologie. Diese Voraussetzungen zwingen zu einer rationalen Behandlung, ist doch das Anschauungsmaterial für diese künstliche, zeitgebundene Umwelt ein völlig anderes als das der natürlichen, räumlichen. Hier handelt es sich um Vergängliches und Veränderliches, dessen Wiederherstellung auf papierenen Grundlagen beruht und weniger erlebt als erwiesen werden kann. Der Geist der Schule ist aus Aktenstücken zu beschwören, bei deren Sammlung auf Echtheitsprüfung nicht verzichtet werden darf; auch das Anekdotische ist nur mit Vorsicht zu benutzen, so hübsch es etwa klingt, wenn der Leipziger Rektor Fischer seinen Thomanern von der philologischen Genialität des einstigen Universitäts- und Stubengenossen vorschwärmte, der leider seine großen Gaben nicht ausnutzte und auf Abwege geriet: „Und nun nun wurd' er nach und nach ach ich mag's nicht sagen! Frag' er nur die Leute, die's verstehn; der Kerl hieß Lessing.“ Aus Lessings Fürstenschulzeit sind Humanitätsbekenntnisse ans Licht gezogen worden, die den Knaben bereits naseweis als künftigen Nathan-Dichter präsentieren die Mache liegt auf der Hand. Dagegen |#f0353 : 329|

ist Klopstocks Valediktion in Schulpforta, die den werdenden Messias-Dichter mit erstaunlicher Zielbewußtheit in die Zukunft blicken läßt, gegen jeden Einwand gesichert. Goethes „Labores juveniles“ reizen in der Handschrift des Knaben zur graphologischen Untersuchung, ob in den Ergebnissen des Schönschreibunterrichts bereits selbständige Charakterzüge zu finden sind. Ebenso stellt der Inhalt vor die Frage, ob es sich um Diktat handelt, oder ob eine muntere Erfindungsgabe sich frei betätigte. Aus der Stuttgarter Militärakademie sind viele Schulreden überliefert, in denen die Zöglinge vom Herzog gestellte Themen zu behandeln hatten. Nur wo es protokollarisch feststeht, daß Schiller der Redner war, darf ihm der Text zugeschrieben werden. Alle diese oratorischen Übungen sind uniformiert und tragen des Herzogs Rock; sucht man das Schillersche darin, so wird man das gestaute Pathos der Auflehnung eher aus dem, was nicht gesagt wird, heraushören. Der Psychiater Kretschmer spricht von biologischen Entwicklungshemmungen des Pubertätsablaufes, die den üblichen Protest gegen die Autorität, der sonst nur eine kurze Durchgangsphase bildet, bei Schiller fortdauern lassen als Leitmotiv seines ganzen Schaffens und persönlichen Empfindens bis zum ethischen Freiheitsidealismus der Reifezeit. Wenn diese Diagnose richtig ist, so wäre das ganze Leben und Dichten eine fortgesetzte Selbstbefreiung von dem in jungen Jahren erlittenen Zwang gewesen. Belege des positiven Wertes der Karlsschulbildung sind dagegen in nachgeschriebenen Kollegheften erhalten, die zeigen, in welchem Maße der Hochschulcharakter der Anstalt bereits für Schillers spätere historische und ästhetische Schriftstellerei den Grund legte. Ein Vergleich mit den eigenen Veröffentlichungen der nicht unbedeutenden Lehrkräfte läßt erkennen, daß der Jenaer Professor noch für kleine historische Aufsätze seiner „Neuen Thalia“ die Vorlesungen seines Lehrers Nast nutzte, während der als engelgleicher Mann verehrte Professor Abel ihm ein Fundament ästhetischer Anschauungen vermittelt hat, das englische und schottische Grundsätze eklektisch zusammenzog und das er noch beim Übergang zur Kantschen Ästhetik brauchen konnte. Die neueste Schiller-Biographie von Reinhard Buchwald tat recht daran, die Mittlertätigkeit dieses Lehrers auf Grund seiner eigenen Schriften in neues Licht zu setzen, während die Nachlese, die aus Karlsschulakten noch zu den persönlichen Verhältnissen des Eleven Schiller beigebracht werden konnten, das Bild der Anstalt und ihres Einflusses nicht mehr wesentlich verändert. Die Gemeinschaftserziehung im Internat, gleichviel ob sie militärisch, |#f0354 : 330|

theologisch oder philosophisch organisiert war, ist auch bei Klopstock, Wieland, Lessing, Hölderlin ein Urquell enthusiastischen Freundschaftskultes gewesen. Die Einzelerziehung, die Goethe mit seiner Schwester genoß, stellte mehr das empfangende Ich in den Mittelpunkt; ein Gegenstück ist die Vereinsamung des begabten Klippschülers Friedrich Hebbel, durch die sich die Willensanspannung der Selbstbildung mit eiserner Kraft erhärtet hat, während er selbst den Frost seiner sonnenlosen Jugend als Nachteil für das ganze weitere Leben empfand. Wenn, wie es Goethe in Straßburg erfuhr, sich die ganze Dynamik neuer umwälzender Kunst- und Lebensauffassung in einem einzigen Menschen verkörperte, so kann die Einwirkung nicht so sehr aus dem Gesamtbild des genialen Anregers, der selbst viele Wandlungen durchgemacht hat, erfaßt werden, sondern es sind die Ideen, mit denen Herder gerade im Zeitpunkt der fruchtbaren Berührung sich trug, in den Vordergrund zu stellen. Die Gelegenheit, in der mitteilende Gebefreudigkeit und Empfänglichkeit zusammentrafen, ist entscheidend. Die Schriften, die damals im Werden waren (Über die älteste Urkunde des Menschengeschlechtes, Über Ossian und die Lieder alter Völker, Vom Ursprung der Sprache) zeigen besser als die bereits vorher erschienenen Werke Herders, welche Funken im mündlichen Verkehr übersprangen.

Handelt es sich um einflußreiche akademische Lehrer, wie Ernesti und Christ, denen Lessing in Leipzig philologische Schulung und kritischen Rechtssinn verdankte, oder Abraham Werner in Freiberg, zu dessen Füßen die romantischen Naturphilosophen saßen, oder Fichte in Jena, dessen ethisches Feuer den „Bund freier Männer“ entzündete, oder Schelling, von dem Platen in Erlangen aufs tiefste ergriffen wurde, oder Platner, den Jean Paul in Leipzig hörte, und Wünsch, von dem Kleist in Frankfurt a. O. beeindruckt war, so kommt es ebenfalls darauf an, die unmittelbare Wirkung der Vorlesungen aus später erschienenen Schriften zu rekonstruieren und so den Punkt zu finden, an dem der Einfluß einsetzte. Andere Philosophen, z. B. Kant und Hegel, haben mehr durch ihre Werke, in denen die Größe ihres Systems entfaltet war, gewirkt als durch den persönlichen Eindruck zündenden Vortrags. Die Einwirkungen starker religiöser Persönlichkeiten, wie Johann Michael Sailer oder Klemens Maria Hofbauer, die den Romantikern in Süddeutschland Wege wiesen, müssen als Mittler nicht nur nach ihrem Charakter und ihrem System, sondern nach der ganzen geistigen Zeitlage der Kirche beurteilt werden. |#f0355 : 331|

d) Einfluß und Nachahmung Persönliche Einwirkung, auch wenn sie durch Gelegenheit und Empfänglichkeit bedingt ist, geht gleichwohl immer von dem ganzen Menschen aus, der hinter jedem seiner Aussprüche steckt. Ebenso ist der literarische Einfluß selten auf ein einziges dichterisches Werk und niemals auf einzelne Wendungen, die sich darin finden, zurückzuführen, wenn auch durch Anklänge an bestimmte Stellen die Abhängigkeit verraten wird. Voraussetzung jeder Beeinflussung ist Liebe, die bei keinem zufälligen Begegnen erwacht, ohne daß Bereitschaft und Sehnsuchtsdrang vorausgingen. Liebende aber nehmen voneinander vieles an, auch in Rede und Schrift, und man kann beobachten, daß sie einander ähnlicher werden. Das Verhältnis kann das einer unterwürfigen Hörigkeit sein, aber die sklavische Nachahmung, die deren Ausdruck ist, muß überwunden werden, wenn der Anspruch auf selbständige Existenz erhalten bleiben will. Es kann sich auch um selbstbewußtes Ringen mit dem andern und um eifernde Inbesitznahme handeln, wie es bei Übersetzungen fremdsprachiger Werke, die zu eigener Sprachbereicherung und Aneignung von Form und Stil unternommen werden, sich abspielt (Schiller und Euripides, George und die französischen Symbolisten). Es kann unbewußte Nachahmung ihren Gang fortsetzen, obwohl der Träger alle Zeichen der Abhängigkeit ableugnet und nach Anpassung ein durchaus Eigener zu sein glaubt. Es können Häuser gegründet werden von familienmäßiger Gemeinschaft, die mit neuen Zielen Schule bilden und in gegenseitiger Beeinflussung einer kommenden Generation ihre Signale geben will. Jüngere können die Älteren aufrütteln und mitreißen, wie es bei Goethe und den Romantikern oder bei Fontane und den Naturalisten geschah. Aber die Jüngeren können sich auch gegen die Älteren auflehnen und die Meister verwerfen, zu denen sie eben noch geschworen hatten. So blickt Schiller schon in Stuttgart geringschätzig auf die Zeit zurück, da er noch ein Sklave Klopstocks war; so erkennt Goethe nach dem Urgötz das Urteil Herders an, daß Shakespeare ihn ganz verdorben habe; Herder wird der Kritiker Kants, der sein Lehrer war; Hölderlin löst sich von Schiller, dem er sich vorher verschrieben hatte; Kleist, der seine Penthesilea auf den Knien des Herzens Goethe zu Füßen legte, zerstört, als er sich zurückgestoßen fühlt, das Bild der Verehrung durch gehässige Epigramme; der „Heinrich v. Ofterdingen“ Hardenbergs wird aus einer Nachahmung des „Wilhelm Meister“ zum Protest gegen dessen Tendenzen; Gottfried Keller streicht aus seinem „Grünen Heinrich“ die Huldigung an Jean Paul, die für die erste Fassung charakteristisch |#f0356 : 332|

war. Alle diese Untreue folgt aus der Erkenntnis, daß der Erwählte doch nicht die endgültige Erfüllung aller Wünsche und Erwartungen darstellt; die Abkehr ist ein Gericht über die eigene Vergangenheit und bedeutet nach dem von Goethe gern gebrauchten Bilde das Abwerfen einer Schlangenhaut. Aber es gibt auch ein Glück der Beständigkeit und der unwandelbaren Treue, zu der sich beispielsweise Ludwig Tieck, der im Leben gerade kein Mustergatte war, gegenüber Shakespeare bekannte. Seit er in Shakespeares Geist das Zentrum seiner Liebe und Erkenntnis gefunden habe, so erklärt er in seinen „Briefen über Shakespeare“, beziehe er alles unwillkürlich und unbewußt auf ihn: „Alles, was ich erfahre und lerne, hat Zusammenhang mit ihm, meine Ideen, sowie die Natur, alles erklärt ihn, und er erklärt die anderen Wesen, und so studiere ich ihn unaufhörlich.“ Ähnlich hat der alte Goethe in den Versen „Zwischen beiden Welten“ sein Bekenntnis zu dem „Stern der höchsten Höhe“ erneuert. „Einen Einzigen verehren“ diese Huldigung hätte allerdings ebensogut der heilige Homer verdient, dem die „Andacht liturgischer Lektion“ im Sturm und Drang, die „Nausikaa“ des Sizilienfahrers, die Anpassung des Homeriden in der klassizistischen „Achilleis“ und die klassisch-romantische Phantasmagorie des Helena-Dichters im Alter Tribut zollt. In diesen Höhepunkten des Homerkultes erscheint eine Periodizität, ähnlich wie in Goethes Liebesleben, und es fehlt auch dazwischen nicht die Flucht in andere Gefilde, in die der römischen triumviri amoris und in die des Hafis, deren Kostüm der Dichter der „Elegien“ und des „Diwan“ anlegte. Wenn oben von einer gewissen Wahlverwandtschaft als Voraussetzung für das Zustandekommen tiefer Beeinflussung die Rede war (S. 175), so kann sich dieses Verhältnis ändern, sobald die Einstellung des Empfängers in ihrer Wellenlänge wechselt. Bei zeitlicher und räumlicher Ferne scheint eine Gegenseitigkeit der Einwirkung ausgeschlossen, doch ist auch da das Verhältnis kein ganz einseitiges. Der Dichter, der nicht nur für seine Zeit schreibt, sucht Verstehende, Ergriffene und Nachfolger in weiter Zukunft und rechnet mit einer Tragweite von Jahrhunderten. Als der alte Bodmer in Zürich durch den jungen Goethe besucht wurde, begrüßte er ihn ähnlich dem biblischen Simeon mit den Worten, er habe 77 Jahre auf ihn gewartet. Selbst Friedrich der Große verglich sich dem biblischen Moses, der das gelobte Land aus der Ferne schaute. Klopstock hat nicht nur die Gefolgschaft des Göttinger Hains erwartet, sondern einem Schiller und Hölderlin, denen er Bahn brach, entgegengesehen, auch wenn er sie nicht mehr erkannte. Goethe glaubte in Lord Byron den wesensverwandten Nachfahren zu |#f0357 : 333|

finden. Wieland sah in Heinrich v. Kleist den Vollbringer dessen, was Goethe und Schiller noch unvollendet gelassen hatten. Kleist beugte sich im Geiste vor einem, der nach tausend Jahren kommen sollte, um die Entdeckung, die ihm im Reiche der Kunst geglückt war, zu verwirklichen. Er selbst fühlte sich einem Tasso verwandt, der über Jahrhunderte hin aus der Barockzeit ihn als Bruder seines Geistes begrüßte. So stellt sich für den Vorausschauenden wie für den Rückblickenden eine Kette großer Wirkungszusammenhänge dar, in der nicht nur die Vergangenen weiterleben, sondern die Kommenden geahnt sind. Anklänge und Übereinstimmungen in Motiven und Bildern, in Technik und Stilmitteln, ja gelegentlich in wörtlichen Wendungen sind nicht einfach als mechanische Übernahme und Entlehnung zu erklären; die Richtung zu gleichartiger Ausdrucksweise ist in gleichartiger Seelenlage begründet, und die in sprachlichen Formen erscheinenden Zeichen der Beeinflussung sind nur die äußeren Symptome einer inneren Aufwühlung, die von Ideen, Problemen und Weltanschauung der verwandten Seele ausgegangen ist. Das Wort wird im „Westöstlichen Divan“ die Braut genannt, Bräutigam der Geist. So kommt eine liebende Vermählung zustande, bei der nach Grillparzer „ein Innres schmelzen muß, um eins zu sein mit einem andern Innern.“ Jene Symptome aufzugreifen, ist Sache der Stilforschung. Die tieferen Vorgänge zu erfassen, fällt der Geistesgeschichte und Psychologie zu, denen in den folgenden Hauptteilen unter den Begriffen des Erlebnisses und des Schaffensvorganges Beachtung zu schenken ist. Hier muß zur Methode der Einflußbestimmung nur noch einmal das früher (S. 175) über die sogenannten „Parallelen“ Gesagte wiederholt werden, nämlich daß äußere Anklänge an sich noch gar keine Beeinflussung beweisen; es können selbst kleine wörtliche Übereinstimmungen ohne unmittelbare Berührung aus Zeitstil oder gemeinsamen Vorbildern zustande gekommen sein, und dann ist oft noch die Frage der Priorität ungeklärt. Gesichert ist der Einfluß erst nach chronologischer Feststellung, daß das eine Werk unter der unmittelbaren Einwirkung, die das andere auf seinen Dichter ausübte, entstanden sein kann. Dazu gehört Nachweis der Priorität und der Verbreitung. Wird durch das eigene Zeugnis des Dichters die starke Beeindruckung, die zum Erlebnis wurde, bestätigt, so ist die zweite Voraussetzung erfüllt, und der Nachweis ist schlagend. Wenn Schiller über seinen im Entstehen begriffenen „Don Carlos“ schreibt, daß er Blut und Nerven von Leisewitz' „Julius von Tarent“ haben solle, so ist an der Tatsache des Einflusses nicht zu zweifeln. Man wird aber feststellen müssen, daß die spätere „Braut |#f0358 : 334|

von Messina“ in den Motiven und Charakteren viel mehr Ähnlichkeiten mit dem „Julius von Tarent“ aufweist, als im „Don Carlos“ zu erkennen sind. Motive des Leisewitzschen Bruderzwistdramas, wie die Entführung der Geliebten aus dem Kloster, gehörten bereits der ursprünglichen Ausführung der „Räuber“ an, aus denen diese Szene wegen ihrer Maßlosigkeit entfernt wurde. Das Erstlingsdrama zeigt auch in der Sprache engere Übereinstimmungen mit dem Vorbild von Leisewitz. Man kann aus diesem Beispiel erkennen, daß die Motive einer Dichtung sich dem Gedächtnis tiefer einprägen und eine längere Nachwirkung haben können, so daß sich der Zusammenhang verliert und sie aus dem Unterbewußtsein als scheinbare Eigenerfindung wieder aufsteigen. Von einem Plagiat darf deshalb keine Rede sein; nur die Reproduktion „ m i t begleitendem Erinnerungsurteil“ (Lucka), die sich bewußt der fremden Motive oder sogar des fremden Wortlautes bedient, ist als Entlehnung anzusehen. Die sprachliche Abhängigkeit ist dabei bewußter als die der Motive; sie tritt am intensivsten zu Anfang in Erscheinung als Überwältigung durch den ersten Eindruck. Wie nach orientalischem Mythus die Liebe den Reim erfand, so lernt ein Dichter durch den andern in einer neuen Sprache reden. Die Abhängigkeit verliert sich, nachdem die Wasser der zusammenfließenden Ströme ihre Farben vermischt haben und das Übernommene mit dem eigenen Stil amalgamiert ist. e) Belesenheit Wenn die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Beeinflussung chronologisch gestützt werden muß, so kommen der Untersuchung außer Tagebüchern, Briefen und Gesprächen des Dichters in neuerer Zeit die Ausleihbücher der benutzten Bibliotheken zu Hilfe. Wir sind über alle Werke, die Goethe und Schiller aus der Weimarer und Jenaer Bibliothek, Heinrich v. Kleist aus Dresden oder Wilhelm Raabe aus den Bücherschätzen von Wolfenbüttel entlehnt haben, unterrichtet; daraus kann auf die für eine bestimmte Arbeit benutzten Quellen und auf den Zeitansatz dieser Arbeit geschlossen werden. Nicht immer ist aber damit die erste Kenntnis eines Buches festgelegt. Wenn z. B. Goethe erst im Jahr 1801 das Pfitzersche Faustbuch aus der Weimarer Bibliothek entlieh, so ist zwar erwiesen, daß er es bei Wiederaufnahme der Dichtung im Jahre 1797 noch nicht zur Hand hatte, aber es steht keineswegs fest, daß er es nicht bereits in vorweimarischer Zeit für den „Urfaust“ als Quelle benutzte. Wenn dagegen Heinrich v. Kleist in Dresden die jüdische Geschichte des Josephus entlieh, so geht daraus |#f0359 : 335|

hervor, daß die „Zerstörung Jerusalems“, von der wir als letztem dramatischen Plan hören, ihn länger beschäftigt hat, als man bisher annahm. Bücherentleihungen sind kein Beweis für großen und anhaltenden Einfluß. Vielmehr haben wir Werke, die dauernde Wirkung ausübten, eher im eigenen Besitz des Dichters zu vermuten. Auch hier fehlt es nicht an Orientierung. Wir kennen die beachtenswerten Bücherbestände des Hans Sachs, über die er selbst Buch führte; sie umfassen die meisten deutschen Übersetzungen antiker Schriftsteller, die damals vorhanden waren; Dares Phrygius, Herodot, Justinus, Suetonius und Valerius Maximus sind auf dieser Grundlage in 612aktigen Tragödien versifiziert und dialogisiert worden. Außerdem hat der Nürnberger Schuhmacher lateinische Texte, die in keiner deutschen Übersetzung vorlagen, wie Reuchlins „Henno“, bearbeitet und, da seine eigenen Sprachkenntnisse dazu nicht ausreichten, muß man annehmen, daß ihm gelehrte Hilfeleistung zur Verfügung stand. Ähnlich haben wir uns wohl das Verhältnis Wolframs v. Eschenbach zu seinen französischen Quellen zu denken. Je näher wir der Neuzeit kommen, desto reicher ist der Einblick in das Handwerkszeug der Dichterwerkstatt. In Darmstadt ließ Moscherosch, der auf der Reise starb, seine Bücherei und den von ihm selbst angefertigten Katalog zurück. In Frankfurt a. M. ist der Bestand der Bibliothek von Goethes Vater bekannt, aus der der Knabe Wolfgang seine erste Bildung zog, und in Weimar steht sein eigener Besitz noch an Ort und Stelle; Goethes Bücher können samt ihren Benutzungsspuren im Weimarer Goethehaus eingesehen werden, solange die höchst erwünschte Veröffentlichung des Katalogs noch aussteht. Auch Schillers Bibliothek, obwohl aufgelöst, ist nach ihren Titeln bekannt. Der Buchbesitz der Romantiker Aug. Wilh. Schlegel, Ludwig Tieck, Schleiermacher und Brentano wurde für die Versteigerungen, die schon bei Lebzeiten oder nach dem Tode stattfanden, verzeichnet. Diese Spuren literarischer Umwelt sind nicht nur für einzelne Feststellungen brauchbar, sondern als Ganzes ist jede Bibliothek in ihrer Zusammensetzung eine charakteristische Abspiegelung der literarischen Physiognomie ihres Besitzers. Wenn in älteren Zeiten die Bücherverzeichnisse von Klöstern, Schulen und Sammlern nicht selten sind, so fehlen die Angaben der Benutzer. Bei einem Dichter wie Shakespeare ist man daher zur indirekten Ermittlung seiner Belesenheit aus allen Zitaten und Anspielungen, die in seinen Werken zu finden sind, übergegangen. Indessen braucht nicht immer das, was ein Schriftsteller zitiert, ihm bekannt |#f0360 : 336|

gewesen zu sein. Bei Grimmelshausens Schriften, namentlich dem Satyrischen Pilgram, dem Simplizissimus und dem Ewigwährenden Kalender, staunt man über die ausgebreitete Gelehrsamkeit und den Reichtum an Lesefrüchten, Zitaten und Anspielungen, deren Häufung ein Stilmittel des Humoristen ist. Das Rätsel klärt sich auf, indem genau dieselben Zusammenstellungen in Kompendien, wie dem „Allgemeinen Schauplatz“ (Piazza Universale) des Thomas Garzoni zu finden sind. Obwohl sich die Benutzung dieses Buches durch Grimmelshausens ganze Schriftstellerei hinzieht, ist doch nicht anzunehmen, daß er es selbst besaß. Die Zitate sind aufgeteilt auf verschiedene Werke, ohne daß jemals dieselbe Stelle wiederholt würde; es ist deshalb zu vermuten, daß der Offenburger Regimentsschreiber in den Anfängen seiner Selbstbildung das Wissensmagazin, dessen erste deutsche Übersetzung 1619 erschienen war, exzerpierte und daß er aus dem Zettelkasten seine spätere Schriftstellerei speiste. Die unpersönlichen Zusammenstellungen des Italieners haben ihm den Eintritt in die literarische Welt eröffnet, und sind für ihn offenbar zu einem entscheidenden Bildungserlebnis geworden. |#f0361 : E337|

ZW EITER HAUPTTEIL SEELENLEBEN Er ist in die bewegte Welt Als fester Mittelpunkt gestellt, Der unberührt von Ebb' und Flut, In sich gesättigt, schweigend ruht, Weil er in sich jedweden Kreis Begonnen und beschlossen weiß, Und weil in ihm der Urgeist still Die Perl' sein Abbild zeugen will. He b b e l. 1. E i n d r u c k s f ä h i g k e i t Schillers Anerkennung des Dichters als des einzigen wahren Menschen erklärte sich Hebbel in seinen Tagebüchern aus dem Gleichgewicht von Rezeptivität und Produktivität, aus der Harmonie von Empfangen und Geben, aus der gegenseitigen Steigerung dieses Wechselverhältnisses zu einem erhöhten Menschentum. Außergewöhnliche Eindrucksfähigkeit und außerordentlich starke Ausdrucksfähigkeit bilden in der Tat schon in der Anlage die beiden Hauptvoraussetzungen künstlerischen Schaffens. Die Reizsamkeit und Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke, der Lebenshunger, der nach Welterfahrung, geistiger Bewegung und Erneuerung, nach Menschen- und Gotterkenntnis drängt, und die Gabe, sich von der Wirklichkeit abzuschließen und im Werk sich eine eigene Welt aufzubauen, ist allem Künstlertum gemeinsam. In der Ausdrucksfähigkeit trennen sich die verschiedenen Künste und Begabungen nach Richtung und Mitteln der Gestaltung; aber es bleiben Möglichkeiten der Wechselwirkung und wetteifernder Versuche, es einander gleich zu tun. Die Malerei kann musikalische, die Musik malerische Wirkungen erstreben; die Dichtung kann beides und noch mehr, denn ihr unermeßlich Reich ist der Gedanke; die Phantasie kann alle Sinne wecken, ohne an die Schranken der Sinnenwelt gebunden zu sein. So erscheint die Natur dem Dichter, wie es in „Künstlers Abendlied“ heißt, als lust'ger Springbrunn, der aus tausend Röhren spielt: |#f0362 : 338|

Wirst alle meine Kräfte mir In meinem Sinn erheitern, Und dieses enge Dasein hier Zur Ewigkeit erweitern. a) Sinneseindrücke Die Bereitschaft, in hingebender Sinnenfreude die ganze Welt in sich aufzunehmen, ist allen Künstlern gegeben, ohne daß alle ihre Sinne mit gleicher Empfänglichkeit beteiligt wären. Nicht nur unter den Malern, von denen Dürer das Sehen als den alleredelsten Sinn des Menschen bezeichnete, sondern auch unter den Dichtern kennen wir ausgesprochene Augenmenschen, deren Selbstbekenntnis dem sinnesfreudigsten Organ, das der Sprachbildung am nächsten steht, den Vorrang zuerkannte. So Goethe in seinem Abschiedslied von der Welt, das er Lynkeus, dem Türmer, in den Mund legte. Vorher schon in den Versen „Aug und Ohr“: Was dem Auge dar sich stellet, Sicher glauben wir's zu schauen; Was dem Ohre sich gesellet, Gibt uns nicht ein gleich' Vertrauen. Oder Gottfried Keller, der die Augen als seine „lieben Fensterlein“ begrüßte: Trinkt ihr Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Überfluß der Welt. Auch Christian Morgenstern, aus dessen grotesken Klangassoziationen man eher das Gegenteil schließen möchte, nannte das Auge sein Hauptorgan: „Alles geht bei mir durch das Auge ein.“ Von dem französischen Sensualisten Marcel Proust wird erzählt, daß der Rosenstrauch eines Schloßgartens ihn derart fesselte, daß der weiter gegangene Begleiter bei seiner Rückkehr ihn noch immer an derselben Stelle stehen sah, die Blicke in Verzückung auf die Rosen geheftet, mit geneigtem Haupt, ernstem Ausdruck, hochgezogenen Brauen, in Haltung angestrengtester Aufmerksamkeit. Von demselben Dichter hören wir, daß er stundenlang in irgendeinen Farbeneffekt versunken sein konnte, mit dem die Sonnenstrahlen, die ins Zimmer fielen, Krug, Tasse oder Glas bemalten. Welche Gedankenwelt durch Lichtwirkung dieser Art erregt werden kann, ist an dem berühmten Beispiel des Jakob Böhme zu sehen, dem die Spiegelung der Sonne in zinnerner Schüssel sein ganzes Weltsystem offenbarte. Gleichwohl hat |#f0363 : 339|

der Philosophus Teutonicus auch in der Sprache den Laut der Natur zu erlauschen geglaubt, und die Musik betrachtete er als den Nachklang des Paradieses. Im 17. Jahrhundert haben Dichtergruppen wie die Nürnberger Pegnitzschäfer mit sprachlicher Musik in Klangmalerei und Lautsymbolik die Stimme der Natur äußerlich nachzuahmen gestrebt, und während Martin Opitz in seinem Gedicht an den Maler Strobel die Malerei als Schwester der Dichtung pries, wurde in der „Musikalischen Kürbishütte“ in Königsberg die Dichtung als Gesang gepflegt. Es gibt Menschen, die die Welt überwiegend mit dem Ohr in sich aufnehmen. Wenn Klopstock in der Ode „Das Gehör“ ein Loblied anstimmt auf alle klanglichen Genüsse, die dem Schwerhörigen und Tauben verschlossen sind, so waren es nicht nur Trostgründe für einen Erblindeten, an den diese Verse gerichtet sind, sondern es entsprach der überzeugtesten Erfahrung und Veranlagung des Dichters, der in einer anderen Ode (Der Bund, 1800) die schöpferische Eintracht der Musik und Dichtkunst preist, hinter deren kosmischer Weite Malerei und Plastik zurückbleiben: Wenn so hoch das Gedicht sich erhebet, daß der Gesang ihm Kaum zu folgen vermag, alsdann entzündet ein heißer Streit sich; es wird Vollendung errungen, Die nur selten den Friedlichen glückte. Auch Kierkegaard hat das Ohr als das Werkzeug bezeichnet, mit dem die Innerlichkeit erfaßt werde. In der englischen Literatur darf Robert Burns, dessen Konzeption eine musikalische war und der immer zuerst den Rhythmus im Ohr hatte, als ein auditiv veranlagter Dichter gelten; in der deutschen Romantik spricht sich diese Richtung in verschiedener Weise bei Wilhelm Wackenroder und Josef v. Eichendorff aus. Ludwig Tieck hat für die Romantik das Motto „Süße Liebe denkt in Tönen“ geprägt, und Brentano hat mit Görres im „Uhrmacher Bogs“ den Eindruck eines Konzertes in Wortklängen wiederzugeben gesucht. Bei diesen Synästhetikern, zu denen auch Wilhelm Heinse und Jean Paul gehören, werden die optischen Eindrücke nicht verschmäht, und es treten ganze Licht- und Farbensymphonien in den Dienst musikalischer Wirkung. Nicht selten ist, wie Goethe, Keller, Stifter, Blake, Rossetti und viele andere zeigen, die visuelle Eindrucksempfänglichkeit und Vorstellungskraft mit einer dichterisch-malerischen Doppelbegabung verbunden, während auf der anderen Seite die Paarung musikalischer und dichterischer Begabung bei überwiegend auditiv veranlagten Menschen zu finden ist. Niemals ist indessen bei diesen die visuelle Eindrucksfähigkeit |#f0364 : 340|

ganz ausgeschaltet. Otto Ludwig, der zwischen Musik und Dichtung schwankte, sah die Gestalten seiner Phantasie aus einem Farbenspektrum hervortreten, und der Dichterkomponist E. T. A. Hoffmann, der sich auch als karikaturistischer Zeichner betätigte, besaß schärfste Beobachtungsgabe für die optischen Wirklichkeitseindrücke. Der Plastiker und Erzgießer Kurt Kluge wiederum behandelte in seiner Dichtung vorzugsweise musikalische Motive. Umgekehrt haben visuelle Dichter musikalische Stimmungen als Ursprung ihrer Konzeption erlebt oder sich bei der Arbeit durch Begleitmusik fördern lassen; so wurde Gottfried Keller sowohl zum Schlußmotiv seiner „Regine“ als zu dem des „Tanzlegendchens“ während eines Konzertes inspiriert, und Goethe ließ bei der Arbeit an „Iphigenie“ sich durch ein Quartett aus dem Nebenzimmer in Stimmung versetzen; ebenso wurde Schillers tragisches Schaffen durch einen auf dem Klavier gespielten Marsch beflügelt, und Alfieri erzählt in seiner Selbstbiographie, die meisten seiner Tragödien seien ihm während oder nach dem Anhören von Musik aufgegangen. Wenn Goethe über Klopstok das harte Urteil ausgesprochen haben soll, ihm habe die Anlage zur Anschauung und Auffassung der sinnlichen Welt gemangelt, und so habe ihm das Wesentlichste zu einer epischen und dramatischen Dichtung, ja man könne sagen, zu einem Dichter überhaupt gefehlt, so beruht die ungerechte Formulierung wahrscheinlich auf einem Mißverständnis Eckermanns, und was Goethe meinte, war nur der Mangel an jener visuellen Gestaltungskraft, die besonders dem Epiker zukommt. Darunter leidet der „Messias“; trotzdem steht Klopstocks tiefes Naturempfinden außer Frage. Wenn er in Oden wie „Zürichersee“ und „Frühlingsfeier“ sich ins Übersinnliche aufschwingt, so sind es vorwiegend Gehörseindrücke, die hinüberleiten: im Gewitter ertönt die gewaltige Stimme des Herrn, und der Regen läßt Jehova im stillen, sanften Säuseln erscheinen. Der Regenbogen dagegen, der als Sinnbild des himmlischen Friedens das Ganze krönt, ist in seinem Farbeneindruck nicht geschaut. Schiller bezeichnet Klopstock als einen musikalischen Dichter, weil seine Sphäre immer das Ideenreich sei und er alles ins Unendliche hinüberführe.

Das andere Beispiel eines musikalischen Dichters, der trotzdem immer in der Welt der Wirklichkeit blieb, bietet Heinrich v. Kleist, der sich erinnerte, als sechzehnjähriger Knabe am Rhein im Abendwind, als die Wellen der Luft und des Wassers ihn zugleich umtönten, ein schmelzendes Adagio gehört zu haben mit allem Zauber der Musik, mit allen melodischen Wendungen und der ganzen begleitenden Harmonie. |#f0365 : 341|

Er sprach sogar von der Fähigkeit, sich ein solches Konzert jederzeit wiederholen zu können, ohne Kapelle, so oft er es wolle; aber sobald ein Gedanke daran sich rege, sei alles hinweggezaubert. Daneben hat Kleist in seinem sogenannten „Ideenmagazin“ optische Eindrücke gesammelt, die vielfach als Bilder in seinen Dichtungen wiederkehren. Charakteristischerweise aber werden, anders als bei Klopstock, die Gesichtseindrücke symbolisch ausgelegt und zu Betrachtungen der Reflexion weitergeführt. „Sehen und hören“, so schrieb Kleist, „können alle Menschen, aber wahrnehmen, das heißt mit der Seele den Eindruck der Sinne auffassen und denken, das können bei weitem nicht alle. Sie haben nichts als das tote Auge, und das nimmt das Bild der Natur so wenig wahr, wie die Spiegelfläche des Meeres das Bild des Himmels. Die Seele muß tätig sein, sonst sind doch alle Erscheinungen der Natur verloren, wenn sie auch auf alle Sinne wirkten.“ Neben den visuellen und auditiven Anlagetypus ist der des Motorikers gestellt worden, der in kinästhetischen Empfindungen und Vorstellungsbildern jeden Bewegungseindruck körperlich miterlebt, mimisch ausdrückt oder haptisch ergreift. Wird die Gestaltung der Bewegung willensmäßig beseelt, so wandelt sich der Motoriker in den Dynamiker. Die Gleichsetzung dieses dritten Typus mit dem visuellen und auditiven erregte allerdings den Widerspruch des Charakterkundlers Ludwig Klages, der den Motoriker wohl anerkennt, aber nur als Glied einer anderen Zweiteilung, in der er sich abgrenzt vom Sensoriker. Klages beruft sich dafür auf den ungarischen Naturphilosophen Palagyi, für den der Tastsinn, der immer eine eingebildete Bewegung einschließt, die ursprünglichste aller Sinnesfunktionen und die Wurzel unseres ganzen Empfindungslebens bedeutete. Ähnlich hat der Franzose Ribot in den „images motrices“ die Elemente des unbewußten Lebens erkennen wollen. Er nannte alle visuellen Vorstellungen bewegt, alles innere Gehör kinästhetisch und sprach auch von motorischen Halluzinationen. Wenn der Tastsinn allen übrigen Sinnen bei Aufnahme der Außenwelt zu Hilfe kommen muß, tritt auch unter den Sensorikern eine Teilung zwischen den visuell-motorischen und den akustisch-motorischen ein; zum mindesten besteht, wie G. E. Müller gezeigt hat, zwischen dem Akustischen und Motorischen eine engere Verbindung. Für Klages sollte der Unterschied zwischen Sensorikern und Motorikern aber darin bestehen, daß bei den einen der Sinneseindruck vor der Bewegung, bei den anderen der Bewegungspol vor dem Eindruckspol das Übergewicht hat. |#f0366 : 342|

Die herkömmliche Einteilung der Künste steht in Parallele mit diesen Vorstellungs- und Gedächtnistypen, insofern die Musik dem auditiven, die Malerei dem visuellen, die Plastik und Architektur dem Körpergefühl wie dem Raum- und Tastsinn freiesten Spielraum läßt. In der Dichtung kommt beim Lyriker die musikalisch-auditive, beim Epiker die malerisch-visuelle Anlage zu bevorzugter Geltung, während motorische Dynamik sich auslebt im Drama. Wir finden beim jungen Schiller das körperliche Mitgehen mit erlebten Vorgängen, wenn er auf der Militär-Akademie sich krank meldet, um unter Schnauben, Toben und konvulsivischen Zuckungen an seinem Drama weiter zu arbeiten, oder wenn er einen Patienten, den er zu beobachten hat, durch bedrohliche Bewegungen erschreckt, weil er innerlich mit einer sich losringenden Räuber-Szene beschäftigt ist. Zur Zeit der Entstehung von „Kabale und Liebe“ beobachtete der Musiker Andreas Streicher, wie Schiller während seines Klavierspiels stundenlang im mondbeleuchteten Zimmer auf- und abging und nicht selten in unvernehmliche Laute ausbrach. Von seinem Verleger Schwan wurde er während der Umarbeitung des „Fiesko“ überrascht, wie er hemdsärmelig in dem vom Tageslicht abgeschlossenen Zimmer bei Kerzenschein herumtobte und barbarisch krakeelte. Er habe gerade den Mohren am Kragen gehabt, war seine Erklärung. Ähnliches wird von dem auditiven Motoriker Kleist berichtet, bei dem Wieland die an Verrücktheit grenzende Eigenheit beobachtete, „bei Tisch häufig etwas zwischen den Zähnen mit sich selbst zu murmeln, wobei er das Air eines Menschen hatte, der sich allein glaubt, oder mit seinen Gedanken an einem anderen Orte und mit einem ganz anderen Gegenstande beschäftigt ist“. Er gestand, daß er an seinem Drama (Robert Guiscard) arbeite. Nach Ernst v. Pfuels Erzählung kam er einmal in Dresden totenbleich und aufgelöst in dessen Zimmer und stammelte auf die Frage, was ihm fehle: „Nun ist sie tot, nun ist sie tot!“ Er hatte Penthesileas Liebestod erlebt, gespielt und gestaltet. In einem Briefe sagte er, er habe sie von der Brust heruntergehustet, was sowohl die Befreiung von drückender Qual als die krampfhafte Schaffensweise kennzeichnet. Auch von einem lebenden Dramatiker wie Wolfgang Eberhard Möller wird berichtet, daß er beim Diktat einer Szene jede einzelne Rolle mimisch zu verkörpern pflegt. Und Walter v. Molo, der mit Rücksicht auf die Technik seiner historischen Romane ein „dramatischer Epiker“ genannt wurde, erweist sich als Motoriker durch den inneren Zwang, jede Haltung und Bewegung seiner Gestalten, während er sie darstellt, körperlich mitzuerleben und sich in sie zu verwandeln. Wenn alle |#f0367 : 343|

diese Beispiele zu den Vorgängen des Schaffens gehören, so führen sie gleichwohl auf eine sinnliche Empfänglichkeit für Bewegungseindrücke zurück. Innere Bewegtheit und äußerer Bewegungsausdruck stehen in Wechselwirkung bei allen Erscheinungen des Rhythmus. Er bringt in jeder Kunst das Körpergefühl zur Geltung und verbindet aufs engste Musik und Wortkunst. Dem musikalischen Vortrag entstammen die Theorien von Rutz und Becking, die eine typische, auf Atem- und Stimmgebung wirkende Körperhaltung sowie eine besondere Taktgebung als charakteristisch für die Wesensart des Schöpfers und maßgebend für die Wiedergabe des reproduzierenden Künstlers sein lassen. Waren die danach abgeleiteten drei oder vier Typen der Körperhaltung und der Taktkurve als rassisch oder national bedingt aufzufassen, so hat Eduard Sievers in seinen schallanalytischen Theorien vielmehr feststellen wollen, daß das persönliche Klangwesen nicht einheitlich zu sein brauche, sondern daß der einzelne Mensch namentlich der sich einfühlende reproduzierende Künstler über mehrere Typen der Vortragsart gebiete. Trotzdem kann wohl nur eine die ihm angeborene und seinem innersten Wesen entsprechende sein. Die psychologische Wissenschaft und Charakterologie sind bisher noch zu keiner Einfügung dieser Klang- und Bewegungstypen in ihr System gelangt, und auch die Rassenpsychologie, die sich in den Untersuchungen von Clauß den mimischen Ausdrucksformen zugewandt hat, ließ dieses verwandte Gebiet vorerst beiseite. b) Experimentalpsychologische Typenlehren Beim Überblick über die Methoden psychologischer Forschung, die auf das Gebiet der Literatur übergreifen, sei die naturwissenschaftlich begründete Erfahrungspsychologie vorweggenommen, deren experimentelle Beobachtung die äußerlich wahrnehmbaren Symptome des Seelenlebens erfaßt. Die geisteswissenschaftliche Strukturpsychologie, die auf das Innere gerichtet ist, kann erst an späterer Stelle, in dem Abschnitt „Erlebnis“ (S. 353), Beachtung finden. Das Verhältnis der wissenschaftlichen Psychologie zur Literaturwissenschaft ist von ähnlicher Zweiseitigkeit wie die oben (S. 286) charakterisierte Stellung der Anthropologie, Rassen- und Stammeskunde. Es kommt darauf an, ob die Psychologie zwecksetzend oder zweckerfüllend mit der Literaturwissenschaft in Verbindung tritt, ob sie Hilfe sucht oder Hilfe bietet. Zwecksetzend kann sich die Psychologie literarischen Materials bedienen, um aus der Dichtung allgemeingültige |#f0368 : 344|

Aufschlüsse über das Seelenleben des Menschen zu gewinnen; in zweckerfüllender Weise ist die psychologische Typisierung zum Verständnis dichterischer Individualitäten heranzuziehen. Man kann sagen, daß beim Verhältnis der Experimentalpsychologie zur Dichtung die erste Zielsetzung durchaus überwiegt. Nun hat es aber mit dem Seelenleben des Künstlers überhaupt und besonders mit dem des Dichters seine besondere Bewandtnis. Wenn der Dichter nach Schiller der einzige Mensch ist, so ist er eben einzigartig unter den anderen Menschen und kann nicht mit jedem Zug unter allgemeingültige psychologische Normen fallen. Andererseits ist der Dichter eben doch nur ein Mensch, der dieselben Empfindungen und Triebe wie die anderen Sterblichen kennt, allerdings in gesteigertem Maße. Wiederum ist er in dieser Steigerung der Repräsentant, ja der Führer, der einer gleichgearteten Menschengruppe seines Volkes und seiner Zeit vorlebt, so daß er durch sein Gestalten auf die Gestaltung ihres Lebens Einfluß gewinnt. Es drängen sich also folgende Fragen auf: 1. Sind aus den psychologischen Qualitäten, die am Dichter und seinem Werk beobachtet werden können, allgemeine Schlüsse auf das Seelenleben einer Rasse, eines Volkes, eines Stammes oder eines Zeitalters zu ziehen, was eine eigene Typologie ergäbe, oder wird durch ihre jedesmalige Zusammenstellung nur der einzelne Dichter oder gar nur ein einzelnes Werk charakterisiert? 2. Sind wenigstens in diesem Punkt die Grundbegriffe psychologischer Typenbildung, die für den Menschen schlechthin gelten, auf die Analyse einer dichterischen Persönlichkeit anzuwenden, wie man es in sogenannten Psychogrammen für Hoffmann, Hebbel und andere getan hat? 3. Gibt es eine eigene Dichterpsychologie, die von der besonderen Veranlagung des Dichters ausgehend für die Eigenheit seines Seelenlebens Gesetze findet? Wenn es sich nur um die Bestimmung der Eindrucksfähigkeit für Sinnesreize handelt, so ist eine überwiegend visuelle oder überwiegend auditive oder eine motorisch-dynamische Anlage bei jedem einzelnen Menschen, nicht nur beim Dichter, experimentell zu ermitteln. Darf man aber aus der Frequenz von Gesichts- oder Gehörseindrücken, die in der Sprache des Dichters festzustellen sind, prozentual ausgedrückte Rückschlüsse auf seine Veranlagung ziehen, und hat diese Anlagerichtung aufschlußreiche Bedeutung für die dichterische Wesensart? Oder charakterisiert sie die eines Volkes? Durch Karl Groos und seine Schule wurden seinerzeit statistische Ergebnisse errechnet, wonach die Sprache Schillers doppelt soviel akustische Ausdrucksmomente enthalte als die Goethes und sogar das |#f0369 : 345|

Siebenfache gegenüber Shakespeares Sonetten. Wenn bei Goethe die visuellen Ausdruckswerte in der Mehrheit sind, so soll sich bei Shakespeare ihr Übergewicht sogar verdoppeln. Ohne Vornahme einer Nachprüfung muß gesagt werden, daß eine mechanische Abzählung dieser Art wenig Erkenntniswert haben kann; denn sie berücksichtigt weder die Qualität und Intensität der Sinneseindrücke, noch ihre Beziehung zum dargestellten Gegenstand, noch ihre Originalität und ihre Vorbilder, noch die Richtung des Zeitstils, der mehr nach der Musik hin (Romantik, Expressionismus) oder mehr nach der Seite der Malerei (Realismus, Impressionismus) orientiert sein kann und der in neueren Stilperioden Farbeneindrücke künstlich gezüchtet hat. Infolgedessen bleibt ungewiß, bis zu welchem Grad überlegter Wille und Anpassung Anteil haben oder wie weit ein zwangsläufiges anlagemäßiges Nichtanderskönnen vorliegt. Der unbedingte Rückschluß aus Sinneseindrücken der Dichtung auf den psychologischen Typus scheint in seiner Allgemeingültigkeit fragwürdig. Einen andern Weg wies Oswald Külpe, der Durchschnittsmenschen auf die Eindrucksfähigkeit ihrer Sinne prüfte und dabei zur Scheidung von Form- und Farbsehern gelangte; es handelt sich um eine überwiegende Empfänglichkeit für das eine oder andere; dazwischen steht noch ein mittlerer Typus, der in gleichem Maße Farbe und Form beachtet. Nachdem die Anerkennung der Kretschmerschen Konstitutionstypen (vgl. S. 300 f.) sich durchgesetzt hatte, lag es nahe, sie mit dieser Erscheinung in Parallele zu setzen, und ein Schüler Krohs, Robert Scholl, hat die Übereinstimmung der Farbreaktion mit dem zyklothymen, die der Formreaktion mit dem schizothymen Formkreis erkannt. Nach Gerhard Pfahlers Typenlehre geht diese Unterscheidung wiederum parallel mit der zwischen Menschen festen oder fließenden Gehaltes. Ein Schüler Pfahlers hat nun den festen Gehalt mit der nordischen, den fließenden Gehalt mit ostischer und westischer Rasse in Verbindung gebracht. Man hat es auch schon umgekehrt gehört, und jedenfalls muß die rassische Auswertung dieser Typenlehren einstweilen zu den noch nicht ausreichend begründeten Hypothesen gerechnet werden. Einen eigenen Ansatzpunkt fand die Marburger Schule von E. R. Jaensch in der schon oben (S. 302) erwähnten Erfassung eines eidetischen Typus. Der Eidetiker besitzt die Fähigkeit, in seinem Innern subjektive optische Anschauungsbilder von halluzinatorischer Deutlichkeit zu erzeugen, die zwischen Nachbildern und Vorstellungsbildern in der Mitte stehen und den Wahrnehmungsvorgang durch Eingriffe der Vorstellung verändern. Zweifellos ist damit die erste Stufe dichterischen |#f0370 : 346|

Welterlebens erfaßt. Während nun diese Gabe besonders im kindlichen Alter ziemlich allgemein verbreitet ist, geht sie beim Erwachsenen zurück; aber den Dichtern bleibt sie treu und muß geradezu als Voraussetzung ihres Phantasielebens betrachtet werden. Oswald Kroh hat eine Reihe von Dichtern, die nach eigenem Bekenntnis eidetische Anlage besaßen, wie Otto Ludwig, Ludwig Tieck, E. Th. A. Hoffmann, J. V. v. Scheffel und Goethe, gemustert; aber man möchte nun gern als Gegenprobe die Nicht-Eidetiker unter den Dichtern kennenlernen, wenn es solche gibt. Oder sollte es sich immer nur um ein Mehr oder Weniger an Schärfe der eidetischen Bilder handeln? Goethe wenigstens hat darin geradezu eine Geburtsanlage alles Künstlertums gesehen: „Es muß nämlich ihre innere produktive Kraft jene Nachbilder, die im Organ, in der Erinnerung, in der Einbildungskraft zurückgebliebenen Idole, freiwillig, ohne Vorsatz und Wollen lebendig hervortun, sie müssen sich entfalten, wachsen, sich ausdehnen und zusammenziehn, um aus flüchtigen Schemen wahrhaft gegenständliche Wesen zu werden.“ Zum mindesten darf das Festhalten der frühesten Kindheitseindrücke und die Fähigkeit, sie immer neu hervorzurufen, als eine Gabe, die allen Dichtern eignet, angesehen werden. Als ein ausgesprochener Eidetiker hat der englische Romantiker Wordsworth, der zwischen Meer, Bergen und Seen aufwuchs und herrliche Landschaftseindrücke ins Leben mitnahm, mit einem visuellen Gedächtnis, das sich zu visionärer Kraft steigern konnte, seine Dichtung von diesen Erinnerungen zehren lassen: the visions of the past sustain the heart in feeling. Für Jaensch ist inzwischen die Bedeutung des Eidetikers hinter der des Integrierten zurückgetreten. Integration bedeutet „wechselseitige Durchdringung und ungehemmtes Zusammenwirken der verschiedenen, sowohl seelischen wie auch körperlichen Funktionsbereiche“. Man kann mit Jaensch drei integrierte Typen unterscheiden: den nach außen integrierten, der mit der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt kohärent ist, den bedingt Integrierten, der mit der Außenwelt nur in Verbindung tritt, wenn sie einem gewissen festen Kern seines Innern, vor allem seiner Werte und Ideale entspricht; den rein nach innen Integrierten, der in Ideen wie Volk, Vaterland, Heimat, Gemeinschaft feste Dauerkomplexe besitzt. Eine gewisse Analogie zu den von Dilthey aufgestellten Weltanschauungstypen, von denen später mehr zu sagen ist, scheint sich darzubieten. Wie jene |#f0371 : 347|

Dreiteilung schließlich auf Stilfragen ausgedehnt werden konnte (vgl. oben S. 212 f.), so führt auch Jaenschs Gliederung mit Notwendigkeit auf die Person des Dichters, die Art seines Schaffens und die Gestaltung seiner Charaktere hin. Diese Typologie konnte in dichterischer Charakterdarstellung eine Bestätigung ihrer Brauchbarkeit suchen, wie an Thomas Hardys Romanen erprobt wurde. Dabei bleibt es aber fraglich, ob eine unbefangene Charakteranalyse, der das Schema nicht diktiert war, zu gleichen Ergebnissen geführt hätte. Nach Integrationstypen konnte auch die verschiedene Art dichterischen Erlebens und Schaffens abgestuft werden, wie es Jaenschs Schüler Berthold Leineweber in einer empirisch-psychologischen Untersuchung unternommen hat. Dazu wurden des Dichtens beflissene Versuchspersonen benutzt, wie sie gerade zur Verfügung standen. Es waren acht an der Zahl, und es ist nicht gewährleistet, daß von diesen anonym bleibenden Helfern auch nur einer in der künftigen Literaturgeschichte sich einen Namen erwerben wird. Schwer wäre es dagegen vorstellbar, wenn man sich einen Stefan George oder Rainer Maria Rilke im Beichtstuhl des Experimentalpsychologen reagierend denken sollte auf Rollettsche Platten oder Rorschachsche Klecksographien, wie sie einstmals Justinus Kerners Phantasie anregten. Grundsätzlich wird ausgesprochen, daß nicht Goethe oder Shakespeare, sondern nur Dichter, deren individuelle Differenziertheit von geringerem Ausmaß sei, für typenpsychologische Untersuchung nach sogenannten „Tests“ in Betracht kämen. Wenn literarhistorische Grundsätze mit Bewußtsein ferngehalten werden, so können die drei Gruppen des nach außen integrierten kohärenten Typus, der vornehmlich dem Epos zugewandt ist, des gefühlsmäßig nach innen integrierten kontemplativen Typus, dessen Feld in der Lyrik liegt, und des nach innen integrierten dynamischen Typus, der im Drama seine eigentliche Ausdrucksform findet, keine allgemeingültige Bedeutung gewinnen, solange sie nur auf eine so schmale Basis von Beobachtungsmaterial gegründet sind. Die Probe steht noch aus, ob die Großen, deren Wesensart zu erfassen ist, vollzählig in diese Gruppierung eingeordnet werden können, oder ob sich nicht die Notwendigkeit neuer Zwischentypen von umfassenderer Art herausstellen wird. Ein Gewinn dieser auf Lebensbeobachtung beruhenden Typologie liegt indessen schon in der menschlichen Annäherung an das Dichtererlebnis, die in einer mechanischen Statistik kein Genüge finden kann. Die statistische Methode früherer Richtungen ist weitergebildet worden in einer Greifswalder Dissertation von Eva Langner, in der |#f0372 : 348|

die Form- und Farbbeachtung der Sinneseindrücke mit der dichterischen Schaffensweise und der psycho-physischen Konstitution nach Kretschmerschen Grundsätzen in Verbindung gebracht wird. Hier werden bekannte Dichter der jüngsten Zeit einer, allerdings nur auf Fernblick eingestellten Untersuchung unterworfen. Eine schizothyme Reihe ist durch Binding, Dwinger, Johst, Grimm, v. Mechow, Rilke, Emil Strauß, Tügel und Wiechert vertreten, eine zyklothyme durch Blunck, Burte, Carossa, v. d. Goltz, Griese, v. Molo, v. Scholz, Stehr, Timmermanns. Die körperlichen Erscheinungen sind durch Bilder belegt und die Schaffensweise durch eigene Bekenntnisse; das Hauptuntersuchungsmaterial aber liegt in einer statistischen Aufnahme der Ausdrucksmittel. Es zeigt sich bei den Schizothymen ein qualvolles Schaffen, ein persönlich forderndes Heraustreten, eine pessimistische Grundhaltung, eine strenge Formbeachtung und ein Übergewicht akustischer und musikalischer Qualitäten im Sprachgebrauch, während bei den Zyklothymen naturhaftes Wachstum des Werkes mit persönlicher Zurückhaltung, Lebensfreude und Lebensbejahung, starker Farbbeachtung und Bevorzugung aller optisch-malerischen Stilqualitäten verbunden sind. Dabei ist freilich nur erzählende Prosa untersucht worden, in der nach Kretschmer die zyklothymen Pykniker das Übergewicht hätten haben müssen. Wenn die Statistik jeder Prüfung standhält und wenn nach den Bildern die Konstitution eindeutig festzustellen ist, so ist mit dieser Methode immerhin der Fortschritt eines Anschlusses der psychologischen Typenbildung an morphologische Erbfaktoren vollzogen, und damit ist ein Schritt der Annäherung getan an das gegebene Ziel, den Dichter in der Ganzheit seiner Erscheinung zu erfassen. c) Menschenkenntnis und Lebenserfahrung Wie weit der Dichter selbst Psychologe ist, der in fremdes Seelenleben verstehend eindringt, sich selbst in der Dichtung verstehen lernt und aus der Dichtung sein eigenes Seelenleben verstehen läßt, kam im ersten Buch (S. 157 f.) bei Gelegenheit der Werkanalyse zur Sprache. Hier taucht nun die Frage auf, ob solche Fähigkeit ererbt, erlebt oder erlernt ist. Daß die Gabe der Menschenkenntnis zum Erbgut des Charakters gehört, ist ebenso gewiß, als daß das Leben erst die Entwicklung und Bewährung dieser Anlage ermöglicht und daß die Technik einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Menschen und Lebensverhältnisse zu erlernen ist. Die psychologischen Typenlehren führen auf einen Richtungsgegensatz |#f0373 : 349|

im Verhältnis zur Außenwelt und Innenwelt hin, der nur als Erbanlage erklärbar ist. Der eine kann von Haus aus nicht anders, als das Maß für die Beurteilung aller Dinge von der Außenwelt zu nehmen, der andere nimmt es vom eigenen Ich. So hat der Psychiater Carl Gustav Jung die Grundtypen der Extraversion und Introversion nach der bewußten wie unbewußten Einstellung in Denken, Fühlen, Empfinden und Intuition unterschieden und seine aus psychotherapeutischer Praxis erwachsene Einteilung zu den von Schiller, Nietzsche, Worringer, James u. a. aufgestellten Gegensatzpaaren in Beziehung gesetzt. Wenn, wie wir sahen (S. 346), die Psychologie von E. R. Jaensch mit der nach außen oder nach innen gerichteten Integration zu ähnlicher Scheidung gelangte, so kann eine Beurteilung der Wirklichkeitseindrücke in der Dichtung sich darauf stützen. Die bestimmte Zuteilung jedes Dichters zu einem dieser Typen begegnet indessen Schwierigkeiten, zumal ein Übergang von der einen zur anderen Seinsform nicht selten ist. So hätte man den jungen Heinrich v. Kleist, dessen Lebensplan auf Erkenntnis der Wahrheit durch Naturstudium zielte, ohne Zweifel zu den Extravertierten und nach außen Integrierten rechnen müssen, wenn nicht der für das Werden des Dichters entscheidende Zusammenbruch über der Kantschen Philosophie ihn der Introversion zugeführt hätte. Ebenso ist bei Novalis und Hoffmann eine entscheidende Wandlung nach Innen zu beobachten, die wohl als später Durchbruch der eigengesetzlichen Anlage betrachtet werden muß. Von solchen umwandelnden Eindrücken tiefgehender Erschütterungen ist erst im nächsten Abschnitt zu sprechen. Selbst bei einem so offenbaren Gegensatz der Anlage, wie er zwischen Goethe und Schiller waltete, kommt es zu Wechselwirkung und Veränderung. Jung möchte Schiller zu den Introvertierten rechnen, ohne daß die Unterabteilung, der er zuzuordnen wäre, sich klar herausstellt; als Dichter ist er intuitiv; als Denker erlebt er den typischen Konflikt des introvertierten Typus zwischen Geistigkeit und Sinnlichkeit. Schiller war sich dessen selbst bewußt, als er an Goethe schrieb, der Poet übereilte ihn, wo er philosophieren sollte, und der philosophierende Geist, wo er dichten wollte: „Auch jetzt begegnet es mir häufig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktion, und der kalte Verstand meine Dichtung stört.“ Durch Goethes Vorbild fühlte er sich aus diesem Doppelzustand erlöst. Goethe wiederum dankte Schiller, daß er ihn von der allzu strengen Beobachtung der äußeren Dinge auf sich selbst zurückgeführt habe. „Sie haben mich die Vielseitigkeit des inneren Menschen mit mehr Billigkeit anzuschauen gelehrt.“ |#f0374 : 350|

Solche Bekenntnisse zeigen die Möglichkeit von Ergänzung und Umbiegung der Anlagerichtung. Bei Goethe vermutet Jung eine Zugehörigkeit zum extravertierten Typus, die aber nur durch ausgedehnte und sorgfältige Untersuchung und Analyse der Biographie bewiesen werden könnte. Von Jaensch wird Goethe als sichtbare Vollendung des ersten Integrationstypus, also der nach außen gerichteten Kohärenz mit der wahrnehmbaren Umwelt, angesehen. Goethe selbst aber hat noch im Alter sich den Befreier der Deutschen genannt, weil er in seinem Schaffen offenbart habe, daß der Künstler wie der Mensch überhaupt von innen heraus leben und nichts anderes zutage fördern könne als seine Individualität. Ein anderes Mal soll Goethe über die Entstehung seines „Faust“ zu Eckermann gesagt haben, er sei zwar für Bilder von Art der „feuchten Glut der unvollkommenen Scheibe des späten Mondes“ auf Naturbeobachtung angewiesen, aber Stimmungen wie den düsteren Zustand des Lebensüberdrusses im Helden sowie die Liebesempfindungen Gretchens habe er durch Antizipation in seiner Macht gehabt. Es ist fraglich, ob Eckermann Goethes Ausspruch ganz richtig wiedergegeben hat; wenigstens würden wir die innere Schau der Gestalten und die folgerichtige Führung ihres Handelns eher Intuition nennen, während das, was Goethe sonst als Antizipation zu bezeichnen pflegt, sich erst verwirklicht, wenn zuvor Gedichtetes sich im Leben wiederholt und die Lebenswahrheit des Gestalteten dadurch Bestätigung findet. Goethe erblickte in der inneren Vorwegnahme des Lebens durch Gestaltung das eigentliche Geheimnis seines Schöpfertums. Der Dichter, so sagte er in den „Tag- und Jahresheften“, nähme durch Antizipation die Welt vorweg, so daß die auf ihn losdringende wirkliche Welt unbequem und störend für ihn werden können, weil sie ihn zwingen will, das, was er schon hat, sich zum zweiten Male, aber anders zuzueignen. Denselben Gedanken hat Nietzsche unter dem Titel „Die Vorwegnehmenden“ in seiner „Morgenröte“ verallgemeinert: „Das Auszeichnende, aber auch Gefährliche in den dichterischen Naturen ist ihre erschöpfende Phantasie: die welche das, was wird und werden könnte, vorwegnimmt, vorweg genießt, vorweg erleidet und im endlichen Augenblick des Geschehens und der Tat bereits müde ist.“ Als Dichter des „Götz“ war Goethe zehn Jahre nach Abfassung seines Jugendwerkes erstaunt über die Kenntnis mannigfaltiger menschlicher Zustände, die er bereits als Zweiundzwanzigjähriger ohne Welterfahrung durch Antizipation besaß. Auf der italienischen Reise wollte er eine seiner Frühdichtungen als Antizipation erkennen, da er in einem Wirtshaus genau dieselben Familienverhältnisse vorzufinden |#f0375 : 351|

glaubte, die er bereits in seinem Lustspiel „Die Mitschuldigen“ dargestellt hatte. In „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ heißt es geradezu, daß dem Dichter überhaupt „nichts in der Welt zur Anschauung komme, was er nicht vorher in der Ahnung gelebt.“ Und jene von Eckermann vermittelte Äußerung wiederholt es, daß „die Regionen der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Verzweiflung und wie die Zustände und Leidenschaften der Seele heißen“, dem Dichter angeboren seien, weshalb ihm ihre Darstellung gelinge. Die Verschmelzung von Wirklichkeitsbeobachtung und Phantasie ist auch in einer anderen Äußerung Goethes zu erkennen: „Wenn ich jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich ihn zwei Stunden reden lassen.“ Einem phantasievollen Kinde, wie es Gottfried Keller war, wurde derartiges Verhalten, das den werdenden Dichter erkennen ließ, als Lügenhaftigkeit ausgelegt. Auch Grillparzer beschuldigte sich in jungen Jahren des Wohlgefallens an der Lüge, und Hebbel mußte gestehen, daß er ohne böse Absicht oftmals Menschen seiner Bekanntschaft Redensarten untergelegt hatte, die sie nie gebrauchten. Er sah darin eine Äußerung seines dichterischen Vermögens, das in der Charakterauffassung eigenschöpferisch wurde: „Wenn ich von Leuten spreche, die ich kenne, besonders dann, wenn ich sie andern bekanntmachen will, geht in mir derselbe Prozeß vor, wie wenn ich auf dem Papier Charaktere darstelle; es fallen mir Worte ein, die das Innerste solcher Personen bezeichnen, und an diese Worte schließt sich dann auf die natürlichste Weise sogleich eine Geschichte.“ Die Psychologie gerichtlicher Zeugenaussagen erweist das retuschierende Mitwirken der Phantasie an jeder Erinnerung als unvermeidlich und allgemein menschlich. Die hier gegebene Verbindung von Beobachtung und Einfühlung, von Erfahrung und Phantasie, von Nachzeichnung und sich frei machendem Schöpfertum bedeutet dagegen eine über unbewußte Selbsttäuschung hinausgehende Steigerung, die bezeichnend ist für die von Goethe behauptete Zwischenstellung des Dichters zwischen Wahrheit und Lüge (vgl. S. 316). Die Verschmelzung stellt sogar die absolute Anwendbarkeit der Extraversions- und Introversionstypen in Frage. Nicht das Extrem der einen Richtung, sondern die Polarität ist in jedem Dichter vertreten. Mögen rein extravertierte und rein introvertierte Menschen im Leben vorkommen, beim Dichter kann nur das relative Übergewicht der einen oder anderen Richtung oder die Synthese beider in Erscheinung treten. Weder eine phantasie- und stimmungslose Wiedergabe von Wirklichkeitseindrükken, noch eine Phantastik, der jede gestaltende Beziehung zur Außenwelt fehlt, kann als Dichtung wirken und anerkannt werden. |#f0376 : 352|

2. D a s E r l e b n i s Während die experimental-psychologischen Methoden bemüht sind, von der Basis normaler Lebensvorgänge aus sich an deren dichterische Steigerung heranzutasten, kommt die geisteswissenschaftliche Strukturpsychologie von der anderen Seite und befragt die Dichter selbst, um aus der Deutung ihrer Werke und aus der Selbstbeobachtung ihrer Schaffensweise in das Wesen der dichterischen Einbildungskraft einzudringen. „Die Vorgänge“, so sagt Wilhelm Dilthey, „liegen in der schönen Literatur aufeinandergeschichtet da. Die wirkenden Kräfte scheinen noch lebendig in dem Erzeugnis zu pulsieren. Die Vorgänge vollziehen sich heute wie zu jeder früheren Zeit; der Dichter lebt vor unserem Auge, Zeugnisse über sein Schaffen liegen vor. So kann das dichterische Bilden, seine psychologische Struktur und seine geschichtliche Variabilität besonders gut studiert werden.“ Schlüssel zur Enträtselung des dichterischen Schaffens wird für Dilthey der Begriff des Erlebnisses, den er zuerst in seinem Aufsatz über „Goethe und die dichterische Phantasie“ als Kernproblem auffaßte. „Der Gehalt einer Dichtung, welche das einzelne Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhebt, hat seine Grundlage in der Lebenserfahrung des Poeten und dem Ideenkreis, der sich an sie angeschlossen hat. Der Ausgangspunkt des poetischen Schaffens ist immer das Erlebnis und die Besinnung über dasselbe in der Lebenserfahrung.“ Goethe selbst hatte dazu den Weg gewiesen, indem er das Erleben vom Leben trennte und bereits als produktives Gestalten auffaßte. Auch ein Schillerscher Gedanke aus den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“, wonach die Gestalt Leben werden müsse und das Leben Gestalt, fügt sich mit einer leichten Korrektur ein, indem Leben durch Erlebnis ersetzt wird; Dilthey spricht von dem Schillerschen Gesetz, das eine Übersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt zum Erlebnis beständig stattfinden läßt. a) Leben und Erleben Die Unterscheidung des inneren Erlebnisses vom äußeren Leben wurde auch in der Dichtung um die Wende des Jahrhunderts aufgegriffen. Aus dem Erlebnis dieses Gedankens ist Hofmannsthals Spiel „Der Tor und der Tod“ hervorgegangen, dessen Held Claudio wie Goethes Faust nur so durch die Welt gerannt ist; erst bei seinem Ende wird er sich bewußt, daß er das Erdendasein nur gelebt, nicht |#f0377 : 353|

erlebt habe, und nun erst wird ihm der Tod zum Erlebnis. Wirklich erleben können nur die Künstler, denen Desiderio im „Tod des Tizian“ die Alltagsmenschen gegenüberstellt: Und liegen w i r im tiefen Schlaf befangen, So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht: Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen, Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern Sie aber schlafen wie die Austern dämmern. Das Verhältnis von Leben und Erleben beruht im Unterschied der seelischen Anteilnahme, der Intensität und Dauer der Eindrücke und ihrer gefühlsmäßigen Verinnerlichung. Erleben kommt zustande durch künstlerische Auffassung des Lebens mittels der Einbildungskraft, durch phantasievolles Weiterspinnen und vorahnendes Gestalten. Dilthey hat es als ein Gesetz bezeichnet, unter dem der Dichter stehe, daß nur die Mächtigkeit und der Reichtum seiner Erlebnisse das Material echter Poesie gewähre. Das heißt: der wahre Künstler kann nichts darstellen, was er nicht in seinem Inneren erlebt hat, und er kann nichts erleben ohne Antrieb und Zwang zur Gestaltung. Jedes Erlebnis muß Stoff werden, der nach Gestaltung drängt. Jeder Stoff muß Erlebnis werden, um zur Gestaltung zu gelangen. Erlebnis ist Besessenheit von einem Stoff und seinen Problemen; Gestaltung ist die Befreiung vom quälenden Zwang des Erlebnisses. Voraussetzung ist die Erlebnisfähigkeit des Künstlerherzens, die mehr bedeutet, als die Sinnesempfänglichkeit, von der im ersten Abschnitt dieses Buches die Rede war (S. 338). Durch sein Gefühlsleben, das ihn eigenes wie fremdes Leid, eigene wie fremde Freuden mit voller Hingabe durchkosten läßt, ohne Genüge zu finden, wird der Künstler nach Goethes Wort zum Liebling der Götter: Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz: Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz. Und wenn Mörikes schlichtes Gebet das Gegenteil sagt, indem es das in der Mitte liegende holde Bescheiden für sich in Anspruch nimmt, Wollest mit Freuden und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten, so ist auch dieses Ausweichen nichts anderes als ein Ausdruck empfindlicher Erlebnisempfänglichkeit. |#f0378 : 354|

b) Strukturpsychologische Typenlehren Wie die Eindrucksfähigkeit, von der im ersten Abschnitt die Rede war, zwei einander scheinbar widersprechende Phasen in sich schließt, den Hunger nach Lebenseindrücken und Erfahrungen, sowie den Abschluß von der Wirklichkeit, so sind mit Dilthey auch zweierlei Arten von Erlebnissen anzunehmen: als erstes das Erfassen der konkreten Wirklichkeit, der äußeren Tatsachen und Situationen des Daseins, als zweites die innere Erfahrung geistiger und seelischer Art. Je nach dem Übergewicht des einen oder anderen nimmt der Phantasievorgang eine andere Richtung; entweder wird die äußere Tatsächlichkeit verinnerlicht, oder es wird der subjektive Zustand im Symbol eines äußeren Vorgangs versinnbildlicht. Nach dem relativen Vorwalten dieser entgegengesetzten Richtungen, des Weges von außen nach innen oder des Weges von innen nach außen, unterschied Dilthey Typen des objektiven und subjektiven Dichters. Damit war das vorweggenommen, was psycho-analytische und experimentelle Seelenkunde später ohne besondere Rücksicht auf den Dichter als Extraversion und Introversion oder als Typen der Integration unterschied (vgl. oben S. 348 f.). Die Zweiteilung findet sich schon bei Schiller als naiv und sentimentalisch, bei dem Romantiker Friedrich Schlegel als objektiv und interessant, bei Schleiermacher als Werkbildner und Selbstbildner, bei Otto Ludwig als Sachdichter und Ich-Dichter. Für die einen steht, wie bei Shakespeare, der Geist der Sache im Vordergrund, für die andern, wie bei Schiller, der eigene Geist; nach Otto Ludwig verherrlicht der eine seine Objekte, der andere sich selbst. Dilthey nennt als Beispiele der einen Reihe die Realisten Shakespeare, Cervantes, Dickens; für die andere die Romantiker Rousseau, Novalis, Byron. Goethe dagegen, dem der Rhythmus des Ein- und Ausatmens wie die Bewegung des Blutumlaufs in Systole und Diastole Symbole der Polarität und des Gleichgewichts von Innen- und Außenwelt geworden sind, hat seinen Platz in der Mitte. Gehörte er als Stürmer und Dränger zum subjektiven Typus, so entwickelte er sich mit der Reife immer mehr zum gegenständlichen Auffassen der Welt, so daß seine Erlebnisform das vollendete Gleichgewicht zwischen seelischem Zustand und objektiver Gegebenheit erreichte, bis im Alter wieder das innere Leben zum Übergewicht gelangte. Die Dreiteilung steht in einem gewissen Zusammenhang oder mindestens in Parallele mit jenen Weltanschauungstypen, nach denen Wilhelm Dilthey die metaphysischen Systeme gliederte, indem er sie auf Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Zwecksetzung befragte. |#f0379 : 355|

Sein Lehrer Trendelenburg war darin vorangegangen; aber unabhängig von dessen Anregungen findet sich schon in Diltheys Jugendaufzeichnungen (1852) der keimhafte Ansatz zu einer Gruppierung, in die er damals bereits die Verschiedenheiten des religiösen und dichterischen Weltbildes einfügte. Weil die Dichtung grenzenlose Möglichkeiten zeigt, das Leben zu sehen, zu werten und schaffend fortzugestalten, sollten die Typen der Metaphysik in den Typen dichterischer Weltanschauung ihre Vorbereitung finden und ihren Einfluß durch Verbreitung auf die ganze Gesellschaft vermitteln. Diltheys Nachfolger gingen noch weiter und suchten das Dreitypensystem auch auf anderes künstlerisches Schaffen, z. B. Malerei und Musik, zur Anwendung zu bringen (vgl. S. 212 f.). Der erste Typus eines Naturalismus oder Materialismus oder eines auf Naturerkenntnis gegründeten Positivismus, dem die Philosophen Demokrit, Lukrez, Epikur, Hobbes, Comte, Avenarius zuzuzählen waren, fand seine dichterische Vertretung bei Stendhal und Balzac, die im Leben „ein aus der Natur selbst absichtslos, in dunklem Trieb geschaffenes Gewebe von Illusionen, Leidenschaften, Schönheit und Verderben“ sahen, in dem der starke Wille seiner selbst den Sieg behält. Für den zweiten Typus des objektiven Idealismus und Pantheismus, der in der Philosophiegeschichte von Heraklit und der Stoa bis zu Shaftesbury, Schelling und Hegel repräsentiert war, bot sich das dichterische Beispiel in Goethe, der das Leben ansah als „eine gestaltende Kraft, welche die organischen Gebilde, die Entwicklung der Menschen wie die Ordnungen der Gesellschaft zu einem wertvollen Zusammenhang vereinigt.“ Der Idealismus der Freiheit, als dritter Typus philosophischer Weltanschauung vertreten durch Platon, die hellenistisch-römische Philosophie der Lebensbegriffe und die christliche Spekulation, wie später durch Kant, Fichte, Carlyle, schöpft seine Weltauffassung aus dem freien Willen und verficht die Unabhängigkeit des Geistes von der Natur. Als seine dichterischen Repräsentanten werden Corneille und Schiller genannt, die im Leben den Schauplatz heroischen Handelns erblicken. Mehr als die ihr folgenden systematischen Weiterbildungen nahm Diltheys Typologie von Anfang an Bezug auf konkrete Erscheinungen und bot die Möglichkeit sowohl der geschichtlichen als der völkerpsychologischen Anwendung. Wenn man aber die ganze Fülle individueller Ausprägungen in diese Gliederung einordnen wollte, so machte sich, wie schon oben (S. 212 f.) bei Betrachtung der Stilform zu sagen |#f0380 : 356|

war, eine weitere Differenzierung notwendig. Rudolf Unger hielt es beispielsweise für angebracht, zwei Arten des objektiven Idealismus (Typus 2) zu unterscheiden: eine mehr dem Naturalismus zugewandte, die im naturhaften, ungebrochenen Gefühl der Einheit, Harmonie und Vernunft des Weltalls lebt; eine andere dem Idealismus der Freiheit näher stehende, „die die ethische Tatsache des Bruches, der Sünde, der „Natur in Gott“ (Jakob Böhme) in ihr Bewußtsein aufnimmt, ohne darum irgend die Grundthese des objektiven Idealismus von der organischen Einheit und Wirklichkeit der Welt aufzugeben“. Entsprach das eine dem griechischen und Goetheschen Typus, das andere dem der Schelling und Hegel, so war damit zu einer Scheidung des klassischen und des romantischen Weltbildes überzuleiten. In ähnlicher Weise hat Max Wundt mit Rücksicht auf geschichtliche Systeme der Philosophie den objektiven Idealismus und den subjektiven, der sich mit Diltheys Idealismus der Freiheit deckt, übersteigert durch eine dritte Gestalt des absoluten Idealismus, dem er den Neuplatonismus sowie Fichte, den späten Schelling und Hegel zuordnete. Als Systematiker ergänzte Hans Leisegang in seinen „Denkformen“ die drei Weltanschauungstypen zur Vierzahl, indem er neben die kosmisch-organische (Typus 2) und ethisch-persönliche (Typus 3) eine physisch-mechanische und eine rational-mathematische Richtung des Welterkennens stellte. Damit war eine Spaltung des ersten Diltheyschen Typus vorgenommen. In praktischer Anwendung auf die Charakteristik einzelner künstlerischer Erscheinungen gelangte schließlich Hermann Nohl über Dilthey hinaus zu fünf Typen, indem er als weiteren trennenden Gesichtspunkt die Spannung zur realen Welt einführte. Danach mußte sich sowohl der Idealismus der Freiheit auflösen in Typen der Verklärung (Platon, Schiller) und der Versöhnung (Hölderlin, Hegel), als auch der Naturalismus auseinandergehen durch Teilung zwischen einem nüchternen Realismus ohne Spannung (Adolf Menzel) und einem Naturalismus mit Spannung, der in grausiger Dissonanz oder zynischer Satire endet (Goya, Hogarth, Dix, Groß). Durch die vorgeschlagenen Teilungen wird die Dreizahl der Diltheyschen Typen zum mindesten verdoppelt, und weitere Spaltungen wären durchaus möglich, je mehr auf individuelle Erscheinungen Rücksicht genommen wird. Daß der Platz, der einem Schelling, Hegel oder Hölderlin zuzuweisen ist, bei den verschiedenen Beurteilungen wechselt, erweckt ein gewisses Mißtrauen gegen die Schärfe der begrifflichen Erfassung. |#f0381 : 357|

Schließlich könnte man versucht sein, in einem ähnlichen Kreisschema, wie es oben (SS. 125, 230) für Gattungen und Stilformen aufgestellt wurde, Übergänge von einem Typus zum andern zu eröffnen. So spricht Müller-Freienfels im Schlußkapitel seines Buches über „Persönlichkeit und Weltanschauung“ die Meinung aus, die psychologischen Typen würden „in ihrer relativen Berechtigung und gegenseitigen Ergänzung über die bloße Zufälligkeit emporgehoben werden und sich zu einem geschlossenen Kreise runden, der nach den Möglichkeiten der menschlichen Begabung die Welt allseitig umspannt.“ Und Rothackers Besprechung der Diltheyschen Typen, die dahin führt, daß der radikale Idealismus mit dem radikalen Naturalismus im gleichen Wirklichkeitsbegriff zusammentrifft, so daß die Extreme sich berühren, gelangt ebenfalls zu einer in Kreisform verlaufenden dialektischen Bewegung. Geprägte Formen, wie sie in Gattungen und Stilrichtungen sich darstellen, sind indessen leichter zu typisieren als menschliches Verhalten, das erst durch Typisierung zur Form geprägt wird. Der Kreis müßte sehr groß sein, um auf seiner Peripherie so viele Sektoren sichtbar werden zu lassen, als der vollständige Überblick verlangt. Am Ende wären bei weiter gehender Teilung gar keine ideellen Typen mehr in ihrer Lebensrichtung zu erfassen, sondern Persönlichkeiten. Weltanschauungen würden sich in vielfältige Weltbilder auflösen. Eine Differenzierung aber, die allen individuellen Erscheinungsformen gerecht werden wollte, würde den eigentlichen Sinn der Typologie, die auf denkbarste Vereinfachung der Grundverhältnisse gerichtet sein muß, aufheben. Ist die strukturpsychologische Durchleuchtung des Inneren einem körperlichen Röntgenbild zu vergleichen, so teilt sie mit diesem die Beschränkung auf ein schematisches Gerüst, dessen schattenhafter Erscheinung die individuellen Farben fehlen müssen. Wenn strukturpsychologische Systeme wie die von Karl Jaspers und Richard Müller-Freienfels zur Vollständigkeit einer alle Menschenart umfassenden Typisierung zu gelangen suchen, so weisen sie der seelischen Haltung und dem Welterleben des Künstlers keinen besonderen Platz zu; sie erblicken vielmehr in seiner verschiedenartigen Anlage nur die Steigerung normalen Verhaltens. Dagegen hat Diltheys Schüler Eduard Spranger dem ästhetischen Menschen als idealem Grundtypus der Individualität eine eigene Lebensform zugesprochen, für deren Grundrichtung er wieder drei Möglichkeiten annimmt. Nicht allgemeine Grundsätze wie beim theoretischen Menschen, nicht Nützlichkeitserwägungen wie beim ökonomischen, nicht Selbstverleugnung wie beim sozialen Menschen, nicht

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realpolitische Ziele wie beim Machtmenschen, nicht Abstandgefühl von Gott, wie beim religiösen Menschen, bilden die Dominante seines Wesens, sondern seine eigenste Lebensform liegt darin, daß er jeden Eindruck zum Ausdruck formt, daß er sich auslebt in der Phantasiesphäre der Kunst und daß der Formwille für ihn allein bestimmend ist. Die drei Spielarten, mit denen sein Verhältnis zur Welt in Erscheinung tritt, entsprechen sowohl den Diltheyschen Weltanschauungsrichtungen wie den oben (S. 346 f.) besprochenen Typen experimentalpsychologischer Beobachtung: zwischen den Gegenpolen einer lebenshungrigen Hingabe an die äußere Welt und eines von innen nach Ausdruck drängenden und den Lebenseindrücken zuvorkommenden Ausströmens der Gefühlswelt liegt das Gleichgewicht des klassischen Menschen, der die Entfaltung seines Ich mit einem Assimilieren der Lebenseindrücke verbindet, in innerer Form sich bildet, die Harmonie seines Wesens in die Dinge hineinsieht, die Einfühlung eines ästhetischen Pantheismus als seine Religion betrachtet und sein ganzes Leben zum Kunstwerk gestaltet. Die ästhetische Seelenstruktur in ihren drei Verhaltensweisen ist keineswegs auf den schaffenden Künstler allein beschränkt, aber sie bildet die Grundlage seines Wesens und Schöpfertums und leitet über zu den Stilrichtungen der Erlebnisgestaltung. c) Erlebnisinhalt Zu einer Teilung des Erlebnisbegriffes kam es, als mit Friedrich Gundolfs Goethe-Werk die Begriffe Urerlebnis und Bildungserlebnis in Kurs gesetzt wurden. Urerlebnisse wurden die Erschütterungen genannt, denen der Mensch kraft seiner Struktur ausgesetzt ist; als Bildungserlebnisse wurden die geistig-geschichtlichen Einflüsse und Begebnisse wie die schon geformten Anschauungen aus Kunst, Wissenschaft und Religion bezeichnet; daneben sollte noch eine Reihe langsam und heimlich bildender Mächte zur Geltung kommen, die weder als Urerlebnisse, noch als Bildungserlebnisse bezeichnet werden können, weil sie weder in der Wesensart des Menschen gegeben sind, noch etwas Geformtes, Geistiges darstellen: es sind die Zustände wie Haus, Familie, Stadt, Landschaft, Volk gemeint. Nun kann man heute das eigene Volk weder zu den Zuständen rechnen, noch faßt man es als ein von außen eindringendes Erlebnis auf; die Volkszugehörigkeit hat vielmehr wesentlichen Anteil an der Struktur des Menschen. Als Blutsgemeinschaft und als Schicksalszusammenhang, in den er hineingeboren ist, umschließt das Volk den

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Dichter. Er ist ein Glied dieses Organismus, und nur wenn er an seiner Emanation, dem Volkstum, bisher nicht teilhatte, kann es zum Erlebnis, ja zum Urerlebnis für ihn werden, wie es etwa Goethe im Elsaß erfahren durfte. „Deutschheit emergiert“ schrieb er darüber in der ersten Skizze zu „Dichtung und Wahrheit“. Den Begriffen Urerlebnis und Bildungserlebnis, die lediglich zu dem einzelnen in Beziehung zu setzen sind, muß man das Gemeinschaftserlebnis gegenüberstellen. Auch hier handelt es sich nicht um Zustände. Was sich an Naturkatastrophen, Kriegsgeschehnissen, politischen Umwälzungen, Entdeckungen oder Erfindungen als Schicksal ganzer Völker und Zeitalter darstellt, kann sich in Wandlungen des Weltbildes auswirken und so zur langsam und heimlich ihren Einfluß ausübenden Bildungsmacht werden, aber es wird zuvor für jedes einzelne Glied der Gemeinschaft, das unter dem Eindruck solchen Geschehens steht und persönliche Stellung dazu sucht, ein unmittelbares Erlebnis. Das Erdbeben von Lissabon beispielsweise, das dem Aufklärungsoptimismus des 18. Jahrhunderts einen so schweren Stoß versetzte, übte seine seelische Erschütterung zuerst auf Einzelne aus, z. B. auf Voltaire. Das andere Erdbeben der französischen Revolution verpflanzte seine Bewegung nach Deutschland; aber gerade in der Beobachtung der Massenpsychose, die auch deutsche Jünglinge den Freiheitsbaum taumelnd umtanzen ließ, konnte es für einen Goethe, der in seiner Struktur erschüttert und immer mehr abgestoßen wurde, zum problematischen Erlebnis werden, mit dem er sich jahrelang dichterisch auseinanderzusetzen hatte (Der Großkophtha, Der Bürgergeneral, Die Aufgeregten, Reineke Fuchs, Das Mädchen von Oberkirch, Hermann und Dorothea, Die natürliche Tochter). In diesen und anderen Fällen geht Gundolfs Unterscheidung weder im Theoretischen noch in der praktischen Anwendung rein auf. Unter Benedetto Croces Einfluß sollten die Dichtungsgattungen des Altertums als überlebte Anschauungen preisgegeben werden, zugunsten einer neuen Dreiteilung, die durch den Intensitätsgrad des Erlebnisses bestimmt war. Es wurde eine Stufenfolge von Lyrik, Symbolik, Allegorik hingestellt, die nicht ganz folgerichtig war, insofern wieder ein Gattungsname Anwendung fand, dessen neuer Gebrauch mit dem herkömmlichen in verwirrender Weise sich kreuzte. Gundolf rechnete auch „Werther“ und „Urfaust“ zur Lyrik, in der er keinen Gattungs- und Formbegriff mehr sah, sondern eine Erlebnisform. Die Lyrik sollte die Urerlebnisse Goethes enthalten, dargestellt im Stoff seines Ich. Wir sehen aber am „Werther“, daß das Ich nicht den Stoff, sondern die Form hergab, und am „Faust“, daß der Stoff der alten Sage, dessen |#f0384 : 360|

Kenntnis als Bildungserlebnis bezeichnet werden könnte, erst allmählich eine Reihe von Motiven und Problemen in sich aufnahm, in denen sich Urerlebnisse des Dichters spiegelten. Der faustische Mensch aber, wie ihn Oswald Spengler als neuzeitliches Kultursymbol auffaßte, ist eigentlich bereits ein Urerlebnis der Renaissance gewesen. Eine zweite Reihe Goethescher Schöpfungen, wie „Iphigenie“, „Tasso“, „Die römischen Elegien“, wurden von Gundolf zur Symbolik gerechnet, die die Urerlebnisse des Dichters darstellt im Stoffe einer Bildungswelt. Die drei Beispiele bedeuten verschiedene Abwandlungen des Begriffes Bildungswelt. Im einen Fall sind es Mythen und Sagen, die bereits in dichterischer Gestaltung vorlagen. Im zweiten Fall sind es geschichtliche Persönlichkeiten, denen die Lebenslage des Dichters sich verwandt fühlen konnte, und zwar ist dies beim „Tasso“ viel mehr der Fall als beim „Götz von Berlichingen“, der aus der ersten Periode stammt. Im dritten Fall ist es die freie Lebens- und Liebesauffassung einer vergangenen Kultur, mit der sich zwei andere Erlebnisse des Dichters verbanden, nämlich Rom und Christiane. Soll man nun Rom als Bildungserlebnis oder als Urerlebnis Goethes betrachten? Die dritte Gruppe, die durch Goethesche Altersdichtungen, wie den zweiten Teil des „Faust“, „Pandora“, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ vertreten ist, wird Allegorik genannt und soll abgeleitete Erlebnisse im Stoff einer Bildungswelt darstellen. Dabei ist neu der Begriff des abgeleiteten Erlebnisses, den man nur so verstehen kann, daß die Urerlebnisse nicht mehr als solche wirken, sondern sich verloren haben, indem sie in allgemeine Lebenserfahrung und Weltbild des Dichters übergegangen sind. So bestechend diese Darstellung wirken konnte durch die Erfassung der Gestalt im Zusammenklang von Leben und Dichtung und durch die organische Grundlinie einer zunehmenden Entfernung vom Urerlebnis, so bedeutete Gundolfs Erlebnistheorie doch kaum mehr als eine geschickte Improvisation zwecks Bewältigung der einmaligen Darstellungsaufgabe. Jede Gültigkeit als allgemein anwendbares System ist diesen willkürlich aufgestellten und kaum völlig durchdachten Erlebniskategorien abzusprechen; es ist bezeichnend, daß der Verfasser selbst in keinem weiteren Werk mehr davon Gebrauch machte, sondern in seinem späteren verzerrten Kleist-Bild geradezu den Zusammenhang zwischen Erlebnis und Dichtung bestritt. Vor allem bleibt die geringe Bewertung des Bildungserlebnisses bedenklich im Hinblick auf anders gelagerte biographische Aufgaben. Die Bekanntschaft mit einem philosophischen System, einem politischen Ideenvermittler, einem religiösen Führer oder einer großen Dichtung |#f0385 : 361|

kann stärker als irgendein Liebeserlebnis die ganze Struktur des Daseins erschüttern. So bedeutet das Erlebnis der mißverstandenen Kantschen Philosophie einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung Heinrich v. Kleists; der bisherige Lebensplan, der sein einziges und höchstes Ziel gebildet hatte, sank zusammen, während die dichterische Tat als neue Lebensaufgabe sich Bahn brach. Eine positivere Offenbarung erlebte Schiller, für den der Freiheitsgedanke, den er als physisches Postulat seit der Unterdrückung seiner Jugend in sich trug, durch Kants Lehre zur Idee moralischer Freiheit erhoben wurde. Wenn man nun Schillers Gedankenlyrik zur Goetheschen Erlebnislyrik in Gegensatz stellt, so wird man ihr den Erlebnisgehalt keineswegs abstreiten können; nur ist weniger das Erlebnis selbst als vielmehr sein Ergebnis in der Dichtung gestaltet. Nicht minder umwälzend als das Kant-Erlebnis für Schiller und Kleist ist für Hölderlin der Eindruck Fichtes, für Gottfried Keller der der Feuerbachschen Philosophie geworden; diese Gedankenerlebnisse stellt Ermatinger als charakteristisch für die Erlebnisart des Lyrikers und des Epikers dem dramatischen Kant-Erlebnis Kleists gegenüber. Wenn sinnliche Erlebnisse, Begriffserlebnisse und Ideen-Erlebnisse zu unterscheiden sind, so gehen die ersten, deren irrationaler Charakter sich schwer in Begriffe auflösen läßt, unmittelbar in die Dichtung über und können deren Stoff werden. Es gehört, wie oben (S. 114, 124, 175) gesagt wurde, zum Gattungscharakter der Lyrik, daß sie keinen von außen überkommenen Stoff braucht, sondern das Erlebnis unmittelbar gestaltet. Die Erfahrung philosophischer Begriffe, die als zweite Kategorie gelten muß, bleibt der unmittelbaren dichterischen Anschauung ferner; aber sie kann zu einer die Probleme beleuchtenden Aussprache gebracht werden, sowohl in der dramatischen, als in der epischen Dichtung, namentlich im Roman. Ordnet sich in der dritten Kategorie das Gefühlserlebnis einem Ideenzusammenhang ein, so kann das Begriffliche zur Anschauung gelangen, und die Anschauung ist begrifflich zu fassen. Die Spannung aber führt zu Problemen, die vor allem als Triebfedern der dramatischen Dichtung zur Wirkung gelangen. d) Erlebnisqualität Emil Ermatingers Poetik, die „das dichterische Kunstwerk“ aus den Erlebnissen herleitet, erweitert die Terminologie, indem Gedankenerlebnis, Stofferlebnis, Formerlebnis als eine Kette aneinander gereiht werden, so daß sich beinahe der ganze Schaffensvorgang an |#f0386 : 362|

diesen Anhaltspunkten wie ein Rosenkranz herunterbeten läßt. Indessen besteht die Beziehung dieser Erlebnisphasen zueinander nur in ihrem zusammenhängenden Anteil am einzelnen Werk; man könnte in diesem Sinn auch andere Elemente der Analyse, die das erste Buch überblickte, in die Reihe einfügen und von Situationserlebnis, Charaktererlebnis, Motiverlebnis, Problemerlebnis, Ideenerlebnis, sprechen; man hätte dann in jedem Werk einen Komplex von Erlebnissen, ohne daß das, was persönlich ist, nämlich die emotionale Erschütterung, die eine Voraussetzung jedes Erlebnisses bildet, bei dieser Übersicht zur Geltung käme. Vom Dichter aus gesehen sind von der größten Bedeutung jene inneren Erfahrungen, die nicht nur in einem einzelnen Werk Gestaltung finden, sondern im gesamten Schaffen, in der Bildung der Persönlichkeit und im Aufbau des Weltbildes. Man wird die Tiefe eines Erlebnisses nicht aus dem einzelnen künstlerischen Niederschlag, sondern aus dem ständigen Nachschwingen, aus der Häufigkeit der motivischen Anklänge, aus der Nachhaltigkeit und unvergänglichen Dauer zu ermessen haben. Dabei kommt nicht nur das individuelle Erlebnis, das mit seiner tiefdringenden Wirkung einen Menschen innerlich völlig umformen kann, in Betracht, wie etwa der Tod der Sophie v. Kühn für Novalis, oder die Künstlerliebe zu Julia Marc für Hoffmann Ereignisse, die in ihrer Auswirkung weder als Stoff-, Form-, Gedanken- oder Ideenerlebnisse zu charakterisieren sind, sondern als Zentralerlebnisse einer Lebenswende. Es werden auch typische Erlebnisse einer Altersstufe, einheitliche Bewegungen einer Generation oder geistesgeschichtliche Ereignisse, wie das eindrucksvolle Auftreten einer großen Persönlichkeit oder die mitreißende Wirkung einer Dichtung, die den Nerv der Zeit trifft, zu berücksichtigen sein, z. B. das Rousseau-Erlebnis oder die Werther-Stimmung für Sturm und Drang und Empfindsamkeit, das Wagner-Erlebnis für Nietzsche, das Nietzsche-Erlebnis für die Naturalisten. Eine weitere Differenzierung des Erlebnisbegriffes vollzog Richard Müller-Freienfels, indem er den Vorgang gliederte in Erlebnis-Akt, Erlebnis-Inhalt und Erlebnis-Gegenstand. Das erste findet seine Erklärung als gefühls- und willenshafte Reaktion des Ich auf eine jenseits des Ich liegende Gegebenheit; das zweite als subjektives Bewußtseinsgebilde, das wir von jener objektiven Gegebenheit in uns formen; das dritte als objektiver Tatbestand, der jenseits des Bewußtseins Realität gewinnt. Die zwölf Typen des Erlebens, die danach unterschieden werden, lassen sich vielleicht auf einfachere Grundbegriffe zurückführen und |#f0387 : 363|

in d r e i G r u p p e n zusammenstellen, die wieder mit dem Diltheyschen Dreitypensystem in Zusammenhang gebracht werden können. Die ersten vier Typen, die Müller-Freienfels aufstellte, sind durch das Verhältnis zwischen Anlage des Dichters und Eindruck der Außenwelt bestimmt: 1. das richtungsadäquate Erlebnis, das die Anlage nährt und verstärkt (Goethes Elternhaus und das vielgestaltige Leben der Stadt Frankfurt); 2. das verbesondernde Erlebnis, durch das die Anlage spezifiziert wird (Goethes Begegnung mit Herder); 3. das richtungablenkende Erlebnis (die falschen Tendenzen Goethes), und 4. das konträre Erlebnis, das sich der Anlage entgegensetzt (Goethes Liebe zur Klassik ist dafür kein glückliches Beispiel). Es ist fraglich, ob die beiden letzten Erlebnisarten wegen ihres Intensitätsgrades als eigene Kategorien unterschieden zu werden verdienen. Dagegen kann man zu dieser Gruppe drei weitere Typen rechnen, die bei Müller-Freienfels mit 9, 10 und 11 beziffert sind, nämlich die aufgezwungenen Erlebnisse, worunter Krankheit, Krieg und andere Zwangssituationen verstanden werden (Goethes Amtstätigkeit); weiter das Erlebnis des Widerstands, das durch Unterdrückung der Anlage zu ihrer Überkompensation führt, wofür Schillers Tyrannenhaß und Freiheitstendenz als Beispiel genannt werden; endlich die systematischen und Einfühlungserlebnisse, bei denen das Individuum seinen eigenen Charakter durch Nachahmung und Unterordnung unter ein fremdes Ich modifiziert (Hafis im „Westöstlichen Diwan“). Alle drei wiederholen die richtungablenkende oder sogar der Anlage entgegengesetzte Wirkung. Die Typen dieser Gruppe, die unter den Gesichtspunkt einer mechanischen, sinnlichen oder geistigen Abhängigkeit von der Umwelt gestellt und als E i n d r u c k s e r l e b n i s s e zusammengefaßt werden können, finden im naturalistischen Weltanschauungstypus ihre Entsprechung. Der Unterschied zwischen den fördernden Eindruckserlebnissen, die der Anlage des Dichters entsprechen, und den hemmenden, die ihr entgegengesetzt sind, wird sich auswirken in der Problemstellung der Dichtung. Die der Anlage entsprechenden Erlebnisse pflegen in den Aufbau der Persönlichkeit und Weltanschauung überzugehen und werden erst von da aus die Dichtung bestimmen. So hat z. B. Schillers Kant-Erlebnis einen günstigen Boden in der früheren Denkrichtung vorgefunden und diese mehr bestätigt und entwickelt als umgewandelt; dafür ist diese Bereicherung auch nicht zum unmittelbaren Anstoß einer großen Erlebnisdichtung geworden. Die der Anlage widersprechenden Erlebnisse dagegen bedeuten dramatischen Zusammenstoß, Erschütterung und Umbruch. So hat das |#f0388 : 364|

Kant-Erlebnis Kleists durch den Zusammenbruch des dogmatischen Wahrheitsbegriffes geradenwegs zur schöpferischen Dichtung hingeführt, und das erste Drama „Die Familie Schroffenstein“ veranschaulicht lebendig die Verblendung derer, die des Wahnes sind, sich auf ihre Sinneseindrücke verlassen zu dürfen. Bei einer z w e i t e n Gruppe, die mit dem Idealismus der Freiheit in Vergleich zu setzen ist, werden Phantasie und Gefühl durch das Erlebnis in freie Schwingung versetzt: das imaginative Erleben (5) schafft sich im Streben nach einem Ideal Ersatz für den fehlenden Erlebnisgegenstand (blaue Blume des Novalis); die Halbimagination (6) läßt Triebe und Sehnsüchte des Ich auf einen Gegenstand niederschlagen, „der ganz oder teilweise dem gesuchten Erleben inadäquat ist, der jedoch für adäquat gehalten oder von der Phantasie zur Adäquatheit, ganz oder teilweise unbewußt, umgeschaffen wird“. Dabei erfahren wirklich vorhandene Züge eine verklärende Vergrößerung und Steigerung; Friederike Brion wird als Inbegriff des Naturkindes, Frau v. Stein als schwesterliche Seelenheilkraft, Christiane als heidnisch-sinnliche Geliebte, Bettina als das mignonhaft aufblickende Kind, Marianne v. Willemer als Suleika idealisiert. Sie nehmen Züge der weiblichen Urbilder an, die des Dichters Sehnsucht in sich trug; in ihnen sind Gegensätze repräsentiert wie Geist der Reinheit und hemmungslose Hingabe, kindliche Unterwürfigkeit und kongenialer Dichtersinn. Man darf dabei mit der Psychologie C. G. Jungs von einer Projektion des Unbewußten als „Seelenbild“ sprechen, das bei Männern in der Regel weibliche, bei Frauen männliche Verkörperung findet. Sämtliche Typen dieser Gruppe sind als A u s d r u c k s e r l e b n i s s e der Innenwelt zusammenzufassen. Unter den übrigbleibenden Typen dürften die von der Psycho- Analyse hergeleiteten verdrängten Erlebnisse (7) die aus dem Bewußtsein ins Unterbewußtsein abgeschoben werden, schwerlich mitzurechnen sein, da die Verdrängung es gar nicht zum Erlebnis kommen läßt, soweit wir dieses mit Rothacker als Aufnahme des Lebens ins gegenständliche Bewußtsein auffassen. Auch ist das von Müller-Freienfels gewählte Beispiel der religiösen Erlebnisse Nietzsches kaum in Zusammenhang mit dichterischem Erleben zu stellen. Dagegen entspricht dem objektiven Idealismus die Erscheinung, daß innere und äußere Lebenslenkung ineinander wirken, so daß unter dem Einfluß eines immanenten Lebensgesetzes Gleichartiges sich wiederholt. Zu den wiederkehrenden Erlebnissen (8) wäre z. B. die oben (S. 319) besprochene Periodizität im Liebesleben zu rechnen und die regelmäßige Flucht vor der Bindung, die als Erlebnis der Untreue in der

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Dichtung des jungen Goethe eine so große Rolle spielt. Sie wird von Müller-Freienfels als Treue gegen die eigene Natur gerechtfertigt. Die wiederkehrenden Erlebnisse führen zu gleichartigen Situationen zurück. Alles, was der Dichter des „Werther“ sich im Roman von der Seele geschrieben hatte, wurde nachträglich in Weimar erst zum persönlichen, intensiv gesteigerten, leidenschaftlichen Erlebnis. Alle Qualen, denen der empfindsame Romanheld nicht ins Angesicht zu schauen vermochte, das Zusammenleben mit der geliebten Frau unter Zwang eines freundschaftlichen Verkehrs mit dem Dritten, dem sie angehörte das tägliche Geständnis, die seelische Hingabe, das gleichsam eheliche Zusammengehörigkeitsgefühl ohne Besitz das alles wird für zehn Jahre Goethes eigenes Schicksal. An Frau v. Stein schickt er zusammen mit dem „Werther“ die Verse: Was ich da t r ä u m e n d jauchzt und litt, Muß w a c h e n d nun erfahren. Die Gelegenheit, die jene erste dichterische Gestaltung auslöste, wiederholt sich in abermaliger befreiender Entladung, und die neue Spiegelung heißt „Torquato Tasso“; seine Bezeichnung als „gesteigerter Werther“ hat des Dichters ausdrücklichen Beifall gefunden. Goethe selbst liebte es, die Erlebniswiederkehr seiner Dichtungen in wechselseitige Beziehung zu setzen. Als das Entsagungs-Erlebnis in der „Marienbader Elegie“ seinen wehmütigen Ausklang fand, wurde ihm als Motto das Tasso-Wort „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt“ vorangestellt, und durch Hinzunahme des Jubiläumsgedichtes, „An Werther“, stellte sich in der „Trilogie der Leidenschaften“ eine dreimalige Wiederholung unter gemeinsamen Nenner. Von den wiederkehrenden Erlebnissen ist die als „fausse reconnaissance“ bezeichnete scheinbare Wiederkehr zu trennen, die begründet ist in dem unbestimmten und eingebildeten Gefühl, eine Situation, in der man sich befindet, schon einmal erlebt zu haben. In dichterischer Gestaltung mag sich dieses Erlebnis, das religionspsychologisch als Wurzel des Präexistenz- und Seelenwanderungsglaubens aufgefaßt werden kann, zum Motiv wirklicher Wiederkehr realisieren; ja es werden die dichterischen Gestalten, sobald ihr Schöpfer mit ihnen lebt und sie in visionärer Deutlichkeit vor sich sieht, zu Bestätigungen dieses Vorganges. Das zeigt sich in dem oben (S. 298) herangezogenen Beispiel Flauberts. Das Gegenspiel zu der zurückgreifenden Phantasie ist in der vorwegnehmenden dichterischen Gestaltung späterer Erlebnisse gegeben,

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die als Antizipation in Goethes Schaffen eine so bedeutende Rolle spielt (vgl. oben S. 350). Beides erklärt sich aus der gleichen Disposition, die den Dichter für bestimmte Situationen besonders erlebnisempfänglich macht, so daß er sich vor Selbstwiederholungen in acht nehmen muß. Gewisse Erlebnismöglichkeiten und Lebensrichtungen sind der Persönlichkeit des Dichters immanent und gehören zu jenem inneren Gesetz, das oft als äußerer Zufall erscheint und von Goethe unter dem Begriff des Dämonischen erfaßt wurde. Es schließen sich noch die von Müller-Freienfels als 12. Typus bezeichneten dämonischen Erlebnisse an, bei denen eine überpersönliche Macht sich gegen den Willen des Subjekts als innerer Zwang durchzusetzen scheint und dem Gesamterleben, dem Charakter eine schicksalhafte Notwendigkeit aufprägt. Es handelt sich um das Bewußtsein göttlicher Sendung, das im religiösen, politischen und dichterischen Genie zum Durchbruch kommt. „Mahomets Gesang“ symbolisiert im Bild des mit sich fortreißenden Stromes dieses Führertum, das der Dichter selbst in Werdegang und Wirkung als seine Berufung erlebte. Diese d r i t t e Gruppe der wiederholenden, antizipierenden und dämonischen Erlebnisse läßt sich unter den Begriff des i m m a n e n t e n S c h i c k s a l s b e w u ß t s e i n s zusammenfassen. Wenn die Typik sich fast durchweg mit Beispielen aus Goethes Seelenleben belegen ließ und ungefähr alle Voraussetzungen seines Schaffens umfaßte, so bleibt gleich vollständige Anwendbarkeit auf Dichter anderer Wesensart fraglich. Bei den realistischen Sachdichtern werden Erlebnisse der ersten Gruppe überwiegen, bei den idealistischen Ich-Dichtern solche der zweiten, und in der dritten Gruppe scheint das wiederkehrende, das antizipierende und das dämonische Erlebnis zu Goethes besonderer Eigenart zu gehören. Obwohl es auch bei anderen Dichtern vorkommt. Z. B. kann in Chamissos „Peter Schlehmihl“ das Schlußmotiv der Siebenmeilenstiefel als Antizipation der großen Weltreise, die der Dichter nicht lange danach antrat, gelten. Vielfach ist die Vorwegnahme nichts anderes als bewußte dichterische Ausmalung eines Wunsches, der im späteren Leben Erfüllung finden soll. So hat Klopstock schon in jungen Jahren „die künftige Geliebte“ besungen, Coleridge machte ein eheliches Gespräch zwei Monate vor der Hochzeit zum Gegenstand eines Gedichtes, und Jean Paul ließ seine eigene Konjekturalbiographie in bescheidenen Zukunftsphantasien schwelgen, die sich nicht durchweg erfüllten. Die Frühromantik dagegen wollte im magischen Idealismus eines Friedrich von Hardenberg die Lebenswirklichkeit entthronen und an |#f0391 : 367|

ihre Stelle die Dichtung setzen. Statt immanenten Schicksalsbewußtseins brach ein emanativer Weltschöpfungswille durch, wenn durch Magie und Erfindungskunst das ganze Leben poetisiert, die Welt zum Traum, der Traum zur Welt und die Poesie zum absolut Reellen werden sollte. Diese Überantizipation, zu der das Leben der Wirklichkeit sich nicht zwingen ließ, gehört als Übersteigerung zu den imaginativen Erlebnissen der zweiten Gruppe. e) Erlebnis-Verlauf Das Erleben des Dichters schreitet mit zunehmender Bewußtheit zur Klarheit und Bedeutsamkeit fort. Die eigentlichen Urerlebnisse sind jene Schlummerbilder der ersten Kindheitseindrücke, die durchaus nicht, wie die Psychoanalyse wollte, ausschließlich im sexuellen Triebleben zu suchen sind, auch wenn sie im Unterbewußtsein bleiben. Heimat, Elternhaus, Familie und andere Umwelt-Eindrücke werden vielleicht erst im späteren Lebensverlauf erinnerungsmäßig ins Bewußtsein gezogen und bilden dann einen Erlebnisbestand, auf den immer wieder zurückgegriffen wird. Dazwischen liegt das erste Erlebnis des Ich-Bewußtseins, das z. B. für Jean Paul ein entscheidender Wendepunkt seines Seelenlebens wurde; er erinnert sich noch später des Grauens, das ihn befiel, als er sich plötzlich bewußt wurde, ein Ich zu sein. Im Schicksal des Humoristen Schoppe im „Titan“ und „Siebenkäs“ führt die spätere Dichtung dieses Erlebnis bis an die Grenze des Tragischen. Das Du-Erlebnis der ersten Liebe schließt sich an und bildet für die meisten Dichter einen Schatz heiliger Erinnerung, der vielfältig ausgemünzt wird. Auch das Erwachen des Natursinnes kann schlagartig eintreten, wie man z. B. in Goethes Lothringer Brief vom 26. Juni 1770 eine neue Form des Erlebens, des Sichöffnens für die Seele der Natur wahrnehmen darf. Von größerer Tragweite ist das Durchbruchs-Erlebnis der religiösen Selbstbesinnung, das als Erweckung und Bekehrung eine vollständige Wandlung von innen heraus nach sich zieht. Die Seelen-Struktur des religiösen Menschen besitzt die Empfänglichkeit für ein plötzlich hereinbrechendes Gotteserlebnis von visionärer Kraft: des Paulus Gang nach Damaskus, das „Tolle lege“ des Augustinus, der Blitzstrahl, der Luther ins Kloster trieb, sind Beispiele für die Wucht einer durch äußere Schicksalszeichen ausgelösten, aber doch von innen heraus erfolgenden entscheidenden Wandlung. Der Pietismus hat durch Vorbilder und Erziehungsgrundsätze eine Art Schulung zur Bereitschaft für religiöse Erweckungen ähnlicher |#f0392 : 368|

Art durchgeführt, und wir sehen an dem Umschwung, den Hamann 1758 in London erlebte, daß auch ein ästhetischer Mensch in dieser Weise erfaßt werden konnte. In seinem Rechenschaftsbericht: „Gedanken über meinen Lebenslauf“ erzählt Hamann, wie er Rousseau von sich warf und zur Bibel griff, um beim 5. Kapitel des 5. Buches Moses seine Erweckung zu erleben. Er dachte an Abel und hörte in der Tiefe seines Herzens die Stimme eines erschlagenen Bruders: „Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Tränen und ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet des langen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis und seine Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heiland immer mehr zu offenbaren.“ Die dichterischen Zentral-Erlebnisse haben oftmals den gleichen Charakter plötzlicher Erweckung. Kleists Kant-Erlebnis, Sophiens Verlust für Hardenberg und Hoffmanns Bamberger Leiden sind Beispiele dafür, daß alles Erlebte erst durch den etwas wird, der es erlebt. „Was sind denn unsere Erlebnisse?“ fragt Nietzsche. „Viel mehr das, was wir hineintragen, als das, was darin liegt. Oder muß es gar heißen: an sich liegt nichts darin? Erleben ist ein Erdichten?“ Unzähligen war schon vorher das gleiche Schicksal zuteil geworden, daß ihnen ein Lebensplan zerstört, daß ihnen die Braut gestorben, daß ihnen die Geliebte von einem Unwürdigen weggekapert wurde. Nicht an dem Schicksal lag es, sondern an der Art, wie dieses Schicksal überwunden werden kann, indem die künstlerische Einbildungskraft Lebensersatz schafft. So wandelt sich das Eindruckserlebnis zum Ausdruckserlebnis. Kleist wurde zum Dichter, als er einsah, daß Handeln besser sei als Wissen; Novalis baute sich seine Weltanschauung des magischen Idealismus auf, mittels deren er die Trennung von Tod und Leben zu überwinden und die Vereinigung mit der Geliebten willensmäßig erzwingen wollte; er verwarf in den „Hymnen an die Nacht“ das Tageslicht als Feind des Lebens und pries die Nacht als Erfüllung. Bei dem dritten Beispiel eines Zentral-Erlebnisses lag das Ereignis weniger in der Liebe Hoffmanns zu seiner Schülerin, als in dem brutalen Ende, das durch die erzwungene Verlobung Julias herbeigeführt wurde. Wenn das Tagebuch die bittere Bemerkung enthält „Das Schicksal meint es mit mir und meinem Künstlerleben gut“, so ist aus der Ironie Ernst geworden, denn nun erst entstand der Dichter, als aus diesem Erlebnis die Idee der ewigen Liebe des Künstlers aufstieg, |#f0393 : 369|

dem sein Ideal nicht zu entreißen ist. Im „Hund Berganza“, im „Kapellmeister Kreisler“, in den „Abenteuern der Neujahrsnacht“, den „Elixieren des Teufels“, der „Fermate“, dem „Sängerkrieg“ kehrt immer das gleiche wieder: „Und die, die du liebst, sie ist kein irdisches Wesen, sie lebt nicht auf der Erde, aber in dir selbst als hohes reines Ideal deiner Kunst, das dich entzündet, das aus deinen Werken die Liebe aushaucht, die über den Sternen wohnt.“ Hier handelt es sich nicht um Wiederkehr derselben Erlebnisform, wie sie in Goethes Anlage ihre Bedingung fand, sondern um ein Dauer-Erlebnis, das sich in langer Nachwirkung in die Tiefe eingrub und feste Charakterzüge in der Physiognomie des Dichters prägte. Umformende Erlebnisse dieser Art können auch von Kunstwerken ausgehen; so ist, wie Rudolf Schlössers Biographie gezeigt hat, der Graf von Platen durch das Erlebnis Venedigs ein anderer geworden, so Rainer Maria Rilke durch seine Bekanntschaft mit Rodin; in Stefan Georges Maximin-Erlebnis dagegen vereint sich der Kult menschlicher Schönheit mit vergottendem Aufbau einer selbstgeschaffenen Religion. Manchmal verbindet sich die Handlung mit dem Ende einer schweren Krankheit; Beispiele bieten Christian Morgenstern, der den Abschluß einer von Nietzsche beherrschten weltlichen Periode durch johanneische Offenbarung erlebte, oder Rudolf G. Binding, bei dem die Dichtergabe nach einer rätselhaften Krankheit im 40. Lebensjahr unter dem Eindruck von Florenz und dem Erlebnis der italienischen Sprache plötzlich durchbrach, doch stellen Anton Mayers Erinnerungen „Der Göttergleiche“ eine von Berliner archäologischen Vorlesungen ihren Ausgang nehmende und in der Griechenland-Reise reifende allmähliche Entwicklung Bindings dar. Bei Reinhard Johannes Sorge, der in Norderney durch die Vision Christi zur Umkehr gerufen wurde, trägt diese Erschütterung selbst krankhafte Züge. Plötzlich auftretende innere Wandlung ist vielfach auch als dichterisches Motiv gestaltet worden, so in Hermann Hesses Roman „Narziß und Goldmund“, wo der Klosterschüler Goldmund mit einem Schlage, ohne daß er der Entwicklung bedurfte, durch Lösung seiner Seele zum vollendeten Künstler wird, oder in Hermann Stehrs „Heiligenhof“, wo mit der Erblindung des Kindes sein inneres Licht zu leuchten beginnt. Neben den Dauer-Erlebnissen, die als Folgen tiefer Erschütterung und entscheidenden Durchbruchs weiterwirken, ist das Ziel-Erlebnis zu nennen, das der Mystiker und Quietist als Aufgehen in Gott ständig vor Augen hat und das der Ekstatiker erreicht. |#f0394 : 370|

Außer den wiederholten Umschwungs-Erlebnissen, die von einem Gegensatz zum andern führen, wie wir es etwa in Christoph Martin Wielands Entwicklung mehrfach beobachten, sind noch die affektartig drängenden Kurz-Erlebnisse zu berücksichtigen, deren intensive Gewalt vielleicht nur in einem einzigen Werke zum Ausdruck kommt, aber als befreiende Aussprache sich so restlos erschöpft, daß mit der einmaligen Gestaltung das Erlebnis als dichterischer Gegenstand abgetan ist. Der Anstoß zur Gestaltung tritt um so schneller und heftiger auf, je mehr ein überraschendes, der Anlage des Dichters nicht entsprechendes Erlebnis zum Widerstand aufruft und den Rhythmus des Sprachausdrucks unmittelbar eingibt. Ein Beispiel ist „Wanderers Sturmlied“, das Goethe, als er auf der Straße zwischen Frankfurt und Darmstadt vom Unwetter überrascht wurde, im Vertrauen auf seinen Genius den entfesselten Gewalten entgegensang. f) Erlebnisbild Bei Antritt der winterlichen Harzreise schreibt Goethe in sein Tagebuch die Worte „Dem Geier gleich“ und verrät damit, daß schon bei Beginn der Wanderung der Anfang der Ode „Harzreise im Winter“, improvisiert wurde. Deren Abschluß erfolgte erst neun Tage später, als die erspähte Beute erreicht und das sinnbildhafte Ziel der winterlichen Brocken-Besteigung erzwungen war. Das Erlebnis vollendet sich erst in der Ausführung; das Gedicht bringt es zum Abschluß. Manchmal wiederum hat sich die Verschmelzung längst gefundener Bilder erst mit einer späteren Gelegenheit eingestellt. Der oben (S. 367) erwähnte Bericht Goethes über einen abendlichen Ritt durch Lothringen schildert die vom Berg herabhängende schwere Finsternis des Buchenwaldes als Sinnbild eines lastenden Druckes, gegen den das Lebensgefühl der Sturm- und Drangjugend sich aufbäumt in der heldischen Überzeugung, daß das Leben Kraftbetätigung ist und nur in der Überwindung großer Mühen Freude schafft. Das hätte ein Gedicht werden können, wenn das Naturerlebnis sich zum Weltbild verdichtete. Andere nächtliche Wanderungen mögen neue Bilder geschenkt haben: das der Eiche, die im Nebel wie ein getürmter Riese dasteht; das des Mondes, der von seinem Wolkenhügel schläfrig aus dem Dunst hervorsieht. Alles kristallisiert sich in einer Stunde, wo die verzehrende Glut der Sehnsucht dazu treibt, der Geliebten zu sagen, wie durch Schauer und Fährnisse der Nacht der Zug des Herzens zu ihr hinzwingt. Da entsteht als Gelegenheitsgedicht der gewaltige Eingang von „Willkommen und Abschied“: |#f0395 : 371|

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Und fort! wild wie ein Held zur Schlacht. Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht; Schon stund im Nebelkleid die Eiche Wie ein getürmter Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. So sind die vorhandenen Bilder vorauserlebter Naturstimmung im Gefühlserlebnis der Gelegenheit zusammengezogen. Aber auch der umgekehrte Hergang ist möglich, daß für eine erlebte Stimmung, die ihren brieflichen Niederschlag gefunden hat, sich erst später das sinngebende poetische Bild einstellt. Der Werther-Brief vom 10. Mai, erfüllt vom Wehen des All-Liebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, klagt über die Ohnmacht des Gestaltens, und erst als die Fabel von Ganymed sich findet, wird der lyrische Keim entfaltet in der Gestaltung der gleicher Stimmung entwachsenden Ode. Es kann auch vorkommen, daß das Sinnbild erst in einer späteren vom Erlebnis weit entfernten Umarbeitung seine charakteristische Prägung erhält. Conrad Ferdinand Meyer wurde um die Mitte der sechziger Jahre, als er auf der Fahrt durch das Bergell im Garten eines verfallenen Salis-Schlosses das Zusammentreffen von Arven und Kastanienbäumen beobachtete, durch diese charakteristische Mischung nördlicher und südlicher Vegetation beeindruckt. Im Jahr 1873 entstand das Gedicht „Die Grenzfeste“, das Kastanie und Eiche als symbolische Hüter der Länderschwelle nebeneinander stellt. Daraus ist später mit gesteigerter Sinnbildhaftigkeit das Gedicht „Die Schlacht der Bäume“ geworden, das im Gegensatz von Arve und Rebe, im Kampf der Nadeln mit den Blättern, die Erinnerung an einstige blutige Grenzkämpfe wieder aufleben läßt. Erlebnis und Gestaltung können durch dazwischenliegende Jahrzehnte getrennt sein, und zwar sind es gerade die der Anlage entsprechenden Erlebnisse, die viel längere Zeit zur Reife brauchen, weil sie in das Weltbild des Dichters aufgenommen werden und erst aus der Tiefe dieses Urgrundes gestalthaft auftauchen. Als Goethe im Jahre 1823 das Wort „gegenständlich“, mit dem der Anthropologe Heinroth die Art seines Denkens bezeichnet hatte, dankbar auf die Charakteristik seiner ganzen Dichtweise übernahm, machte er das bedeutsame Geständnis, daß er gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes 40 bis 50 Jahre lebendig und wirksam im Innern getragen habe, ehe er sie gestaltete: „Mir schien der schönste |#f0396 : 372|

Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern, einer reineren Form, einer entschiedenern Darstellung entgegenreiften.“ Er nannte Beispiele aus seiner Balladendichtung, wie: „Braut von Korinth“, „Gott und Bajadere“, „Graf und Zwerge“, „Paria“. In der Tat hat die Paria-Legende 40 Jahre in Goethe als Erlebnis geschlummert, ehe die Gelegenheit eintrat, ihr Gestalt zu geben. Dafür ist diese Dichtung dann ein besonders vielsagendes Symbol der Weltanschauung des Dichters geworden.

3. W e l t b i l d a) Einstellung Kein Einzelerlebnis wird zur Dichtung, ohne daß die Gestalt geboren würde aus dem Mutterschoß des Weltbildes, das der Dichter als Ordnung aller Lebenseindrücke in sich trägt. Es kann entweder ein Zusammenstoß erfolgen, der diese Ordnung erschüttert; er muß in dichterischer Befreiung ausgetragen und überwunden werden. Oder es tritt eine widerstandslose Übernahme in die Summe von Lebenserfahrung ein, die dadurch Bestätigung und eindrucksvolle Bekräftigung erfährt. Schließlich kann sich das aus Anlage und Erlebnissen aufgebaute Weltbild auch als geprägte Form weiter entwickeln und um problematische Erfahrungen bereichert werden, die auf Stellungnahme und Verarbeitung hindrängen. Nicht durch jeden Lebenseindruck wird das Weltbild in gleicher Weise berührt und in Schwingung versetzt. Unter allem, was sich herandrängt, wird vielmehr eine Auswahl vollzogen, für die nichts anderes maßgebend ist als die Bedeutsamkeit der Beziehung. Wenn künstlerisches Erleben bereits den Anfang des Gestaltens darstellt, so liegt der Übergang in der Verschmelzung mit den persönlichen Anschauungen, aus denen Motive und Probleme Beleuchtung erfahren. Das gestaltete Erlebnis erhält also sinnbildhafte Bedeutung erst durch den Hintergrund des Weltbildes, von dem es sich abhebt. Wenn im ersten Buch bei der Analyse des Einzelwerkes (S. 232 ff.) von weltanschaulicher Haltung die Rede war, die nur ein Bruchstück, einen Ausschnitt, ein wandelbares Glied der Weltanschauung bildet, so soll auch hier das Wort Weltanschauung zunächst vermieden werden, weil wir darunter eine überpersönliche Totalität, etwas Ganzes und Universales verstehen müssen. Das Wort Weltbild dagegen bedeutet wohl, wie Jaspers in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ |#f0397 : 373|

sagt, „die Gesamtheit der gegenständlichen Inhalte, die ein Mensch hat“, aber es ist doch nur „eine individuelle Perspektive, ein individuelles Gehäuse, das als Typus, aber nicht als das absolut allgemeine Weltbild generalisiert werden kann“. Perspektivisch kann dieses aktuelle Weltbild des einzelnen auf eine allgemeingültige Weltanschauung hinzielen; es kann sogar in eine eigengesetzliche Welt des Allgemeinen hineinwachsen und in Eigenschöpfungen für den Gestalter objektiv werden. Gleichwohl liegt im Begriff des „Bildes“ mehr Subjektivität als in dem der „Anschauung“; das Bild ist künstlerische Weltgestaltung, die in allen ihren Zügen durch die Wesensart des Schöpfers bedingt ist. Das Weltbild des einzelnen ist genetisch auf zwei Quellen zurückzuführen: die eine fließt aus dem, was dem Individuum von außen geboten wird, was ihm als Erfahrung zuströmt und was, mag es auch noch so reich sein, begrenzt und lückenhaft bleibt; die andere besteht in den vom Individuum ausgehenden Perspektiven und in der Auswahl, die durch Anlage und Charakter auf das ihm Adäquate gelenkt wird. Subjektive Einstellung, die sich des Gegenständlichen bemächtigt, und Gegenständliches, das in dem Gehäuse des seelischen Lebens eingefangen ist, bilden die Komponenten. Unter den Einstellungen unterscheidet Jaspers die gegenständliche, die selbstreflektierte und die enthusiastische mit den Unterabteilungen des aktiven, des kontemplativen und des mystischen Verhaltens. Die enthusiastische Einstellung ist die des Schaffenden, die in Selbsthingabe, Liebe und Glaube ein Selbstwerden bedeutet; sie bringt in Auseinandersetzung zwischen Einstellung und Gegebenheit, zwischen Ich und Welt neue Werte hervor. b) Bedingtheit Wenn die Betrachtung schon mehrfach nahe herangeführt wurde an die Übereinstimmungen zwischen weltanschaulicher Haltung und Stil, so bietet sich ein vermittelndes Bindeglied in dem Begriff „Lebensstil“, den Erich Rothackers „Geschichtsphilosophie“ als Synonym für „Kultur“ zur Anwendung gebracht hat. Mit diesem Wort wird die einheitliche Haltung von Gruppen bezeichnet, die in bestimmten Formen leben, seien es Gemeinschaften der Rasse oder einer loseren Abstammung, seien es territoriale oder staatliche Gemeinschaften oder solche der Sprache, des Rechts, der Religion und der Sitte. Man hat von „Kulturseelen“ gesprochen wie von „Rasseseelen“, und Rothacker möchte jeder dieser Totalitäten eine besondere, individuelle und |#f0398 : 374|

unverwechselbare stilistische Physiognomie zuschreiben. Von dieser totalen Physiognomik bis zu dem Stilprofil, das im ersten Buch (S. 231) für das einzelne Werk gesucht wurde, ist ein weiter Weg, der in der Bestimmung von Weltanschauung und Weltbild seine Parallele findet. Hier wie dort wird eine einheitliche Richtung verfolgt, die von der Totalität zur Individualität herabsteigt. Wie das einzelne Werk Anteil haben kann an Rassestil, Nationalstil, Stammesstil, Zeitstil und Generationsstil (vgl. S. 202), ohne dadurch bis ins letzte bestimmt zu sein, so ist der einzelne Mensch, soweit er dem Typus einer Rasse, eines Volkes, eines Stammes, einer Familie oder einer Zeit und Generation zuzurechnen ist, in seinem Weltbild von diesen Gemeinschaften durch Erbe oder Umweltanpassung abhängig. Der organischen Ganzheit, zu der diese Bedingtheiten sich vereinen, ist erst als Tüpfchen auf dem I die Individualität aufgeprägt. Die zukunftsvolle aber noch in den Anfängen liegende Arbeit einer Rassenpsychologie kann von zwei Seiten aus vorgehen, indem sie entweder den Zugang zur Rassenseele von den äußerlich erkennbaren Körpersymptomen aus sucht oder indem sie vom Seelenbild ausgehend dessen typische Verkörperung erfassen will. Den ersten Weg beschritt Ludwig Ferdinand Clauß, der zwar bei den Tatsachen des gegenseitigen „Verstehens“ und „Nichtverstehens“ einsetzte, aber das hauptsächliche Beobachtungsmaterial seiner als Psycho-Anthropologie bezeichneten mimisch-physiognomischen Methode in der phänomenologischen Deutung von Gesichtstypus, Gestalt und Ausdrucksbewegungen fand. So wurden die Rassenstile des nordischen Leistungsmenschen, des fälischen Verharrungsmenschen, des mittelländischen Darbietungsmenschen, des wüstenländischen Offenbarungsmenschen, des vorderasiatischen Erlösungsmenschen und des ostischen Enthebungsmenschen, von denen jeder die Welt anders sieht, physiognomisch glänzend charakterisiert, und die Umwelt der Landschaft wurde als stilhafter und stilbildender Lebensraum hinzugenommen. Diese Typologie, die nicht einmal alle europäischen Rasseformen, geschweige denn die der anderen Erdteile umfaßt, beansprucht keine erschöpfende Vollständigkeit. Infolgedessen ist das typologische Schema, das Eduard Ortner darauf aufgebaut hat, indem er die überhaupt möglichen Formen des Verhältnisses zwischen Organismus und Umwelt als intrahärent-fälisch, intrafugal-westisch, extrapetalnordisch, intralinquent-ostisch, extrafugal-orientalisch, intrapetal-vorderasiatisch deduziert, mehr willkürliche Anpassung als bestätigendes Zusammentreffen. Auch die möglichen Ausdrucksformen des Stils und der Religiosität lassen sich auf dieser Grundlage nicht hiologisch |#f0399 : 375|

systematisieren. Vielmehr bleibt es bei einer auf induktiver Beobachtung beruhenden Charakterologie. In Blick und Haltung des nordischen Menschen, der das betonte Abstandnehmen, das Suchen nach Ferne und einen weltumspannenden Zug zur Weite in Gebärden des Ausgriffs erkennen läßt, versinnbildlicht sich nach Clauß die Bejahung des Schicksals. Auch der einsame Held nordischer Dichtung sieht dem Schicksal frei ins Auge, indem er es auf sich nimmt, in sich aufnimmt, beantwortet und gestaltet. Der mittelländische Darbietungsmensch kennt dagegen kein von innen sprechendes Schicksal, sondern nur eine von außen waltende Macht, der er sich durch gewandtes Spielen zu entwinden sucht. Der morgenländische Fatalismus leidet das Schicksal, indem er es gebeugten Nackens über sich hingehen läßt. Die Seele des ostischen Enthebungsmenschen aber lebt zentripetal „wie in einer dumpfen Kugel, deren Dunsthülle sich dehnen kann und sich so an die Dinge heranschiebt, aber immer in Bereitschaft ist, wieder in sich zusammenzuschnurren.“ Der fälische Verharrungsmensch wiederum in seinem schweren und erdgebundenen Verhaftetsein sperrt sich gegen das Schicksal, ohne es zu gestalten, und wenn es über ihn kommt, zertrümmert er in trotzigem Zerstörungskrampf alles, was ihm in den Weg tritt. Aus den Widersprüchen des nordischen und fälischen Wesens, von denen schon oben (S. 288 f.) die Rede war, konnten sich die charakteristischen Treuekonflikte des germanischen Menschen ergeben. Bei Siegfried und Hagen beispielsweise mag nordische und fälische Treueauffassung in Gegensatz stehen. Clauß hält es sogar für möglich, daß die Erinnerungen frühgermanischer Sage an Kämpfe Asgards und Midgards gegen uralte Riesengeschlechter, ähnlich wie die antike Titanomachie, noch etwas von jener Urzeit festhalten, da das nordische Heldentum mit fälischem Riesentum zusammenstieß. In gleicher Weise mag auch die Göttersage vom Krieg der Asen und Vanen auf rassische Auseinandersetzung zurückgehen, denn in den istväonischen Asen gipfelt das nordische Kriegerideal; die ingväonischen Vanen dagegen sind Fruchtbarkeitsgötter, die dem seßhaften Wesen der fälischdalischen Rasse entsprachen. Den Stil der altgermanischen Dichtung, dessen Einheit der beste Kenner Andreas Heusler in Zweifel zieht, erklärt Clauß ebenfalls aus Gegensätzen des rassischen Weltbildes: „Der Edda-Stil ist Ausdruck nordischen Wesens, der Saga-Stil ist nordisch-dalischer Ausdruck, während die Form der Skalden-Dichtung auf ein durch die alt-irische Kultur vermitteltes mittelländisches Ausdrucksvorbild hinweist.“ In viel stärkerem Maße noch hat H. F. K. Günther Belege der |#f0400 : 376|

Dichtung für rassisch bestimmte Weltbilder herangezogen, sowohl in seiner Charakteristik des nordischen Menschen, als in der des dinarischen, den Clauß nicht als eigenen Rassetypus anerkennen wollte. Günthers geistesgeschichtliche Methode ist durch den Anthropologen v. Eickstedt in seinem kritischen Überblick über die „Grundlagen der Rassenpsychologie“ als „intuitive Schilderung von als typisch angenommenen Verhaltensweisen rassenkörperlich gekennzeichneter Einzelner oder Gruppen“ charakterisiert worden; ebenso verfiel Clauß der Kritik, weil er durch Ablehnung der Rassensomatik als des eigentlichen Ausdrucksfeldes der Stilentfaltung sich den Weg zur Gesamtschau verbaut habe. v. Eickstedt selbst sucht von der Naturwissenschaft aus zur Einheit körperlicher und seelischer Erscheinungsbilder durchzudringen, wobei die psychologische Seite Gefahr läuft, zu kurz zu kommen. Das letzte Ziel solcher Betrachtungsweise ist kaum erreichbar; es müßte darin bestehen, daß im Zusammentreffen somatischer und psychischer Züge ein festes Verhältnis erkannt würde, so daß man das Weltbild des Einzelnen wie seinen Charakter mit Sicherheit aus dem Ausdruck seiner körperlichen Erscheinung erkennen könnte, wie aus geistigem Gehalt und Stilform mit Sicherheit auf seine rassische Beschaffenheit zu schließen wäre. Solche Zielsetzung liegt etwa dem „Physiognomischen Weltbild“ zugrunde, das Rudolf Kaßner entwerfen wollte. In dilettantischer Handhabung, für die der Wunsch meist Vater des Gedankens ist, hat diese Methode schon oft zu Fehlschlüssen geführt; bei wissenschaftlichem Vorgehen ist um so mehr Vorsicht geboten, als bekanntlich bei Rassenkreuzung Körperbild und seelische Haltung des einzelnen nach verschiedenen Seiten auseinandergehen können, so daß beispielsweise einem vorwiegend nordischen Körperbau die geistige Haltung eines vorwiegend ostischen Seelenbildes gegenüberstünde. Die zweite Schicht der Bedingtheit liegt im Volkhaften, in der „blutsverwandten Kulturformgruppe“, die v. Eickstedt unterscheidet von der als Rasse geltenden „blutsverwandten Körperformgruppe“. Die dritte Schicht besteht in der als „Gautypus“ bezeichneten Stammhaftigkeit. Von Ethnologie, Völkerpsychologie, Philosophiegeschichte und Geschichte der einzelnen Künste ist mancherlei Bemühung aus gegangen, den Anteil von Volks- und Stammeszugehörigkeit an der Prägung des Weltbildes und des Stiles zu erkennen. Beispielsweise hat Wilhelm Wundt in seiner durch den Weltkrieg veranlaßten Schrift „Die Nationen und ihre Philosophie“ die theoretische Anlage des französischen Geistes in der Mischung von Dogmatismus und Skeptizismus, |#f0401 : 377|

die englische Weltauffassung in ihrem Utilitarismus, den Idealismus der deutschen Art und den zwischen Nord- und Süditalienern bestehenden Unterschied der Verstandesklarheit und der überquellenden Macht von Phantasie und Affekt charakterisiert. Die Rekonstruktion des Weltbildes vergangener Kulturen ist dem gefolgt. So hat P. Masson-Oursel das philosophische Denken im Abendland, in Vorderasien, Indien und Ostasien einem geschichtlichen Vergleich unterzogen. Ludwig Klages hat dem Weltbild der Pelasger den dritten Band seines großen Werkes „Der Geist als Widersacher der Seele“ gewidmet, und das indische Weltbild ist in vielerlei Untersuchungen zu dem europäischen in Vergleich gesetzt worden. Wie aus der Art der Stämme ihr verschiedenes Verhalten zur Welt herzuleiten ist, gehört zu den Problemen der Nadlerschen Literaturgeschichte. Es erwies sich oben (S. 294), daß nicht für jeden einzelnen, sobald seine auf verschiedene Wurzeln zurückgehende stammhafte Herkunft auch noch durch Anpassung an verschiedene Landschaften durchkreuzt wird, die Konflikte in einheitlicher Folgerichtigkeit zu lösen sind. Es bleibt die Frage, ob in solchen Fällen ein widerspruchsvolles Weltbild zustande kommt, oder ob unter den bedingenden Faktoren, wie bei der Vererbung körperlicher Eigenart ein bestimmter Typus sich durchsetzt. Von solchen Problemen soll im dritten Buch die Rede sein. Spielt bei Volk und Stamm bereits die Macht der Tradition neben der Blutbindung eine wesentliche Rolle, so ist dies in noch höherem Maße bei den religiösen Gemeinschaften und den in ihnen erzieherisch ausgebildeten Gesinnungen der Fall. Zwar sprechen auch hier die rassischen Grundlagen entscheidend mit. In den Glaubensformen primitiver Völker wie in den Weltanschauungen vergangener Kulturen suchen wir den Ausdruck einer Rassen-Seele. Wo sich die Weltvorstellung eines „Paideuma“, das Leo Frobenius sogar rassebedingend und rassebildend nannte, in Widerstreit und Wandlung entwickelt, mag der Zusammenstoß verschiedener Rassen und Kulturen sich auswirken. So kreuzen sich solare Lichtreligion und dunkle chthonische Mythen im Altertum. Arische Elemente werden in der indischen Religion verdrängt und beherrschen die iranische; apollinisches und dionysisches Griechentum stehen einander gegenüber. Auch in der Urlehre Christi treten nach Chamberlain und Rosenberg nordische Züge in Erscheinung, die Eduard Wechßler aus griechischen Einflüssen zu erklären suchte, und die germanische Färbung des christlichen Gotteserlebnisses kommt mit dynamischer Innerlichkeit bei den deutschen Mystikern, bei Meister Eckart und |#f0402 : 378|

Seuse, bei Luther, bei Paracelsus und Jakob Böhme, wie im Freiheitswillen des ganzen Protestantismus zum Durchbruch als Gegensatz zu den aufgezwungenen romanischen Denkformen der mittelalterlichen Scholastik. Jede Kirche prägt nun ihr eigenes Weltbild. Das Luthertum führt zur Berufsethik; der Kalvinismus rechtfertigt, wie Max Weber gezeigt hat, in seiner realistischen Diesseits-Tendenz den Kapitalismus; der Puritanismus gewinnt nach Herbert Schöfflers Darstellung bestimmenden Einfluß auf die englische Lebensanschauung; die Soziallehren der christlichen Kirchen stehen nach Tröltschs großem Geschichtsbild in fortschreitender Entwicklung unter dem Einfluß des Zeitgeists; der Jesuitismus greift mit der Gegenreformation in politische Grundsätze wie in Erziehungsmethoden ein und wird zur Stütze des Absolutismus; in derselben Zeit aber entwickelt sich als Folgewirkung großer Entdeckungen das von Dilthey in seiner Entstehungsgeschichte dargestellte natürliche Weltbild, worin Naturrecht, natürliche Religion und natürliche Gesellschaftsordnung eingeschlossen sind. Eine weitere Bedingtheit besteht in der Standeszugehörigkeit und in den gesellschaftlichen Anschauungen, die einem Wandel der Werte unterliegen. Das Weltbild der höfischen Gesellschaft wird gegen Ende des Mittelalters durch das Aufblühen des städtischen Bürgerstandes abgelöst. Man kann schon an dem Gegensatz des ritterbürtigen Aristokraten Wolfram v. Eschenbach, der im „schildes ambet“ seine angestammte Art erblickte, und des Meisters Gottfried von Straßburg, von dem erworbene Zucht und Bildung verherrlicht wurden, die ganz verschiedene Einstellung des ritterlichen und bürgerlichen Sängers beobachten. Ein ähnlicher Übergang vollzog sich um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts in England seit der großen Revolution und bald danach in Frankreich, für das B. Groethuysen das Werden eines bürgerlichen Weltbildes dargestellt hat. In Deutschland aber setzt sich mit Überwindung des Bildungsdünkels der Aufklärung im letzten Viertel des Jahrhunderts ein organisches Weltbild durch, das von Herder bis zur Romantik den Begriff des Volkes zur Ehre bringt als einer gegliederten Einheit, die den unerschöpflichen Lebensquell und schöpferischen Untergrund der Kultur bildet. Zersetzungen dieser Einheit sind in der Folgezeit wieder durch einen extremen Individualismus, der den „Einzigen“ in den Mittelpunkt der Welt rückte, und durch den Materialismus eines proletarischen Weltbildes, das die „Masse Mensch“ in den Kampf ums Dasein stellte, erfolgt, bis schließlich durch den Nationalsozialismus dem Begriff des Volkes eine wahrhaft religiöse Bedeutung zurückgegeben wurde. |#f0403 : 379|

Was nur in flüchtigen Zügen und andeutenden Stichworten hier aneinandergereiht werden konnte, soll im dritten Buch unter den „Ordnungen“ eine ausführlichere Behandlung finden. Vorerst muß der Hinweis genügen, aus wie vielerlei Voraussetzungen ein persönliches Weltbild sich entwickelt, das schon in der Geburtslage nach Abstammung, Raum und Zeit wie im gesellschaftlichen Lebenskreis, in den der einzelne hineinwächst, Grundlagen empfängt, von denen er sich teils gar nicht, teils nur infolge eingreifender Erlebnisse und unter schweren Kämpfen losringen kann. c) Horizont Wenn sich das Weltbild als Genotypus wie als Phänotypus, in seinen rassischen und ererbten wie in seinen zeitlichen und gesellschaftlichen Grundlagen erkennen läßt, so muß es weiter darauf ankommen, diese Abhängigkeiten mit den typischen psychologischen Strukturen in Einklang zu bringen und einem System einzufügen, das die verschiedenartigen Richtungen inhaltlich gliedert. Ohne die Rücksicht auf kulturelle Bedingtheit an erste Stelle zu setzen, hat Karl Jaspers in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ die gegenständlichen Inhalte, die im Weltbild des Menschen zusammengeschlossen sind, in so reicher Mannigfaltigkeit und sorgfältiger Unterscheidung dargelegt, daß an diese Einteilung angeknüpft werden kann. Jaspers ordnet die Verhältnisse nach dem Bild konzentrischer Kreise, die vom unmittelbaren Horizont des im Mittelpunkt stehenden Ich bis zur absoluten Unendlichkeit sich ausweiten. Es sind drei Sphären, deren erste als die erlebte, mit der Seele verwachsene Welt sinnlich greifbares Objekt bleibt, während die zweite als Bereich der Seele mit einem Sprung hinter die Dinge Vergangenes, Erinnertes, Abwesendes, Zukünftiges subjektiv zusammenschließt; über beiden steht die dritte Welt als Einheit von Subjekt und Objekt, als das Absolute, das Metaphysische, das Totale, als Weltseele, als Gott. Fast scheint es, als fänden sich die drei Gruppen, nach denen oben (S. 362 ff.) die Typen des Erlebnisses gegliedert wurden, wieder; doch wird ein gewisser Wechsel zwischen zweiter und dritter Gruppe wahrzunehmen sein. Das sinnlich-räumliche Weltbild der ersten Sphäre ist entwicklungsmäßig als naturmythisch, naturgeschichtlich und naturmechanisch abgestuft; es ist geschichtlich bedingt durch fortschreitende Naturerkenntnis und wird jedem einzelnen in bestimmten Vorstellungen als Bildungsgut seiner Zeit auferlegt. Allerdings gibt es, wie Jaspers |#f0404 : 380|

meint, noch heute manchen Menschen, der bei aller Erhebung über die sinnlich-räumliche Gegenwart in dem begrenzten Kosmos der Griechen lebt und nur in ihm existieren kann. Es darf hinzugefügt werden, daß auch Dichter der Neuzeit anzutreffen sind, die über die Schwellen der zeitlich geltenden Naturauffassung in naivem Vertrauen auf ihre Sinne oder ihre Phantasie nach rückwärts oder vorwärts hinwegschreiten; z. B. Johannes Schlaf, der das kopernikanische System leugnen wollte, oder August Strindberg, dessen Absicht es war, Newton zu widerlegen, die chemische Elementenlehre aufzuheben und nach eigener Transmutationstheorie Gold herzustellen. Die seelisch-kulturelle Sphäre, die an zweiter Stelle steht, ist die des Verstehbaren, worunter alle Gebiete des Geistigen, die Formen des Logischen, Ästhetischen, Religiösen, Politischen, Ökonomischen begriffen sind. Vergangene Kulturen, menschliche Persönlichkeiten und Seelenmythen werden hier zum Erlebnis, das zu künstlerischer Gestaltung aufruft. Das wissenschaftliche Verstehen aber gelangt schließlich in der Ordnung von Kulturkreisen, Typen und Geistesformen zur Verabsolutierung in Historismus, Psychologismus und Ideenlehre. Das metaphysische Weltbild, das für den, der darin lebt, das schlechthin Wirkliche bedeutet, kann nicht die Projektion in einen leeren Raum des Jenseits sein, sondern es durchdringt und umfaßt alle konkreten Weltbilder. Wenn nach seinem Ort gefragt wird, so kann die Trennung zwischen Jenseits und Diesseits in einer neuen Synthese aufgehoben werden, die, mit Jaspers zu sprechen, als Hierarchie von Wirklichkeitsstufen sich aufbaut. Der Inhalt des metaphysischen Weltbildes ist als mythologisch-dämonisch oder als philosophisch in verschiedenen Spielarten zu charakterisieren. Die Geistestypen sind bestimmt durch ihre Stellung zu subjektiven oder objektiven Werten und deren Gegensätzen, wie zu Werten der menschlichen Gemeinschaft; sie finden in den Antinomien des Denkens, Wertens, Handelns und Leidens, wie in Kampf, Tod, Zufall und Schuld ihre Grenzsituationen (vgl. oben S. 239); ihre Struktur teilt sich zwischen Skeptizismus und Nihilismus, Halt im Begrenzten und Halt im Unendlichen. Schließlich kann sich nach Art der Wirklichkeit, die wesentlich und beherrschend wird, im dämonischen Leben der Realist, der Romantiker und der Heilige unterscheiden. Suchen wir in diesem Aufbau den Ort des dichterischen Weltbildes, so deutet der letzte Hinweis an, daß sein Schwerpunkt in der zweiten Sphäre liegen wird. Das seelisch-kulturelle Weltbild birgt in seinem Subjektivismus die eigentlichen Schaffensantriebe. Zwar bilden alle |#f0405 : 381|

Vorstellungen und Eindrücke des sinnlich-räumlichen Weltbildes die Bausteine, und die metaphysische Ganzheit gibt die Höhendimension als emporstrebende Zielrichtung; aber in der Mitte liegt der Innenraum, der im verstehenden und nachlebenden Gestalten von Kulturproblemen, Persönlichkeiten und Mythen die Aufgaben der Formung stellt. Gleichwohl kann, je nach der Beschaffenheit des Typus, auch ein Übergewicht des im sinnlich-räumlichen Weltbild befangenen Realismus oder der nach letzter Wirklichkeit und Ganzheit strebenden Metaphysik gegeben sein. Teilbegriffe des Weltbildes nehmen in jeder der drei Sphären eine andere Problemgestalt an. Der Schicksalsgedanke, dessen rassische Bedingtheit oben (S. 375 f.) besprochen wurde, erscheint in der ersten Sphäre als mechanische Kausalität oder als blindes Fatum; in der zweiten Sphäre nimmt er die Form einer vom Charakter unlösbaren Immanenz an („In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne“); im dritten Bereich gibt es eine finale Kausalität, einen Weltwillen und eine Transzendenz göttlicher Fügung. Wenn die Geschichtsauffassung im Weltbild des ersten Kreises materialistisch ist und wirtschaftliche Faktoren als ausschlaggebende Schicksalsmächte betrachten kann, so ist sie deshalb dichterischer Gestaltung nicht unzugänglich, wie etwa Bernard Shaw beweist; nur setzt sie sich in diesem Fall ironisch auseinander mit dem Gegenbild des zweiten Kreises, ohne das sie nicht denkbar ist, mit der heroischen Auffassung, die alles entscheidende Geschehen auf das Wirken großer Männer zurückführt; doch bleibt sie unberührt von der Teleologie des metaphysischen Weltbildes. Der Wille ist im ersten Kreis äußerlich, im zweiten innerlich determiniert, im dritten frei oder gottgelenkt. Das Göttliche des sinnlich-räumlichen Weltbildes erscheint in vielerlei Gestalten, die wie Griechenlands Götter oder die der Germanen als versinnbildlichte Naturkräfte sich darstellen; innerhalb der seelischen Sphäre waltet Gott im eigenen Gewissen des Menschen („Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron“); metaphysische Spekulation führt dagegen zur Allheit Gottes hin. Doch läßt das dichterische Weltbild verschiedenartige Erscheinungsformen nebeneinander bestehen, wie bei Goethe zu zeigen ist, der sich als Künstler zum Polytheismus, als Naturforscher zum Pantheismus, als sittlicher Mensch zum persönlichen Gott bekannte. Die Begriffe von Recht und Vergeltung, von Gut und Böse können im ersten Kreis durch Naturzweckmäßigkeit bestimmt sein, im zweiten durch die Autonomie eines kategorischen Imperativs, |#f0406 : 382|

im dritten haben sie absolute Geltung. Ebenso unterscheidet sich die Kunstauffassung, die im sinnlich-räumlichen Weltbild als Wirklichkeitsnachahmung, im zweiten Kreis als ein aus dem Innern bestimmtes Schöpfertum, im dritten als Gottesdienst und Heiligung der Welt erscheint. Jede dieser im Weltbild begründeten Auffassungen gibt Richtlinien der Gestaltung für Handlung, Motive und Charaktere der Dichtung, für die Frage von Schuld und Sühne, für optimistische oder pessimistische Lösung, für Problemstellung und Idee. Es konnte z. B. durch Paul Böckmann aus Schillers geistiger Haltung die ganze Form seines Dramas erklärt werden. Wenn Schiller den Mikrokosmos der inneren Welt als den tiefen Schacht bezeichnet, aus dem des Menschen Taten und Gedanken quellen, so trifft es nicht nur für den Charakter des Schöpfers zu, sondern für alle seine Schöpfungen: Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht, So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln. d) Persönliche Prägung Während die Ausdehnung des objektiven Weltbildes sich in dem besprochenen System konzentrischer Kreise veranschaulicht, wird eine andere Schichtung sichtbar beim Aufbau des Subjektes, als des Schöpfers seines eigenen Weltbildes. Für Erich Rothacker liegt die Ich-Schicht der Persönlichkeit als Überbau über der Tiefenperson des Unbewußten. Ihre Stellung wird in mancherlei Gleichnissen gekennzeichnet als die eines Armeebefehlshabers oder eines Reiters, der das „Es“ wie ein Pferd lenkt. Die Personenschicht des Ich diszipliniert die primitiven seelischen Funktionen; das Reitzeug scheint dem „Es“ auferlegt zu sein wie ein Netzwerk, dessen Maschen die aus dem Unbewußten aufsteigenden Regungen in Kontrolle halten. Das Unbewußte hat seine Grundlage in einer vegetativen und animalisch-triebhaften Schicht; aber zugleich lagern in ihm all die Zustandsgefühle und die Bilder, die im Traum oder in der Einbildungskraft des Dichters aus der Tiefe auftauchen. Es kommt darauf an, ob die unbewußten Gewalten, zu denen auch das Dämonische, das Mystische, das Numinose gehörten, über das Ich die Herrschaft gewinnen oder umgekehrt. Entweder zügelt der Reiter das Roß, oder er unterwirft sich und läßt sich willenlos von ihm tragen, wohin es ihm gefällt. Auch dieser Gegensatz trägt im Verhältnis von Gefühls- und Intellektleben zur Bestimmung von mehr rationalen oder mehr irrationalen Typen bei. |#f0407 : 383|

Mit der Typenpsychologie setzt sich Rothacker ins Einvernehmen, indem er Kinder, Frauen, Pykniker, Integrierte und Künstler mehr aus dem Unbewußten, der Seele und dem Herzen heraus leben läßt, als es den Schizoiden oder gar dem modern-rational-technischen Menschentyp gegeben ist. Mit der Rassenpsychologie wird ein Zusammenhang hergestellt, indem die Passivität der slawischen oder der orientalischen Seele zu dem aktiven Wirklichkeitssinn und Ich-Bewußtsein des nordischen Leistungsmenschen in Gegensatz gebracht wird. Freilich ist auch der Typ des Romantikers, der als schizothym und nordisch anzusprechen ist, ebenso wie der dämonische Mensch, der im fälischen Wesen eine besondere Grundlage zu finden scheint, der Übermacht des Unbewußten ausgeliefert. Ehe zu einer Schematisierung geschritten werden kann, bedarf es weiterer Klärung. Ähnlich wie Brentano und wie Goethe („Nicht hab' ich sie, sie haben mich gedichtet“) gab Grillparzer dem Gefühl der Passivität in seinem „Selbstbekenntnis“ Ausdruck: Du nennst mich Dichter? Ich verdien es nicht, Ein anderer sitzt, ich fühl's, und schreibt mein Leben, Und soll die Poesie den Namen geben, Statt Dichter fühl' ich höchstens mich Gedicht. Gleichwohl haben in Grillparzers Weltbild die dunkeln und unbewußten Elemente nicht die uneingeschränkte Herrschaft; vielmehr mischen sich rationale Züge ein, etwa wie in seinem Traumspiel, das hie und da durch wache Momente der Wirklichkeitsbesinnung unterbrochen wird. Es verdankt einem Aufklärungsroman Voltaires seine Fabel. Überhaupt scheint die österreichische Nachklassik der Biedermeierzeit in demselben Maße auf einem Zusammenfluß von Aufklärung und Romantik zu beruhen, wie die Weimarer Klassik als Synthese von Aufklärung und Sturm und Drang gelten darf, indem sie das irrationale Chaos des Gefühlslebens durch das Maß und den normierenden Formsinn des aufklärerischen Neuhumanismus bändigte. Für Goethes Weltbild hat Ewald A. Boucke das Charakteristischste im Wechselspiel und Ausgleich antagonistischer Tendenzen wie Natur und Geist, Erfahrung und Idee, Anschauung und Begriff gefunden. Diese dynamische Polarität, die auch ein Gleichgewicht von Rationalismus und Irrationalismus in sich schließt, war auf Herders Pandynamismus zurückzuführen und berührte sich mit Kant, um später in der Begegnung mit Schellings Naturphilosophie neue Bestätigung zu finden. Ferdinand Weinhandls Buch über die Metaphysik Goethes hat darüber hinaus die Goethe eigensten Begriffe des Urphänomens und des Symbols in den Mittelpunkt gestellt und ist |#f0408 : 384|

von da aus zu den Deutungsproblemen dunkler Dichtungen wie des „Märchen“, der „Weissagungen des Bakis“ und des „Faust“ vorgestoßen. Obwohl der Dichter selbst solchen Schöpfungen eine einheitliche Idee abstritt und überhaupt bekannte, daß er erst mühsam durch Anschauen und Betrachten der Dinge zu Begriffen gelangt sei, spiegelt sich doch in ihnen die Totalität des Lebens, wie er sie in seinem Weltbild erlebte. In bezug auf die Auslegung knüpft Weinhandl an diese Beispiele beachtenswerte methodische Hinweise, indem er empfiehlt, die grundlegende Physiognomie jeder einzelnen Gestalt zu erfassen, ja sogar das Lokale in seinem Anschauungswert kartographisch festzulegen und niemals einen einzelnen Zug isoliert auszudeuten, der nicht mit dem weiteren und größeren Zusammenhang der Dichtung in Einklang zu bringen ist. Das Ausgehen vom größten zugänglichen Ganzen ist für jede Deutung im Goetheschen Sinne unerläßlich. Das Ganze muß letzten Endes in dem Spiegelbild der ganzen Welt, die der Dichter in sich trägt, zu finden sein, aber es ist nicht aus der einzelnen Dichtung zu erschließen, sondern aus der Gesamtheit des Schaffens, so widerspruchsvoll es erscheinen mag. Goethe selbst hat in einem Altersbrief die vielerlei gegensätzlichen Beziehungen, an denen eine symbolische Sinnesrichtung erfüllt werden kann, hervorgehoben: „Da sich gar manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. Da alles, was von mir mitgeteilt worden, auf Lebenserfahrung beruht, so darf ich wohl andeuten und hoffen, daß man meine Dichtungen auch wieder e r l e b e n wolle und werde.“ Solche Deutungsgrundsätze verlangen, daß das in Weltbild und Werk übergegangene Erlebnis gesucht und das Ganze der Dichtung aus der Ganzheit des Menschen, der sie geschaffen hat, verstanden werden muß. Die Einfühlung aber setzt, wie schon oben (S. 253 ff.) zur Beurteilung des einzelnen Werkes gesagt wurde, einigermaßen gleichartige Lebenserfahrung voraus, und das Zustandekommen der Intuition, die in das Innere des Werkes und des Dichters eindringt, ist davon abhängig, ob sich der Empfänger auf gleiche Wellenlänge mit dem Sender einzustellen vermag. Eine andere, rationale Methode geht auf Interpretation aller außerhalb der Dichtung liegenden Bekenntnisse aus, um in ihnen ein objektives System zu finden, das dann wieder zur Deutung der Dichtung verhelfen kann. Nicht immer aber, namentlich in älteren Zeiten, sind |#f0409 : 385|

die theoretischen Bekenntnisse so reichhaltig und eindeutig, daß sie ohne konstruktiven Zwang sich zu einem klaren und eindeutigen Weltbild zusammenschließen. Auch dann bleibt es fraglich, ob theoretische und dichterische Sicht sich zur völligen Deckung bringen lassen. Besonders schwierig ist beispielsweise die Beurteilung Lessings, dessen Bekenntnisse meist durch eine bestimmte Gelegenheit hervorgerufen sind. Die Polemik zwang ihn gelegentlich, seine wahre Meinung aus taktischen Gründen zu verbergen und gymnastikw eine Stellung einzunehmen, die er dogmatikw nicht vertreten hätte. Wenn die dabei erkennbare Mischung von Rationalismus und Individualismus für Kurt May „eine wahre Merkwürdigkeit der Geistesgeschichte“ darstellt, so hat Franz Koch die eindeutige Abstempelung zum Rationalisten mit Recht bekämpft und auf die irrationalen Züge aufmerksam gemacht, die am wenigsten in der Dichtung, am stärksten aber in den religiösen Auffassungen vertreten sind, so daß man in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ sogar eine Annäherung an mystisches Gedankengut finden kann. Lessings Weltbild scheint sich demnach nicht nur als geschichtlich wandlungsfähig, sondern als ein Aufbau, der aus verschiedenen Schichten der Innerlichkeit besteht, zu offenbaren. Das empfand auch Goethe, der seine Prometheus- Ode aus einer religiösen Überzeugung verstanden sah, der er sich nahe fühlen konnte. Lessing selbst hat geradezu bestritten, daß der Dichter ein System haben könne: „Der Philosoph, welcher auf den Parnaß hinaufsteiget, und der Dichter, welcher sich in die Täler der ernsthaften und ruhigen Weisheit hinabbegeben will, treffen einander gleich auf dem halben Wege, wo sie, so zu reden, ihre Kleidung verwechseln und wieder zurückgehen. Jeder bringt des andern Gestalt in seine Wohnungen mit sich, weiter aber auch nichts als die Gestalt. Der Dichter ist ein philosophischer Dichter und der Weltweise ein poetischer Weltweise geworden. Allein ein philosophischer Dichter ist darum noch kein Philosoph, und ein poetischer Weltweise ist darum noch kein Poet.“ Diese Sätze, in denen das Wort „Gestalt“ anders als im heutigen Sinne angewandt wird, stehen in der von Lessing und Mendelssohn gemeinsam verfaßten Schrift „Pope ein Metaphysiker!“. Sie nehmen Stellung zu der Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften, die eine Untersuchung des Popischen Systems und seines Verhältnisses zum Optimismus verlangt hatte. 144 Jahre später wurde Lessings eigenes System zum Gegenstand einer Preisaufgabe, als die Stadt Braunschweig den 200. Geburtstag |#f0410 : 386|

des in ihren Mauern verstorbenen Dichters feierte und einen vom Reichspräsidenten v. Hindenburg gestifteten Preis für die beste Darstellung von „Lessings Weltanschauung“ aussetzte. Von 21 eingereichten Arbeiten sind vier zum Druck gekommen und erlauben einen Vergleich der zur Anwendung gebrachten Methoden. Drei von ihnen stellen ein formuliertes Ergebnis voran, das auf den Gebieten der Theologie, Ästhetik, Kritik, Dichtung und Philosophie verschiedenartige Bestätigung findet: Für Eckart Jacobi heißt das System dynamischer Monismus; für Albert Malte Wagner ist es ein Irrationalismus nicht dumpfschauender Haltung, sondern hellen Kämpfertums, das sich nicht kümmert um die Welt, wie sie ist, sondern um die Welt, wie sie sein soll. Lessings Kampf um die Kunst, um Gott und um den Menschen bilden drei Kapitel, in denen mehr die Kraft und das Temperament als das System des Nichtsystematikers Darstellung finden. Benno v. Wiese wiederum, der Lessings Lebensleistung in der persönlichen Weiterbildung ideengeschichtlicher Aufklärungszusammenhänge erblickt, will zwar auf eine endgültige Formel verzichten, glaubt aber doch im Begriff einer prästabilierten Harmonie zwischen den Gegensätzen des christlichen und natürlichen Weltbildes, des exoterischen und esoterischen Denkens, der objektiven und subjektiven Vernunft einem Lessingschen System am nächsten zu kommen. Der einzige von den vier Darstellern, der sich nicht von vornherein am Stützpunkt einer geprägten Formel angeseilt hat, sondern mit Steigeisen emporklimmt, ist der Preisträger Hans Leisegang, der an dieser Aufgabe das System seiner „Denkformen“ zu erproben Gelegenheit fand. Bestanden in Lessings Zeit neben der Orthodoxie drei Weltanschauungsmöglichkeiten, nämlich als erste der Materialismus, als zweite Mystik, Pantheismus und monistischer Personalismus, als dritte der Idealismus, so konnte nun die Prüfung der Lessingschen Bekenntnisse auf Zugehörigkeit zur einen oder andern dieser Richtungen vorgenommen werden. Ohne Trennung der dichterischen, ästhetischen und religiösen Wirkungssphäre, doch mit Bevorzugung der letzteren wurde eine Reihe von Schriften ausgewählt, die unter Hinzuziehung anderer Äußerungen eine sorgfältige philologisch-philosophische Interpretation fand. Es stellte sich eine Entwicklung heraus, die zu jener „heimlichen Religion der Deutschen“ hinführt, die dem zweiten Typus entspricht und als monistischer Personalismus zu formulieren ist. Lessing soll diese seine Weltanschauung, die zugleich seine Religion war, als ein Geheimnis mit sich durchs Leben getragen haben, aber es wob sich soviel davon in seine Schriften |#f0411 : 387|

hinein, daß die Goldkörner zusammenzusuchen und sinnvoll aneinanderzureihen sind. Das Diadem, das Leisegang als Lessings heimliches Weltbild schmiedete, hat der Dichter nicht zur Schau getragen; aber der Typus scheint so folgerichtig gesichert, daß Leisegang es gelegentlich wagen kann, einem mißverständlichen dichterischen Ausdruck die eigentliche Meinung Lessings gegenüberzustellen. Eine philosophische, nicht philologische Konjektur ist es, daß Lessing im „Nathan“ bei den Versen: Der du allein den Menschen nicht Nach seinen Taten brauchst zu richten, die So s e l t e n s e i n e Taten sind, o Gott! hätte sagen müssen: „die n i e m a l s s e i n e Taten sind.“ Leisegang hat nach seiner eigenen Denkform recht: „Eine so komplizierte Verknüpfung von Menschen und Geschehnissen kann nur dann zu einem guten Ende kommen, wenn alle Menschen nicht ihre, sondern Gottes Taten tun, der durch sie hindurch handelt, nicht nur durch die guten, sondern auch durch die bösen Menschen. Wir haben aber gesehen, daß Lessing vor dieser Konsequenz, das Böse mit dem Gott aufzunehmen, immer zurückschreckte; und so setzt er auch hier ‚selten‘ ein, wo ein ‚niemals‘ hätte stehen müssen, wenn das Ganze einen befriedigenden und dem ganzen Verlauf der Sache entsprechenden Sinn erhalten sollte.“ Das ist nicht zu bestreiten, aber der Schluß kann nur der sein, daß das persönliche Weltbild Lessings gegenüber dem ausgeprägten Typus an letzter Folgerichtigkeit zurückstand. Als eine andere Stelle des „Nathan“, die nach Lessings eigentlichem Weltbild zu ändern wäre, erwies sich die Umdeutung der Ringparabel aus dem Boccaccio. Nach der Überlieferung war einer der Ringe, obzwar unerkennbar, der echte. Nach Lessings eigentlicher Überzeugung aber waren die durch drei Ringe versinnbildlichten positiven Religionen gleich wahr und gleich falsch, während als vierte die Vernunftreligion in ihnen allen enthalten und ihnen übergeordnet wäre. Ihr würde ein vierter Ring als der eigentlich echte entsprechen. Lessing läßt zwar die Vermutung äußern, daß dieser vierte Ring verlorengegangen sein könne, aber es ist ihm nicht möglich, die Parabel in diesem Sinne umzugestalten. Er hat also in seinem reifsten Werk die frühere Behauptung, daß Dichtung und Gedankensystem nicht durchaus in Einklang zu bringen seien, bestätigt. Die vier Bearbeiter der Preisaufgabe, der Theologe, der Literarhistoriker, der Journalist und der systematische Philosoph haben in Lessing, der alle vier Berufe und einige andere mehr erfüllte, jeder |#f0412 : 388|

etwas Eignes hineingelesen. Wenn auch ihre Ergebnisse nicht so weit auseinandergehen, wie die oben (S. 46) erwähnten vier verschiedenen Kleistbilder, so scheint doch kaum ein sicherer Weg des Ausgleichs zu bestehen, wie ihn Gerhard Frickes Kritik der Gegensätze schließlich für Heinrich v. Kleist eingeschlagen hat. Allerdings liegen die Probleme des Kleistschen Weltbildes wesentlich anders. Der Introvertierte schrieb 1807 an die Frau seines Vetters: „Sie haben mich immer in der Zurückgezogenheit meiner Lebensart für isoliert von der Welt gehalten und doch ist vielleicht niemand inniger damit verbunden als ich.“ Gefühl und Schicksal wurden durch Gerhard Fricke als die zwei Brennpunkte des Kleistschen Weltbildes erfaßt, das im Erlebnis der heiligen und unbedingten Wirklichkeit des Ich seinen Existenzgrund findet. Damit ist die weiteste Spannung zwischen Irrationalismus und Wirklichkeitssinn bezeichnet. Sie schließt sich aber nicht erst zu einem theoretischen System zusammen, sondern selbst da, wo Ansätze zu einem solchen sich finden, wie in dem Aufsatz „Über das Marionettentheater“, ist sie auf die Verkörperung eigener Seelenlage in menschlichen Charakteren und Situationen gerichtet; schon das Erlebnis zielt über das Weltbild hinaus auf dramatische Auseinandersetzung und auf die Phantasiekraft dichterischer Gestaltung.

4. P h a n t a s i e , T r a u m - u n d G e f ü h l s l e b e n a) Phantasie Wenn Wilhelm Dilthey in der Phantasie, die das Erlebnis nachbildet, das eigenste Gebiet des Dichters und den Mittelpunkt der Literaturgeschichte erblickte, so stellte er sich in offenen Widerspruch zu jener Psychologie, der es genügte, das Wesen der Einbildungskraft unabhängig von ihrer künstlerischen Funktion zu ergründen. Die Experimentalpsychologie ging dabei von festen Vorstellungen aus, in deren Veränderung durch Assoziation, Verschmelzung und Apperzeption ein klarer Mechanismus zu spielen schien. War die Phantasie in der spekulativen Ästhetik eines Fr. Th. Vischer metaphysisch als die „subjektive Existenz des Schönen“ gedeutet worden, so ist sie umgekehrt in einem psychologischen Lehrbuch wie dem „Grundriß“ von Oswald Külpe nur als „neue Anordnung und Verbindung der nämlichen Bewußtseinselemente, die bereits in der sinnlichen Wahrnehmung enthalten waren“, also als eine Art Umgruppierung des Gedächtnisses erklärt. Ähnlich hatte Wilh. |#f0413 : 389|

Scherers Positivismus die Phantasie als „verwandelnde Reproduktion“ mit dem Gedächtnis gleichsetzen wollen. Ernst Elster, der in seinen „Prinzipien der Literaturwissenschaft“ gegen diese Entwürdigung Einspruch erhob, betont mit Recht, daß die Beschaffenheit der einzelnen Vorstellungen von der Frage nach ihrem Verlauf zu trennen sei. Das einzelne Erinnerungsbild sinnlicher Wahrnehmung mag in der Phantasie mit verstärkter Deutlichkeit wiederkehren, aber die Verknüpfung, die sich als Denken in Bildern darstellt, wird schließlich zu einem schöpferischen Vorgang, der auch der willensmäßigen Regelung nicht entbehrt. Unter Zugrundelegung der Wundtschen Unterscheidung von anschaulicher und kombinatorischer Phantasie analysierte Elster die verschiedenartige Phantasiebegabung Goethes, Schillers und Lessings mit dem Ergebnis, daß bei Goethe die Gegenständlichkeit und Anschaulichkeit im Übergewicht ist gegenüber der kombinatorischen und erfinderischen Fähigkeit; bei Schiller dagegen stehen schnelle Assoziation und stärkerer Anteil des Verstandes einer geringeren Anschaulichkeit gegenüber; bei Lessing ist der induktive Verstand (nicht der deduktive wie bei Schiller) stärker entwickelt, während die kombinatorische und assoziative Phantasie gegenüber der Anschaulichkeit im Hintergrund bleibt. Wollte man diese auf die Klassiker angewandten Grundbegriffe auch bei Analyse der Romantiker im Auge haben, so würde durchgehend, wenn auch in verschiedenem Grade, ein stärkeres Zurücktreten des Verstandes- und Willensmäßigen, ein weit freieres Walten des Unbewußten, ein Eintauchen in das Traumleben und demgemäß eine mehr sprunghaft assoziative als gegenständlich anschauliche Phantasie zu beobachten sein. Es bleibt aber die Frage, wie weit hier die ererbte Anlage, mit der ein bestimmter Typus nach den Forderungen der Zeitströmung in den Vordergrund gedrängt wird, oder das Stilgesetz, das die Anlage nach bestimmter einseitiger Richtung lenkt, von ausschlaggebender Wirkung ist. Wenn ein Vollromantiker wie Clemens Brentano im Alter darüber klagt, daß er zeitlebens seine Phantasie verhätschelte und überfütterte und dafür schließlich von ihr aufgefressen worden sei, so konnte er dafür mehr die Stilrichtung der Zeit verantwortlich machen, als seine romanische Abstammung. Anderseits hat ein Theodor Fontane, den man als rationalen Sinnenmenschen charakterisiert hat, seine mehr anschauliche als kombinatorische Phantasie im Zeitalter des Realismus zugunsten psychologischer Folgerichtigkeit verkümmern lassen, und es ist die Frage, wie weit daran die französische Abstammung Anteil hatte. |#f0414 : 390|

Diese Probleme sollen im dritten Buch bei der Zeitordnung der Generation zur Behandlung kommen. Eine scheinbar ganz andere Einteilung ist bei dem Franzosen Théodule Ribot zu finden, in dessen „Essai sur l'imagination créatrice“ der schöpferischen Einbildungskraft, die von der reproduktiven getrennt wird, auch eine mystische, eine wissenschaftliche, eine praktische und mechanische, eine geschäftliche oder kommerzielle und eine utopische Betätigung zugewiesen ist. Das kommt beinahe auf die oben (S. 357) besprochene Vielfältigkeit der „Lebensformen“ von Eduard Spranger hinaus, der an anderer Stelle neben dem künstlerischen Schaffen auch den Wundern und Geheimnissen der Religion, den großen Intuitionen der Philosophie und den Idealen und Zielen der Menschheit einen Sitz in dem ewig regen Schaffen der Phantasie zugesteht. Bei Ribot bleiben dem künstlerischen Schaffen die gegensätzlichen Funktionen einer plastischen und einer zerfließenden Phantasie überlassen. Wenn die erste unter bestimmten Assoziationen mehr räumliche und weniger affektive, die zweite unter bestimmten Assoziationen mehr zeitliche und musikalische Elemente in sich trägt, so weicht die Unterscheidung wenig ab von der durch Wundt und Elster vollzogenen Trennung des Anschaulichen und Kombinatorischen. Es ist sogar eine Übereinstimmung zu erkennen mit der gebräuchlichen Einteilung der Künste in optische und akustische oder in solche des Raumes und der Zeitanschauung. Der Dichtung bleibt eine Heimat auf beiden Feldern offen. Der plastischen Dichterphantasie werden Victor Hugo und die Parnassiens zugeteilt, der schweifenden, zerfließend musikalischen solche Erscheinungen wie E. Th. A. Hoffmann und E. A. Poe. Damit wäre, falls verallgemeinert werden darf, ein Unterschied romanischer und germanischer Wesensart getroffen. Es wäre weiter eine Anknüpfung an die gangbare Zweiteilung des Klassischen und Romantischen möglich, wenn diese Polarität erschöpfend wäre und wenn nicht außerdem Stilrichtungen wie Realismus und Impressionismus Beachtung verlangten, die der Phantasie überhaupt weniger freien Spielraum lassen. Walzel spricht der Ribotschen Einteilung jeden Wert ab im Vergleich mit den exakter unterscheidenden kunstgeschichtlichen Grundbegriffen Wölfflins. Ein neueres Buch vollends, wie das von Max Nußberger, das den Titel „Die künstlerische Phantasie in der Formbildung der Dichtkunst, Malerei und Musik“ trägt, nimmt überhaupt keinen Bezug auf die Phantasie-Anlage des Künstlers wie auf alle |#f0415 : 391|

Produktionsfaktoren, sondern richtet sich ausschließlich auf formale Eigenschaften der Kunstwerke, auf die Gestaltungsgrundformen der Steigerung, Häufung, Schlichtung und Ordnung, von denen die erste und dritte in den bildenden Künsten, die zweite und vierte in der Musik vorherrschen sollen, während die Dichtung an allen vier Grundformen beteiligt ist. Über der entwicklungsgeschichtlichen Konstruktion, die das Prinzip der Steigerung im Märchen, das der Häufung bei Homer, das der Schlichtung bei Shakespeare und das der Ordnung bei Goethe zum Vorrang gelangen läßt, werden aber die zeitlosen psychologischen Voraussetzungen so völlig übersehen, daß die im Titel erregten Erwartungen unerfüllt bleiben. b) Anschaulichkeit Wenn von den beiden Grundrichtungen der Phantasie zunächst die erste in ihrer dichterischen Auswirkung betrachtet werden soll, so ist der oben (S. 346 f.) besprochene Typus des Eidetikers in seiner stärksten Ausprägung zweifellos der anschaulichen und plastischen Phantasieanlage zuzurechnen. Ob die inneren Anschauungsbilder, die hervorzubringen ihm gegeben ist, bis zu halluzinatorischer Deutlichkeit sich steigern können, hängt von der Stärke der Phantasie ab. Es können ins Bewußtsein zurückgerufene Erinnerungen auftauchen oder erdichtete Situationen und Gestalten mit der Deutlichkeit neuer Wirklichkeits- und Sinneseindrücke vor ihren Schöpfer treten. Im zweiten Falle wird sich das innere Anschauungsbild keineswegs nur auf optische Eindrücke beschränken, sondern im gleichen Maße Akustisches und Bewegungsmäßiges sich abspielen lassen. Goethe, der (vgl. oben S. 351 f.) die charakteristische Sprechweise eines Menschen nach langer Beobachtung fortzusetzen und ihn seinem Charakter entsprechend weiterreden zu lassen imstande war, beschreibt in „Dichtung und Wahrheit“, wie er inmitten einer dramatischen Schaffensperiode diese Gabe pflegte und einsames Denken in gesellige Unterhaltung verwandelte: „Er pflegte nämlich, wenn er sich allein sah, irgendeine Person seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er bat sie, niederzusitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen, und verhandelte mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete sie gelegentlich oder gab durch die gewöhnliche Mimik ihr Zu- oder Abstimmen zu erkennen; wie denn jeder Mensch hierin etwas Eigenes hat ... Das wunderlichste war dabei, daß er niemals Personen seiner näheren Bekanntschaft wählte, sondern solche, die er nur selten sah, ja mehrere, die

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weit in der Welt entfernt lebten und mit denen er nur in einem vorübergehenden Verhältnis gestanden.“ Unbeschadet seiner visuellen Anlage hat Goethe bei solcher Gedankendisputation Wort und Bewegung wichtiger werden lassen als das optische Bild. Kann auch hier keineswegs von Halluzinationen, sondern nur von einem Spiel der Willkür gesprochen werden, so kommen andere Beispiele, in denen sich dichterische Gestalten zu sinnlicher Realität verdichten, näher an das Halluzinatorische heran und können zum mindesten visionäre Anschaulichkeit für sich in Anspruch nehmen. Goethe fand, während er mit der ersten Gestalt des „Wilhelm Meister“ und mit „Tasso“ beschäftigt war, kein besseres Wort für seine Arbeit, als „mit den Geistern reden“. In der Jugendzeit wurde er zu einem seiner Phantasiegeschöpfe, der verführerischen Adelheid des „Götz“, leidenschaftlich hingezogen. In der Zueignung des „Faust“ sprach er von den schwankenden Gestalten, die ihm wieder nahten und die er festzuhalten suche; sie brachten mit sich die Bilder froher Tage und ließen liebe Schatten aufsteigen; also hatten sie sich dem Dichter gegenüber noch nicht völlig objektiviert, sondern trugen in sich ein Stück seines eigenen Erlebens. Balzac wiederum fand in sich das Vermögen, „wie der Derwisch in Tausend und Eine Nacht Körper und Seele der Personen anzunehmen, die er darstellen sollte“. Flaubert schrieb an Taine: „Die Gestalten meiner Einbildungskraft affizieren mich, verfolgen mich, oder vielmehr, ich bin es, der in ihnen lebt. Als ich beschrieb, wie Emma Bovary vergiftet wird, hatte ich einen so deutlichen Arsenikgeschmack auf der Zunge, daß ich zwei Indigestionen davontrug.“ Diese vielzitierte Selbstbeobachtung, auf die Taine eine Halluzinationstheorie gründete, wurde allerdings von Freunden Flauberts, die seine Übertreibungssucht kannten, angezweifelt und von A. Daudet lediglich für ein „parole de lyrique“ erklärt. Wie sehr sich aber die Phantasiegeschöpfe des Schöpfers selbst bemächtigen können, hat Turgenjeff verraten; er dachte, sprach und ging so wie seine Romanhelden, und als er an dem Roman „Väter und Söhne“ schrieb, will er für lange Zeit die charakteristische Sprache seines Basaroff angenommen haben. Ein ähnliches Selbstzeugnis legte Gontscharof ab, dem die Personen in solcher Deutlichkeit erschienen, daß er Bruchstücke ihrer Gespräche zu hören glaubte. Auch Jean Paul verlangte, daß der Dichter im Schreiben nur der Zuhörer, nicht der Sprachlehrer seiner Charaktere sei: „er schaut sie lebendig an, und dann hört er sie.“ Andere wiederum geben den Helden unbewußtermaßen ihre eigene |#f0417 : 393|

Sprache. So bleibt es eine ständige Wechselwirkung von Objektivierung des Subjektiven und Subjektivierung des Objektiven. Alle zur scheinbaren Eigenexistenz und Wirklichkeit werdende Loslösung dichterischer Gestalten von ihrem Schöpfer aber hat zur Voraussetzung, daß er sich selbst von der Außenwelt abschließt und mit seiner eigenen Welt allein ist. So konnte etwa der einsame Otto Ludwig an seinen einstigen Lehrer Ambrunn schreiben, sobald er es wünsche, bevölkere sich das stille Tal mit edeln, guten, ernsten, komischen, bösen Bewohnern. „Wenn mir's gefällt, gehe ich mit Göttern und Königen um.“ Berühmt geworden sind die Selbstbekenntnisse Otto Ludwigs „Mein Verfahren beim poetischen Schaffen“ und „Das Farben- und Formenspektrum“. Aus einer musikalischen Stimmung entwickelte sich vor seinem inneren Auge eine Farbe, entweder ein tiefes, mildes Goldgelb, oder ein glühendes Karmosin und in dieser Beleuchtung wurde allmählich eine Gestalt sichtbar. Die Fabel erfand sich, und ihre Erfindung war nichts anderes, als das Entstehen und Fertigwerden der Gestalt und Stellung. „Nun weiß ich“, so schrieb er, „was jene Gestalt und ihre Gebärde war; nichts anderes als der sinnlich angeschaute, tragische Widerspruch; der eine Faktor die Gestalt, die Existenz (der Grund davon), der andere die Gebärde, der sinnlich angeschaute prägnante Moment, in welchem am schärfsten Kontraste die Einheit erscheint.“ Auch mehrere Gestalten traten zusammen und erschienen wie Marmorstatuen einer plastischen Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fiel, der jene Grundfarbe hatte. Wunderlicherweise gab die Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe wieder, sondern manchmal erschien nur eine charakteristische Figur in irgendeiner pathetischen Stellung, und an diese Situation schossen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an, bis das ganze Stück in allen seinen Szenen da war. Diese Beschreibung pflegt als genaueste Wiedergabe einer dichterischen Konzeption angeführt zu werden, aber zu Unrecht, sonst würde sie auf einer Selbsttäuschung beruhen. Ehe der Dichter bestimmte Situationen und Gestalten schauen konnte, mußte ihm der Stoff mit seinen Motiven und Problemen bereits vertraut sein. Es kann sich nur um einen späteren Ausbau der ersten Konzeption handeln, um die Fabel, die geprägt, nicht erfunden wurde, wobei die dem Eidetiker eigene Gabe des inneren Anschauungsbildes von Bedeutung wurde. Bestimmte Farbenempfindungen wurden auch von anderen Dichtern als Grundstimmung eines werdenden Werkes erlebt, |#f0418 : 394|

z. B. wollte Flaubert in „Salambo“ etwas Purpurnes erscheinen lassen und in „Madame Bovary“ nichts anderes, als die Schimmelfarbe der Kellerassel, während Hebbel erzählte, beim ersten Akte seiner „Genoveva“ habe ihm die Farbe eines Herbstmorgens vorgeschwebt, beim „Herodes“ vom Anfang bis Ende das brennendste Rot. Gustav Freytag, der die Aufzeichnungen Otto Ludwigs zuerst veröffentlichte, machte dazu die sachkundige Bemerkung, dies sei nicht die Schaffensweise des Dramatikers, der viel mehr die Seelenbewegungen der Charaktere empfinde, als daß er ihre Haltung und Stellung in Ruhelage vor sich sehe. „Das Wesen des dramatischen Bildens ist nicht ein Hängen an Situationen, sondern das kräftige unablässige Fortbewegen der Charaktere und Handlung.“ Freytag charakterisiert damit die motorische Phantasie des Dramatikers, der nicht Statiker, sondern Dynamiker ist, der seine Gestalten nicht allein schaut, sondern innerlich durchlebt und äußerlich in Bewegung setzt. In seiner schauenden Haltung dagegen verrät sich Otto Ludwig als versetzter Epiker. Unter den Erzählungen, nicht unter den Dramen, findet sich dieser Anlage entsprechend sein Meisterstück. c) Erfindung Alles Erfinden und Entdecken im höheren Sinn wird in Goethes „Sprüchen in Prosa“ als Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühls bezeichnet als eine aus dem Innern am Äußeren sich entwickelnde Offenbarung, als „eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Diesseits die seligste Versicherung gibt“. Bei Eckermann steht eine Variation dieses Gedankens, wonach die Erfindung in niemandes Gewalt ist, sondern der Mensch sie als unerhofftes Geschenk von oben zu betrachten habe. Mag der erste Ausspruch sich vor allem auf Wissenschaft und Technik beziehen, so schließt der zweite gewiß die Dichtung ein; beide treffen darin zusammen, daß zwischen Entdeckung und Erfindung kein großer Unterschied angenommen wird, daß vielmehr auch in der Erfindung mehr eine Erschließung bisher verborgener Zusammenhänge als ein freier Akt der Willkür zu sehen ist. Das Wesentliche der dichterischen Erfindung liegt darin, daß in der Darstellung etwas Neues zur Anschauung kommt. Es kann nicht so sehr im Stoff bestehen als in der Entstofflichung. Der Stoff wird gefunden, nicht erfunden. Auch die Situationen und Motive brauchen und können, wie im ersten Buch (S. 134, 170) gezeigt wurde, durchaus |#f0419 : 395|

nicht immer ganz neu sein. Wenn sie nicht auf unmittelbarer Beobachtung des alltäglichen Lebens oder auf geschichtlichem Geschehen beruhen, so handelt es sich um Erfindungen der Völker, die in Märchen, Sagen und Mythen Jahrtausende lange Wanderungen vollzogen haben. Unter ihnen sind schon die häufigsten Grundmotive der Dichtung vorhanden. Das Motiv wandelt sich weniger als der Gedanke, von dem Lichtenberg sagte, daß einer ihn zeugt, während der andere ihn aus der Taufe hebt, der dritte Kinder mit ihm zeugt, der vierte ihn am Sterbebett besucht und der fünfte ihn begräbt. Das Motiv besitzt zähere Langlebigkeit, aber dafür weniger Mannigfaltigkeit. Schon Herder meinte, wo es bloß auf sinnliches Verhältnis ankomme, seien überhaupt keine neueren Erfindungen ins Unendliche möglich. Neugeschaffenes tritt infolgedessen weniger bei den Motiven an sich hervor als bei der Motivierung, der die Wandelbarkeit des Gedankens gegeben ist. Auch Charaktere können nicht eigentlich erfunden werden, es sei denn als Kontrastfiguren, und dann liegt das Erfinderische mehr in den Mitteln der Charakterisierung. Auch erscheint Neues weniger in der Fabel als im Fabulieren, weniger im Stil als in der Stilisierung, und nicht in der Idee, sondern in der Idealisierung. So wenigstens ist es um die Einstellung einer gegenständlich anschauenden Phantasierichtung beschaffen. Wenn Goethe an Lord Byron die immer überraschende neue Erfindung bewunderte, so konnte er nur die sprudelnde Eingebung meinen, durch die eine Fülle von Motiven verknüpft wurde. Wenn er dagegen an Schillers Natur eine gewisse Gewaltsamkeit auszusetzen hatte, die dem Gegenstand wenig Achtung erwies und ihn mehr von außen ansah, als aus dem Innern entwickelte, so charakterisierte er damit die ihm fremde kombinatorische Phantasie, die nicht für vieles Motivieren war. Goethes gegenständliche Anschaulichkeit konnte mit der schnellen und leichten Verknüpfung der Motive nicht mitkommen. Selbst bei einem geformten Mythos wie der Tell-Sage hielt er einen Eingriff für nötig und verlangte, daß Geßler erst durch die herausfordernden Worte des Knaben auf den teuflischen Einfall des Apfelschusses gebracht werde. In „Wallensteins Lager“ drang er auf Erklärung, wie der Bauer in den Besitz der Würfel gekommen sei. So schien es ihm notwendig, durch kleine Erfindungen die lockere Verknüpfung der Handlung zu verdichten. Die Jugenddramen Schillers gaben viel mehr Anstoß, etwa bei der Leichtgläubigkeit des alten Moor gegenüber dem als Überbringer |#f0420 : 396|

einer gefälschten Todesnachricht vermummten Hermann, oder bei dem plötzlichen Entschluß des Räuberhauptmanns, von der Donau nach Franken zu marschieren, bloß weil ihn der Name Amalia rührte. Auch im „Don Carlos“ treten noch bei der Einfädelung des Stelldicheins mit Prinzessin Eboli derartige Schwächen unkontrollierter Erfindung in Erscheinung. Gleichwohl trägt der Schwung, der von einer wirkungsvollen Situation zur anderen springt, über die fehlende innere Folge hinweg. Heinrich v. Kleist dagegen, der die Erfindung als ausschlaggebend für ein Kunstwerk ansah, wollte in ihr „nicht das, was den Sinnen dargestellt ist, sondern das, was das Gemüt durch diese Wahrnehmung erregt“, erkennen. Für ihn lag Erfindung in der eigentümlichen psychologischen Spannung, die manchmal, wie in der Anschauungsfülle des „Zerbrochenen Krugs“, fast zu viel an realistischer Motivierung mit sich schleppt. Wenn bisher hauptsächlich von der dramatischen Erfindung als Motivverknüpfung die Rede war, so tritt in der Lyrik das erlebte Anschauungsbild an die Stelle des Handlungsmotivs (vgl. oben S. 175) und die Erfindung besteht in metaphorischer Beseelung der Sinneswahrnehmungen. Nikolaus Lenau tadelte in einem Brief an Anton Schurz die auf Beschreibung beschränkte schwäbische Naturdichtung eines Karl Mayer als „Lauern auf Naturerscheinungen und Herumspionieren“. Im Gegensatz dazu meinte er: „der Dichter soll seine Gebilde im Innern und aus seinem Innern hervorschaffen, und die äußere Natur soll ihm nur aus der Erinnerung, die im Augenblicke der dichterischen Tätigkeit freilich zur fruchtbaren Anschauung werden muß, gewisse Mittel suppeditieren.“ Er verlangte also auch im lyrischen Naturbild eine Beteiligung der Erfindung im Durchgang durch das Weltbild. Ebenso hat derselbe Gottfried Keller, der mit trunkenem Sinn den goldenen Überfluß der Welt in sich aufnehmen wollte, es im „Grünen Heinrich“ als wahren Nachgenuß der Schöpfung gepriesen, wenn man erst einmal eine Landschaft selbst hervorbringen könne ohne Vorbild: „Wälder, Täler und Gebirgszüge oder nur kleine Erdenwinkel, frei und neu und doch nicht anders, als sie irgendwo entstanden und sichtbar sein müssen.“ Als solchen Erdenwinkel erfand er sein „Seldwyla“, die kleine Stadt, die irgendwo in der Schweiz gelegen sein muß. Sie ist keine Märchenerfindung und keinem Phantasielande zugeteilt, sondern mit soviel Wirklichkeitsbeobachtung ausgeschmückt, daß sie als Typisierung heimatlicher Lebenseindrücke gelten darf. |#f0421 : 397|

Ein anderes Motiv, das bei Kellers epischen Erfindungen mitwirkt, liegt in den Wunschträumen, denen die Dichtung als resignierter Lebensersatz eine behagliche Verwirklichung gewähren kann. Wie Jean Pauls armes Schulmeisterlein Wuz aus eigener Erfindung die Bücher schreibt, von deren Titeln er gehört hat und die er sich nicht anschaffen kann, so verschreibt sich der einsame Züricher Stadtschreiber die Geliebten, deren er im Leben nicht teilhaftig werden konnte, und versammelt sie um seinen Landvogt von Greifensee. Wie Erfahrung und Erfindung dabei ineinandergreifen, wird dadurch gekennzeichnet, daß der Hagestolz Sebastian Landolt eine geschichtliche Persönlichkeit war, während die ihn umgebenden Frauengestalten in Erlebnis und Phantasie des Dichters Wurzel und Ursprung haben. Umgekehrt ist in Novalis „Heinrich v. Ofterdingen“ die mythische Figur des Zauberers Klingsor mit dem Bilde Goethes als Meisters der Dichtung verschmolzen. Klingsor verlangt, daß die Poesie als strenge Kunst betrieben werde: „Als bloßer Genuß hört sie auf, Poesie zu sein. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig umherlaufen und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg.“ Es ist die Frage, ob damit Goethesche Grundsätze wiedergegeben werden sollten, oder die des Dichters Hardenberg, der zeitweilig ernstlich über die Geheimnisse einer Erfindungskunst nachsann. Seine fließende Phantasie war anders beschaffen, als die Gegenständlichkeit des Weimarer Meisters; in flüchtiger Beweglichkeit band sie die einzelnen Motive nicht durch kausale Verkettung aneinander, sondern an die Stelle innerer Folge trat ein Gewebe symbolischer Beziehungen zum Ganzen. Auch das Bild der blauen Blume ist weder Naturbeobachtung noch eigene Erfindung. Das Neue liegt in der eigenartigen Traumeinkleidung und in der Deutung als Sinnbild der Poesie. Französische Forscher versuchten die Psychologie der Erfindung zu systematisieren. So hat F. Paulhan auf Grund vieler Selbstzeugnisse von Dichtern, Musikern und Forschern vier Typen aufgestellt, die durch die Begriffe Entwicklung, Umgestaltung, Abweichung sowie Nachahmung und Routine bezeichnet sind. Es handelt sich dabei im wesentlichen um von außen kommende stoffliche Anregungen und ihre mehr oder weniger bewußte Weiterbildung im Kunstwerk. Instinkt, Gedächtnis und Nachahmung werden beteiligt, aber weder der bewußte Seeleninhalt des persönlichen Weltbildes, der der Erfindung seine inneren Gesetze diktiert, findet Berücksichtigung noch das Chaos von Schlummerbildern, Urbildern, Wunschbildern |#f0422 : 398|

und erfühlten Sinnbildern, das den Inhalt des unbewußten Seelenlebens bildet. Inzwischen ist unter dem starken Einfluß der Psychoanalyse wieder ein Umschlag nach der anderen Seite erfolgt und dem Unbewußten auch in den Fragen dichterischer Erfindung ein Übergewicht über das Bewußtsein und den verstandesmäßigen Willen zugestanden worden. Der amerikanische Psychologe Fr. C. Prescott hat in seinem Buch „The poetic mind“ den Dichter wieder, wie es schon oft geschah, dem Träumer gleichgesetzt. Wenn auch das Bewußtsein nicht ausgeschaltet ist, so kommt doch das „Es“ gegenüber dem „Ich“ zu neuer Geltung unter dem Motto von Wagners Hans Sachs: All Dichtkunst und Poeterei Ist nichts als Wahrtraumdeuterei. d) Traumleben Die unbewußte Erlebnisgestaltung des Traumes führt so nahe an die Dichtung heran, daß sie schon oft mit ihr in Vergleich gesetzt wurde. Ja sie ist geradezu für die Wesenserkenntnis dichterischer Phantasie in Anspruch genommen worden. Als unmittelbare Vorstufe der Dichtung hat Fr. Theodor Vischer den Traum anerkannt, und Dilthey sprach von ihm als dem verborgenen Poeten in uns. Wenn auch nicht der Ursprung des menschlichen Kunsttriebs überhaupt auf das Traumleben zurückgeführt werden kann, wie versucht wurde, so bedeutet es doch eine fortlaufende, die Dichtung speisende Quelle. Mythen und Sagen sind Träume der Völker; so bildet z. B. die Vorstellung der goldenen Zeit zugleich eine traumhaft verklärte Erinnerung und einen Wunschtraum zukünftiger Erfüllung. Die Märchen teilen mit dem Traum die Anschauungsform einer ideellen Zeit, die Vergangenheit und Zukunft verbindet, sowie die eines ideellen Raumes, in dem die Landschaften als Wandeldekorationen vorüberziehen und das Gesetz der Schwere sich verliert. Im Märchen herrscht auch jene von der Folgerichtigkeit des Denkens unterschiedene Logik der Phantasie, die als scheinbare Entfesselung von der Gebundenheit des Leibes den Traum charakterisiert. Gleichwohl ist der Traum kein ungebundener Schöpfer und Erfinder, sondern an Leben und Erleben geknüpft. Die inneren Bilder, die auf Sinneserfahrungen und Wirklichkeitseindrücke zurückgeführt werden müssen, sind in einer anderen Ordnung als der des wachen Denkens aneinander gefügt, so daß der Träumende ein zweites Leben zu führen scheint in der Teilung zwischen hervorbringender und |#f0423 : 399|

beobachtender Haltung. Dabei verdunkelt der Schlaf das Ich-Gefühl des Subjektes; der Träumende hält sich nur für ein passives Objektiv, das die Eindrücke einer anderen Welt aufnimmt. Der Traum wird als Begnadung mit Offenbarungen, die anderen verschlossen sind, empfunden und als tiefste Erkenntnisquelle, da alle Wunder des Glaubens und Aberglaubens in ihm zu Hause sind. Nachdem die Romantik eine Metaphysik des Traumes entwickelt hatte in der Dichtung des Novalis und in der Naturphilosophie der Schelling, Schubert, Carus und Kerner, hat Arthur Schopenhauer Leben und Träume als Blätter eines und des nämlichen Buches bezeichnet: „Wenn die Lesestunde des Tages zu Ende und die Erholungszeit gekommen ist, so blättern wir oft noch müßig und schlagen, ohne Ordnung und Zusammenhang, bald hier, bald dort ein Blatt auf; oft ist es ein schon gelesenes, oft ein noch unbekanntes, aber immer aus demselben Buch.“ Das Buch der Träume ist danach kein anderes als das des Lebens; es ist derselbe Inhalt an Erfahrung und Eindrücken; nur werden die aus dem Inneren des Organismus empfangenen Reize dem wachen Zustand kaum bemerklich. Hat aber das Gehirn im Schlaf seine Tätigkeit eingestellt, so kommen diese aus dem Nervenherd heraufdrängenden Eindrücke dem Intellekt zum Bewußtsein, und er formt sie um zu raum- und zeiterfüllenden Gedanken, die sich am Leitfaden der Kausalität bewegen. Der von Schopenhauer angedeutete Einfluß körperlicher Reize auf das Nervensystem ist später von der Naturwissenschaft zu physiologischen Theorien erweitert worden, wonach sich das Wesen der Traumphantasie erklären sollte als Umbildung innerer Leibreize zu Bildern. Der Traum erschien dem Materialisten nur als Gleichnis des körperlichen Innenlebens, so wie Schiller seinen Franz Moor sagen läßt, die Träume kämen aus dem Bauch. Der Magenreiz sollte das Bild eines von Häusern umgebenen Platzes erzeugen, der Eingeweidereiz den eines Labyrinthes von Gängen; beim Zahnreiz erschien der Mund als hochgewölbter Hausflur, die Öffnung des Schlundes als nach unten führende Treppe; das Atmen der Lunge erzeugte die Illusion des Fliegens, und das Herzklopfen die einer holprigen Wagenfahrt. Das hat alles mit Dichtung nicht viel zu tun. Betrachtete man aber diese Erscheinungen nicht rein materialistisch, so konnte für einen Ästhetiker wie Johannes Volkelt in der Gleichnisbildung die Kraft der unbewußt schaffenden Phantasie aus erster Hand zu fassen sein. Eine ganz andere Stellung nahm die Psychoanalyse ein, die im Traum nicht Wahrheit, sondern Verstellung erblicken wollte. Was hinter den Traumkulissen sich birgt, war aufzufassen als ein Chaos |#f0424 : 400|

verdrängter infantiler Urerlebnisse, die bis in den Mutterleib zurückführen sollten. Die einseitige Verfolgung dieser Theorie hat eine verheerende Wirkung auf Mythenforschung und Herleitung dichterischer Motive ausgeübt in dem grauenhaften Buch von Otto Rank über das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage; auch hat sie einen nicht minder verhängnisvollen Einbruch in die Psychologie des Dichters vollzogen, indem sie jeden Dichter als Neurotiker auffassen ließ und die Hysterie als Prinzip des Fortschrittes anpries. Der Wiener Nervenarzt Wilhelm Stekel hat sich in mehreren Büchern mit den Träumen der Dichter befaßt und es fertig gebracht, das Material, das in Aufzeichnungen Verstorbener wie in Mitteilungen Lebender von ihm gesammelt war, fast ausschließlich auf kriminelle und erotische Züge hin zu analysieren. Die Gleichsetzung von Dichter und Träumer, wonach jeder träumende Mensch als Dichter anzusehen sei, bewahrheitet sich dabei ebensowenig als die Annahme, daß die Dichterträume poetischer seien als die der anderen Menschen. Stellt man normale Traumerlebnisse daneben, so bestätigt sich vielmehr der Satz Wilhelm Raabes, „daß die Dummen und Armen im Geiste die allerwundervollsten und geistreichsten Träume haben können; ebenso geistreiche und sonderbare. als wie die Klugen, die Weisen sowohl am Tage wie bei Nacht“. Das aber unterscheidet den Dichter von dem gewöhnlichen Träumer, daß er die Traumdeutung selbst vornimmt und alles, was dem gewöhnlichen Menschen zerfließt, festzuhalten, zu zügeln und zu bändigen versteht, daß er ihm Sinn und Gestalt gibt und sein unbewußtes Phantasieleben willensmäßig formt. Kein anderer Dichter hat so viel über das Verhältnis von Traum und Dichtung reflektiert als Hebbel. Bald verglich er die dichterische Begabung mit einem Traumzustand, der in der Seele des Dichters vorbereitet, was er selber nicht weiß; bald wieder sah er im künstlerischen Vermögen eine Mittelstufe zwischen dem Instinkt des Tiers, das nur ein Traumleben führt, und dem Bewußtsein des Menschen. In den Tagebüchern finden sich vielerlei weitere Abwandlungen dieses Gedankens: „Phantasie ist nur in Gesellschaft des Verstandes erträglich“, ... „Das Schöne entsteht, sobald die Phantasie Verstand bekommt“, ... „In die dämmernde duftende Gefühlswelt des begeisterten Dichters fällt ein Mondenstrahl des Bewußtseins, und das, was er beleuchtet, wird Gestalt.“ In allen diesen Formulierungen kommt das gleiche Ergebnis der Selbstbeobachtung zum Ausdruck, daß der Traum an sich noch keine Dichtung ist. Mindestens ebensogut wie mit dem Seelenleben des Tieres hätte |#f0425 : 401|

Hebbel die dichterische Phantasie mit dem traumhaften Dasein des Kindes vergleichen können. Das Kind entfaltet seine Einbildungskraft im Spiel und wird in Belebung toter wie Zerstörung lebender Gegenstände zum waltenden Schicksal seiner Eigenwelt. Das spielende Kind offenbart seine Anlage zum Dichter und Schauspieler, so wie im zeichnenden Kind unverbildete künstlerische Begabung ans Licht tritt. Aber nur Begabung und Anlage. Noch fehlt Erlebnis, Erfahrung und gereiftes Weltbild, um Wirklichkeit zu gestalten. Deshalb gibt es auch selten dichterische Wunderkinder. Mozart und Haydn haben schon mit drei und vier Jahren als schöpferische Musiker Staunen erregt, während dichterische Gestaltungsgabe frühestens mit der Pubertät in Erscheinung zu treten pflegt. Eine Ausnahme eigener Art bildet der englische Vorromantiker Thomas Chatterton, der sein erstes Werk „Elinour and Juga“ mit zwölf Jahren geschrieben haben soll. Er vergiftete sich mit 18 Jahren; das Wunderkind war nach Bernhard Fehrs Charakteristik größer als der Wunderdichter. Als Graf Tolstoi auf den Gedanken kam, in seiner kleinen Volksschule die dichterische Fähigkeit der Bauernkinder auf die Probe zu stellen, ließ er sie ein von ihm begonnenes Märchen fortsetzen und konnte mit Erstaunen und Entzücken beobachten, welcher Reichtum an Phantasie sich offenbarte. Aber sein Eindruck, daß der berühmteste Dichter keine so wundersamen Märchen hätte ersinnen können, wie sie die unerfahrene Dorfjugend spielend zusammenbrachte, war insofern ein Trugschluß, als er selbst es ja war, der zu erzählen anfing; er warf den Kindern den Faden hin, den sie unter seiner Suggestion weiterzuspinnen hatten. Zu eigener Konzeption wären sie schwerlich fähig gewesen. Außerdem waren es Märchen, und wenn allein diese Dichtungsart mit kindlicher Phantasie erfaßt werden kann, so liegt es daran, daß ihr leichtes Spiel allen ernsten Lebensproblemen aus dem Weg geht. Das aber unterscheidet die Phantasie des Erwachsenen und auch sein Traumleben von dem des Kindes, daß es mit Problemen belastet ist, und daß die Einbildungskraft nicht nur spielend, sondern auch denkend sich betätigt. So wenig das wissenschaftliche Denken der Mitwirkung der Phantasie entraten kann, so wenig darf dichterische Phantasie gedankenlos sein. Es gibt auch ein Denken im Unterbewußtsein. Goethe will im Schlaf auf wissenschaftliche Entdeckungen gekommen sein; er faßte die Inspiration im Traum als Wirken des Dämonischen auf, das übermächtig mit dem Menschen spielt, während er aus eigenem Antrieb zu handeln glaubt. „In solchen Fällen ist der |#f0426 : 402|

Mensch oftmals als Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß eines göttlichen Einflusses.“ Goethe erzählt auch, daß er in Versuchung gekommen sei, sich wie Petrarca eine weiße Lederweste machen zu lassen und mit ihr zu Bett zu gehen, um sich alle nächtlichen Einfälle aufzeichnen zu können. Es handelt sich um Einfälle, nicht um geformte Dichtungen. Bei Lafontaine dagegen werden zwei Fabeln genannt („La fable des plaisirs“ und „Les deux pigeons“), die er im Schlafe gedichtet haben soll. Noch auffallender ist die Behauptung Voltaires, der einen ganzen Gesang seiner „Henriade“ im Traum verfaßt und seinem Sekretär im Schlaf diktiert haben wollte. Wenn es zutrifft, so würde dadurch bewiesen, daß Voltaire kein Träumer war. Wenn wiederum von Lessing gesagt wurde, er habe niemals geträumt, so dürfte, die Richtigkeit vorausgesetzt, ihm daraufhin nicht etwa jede Phantasie überhaupt abgesprochen werden. Es wäre nur festzustellen, daß er sich eines gesunden Schlafes erfreute und im übrigen mit stets wachem Verstand das Unterbewußtsein in seiner Gewalt hatte. Bei manchem, der sich nach Petrarcas Vorbild zum Protokollieren erträumter Dichtung trainierte, konnte das Ergebnis vor der wachen Kritik des nächsten Morgens nicht bestehen. Varnhagen v. Ense erzählt in seinen „Denkwürdigkeiten“ von dem Romantiker Sigmund v. Seckendorf, der einen wunderbaren Traum nach erfolgtem Erwachen weiterzuträumen sich bemühte, schließlich im Traum ein Gedicht auf seinen Traum machte und diese Verse im Traum komponierte. Als er dann wieder aufwachte, konnte er nicht mehr im Bett bleiben, ließ sich ein Licht bringen und schrieb den ganzen Traum nebst Gedicht und Komposition auf. Varnhagen teilt auch den Text mit und stellt fest, daß sich Seckendorfs Leistungsfähigkeit im Traum nicht gesteigert habe. Ein gewisser Reiz der leeren Reimerei liegt höchstens im eigentümlichen Klang und in einem Rhythmus, der innerem Pulsschlag zu entspringen scheint. Auch Mörike, der wie Jean Paul, Grillparzer und Hebbel seine Träume aus der Erinnerung aufzeichnete, hat einmal den halbwachen Zustand „An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang“ zum Gegenstand eines Gedichtes gemacht; ebenso ist ihm die Ballade „Schön Rothraut“, die vom Klang des Namens ausging, am frühen Morgen zwischen Schlafen und Wachen eingefallen. Uhlands Gedichte „Die Harfe“ und „Die Klage“ sind aus Träumen hervorgegangen; Hebbel hat für „Herodes und Mariamne“ einen Traum seiner Frau verwertet; Christian Morgenstern wollte, einem wirklichen Traum folgend, ein dramatisches Märchen orientalischen Charakters schreiben, das aber |#f0427 : 403|

nicht zur Ausführung kam; Paul Heyses Novelle „Kleopatra“ entstand aus dem unheimlichen Traumringen mit einem phantastischen Getier, und ein ganzer Geisterroman wie Horace Walpoles „Castle of Otranto“ hat aus einem Traum des Dichters seinen Anstoß empfangen.

Oft aber ist die Traumeinkleidung rationale Zutat, ebenso wie es zweifelhaft bleibt, ob eine Handlungsverknüpfung, die sich sprunghafter Traumpsychologie bedient, Erlebnis oder technische Berechnung darstellt. Neuere Erzähler haben, wie vorher schon E. Th. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, nicht nur eingelegte Träume, sondern wache Darstellung in dieser lockeren und wunderbaren Verknüpfung wiedergegeben. Dies geschah besonders im Zeichen der Psychoanalyse, deren Begründer wiederum in der Analyse der Träume aus Jensens „Gradiva“ eine Bestätigung seiner Theorie erkennen wollte. An Märchendramen wie Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ und an dramatischen Traumdichtungen wie Grillparzers „Traum ein Leben“ oder Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ kann eigene Traumerfahrung des Dichters mitgearbeitet haben, während „Die versunkene Glocke“ und „Elga“ davon unberührt sind (vgl. oben S. 145). Schon früh hat dichterische Technik die Möglichkeit erfaßt, in der Traumvision einen Übergang zur Darstellung des Transzendenten zu finden, ohne daß im Labyrinth des Unbewußten die leuchtende Klarheit der Anschauung sich verwirrt hätte. Bewußtermaßen haben auch Satiriker wie Quevedo und Moscherosch die Traumeinkleidung angewandt. Sie haben ins Realistische abgewandelt, was in der mittelalterlichen Visionsliteratur und in ihrem stolzesten Gipfel, der Weltdichtung Dantes, kosmische Schau geworden war. e) Gefühlsleben Wenn mit Dilthey in der Analysis des Gefühls der Schlüssel für die Erklärung des dichterischen Schaffens erblickt wird, so besteht kein Widerspruch zu der Schlüsselstellung, die zuvor dem Erlebnis und nachher der Phantasie zugesprochen wurde. Vielmehr übernehmen die emotionalen und affektiven Regungen eine Mittlerrolle zwischen Erlebnis und Phantasie. An jeder der oben (S. 361 ff.) besprochenen Erlebniskategorien sind sowohl Gefühl als Einbildungskraft beteiligt in der Weise, daß jedes Erlebnis Gefühlserlebnis ist und als solches die Phantasie in Bewegung setzt. Das Gefühl ist der Motor, dem das Erlebnis zündenden Antrieb gibt, bis er in der Phantasie zur vorwärtsdrängenden Triebkraft wird. Die im Unterbewußtsein lagernde |#f0428 : 404| Bildermasse bildet den Brennstoff, der durch das Gefühl zur Explosion gebracht und in seiner entfesselten Stärke der Phantasie zugeleitet wird, die die Räder ins Rollen bringt. Das alles kann mit solcher Geschwindigkeit ineinandergreifen, daß die Vorgänge kaum zu trennen sind. Die Gefühle von Lust oder Unlust wiegen vor bei den Eindruckserlebnissen, die als richtungsadäquat oder konträr bezeichnet wurden; anschauliche oder schweifende Phantasie wird beflügelt durch die halbimaginativen oder imaginativen Ausdruckserlebnisse; beides hält sich das Gleichgewicht in der dritten Erlebnisgruppe, die als immanentes Schicksalsbewußtsein bezeichnet wurde. Schließlich kann auch die entfesselte kombinatorische Phantasie, die sich erfinderisch betätigt, des fortgesetzten emotionalen Antriebs nicht entraten und läßt sich lenken durch das aus dem Erlebnis aufsteigende Gefühl, das in den neuen Gebilden Werte sucht und geschaffen sehen will. Diltheys Poetik hat die Verknüpfung der elementaren Gefühle zu zusammengesetzten Gefühlszuständen in sechs Kreisen geordnet und analysiert. Der Weg führte von außen nach innen und gelangte von sinnlichen Gefühlen über Empfindungsinhalte, zusammengefaßte Wahrnehmungen, denkende Vorstellungsverknüpfungen und Lebensgefühle elementarer Antriebe schließlich zu den gefühlsbestimmten Willenserregungen. Das Gefühlsleben bildet danach die Brücke von der Vorstellung zum Willen auf ähnliche Weise wie es in engerem Rahmen eine Mittelstellung zwischen Erlebnis und Phantasie einnahm. Diltheys Analyse wendet sich damit mehr dem seelischen Inhalt des Kunstwerkes zu, als den gestaltenden Kräften; sie gleitet von der Poetik zur Ästhetik ab, um von deren Gesetzen aus das Schaffen des Dichters zu normieren. In Ernst Elsters Analyse des Dichters stellen dagegen Gefühle und Willensimpulse Anfang und Ende einer Kette dar, deren Mittelglieder durch die Lebensanschauungen der Dichter gebildet sind. Die Gefühle, die sich mit den verschiedenen Lebensanschauungen und Willensimpulsen verbinden, werden als Selbstgefühl, Mitgefühl, Gemeinschaftsgefühle und religiöse Gefühle unterschieden, und in jeder Kategorie werden Gefühle, die nicht durch äußere Eindrücke erregt sind, nämlich Stimmungen, getrennt von den Gefühlen, die durch äußere Eindrücke erregt werden, nämlich Schicksalsgefühle, Willensgefühle und Persönlichkeitsgefühle. Zu den Willensgefühlen werden Affekte und Leidenschaften, die sich in Aktivität oder Passivität unterscheiden, gerechnet; zu den Stimmungen die Temperamente. |#f0429 : 405|

Endlich ist eine weitere Teilung nach Inhalt, Qualität und Intensität vorgenommen. So entsteht eine Kategorientafel, in die sich besser die festen Charaktereigenschaften als die wandelbaren Gefühle einordnen lassen. Wenn, wie vorher die Phantasie-Anlage, so jetzt das Gefühlsleben einzelner Dichter nach diesem Schema analysiert werden soll, so fehlt es sowohl an einer Typenbildung, wie sie bei den Lebensanschauungen möglich ist, als auch an einer erfahrungspsychologischen Untersuchung und grundlegenden Systematisierung, wie sie für die Empfindungen besteht. Das naturwissenschaftliche Verfahren kann hier nichts helfen. Das vielfältige Gefühlsleben läßt sich zwar in Einzelbeobachtungen verschiedenartiger Dynamik aus Leben und Dichtung verzetteln, aber es läßt sich als Ganzes so nicht erfassen. Höchstens kann in einem Vergleich, z. B. zwischen Goethe und Schiller, etwas über die verschiedenartige Grundanlage ihrer Charaktere, deren Teilgebiet das Gefühlsleben bildet, ermittelt werden. Eine vollständige Inventarisation aller Gefühlsmotive eines Dichters würde aber auf ebenso öde Statistik hinauslaufen, wie die sogenannten Psychogramme (vgl. oben S. 344), bei denen der eigentliche Wesenskern des Menschen nicht erfühlbar wird. Die Schwierigkeit der Charakteranalyse des Dichters liegt darin, daß er eigentlich ebensoviele Charaktere hat, als in seiner Dichtung auftreten; alle sind, soweit sie lebensvoll sind, Stücke seiner Proteusnatur. Ebenso schwer ist es, sein Seelenleben in einem zentralen Zusammenhang zu sehen, weil alle Gefühle, die in seiner Dichtung zum Ausdruck kommen, erlebt sein müssen. So überreich daher die dichterischen Zeugnisse für Charakter und Gefühlsleben sich darstellen, so lückenhaft sind sie auf der anderen Seite. Beschränkt man sich auf die Lebenszeugnisse, die außerhalb der Dichtung liegen, auf die Selbstcharakteristik in Briefen und Tagebüchern, so ist man vor launenhafter Färbung, die auf vorübergehende Verstimmung zurückgeht oder auf den Empfänger des Briefes berechnet ist, nicht sicher, ebensowenig vor einer Selbsttäuschung, die gegenüber dem eigenen Spiegelbild eingetreten sein mag. Nimmt man die Charakteristiken durch Mitlebende, gleichviel ob sie fern oder nahe standen, hinzu, so sind diese Beobachtungen ebenfalls gefärbt. Sie sind nicht ohne kritische Untersuchung der Charaktere, von denen sie ausgehen, sowie ihres eigenen Gefühlsverhältnisses zu verwerten. Legt man indessen das in der Dichtung zum Ausdruck gebrachte Gefühlsleben in der ganzen Fülle, in der es zum Niederschlag gekommen ist, zugrunde, so tritt mit der Bewertung dieser Zeugnisse die Frage der Echtheit in den Vordergrund. Sie kann positiv entschieden |#f0430 : 406|

werden auf Grund der überzeugenden Kraft, Eigenart und Intensität eines dichterischen Ausdrucks, der es erlaubt, auf die innere Wahrheit des Erlebens zurückzuschließen. Das Gegenteil der Schwächlichkeit, Unoriginalität, Gemachtheit, Stillosigkeit und mangelnden Folgerichtigkeit gibt für eine negative Bewertung den Ausschlag. Eine andere Überzeugung von der Erlebnisechtheit ist auf die Übereinstimung zwischen dem Gefühlsleben, das in privater Selbstschau sich ausspricht, und dem Ausdruck, den es in der Dichtung gefunden hat, zu begründen. Zur völligen Deckung kann beides nur im Zustand großer Leidenschaft gelangen, die schon das Leben zur Dichtung werden läßt und der Dichtung Lebenswahrheit gibt. Das Gewahrwerden dieser Identität von gesteigertem Leben und Dichtung ist Sache einer einfühlenden Intuition, eines tiefen Mit- und Nacherlebens, letzten Endes einer hingebenden Liebe, die selbst zur Leidenschaft geworden ist. Dichtung ist nach einem Worte Lord Byrons überhaupt nichts anderes als Leidenschaft. Ibsen sprach es ihm nach, wenn er sagte, um sich in der Kunst zu behaupten, sei noch anderes nötig als ein natürliches Talent: „Leidenschaften, Schmerzen, die das Leben erfüllen und ihm einen Sinn geben. Sonst schafft man nicht, sondern schreibt man Bücher.“ Platon sagt im „Gastmahl“, auch in der Beherrschung der Künste glänze nur der und werde bewundert, den Eros unterwiesen habe; im Schatten und ohne Ruhm bleibe, den der Gott nicht berührte. Nach Dante ist jede Dichtung ein Diktat der Liebe. Auch der junge Goethe mußte die drängende Gefühlskraft, von der sein Künstlertum besessen war, als Liebe bezeichnen: „Was der Künstler nicht geliebt hat, nicht liebt, soll er nicht schildern, kann er nicht schildern.“ Der Alte sagte zu Eckermann, er habe nur gedichtet, wenn er liebte. Jeder Künstler ist ein Liebender. In seiner Leidenschaft lebt ein erotischer Drang, und das künstlerische Schaffen ist Zeugung, Vermählung von Ich und Welt, mit dem Willen, ein Neues hervorzubringen, Leben zu schaffen. |#f0431 : E407|

DR ITTER HAUPTTEIL DER SCHAFFENSVORGANG Über einen Dichter reden oder schreiben, ist nie mehr als ein Herumgehen um das Unaussprechliche. W i l h e l m v. H u m b o l d t . 1. L ö s u n g v o n d e r W i r k l i c h k e i t Wenn die ältere Poetik unter Berufung auf Demokrit, Platon, Aristoteles, Horaz und Shakespeare vom schönen Wahnsinn oder der göttlichen Verrückung des Dichters zu sprechen pflegte, so war es ein Gleichnis für die Besonderheit des Genies gegenüber der Norm des Durchschnittsmenschen und für die Enthebung aus der gewöhnlichen Wirklichkeit, wodurch der Lebensvorgang von Zeugung und Geburt des Dichtwerkes in ein nicht zu enträtselndes Dunkel gerückt wurde. Erst als die Dichter selbst auf die Beobachtung ihres Schaffens verfielen und für das Wunder, das in und mit ihnen vorging, Erklärung suchten, als sie in autobiographischen Bekenntnissen sich ihrer Antriebe und Seelenvorgänge bewußt zu werden strebten und durch Rechenschaft darüber den Biographen Material für die innere Entstehungsgeschichte ihrer Werke zur Hand gaben, konnte die Dichtungslehre dem Wesen schöpferischer Einbildungskraft mit Einblick in allgemeingültige oder typische Vorgänge näher kommen. Die Poetik sah von da an ihre Aufgabe nicht mehr darin, Regeln für das Schaffen aufzustellen, die aus der äußeren Form abgeleitet waren; sondern nun ergaben sich Möglichkeiten, aus den schöpferischen Innenvorgängen, wie sie der Dichter selbst beschrieb, etwas über die Gesetzmäßigkeit des Verlaufs zu ermitteln. Der Zeitpunkt, in dem diese Umstellung von normativer zu induktiver Dichtungslehre begann, liegt um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Für England nimmt Brandl an, daß die biographischen Werke Samuel Johnsons allerlei dichterische Selbstbeobachtungen und Selbstbekenntnis nach sich zogen; in Frankreich mögen Rousseaus „Confessions“ nach dieser Richtung vorbildliche Wirkung gehabt haben; in Deutschland wurde durch Karl Friedrich Cramers viel verspottetes Werk „Klopstock. Er und über ihn“ (1782 bis 1793) wie |#f0432 : 408|

durch die Lessing-Biographie des Bruders Karl Gotthelf Bahn gebrochen, ehe sich in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und in den Gesprächen mit Eckermann die reichsten Selbstoffenbarungen erschlossen. Durch Veröffentlichung von Tagebüchern, unter denen die Hebbels und das Journal der Brüder Goncourt besonders aufschlußreich sind, wie durch Dichterbriefwechsel z. B. zwischen Goethe und Schiller, Keller und Storm, Conrad Ferd. Meyer und Luise v. Francois, endlich durch Flauberts briefliche Selbstbekenntnisse ist das Material zu immer größerer Reichhaltigkeit angewachsen. In neuerer Zeit ist es noch durch die Ergebnisse von Um- und Anfragen bei lebenden Dichtern vermehrt worden. So lassen sich endlich bestimmte Typen der Schaffensweise gruppieren. Die Dichtungslehre empfängt diese Beobachtungen und Beschreibungen durch die Dichter und ihre Biographen, um das gebotene Material psychologisch zu durchdringen und systematisch gesichtet der Literaturwissenschaft zurückzugeben. Zahlreiche Aussagen bestätigen, daß zwar im Erlebnis bereits der Keim der Gestaltung liegt, daß aber nur in den verhältnismäßig seltenen Fällen einer inspirierten Gelegenheitsdichtung, wie sie bei Goethe sich finden (vgl. oben S. 370), der Schaffensvorgang zu sofortigem Anschluß und Abschluß gelangt. Regel ist es vielmehr, daß erst die Loslösung vom Leben die darstellerische Objektivierung des Erlebnisses möglich macht. Je tiefer das Erlebnis gegangen ist, um so länger wirkt es nach, und desto größer muß der künstlerisch bedingte Abstand sein, in dem es zur Gestaltung gelangt. So stehen neben den improvisierten Gelegenheitsdichtungen Goethes jene anderen, deren Entstehung sich über die zeitliche Ferne von vier Jahrzehnten erstreckt (vgl. oben S. 371). Für Schiller mag es charakteristisch sein, wenn er in seiner Bürgerkritik den Dichter, ähnlich wie Hamlet die Schauspieler, vor Hingabe an den Wirbelwind der Leidenschaft warnt. Der Dichter soll nicht mitten im Schmerz den Schmerz besingen: „Aus der sanften und fernenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, je mehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts, den er uns schön versinnlichen soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß die Liebe, die Freundschaft usw. selbst dem Dichter den Pinsel dabei geführt habe, hätte er damit anfangen müssen, sich selbst fremd zu werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität loszuwickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen.“ |#f0433 : 409|

Da die Erinnerung keine bloße Gedächtnis-Reproduktion, sondern eine unter Mitwirkung der Phantasie aus dem Weltbild wiedergeborene Vorstellung gibt, konnte der Philosoph Alois Riehl die Behauptung aufstellen, daß alle Dichtung nur als zeitliches Fernbild künstlerisch lebenskräftig werde. Sein Aufsatz war das Gegenstück zu Adolf Hildebrands „Problem der Form in der bildenden Kunst“, das im räumlichen Fernbild die gesetzliche Erscheinungsform der Kunst sah. Bei Riehl heißt es in unverkennbarer Verallgemeinerung der eben zitierten Schillerschen Sätze: „In der unmittelbaren Empfindung der Leidenschaft löst sich kein Lied von der Seele des Dichters, Lust und Leid müssen vergangen sein, ehe sie im Liede neues Leben empfangen können, ein Leben in der Erinnerung.“ Äußerungen von Jean Paul, Novalis, Wordsworth und Annette v. Droste-Hülshoff stimmen überein, daß der Fieberpuls der Leidenschaft den lyrischen Pinsel nicht festhalten läßt, daß in Momenten innigster Vertrautheit mit der Natur am wenigsten von ihr gesagt werden kann, daß die Dichtung ihren Ursprung in einer Gemütsbewegung hat, die sich in ruhiger Zurückgezogenheit sammelt, während man in höchst poetischen Augenblicken ungeeignet zur Arbeit sei, weil der Genuß den regelrechten Gedanken nicht aufkommen läßt. Aus dieser Erfahrung heraus sagt Rilke, der Dichter müsse sich so viel wie möglich vom Erleben zurückziehen, und schrieb sogar, die großen Menschen hätten ihr Leben zuwachsen lassen wie einen alten Weg und hätten alles in ihre Kunst getragen, so daß ihr Leben verkümmert sei wie ein Organ, das sie nicht mehr brauchten. Daß die Leidenschaft flieht und nur in der Erinnerung bleibt, daß nach einem anderen Worte Jean Pauls nicht das hochauffahrende Wogen, sondern die glatte Tiefe die Welt spiegelt und daß der rechte Genius sich von innen beruhigt, ist unbestreitbar. Aber daß sogar das Leid, das die Leidenschaft erregte, bereits vergangen sein muß, um zur Darstellung gelangen zu können, wird auf keiner Seite Bestätigung finden. Vielmehr braucht der Dichter das Leid, um sich von ihm zu befreien; er ruft es zurück, es verstärkt sich bei der Zurückgezogenheit von der Welt ins Metaphysische. Das in Vereinsamung gestaute Leid, das kein anderes Ventil findet, kann in dichterischem Ausdruck überwunden werden. Indem der Sinnenmensch sich zum Innenmenschen wandelt, kann er im Spiel seiner Phantasie Ersatz für die Wirklichkeit finden, unter der er zu leiden hatte. Hugo v. Hofmannsthal zog in seinem Gespräch „Über Charaktere im Roman und im Drama“ zwei Beispiele für die erlösende Wirkung des künstlerischen Schaffens heran: das eine ist das des Benvenuto |#f0434 : 410|

Cellini, der im Gefängnis der Engelsburg aus qualvollen Delirien befreit wird durch die Vision des leidenden Christus in Gestalt eines herrlichen Goldschmiedewerkes; das zweite Beispiel, das von Balzac stammt, ist das Gleichnis des Heizers, der gelegentlich aus der Tiefe des Schiffes auftaucht und ein paar scheue, fast schwachsinnige Blicke auf die schönen und fröhlichen Passagiere wirft: „Das sind die Aufenthalte des Künstlers unter den Menschen, wenn er taumelnd und mit blöden Augen aus dem feurigen Bauch seiner Arbeit hervorkriecht ... In seiner Arbeit hat er alles: er hat die namenlose Wollust der Empfängnis, den entzückenden Ätherrausch des Einfalls, und er hat die unerschöpfliche Qual der Ausführung. Da hat er Erlebnisse, für welche die Sprache kein Wort und die finstersten Träume kein Gleichnis haben.“ Besonders die französischen Dichter haben nach immer neuen Gleichnissen für die Selbstopferung des Künstlers gesucht; so fand Alfred de Musset in seiner „Mainacht“ das Bild des Pelikans; Flaubert in seinem Bildungsroman „Jules et Henri“ (der ersten Fassung der „Education sentimentale“) schwelgt in dem grausamen Bild der Straßburger Stopfgans, die man auf rotglühenden Metallplatten herumhüpfen ließ, damit die Leber genügend gedunsen und geschwollen werde, um zart und schmackhaft zu sein: „So muß auch der Genius in langsamem Dulden emporsteigen; der Schrei seines Herzens, den du bewunderst, seine hochfliegenden Gedanken, die dich mitreißen, haben ihre Quelle in den Tränen, die du n i c h t gesehen, in den Qualen, die dir verborgen sind.“ Nun aber folgt eine überraschende Pointe: während Jules seine eigene Traurigkeit beschreibt, entschwindet sie und geht aus seinem Herzen über auf die Natur, wird allgemeiner, universeller und sanfter. „Sein persönlicher Schmerz lehrte ihn die Schmerzen aller seiner Mitmenschen verstehen, und er hat einen genügend tiefen Blick in dieses Schauspiel getan, um es immer betrachten zu können; einen Augenblick hat die Kunst ihn geblendet, ihm schwindelte wie denen, die sich in außerordentlicher Höhe befinden; er mußte die Augen schließen, um nicht blind zu werden; dann aber nahmen alle Linien wieder ihren früheren Platz ein, die Dinge rückten in die richtige Entfernung, die Einzelheiten traten hervor, das Gesamtbild erschien, der Horizont dehnte sich weit; die Ordnung, die er in der Welt sah, ging auf ihn über; seine Kraft verteilte sich gleichmäßig, sein Geist kam ins Gleichgewicht.“ Wird das reifende Werden des Künstlers durch Leid und die Lösung des Leides durch befreiende Aussprache in diesen Gleichnissen als Doppelvorgang charakterisiert, so denkt man beim ersten Teil an |#f0435 : 411|

Byrons Ausspruch vom Kainszeichen des Genies oder an den Skalden in Ibsens „Kronprätendenten“, der die Gabe des Leides als Quelle seiner Lieder bezeichnet, oder an Grillparzers Verse aus dem „Abschied aus Gastein“: Und was euch so entzückt mit seinen Strahlen, Es wird erzeugt in Todesnot und Qualen. Als Gegengewicht stellen sich Goethes Tasso-Worte ein von der Gottesgabe des Dichters, zu sagen, was er leide, wenn der Mensch in seiner Qual verstummt; dazu gehört auch das Bild des Seidenwurms, dem man nicht verbieten kann, zu spinnen, auch wenn er sich an seinem eigenen Faden dem Tode näher spinnt. Friedrich Hebbel führte das Gleichnis weiter mit der Bemerkung: „Du armer Seidenwurm, du wirst spinnen und wenn auch die ganze Welt aufhörte, Seidenzeug zu tragen.“ 2. P r o d u k t i v e S t i m m u n g u n d K o n z e p t i o n Das Tasten in der Nacht der Einbildungskraft wird von den Brüdern Goncourt zu den schrecklichsten Tagen des Dichters gezählt. Das Wogen von Gefühlen und Leidenschaften, das Brüten, Kreißen und Gären ohne lichtvollen Ausblick, der Dämmerzustand eines drängenden Gestaltungswillens, dem die Gestaltungsmöglichkeit fehlt, das alles kann zur namenlosen Qual werden. Dieser depressiven Passivität des Naturalisten steht die aktive Gespanntheit des enthusiastischen Idealisten gegenüber, für den das noch unklare Bewußtsein innerer Berufung ein Lustgefühl gehobener, festlicher Bereitschaft in sich schließt. Wenn Schiller von einer gewissen musikalischen Gemütsstimmung spricht, die sich vor der poetischen Idee einstellt, von einem Spielen mit schwankenden Bildern, Phantasien und Gedanken, von einem unbestimmten Drang nach Ergießung strebender Gefühle, der noch zu keiner lebhaften Vorstellung des Stoffes gekommen ist, so schwingt in der Beschreibung dieser Stimmung ein seelischer Feierklang des Gestaltungswillens. Nach einer anderen Äußerung von ihm ist das ungeduldige Verlangen nach der neuen Produktion bereits die halbe Stimmung. Eine geradezu schwärmerische Schilderung vorahnenden Schöpferbewußtseins gibt Graf Friedrich v. Stolberg in seinem Aufsatz „Von der Fülle des Herzens“: „Empfangen ist süßer als Gebären; Dichten süßer als Darstellen. Groß und hehr umschweben den Dichtenden |#f0436 : 412|

strahlende Göttererscheinungen; sobald er darstellt, strahlen sie nicht mehr; sie schweben nicht mehr, aber sie wandeln leicht als schwebten sie, in dem schimmernden Gewande, in welches der Dichter sie kleidet.“ Den Unterschied von Dichten und Darstellen, der dem Sprachgebrauch Klopstocks entspricht, sollen Verse dieses Dichters veranschaulichen, die Stolberg in solchem Zusammenhang heranzieht: Wenn schon die Seele werdender Lieder ihm das Haupt umschwebet, eh' das nachahmende Gewand der Sprache sie umfasset. In einer anderen Ode aber, die nach Vollendung des „Messias“ auf die Entstehung des Lebenswerkes zurückblickt, schildert Klopstock auch die vorangegangenen Qualen des Suchens, aus denen eine plötzliche Inspiration befreiend erlöste: Flog und schwebt' umher unter des Vaterlands Denkmalen, Suchte den Helden, fand ihn nicht, bis ich zuletzt Müd hinsank; dann wie aus Schlummer geweckt, auf Einmal Rings um mich her wie mit Donnerflammen es strahlen sah! Welch Anschaun war es! Denn ihn, den als Christ ich liebte, Sah ich mit Einem schnellen begeisterten Blick Als Dichter, und empfand: Es liebe mit Innigkeit Auch der Dichter den Göttlichen! Erstaunt über seine so späte Wahl, dacht' ich nur ihn! Die Konzeption des „Messias“ ist demnach gleich einer pietistischen Erweckung als Durchbruch des Innern erfolgt und gibt ein Beispiel für die Mitwirkung visionärer Inspiration bei der Entstehung einer großen Dichtung. Konzeption ist die Verschmelzung von Stoffwille, Erlebnis, Weltbild und Sinnbildern der Phantasie. Sie kann sich als Ergebnis eines langen, zähen Ringens und qualvoller Arbeit einstellen oder als ungewollte glückliche Eingebung und blitzartige Erleuchtung eines Momentes, dessen Zündkraft das ganze Werk mit einem Schlag gleichsam fertig vor der Phantasie des Schöpfers stehen läßt. Zwischen den Gegensätzen der gewaltsam willensmäßigen Bezwingung und dem ungewollten Geschenk des Augenblicks gibt es Zwischenstufen im Zusammenwirken von qualvoller Pein, die geradezu einer Krankheit gleicht, und einer plötzlichen befreienden Erweckung, in der die Krisis ihre Heilung findet. Théodule Ribot hat darnach drei Arten der Konzeption unterschieden: die mystische Inspiration, die fieberhaft schmerzhafte

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Inspiration, und die bewußt intuitive Konzentration. Der deutsche Romanist Heinrich Gelzer hat noch einen weiteren Vorgang hinzugefügt, indem er den ersten als unmittelbare Erlebnisgestaltung, den zweiten als chaotisch, den dritten als konstruktiv bezeichnete und viertens einen meditativen Typus anreihte. a) Die u n m i t t e l b a r e und u n v e r m i t t e l t e I n s p i r a t i o n , die m y s t i s c h genannt wird, ist die des Erweckungs- und Durchbruchs-Erlebnisses, bei dem der Betroffene völlig passiv zu bleiben scheint, indem er eine plötzliche innere Erleuchtung und Berufung erfährt. Sowohl denkerische als dichterische Erlebnisse können eine Besessenheit nach sich ziehen, bei der der persönliche Wille zu erlöschen scheint. Nach Lichtenberg sollte man sagen: Es denkt, wie man sagt: Es blitzt, und Hebbel spricht einmal von solchem Zustand: „Nie blitzte das Gehirn mir mehr wie heut.“ Annette berichtet von ähnlicher Stimmung, „wo die Gedanken und Bilder mir ordentlich gegen den Hirnschädel pochen und mit Gewalt ans Licht wollen“. Richard Dehmel aber saß wie im Dunkel, in Angst und Erwartung des Kommenden. „Und plötzlich zuckte das Licht auf. Gleich einer feurigen Kugel begann es ihn rasch zu umkreisen. Und er mußte danach haschen und drehte sich um sich selbst. Es war ein unnennbares Glück, eine Erlösung in Tränen und Wonne. Es warf ihn um.“ Ribot führt als Beispiel der passiven Haltung des Inspirierten jene Vision Jacob Böhmes an, die ihm im Bild der sonnbeglänzten Zinnschüssel mit einem Schlag das ganze System seiner Weltanschauung offenbarte. Ein anderer Philosoph, Friedrich Nietzsche, hat in seinem „Ecce Homo“ einen gleichen Zustand als dichterische Inspiration beschrieben: „Hat jemand, Ende des 19. Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? ... Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung in dem Sinne, daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern ich habe nie eine Wahl gehabt ... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ... Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden; alles Werden will von dir reden lernen.“ |#f0438 : 414|

Nietzsche selbst wurde auf diese Weise bei einem Spaziergang in Rapallo von seinem Zarathustra überfallen. Solche schöpferische Inspiration kann vor allem dem Musiker zuteil werden, wie in Hans Pfitzners „Palestrina“ wundervoll dargestellt ist. Der Himmel öffnet sich, die Engel steigen herab, kosmische Sphärenharmonien ertönen, und am Morgen ist die große Messe fertig. So entstand Mozarts Don-Juan-Ouvertüre in einer Nacht; so fand Händel als Traumeingebung den Schluß des „Messias“, und als Haydn die Töne vernahm, durch die er das Werden des Lichtes in der „Schöpfung“ dargestellt hatte, rief er mit ausgebreiteten Armen: „Das kommt nicht von mir, das kommt von oben.“ Einen heiligen Moment dieser Art erlebte Klopstock, nachdem er den letzten Gesang seines „Messias“ an den Verleger gesandt hatte. Seine Frau erzählte, wie sie ihn mit ungewöhnlichem Ernst, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer stehen sah. Plötzlich stürzten ihm Tränen aus den Augen; er eilte zum Schreibtisch, und in wenigen Minuten war sein Dank aus dem Herzen hingeströmt in der Ode „An den Erlöser“: Beginn den ersten Harfenlaut, Heißer, geflügelter, ewiger Dank! Beginn, beginn, mir strömt das Herz! Und ich weine vor Wonne! Auch Goethe gibt eine dichterische Selbstdarstellung solcher plötzlichen Inspiration in den schon oben (S. 75) zitierten ersten Versen des „Ewigen Juden“. In diesem Fall ist es bei dem ersten Anlauf geblieben, und die Stimmung zur Fortsetzung hat sich verloren. Nach langer Pause kann eine neue Eingebung folgen, die aber anderer Art ist. So berichtete z. B. Graf Leopardi, daß er bei Eintreten der Inspiration Grundzüge und Einteilung des ganzen Gegenstandes in zwei Minuten niederlegen könne, daß er dann aber auf einen anderen glücklichen Augenblick warten müsse, der gewöhnlich erst nach Monaten sich einstelle: „Dann fange ich an zu entwickeln, aber so langsam, daß ich auch ein kurzes Gedicht kaum eher als in zwei bis drei Monaten erledigt habe. Dies ist meine Arbeitsweise. Wenn die Inspiration nicht da ist, könnte leichter Wasser aus einem trockenen Holzklotz herauskommen als ein einziger Vers aus meinem Kopfe.“ Die Inspiration der Ausarbeitung ist eine andere als die der Konzeption. Namentlich Schriftstellerinnen, z. B. Harriet Beecher-Stowe, George Elliot, George Sand, Clara Blüthgen haben bekannt, daß sie während des Schreibens das Bewußtsein hätten, ein fremdes Wesen habe von ihnen Besitz genommen und führe ihnen die Feder. Von |#f0439 : 415|

solchem Schreibzwang sprachen auch die Brüder Goncourt: Das aus den Händen des Schriftstellers hervorgehende Werk erscheine wie von unbekannten Kräften an den Tag gefördert; „es erstaunt euch, wie etwas, das in euch war, und von dem ihr kein Bewußtsein hattet.“ b) Ein Beispiel der f i e b e r h a f t e n u n d s c h m e r z v o l l e n I n s p i r a t i o n findet Ribot in der Beschreibung, die Alfred de Musset von seinem Schaffen gibt: „Die Schöpfung verwirrt mich und läßt mich erzittern. Die für meinen Wunsch stets zu langsame Ausführung erregt mir furchtbares Herzklopfen und Weinen; nur mit Mühe lautes Schreien zurückhaltend, gebäre ich eine Idee sie berauscht mich einen Augenblick, und am andern Morgen ekelt sie mich an. Forme ich sie um, so wird es noch schlimmer; sie entschlüpft mir. Besser ich vergesse sie und erwarte eine andere. Aber diese andere überkommt mich so verworren und so unermeßlich, daß mein armes Wesen sie nicht fassen kann. Sie drückt und quält mich, bis sie realisierbar geworden ist, und dann stellen sich die anderen Leiden, die Geburtswehen ein, wahrhaft physische Schmerzen, die ich nicht definieren kann. So vergess' ich mein Leben, wenn ich mich von diesem Riesenkünstler, der in mir ist, beherrschen lasse. Es ist also besser, daß ich lebe, wie ich mir vorgenommen habe zu leben, daß ich Exzesse jeder Art begehe, um diesen nagenden Wurm zu töten, den andere bescheiden Inspiration, ich ganz offen ‚Krankheit‘ nenne.“ Während diese Selbstbetrachtung nur die negative Seite der Schaffensqualen betont, tritt die plötzliche Klärung eines chaotischen Zustandes in der Konzeption von „Werthers Leiden“, wie sie Goethe im 13. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt, als befreiende Wohltat entgegen. Im Nachklang des Wetzlarer Erlebnisses, im eigenen Lebensüberdruß, in den Reflexionen über Selbstmord war eine Masse drängender, ängstigender Elemente im Gären begriffen, die der Dichter versammelte, ohne daß sie sich gestalten wollten. Noch fehlte zur Verkörperung die Fabel. Da kam die Nachricht vom Selbstmord des jungen Jerusalem aus Wetzlar, „und plötzlich schoß das Ganze von allen Seiten zusammen, so wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in ein festes Eis verwandelt wird.“ Hier stellt sich der Kristallisationsprozeß der Konzeption in klassischer Formulierung dar; in Richtung auf den Ausgang, den das Schicksal eines anderen bestimmte, wird die lyrische Erlebnismasse zur Fabel zusammengedrängt, die zunächst als Drama konzipiert wurde und sich |#f0440 : 416| dann episch ausbreitete. Ähnlich erging es Rilke, als er in Muzot die vor Jahren in Duino konzipierten Elegien ausführte. Ein „namenloser Sturm“, ein „Orkan im Geist“, ein „heiliger Wirbel im Herzen“ kam über ihn, so daß er sich nur als ein blindes und reines Werkzeug fühlte, das irgendwie gebraucht wurde und ihn zwang, in atemlosem Gewahren das wiederzugeben, was als inneres Diktat ihn überstürzend überfiel und ihm geschenkt wurde. Die dramatische Konzeption verläuft anders. Während sich im „Werther“ ein Zusammenfluß persönlichen Erlebens und fremden Schicksals vollzog, ist dem Zusammentreffen zweier literarischer Stoffkreise die Konzeption von Lessings „Miß Sara Sampson“ zu danken. Das eine ist Lillos Drama von dem Kaufmannslehrling in London, der durch die Liebe zu einer Verworfenen zum Verbrecher wurde; das andere Richardsons Roman von der unschuldigen Clarissa, die dem Verführer Lovelace zum Opfer fällt. Aus dem Zusammenschluß entsteht die neue Fabel vom schwachen Verführer, der der einen Frau erlegen ist, während die andere ihm verfällt. Die neue Situation des Mannes zwischen zwei Frauen gestaltete sich zur bürgerlichen Analogie der antiken Medea-Sage. Eine Selbstdarstellung der plötzlichen Vereinigung zweier Gedankenreihen, die lange ohne Verbindung nebeneinander hergegangen waren, gibt Grillparzer als Entstehungsgeschichte seiner „Ahnfrau“. Es waren Motive der Hintertreppenliteratur. Das eine war die Geschichte des französischen Räubers Mandrin, der in ein herrschaftliches Schloß flüchtete, auf dem er unerkannt ein Liebesverhältnis unterhielt. Das andere war der auf Lewis' „Monk“ zurückgehende Gespensterroman von der „blutenden Gestalt mit Dolch und Lanze, die auf dem Schlosse Stern bei Prag beschworen wurde.“ Plötzlich schossen die Fäden zusammen. „Einmal des Morgens, im Bette liegend, begegnen sich beide Gedanken und ergänzen sich wechselseitig. Eh' ich aufstand und mich ankleidete, war der Plan zur ‚Ahnfrau‘ fertig.“ In ähnlicher Art muß auch die oben (S. 115) berichtete Konzeption von Bethges „Marsch der Veteranen“ verlaufen sein. c) Von der Konzeptionsweise, die Ribot als b e w u ß t - i n t u i t i v e K o n z e n t r a t i o n bezeichnet, hat Grillparzer aus der Erfahrung seiner späteren Arbeitsweise eine Beschreibung gegeben: „Die eigentliche Begeisterung ist Konzentration aller Kräfte und Fähigkeiten auf einen Punkt, der für diesen Augenblick die ganze übrige Welt nicht sowohl verschlingen, als repräsentieren muß. Die Steigerung des Seelenzustandes entsteht dadurch, daß die einzelnen |#f0441 : 417|

Kräfte, aus ihrer Zerstreuung über die ganze Welt in die Enge des einzelnen Gegenstandes gebracht, sich berühren, wechselseitig unterstützen, heben, ergänzen. Durch diese Isolierung nun wird der Gegenstand gleichsam aus dem flachen Niveau seiner Umgebungen herausgehoben statt nur an der Oberfläche, von allen Seiten umleuchtet, durchdrungen gewinnt Körper, bewegt sich, lebt. Dazu gehört aber die Konzentration aller Kräfte. Nur wenn das Kunstwerk für den Künstler eine Welt war, wird es auch eine Welt für den Beschauer.“

Ausgesprochenermaßen ist in dieser Darstellung eine Schöpfung beschrieben, die ohne Beteiligung eines bestimmten, persönlichen Erlebnisses aus dem Weltbild des Dichters hervorgeht; in ihm liegt der Kristallisationspunkt, der als Idee festgehalten wird. Grillparzer selbst erzählt in einem anderen Zusammenhang, wie seine „Sappho“ konzipiert wurde. Er suchte nach der „Ahnfrau“ einen Stoff von denkbarster Einfachheit, um zu beweisen, daß er keiner Gespenster und Vatermörder bedürfe, um zu wirken. Da trifft er beim Spaziergang im Prater einen Bekannten, der ihm Sappho als Opernstoff empfiehlt. Bei der Heimkehr vom Spaziergang war der Plan fertig; am gleichen Abend wurde das Szenar niedergeschrieben, und am folgenden Tag begannen die Quellenstudien auf der Hofbibliothek. Den Grundgedanken der Konzeption aber nannte der Dichter selbst eine Fiaker-Idee, nämlich: „Gleich und gleich gesellt sich gern.“ Ebenso setzte bei Hebbels „Gyges“ auf fremde Empfehlung des Stoffes hin am selben Abend die Ausführung ein. Nicht selten sind intuitive Konzeptionen unter dem Eindruck eines Gemäldes erfolgt, dessen Situation die Phantasie in Bewegung versetzte. So stellte ein Kupferstich die Aufgabe für Kleists „Zerbrochenen Krug“, und das Gemälde von Kretschmann gab das Thema für den „Prinzen von Homburg“, ebenso wie Hebbels „Judith“ durch ein Gemälde von Giulio Romano in der Münchener Pinakothek, Flauberts „Tentation de St. Antoine“ durch Breughels Gemälde in Genua, Mallarmées „L'après-midi d'un faune“ durch ein Gemälde Bouchers in der Londoner Nationalgalerie angeregt wurde. Auch Grillparzer erinnert sich, wieviel Anteil an der Konzeption seines „König Ottokar“ ein Bild hatte, nämlich das Titelbild eines Quellenwerkes „Mars Moravicus“, das den Kriegsgott in voller Rüstung ungefähr so darstellte, wie er sich die äußere Erscheinung Ottokars gedacht hatte: „Diese Figur reizte mich an, meine Gestalten nach auswärts zu werfen, und auch während der Arbeit kehrte ich jedesmal zu ihr zurück, so oft sich meine Bilder zu schwächen schienen.“ |#f0442 : 418|

Auch Zeitungsnachrichten können zu Quellen einer konstruktiven Konzeption werden. Gottfried Keller las in der Züricher Freitags- Zeitung vom 3. September 1847 die Nachricht vom Selbstmord eines Liebespaares aus dem Dorfe Altsellerhausen bei Leipzig, das in den Tod ging, weil die Feindschaft der Eltern ihrer Verbindung im Wege stand. Ermatinger sucht in diesem Stoff die polare Idee der Kellerschen Weltanschauung aufzuzeigen, nämlich den Zwiespalt zwischen Naturkraft und Hemmung durch Pflichtgebot. Zur Konzeption der Dichtung konnte es erst kommen, als die Frage nach der Ursache der tödlichen Feindschaft durch ein Bild beantwortet wurde, das mit visionärer Kraft aufstieg: der verwilderte herrenlose Acker, von dem die zu beiden Seiten pflügenden Bauern jedesmal einige Furchen abschnitten. Wenige Tage, nachdem er die Zeitungsnachricht kennen lernte, hat Keller diese Anfangssituation, die den Keim der Konzeption bildete, in sein Tagebuch eingezeichnet. Die Konzeption aus einem symbolhaften inneren Bild hat auch Conr. Ferd. Meyer als den Kern bezeichnet, aus dem sein Erstling „Huttens letzte Tage“ entsprungen sei. Nach häufigem Besuch der Insel Ufenau entstand eine Skizze, „wo der kranke Ritter ins verglimmende Abendrot schaut, während ein Holbeinscher Tod von der Rebe am Bogenfenster eine Goldtraube schneidet. Sie bedeutete ‚Reifsein ist Alles‘“. Aus der französischen Literatur ist Balzac zu nennen, der in der Vorrede seines Romans „Physiologie du mariage“ erzählt, daß ihn das Wort „adultère“ im Code civil in Erregung versetzte und eine Reihe bedrückender Vorstellungen erweckte, von denen er erlöst wurde, als ihm eine Fabel einfiel, die zwei Eheleute nach 27jähriger Gemeinschaft zum ersten Male in Liebe zusammenführte. Das war als psychologisches Problem zu gestalten. Erst aus der seelischen Durchdringung des konstruierten Falles konnte sich eine Idee entwickeln. Bei dieser Entstehungsweise zeichnet sich der Zeitpunkt der eigentlichen Konzeption, die im organisierenden Eingreifen der Idee zu sehen ist, nicht so deutlich ab, wie bei unmittelbarer Erlebnisdichtung. Es handelt sich nicht, wie bei der Inspiration, um eine schlagartig einsetzende Befreiung und Erlösung, sondern um eine Stufenfolge allmählichen Werdens. d) Für den m e d i t a t i v e n Typus, den Ribot nicht kennt, steht die Idee am Anfang, sie bildet den Ausgangspunkt der Konzeption; sie wird nicht hineingetragen, um ein Problem zu lösen und vielerlei Erlebnismotive zur Konzentration zu bringen, sondern sie ist von vornherein der Kern, der wie ein Magnet alle Eisenspäne an sich |#f0443 : 419|

zieht. Als Beispiel nennt Gelzer Romain Rollands „Jean Christophe“. In einem deutschen Musiker soll der Idealtypus reinen Menschen- und Künstlertums dargestellt werden; dafür fliegen ihm in der Konzeption allerlei Züge aus dem Lebensgang und der Persönlichkeit eines Beethoven, eines Richard Wagner, eines Hugo Wolf zu, die bereits vorher in die Vorstellung dieses Idealtypus übergegangen waren. In ähnlicher Weise scheinen nach den Selbstbekenntnissen des Verfassers Joseph Conrads Romane „Lord Jim“ und „Nostromo“ angeregt worden zu sein. Bei dieser Schaffensart ist die Phantasiebetätigung überwiegend assoziativ. Die schöpferische Seite der Phantasie wird völlig verleugnet oder tritt wenigstens hinter der reproduktiven ganz zurück bei den Arbeitsmethoden eines Emile Zola. Dessen grundsätzliches Verfahren ist in den Büchern von Toulouse und Massis aus persönlicher Beobachtung und aus dem Nachlaß dargestellt. Häufig ist in den Aufzeichnungen des Schriftstellers von einer „idée générale“ die Rede, die allem anderen vorangehe, aber dieser erste Schritt ist gleichbedeutend mit der Entscheidung für ein Milieu, eine Gesellschaftsklasse, eine Tendenz und ein Kräftespiel sozialer Mächte. Auch eine „tendence philosophique“ wird erwähnt, als welche sich der Materialismus empfehle, aber sie soll nicht entwickelt werden, sondern nur den Büchern eine gewisse Einheit geben. Von Anfang an werden Stand und Gesellschaftsverhältnisse einzelner Personen zusammen mit dem Schauplatz in Aussicht genommen, aber erst nach Häufung unendlicher Materialien, die mit einer ungeheuren Arbeitsenergie zusammengetragen sind, geht es an Aufstellung der Charaktere und Disposition der Handlung. Von greifbaren Momenten der Inspiration oder Intuition ist bei diesem der Naturwissenschaft nacheifernden Verfahren nicht die Rede, weshalb es auch kaum als eigener Typus dichterischer Konzeption gelten kann. In Fragmenten des Schillerschen Nachlasses ist einmal ein ähnliches Verfahren eingeschlagen beim Entwurf des Dramas „Die Polizei“. Die Materialsammlung zur Schilderung des Pariser Großstadtlebens war aber höchstens geeignet zum epischen Hintergrund, während zur Konzeption einer straffen dramatischen Handlung solche Vorarbeiten nicht führen konnten. Mit Aufstellung dieser Typen ist nicht gesagt, daß jeder Dichter seiner Wesensart nach an einen von ihnen gebunden ist. Wenn auch Richtung und Anlage der Phantasie mitsprechen, so scheint doch keine Einordnung in ein psychologisches Typensystem durchführbar. Eher entspricht die Einteilung den Unterschieden der Gattungen. |#f0444 : 420|

Die Inspiration führt auf schnellstem Wege zur Lyrik, die Intuition zum Drama; an der konstruktiven Konzentration haben Drama und Roman Anteil; der Erzähler aber ist es, der durch die Meditation auf dem langsamsten Wege zur epischen Gestaltung kommt. e) Ist noch ein weiterer Typus zu erkennen, so würde ich ihn mit r e a k t i v e r Konzeption bezeichnen oder mit jenem Wort, durch das Friedrich Schlegel Lessings gesamtes Schaffen charakterisierte: p r o d u k t i v e K r i t i k . „Nathan der Weise“ gibt ein Beispiel dafür. Lessings Erklärung, daß ihm das Verbot seiner theologischen Polemik in schlafloser Nacht plötzlich auf den Einfall gebracht habe, ob man ihm nicht auf seiner alten Kanzel, dem Theater, noch einmal das Wort lasse, könnte als eine Art Inspiration aufgefaßt werden, wenn wir nicht wüßten, daß das Szenar des Dramas schon seit längerem vorlag. Der bewußte Widerspruch kann als negative Inspiration bezeichnet werden, die oft erst während der Arbeit eintritt. Aus der Polarität der Problemstellung kann sich der produktive Widerstand gegen eine Idee und die Gestaltung, die sie gefunden hat, herausbilden. Cervantes' „Don Quixote“ ist aus dem Gegensatz zu den Amadis-Romanen und ihrer Wirkung konzipiert worden, und Fieldings „Joseph Andrews“ als Antwort auf Richardsons „Pamela“; Lessings „Emilia Galotti“ entstand als produktive Kritik an verschiedenen Virginia-Dramen; Hardenbergs „Heinrich von Ofterdingen“ wurde als Gegenstück zu Goethes „Wilhelm Meister“ entworfen; Oscar Wildes „Dorian Gray“ ist eine bewußte Variation von Huysmans „A rebours“; Schillers „Jungfrau von Orleans“ entstand im Widerspruch gegen Voltaires „Pucelle“, und Shaws „Saint Joan“ wiederum im Gegensatz zu Schiller. Die Gegensätzlichkeit wird zum Antrieb der Satire; der Widerspruch gegen die Satire führt dazu, das Verspottete wieder ernst zu nehmen. Der Dichter selbst kann sich veranlaßt sehen, ein Problem, das er nach der einen Seite hin zu lösen versuchte, nun einmal von der anderen anzusehen. So gehören Hebbels „Maria Magdalena“ und „Julia“ zusammen in der verschiedenen Stellungnahme zu dem, „worüber kein Mann hinwegkann“; so hat Kleist die Zusammengehörigkeit von „Penthesilea“ und „Käthchen“ dem Verhältnis von Plus und Minus in der Algebra verglichen. Ibsens Dramen stehen eine Zeitlang in gegenseitiger Abhängigkeit, indem das nächste jedesmal ein Problem aufgreift, das vom vorangehenden übrig gelassen war. Ina Seidels „Labyrinth“ ist ein Ableger des schon länger geplanten und später erschienenen „Wunschkindes“. Hermann Stehr hat im „Geigenbauer“ und im „Meister Cajetan“ dieselbe Geschichte |#f0445 : 421|

zweimal konzipiert und im „Peter Brindeisener“ die Vorfälle auf dem „Heiligenhof“ aus anderem Blickwinkel noch einmal erzählt. Ähnliche Beziehungen bestehen zwischen Schaeffers „Joseph Montfort“ und „Helianth“. Ebenso behandeln Hauptmanns „Einsame Menschen“ und „Gabriel Schillings Flucht“ dasselbe Problem. Keinmal bedeutet das eine die Verwerfung des anderen, sondern beide stehen als selbständige Konzeptionen nebeneinander, wie im Atelier des Künstlers zwei Gemälde, die dieselbe Landschaft in verschiedener Beleuchtung und Beseelung darstellen. So bearbeitete Lessing nebeneinander zwei oder drei Faust-Pläne, von denen jeder auf einer eigenen Konzeption beruhte. Schiller soll drei Pläne der „Jungfrau von Orleans“ nebeneinander erwogen haben, unter denen man einen streng historischen und einen antikisierend stilisierten vermuten darf neben dem romantischen, der zur Ausführung kam. Damit war aber eine spätere Wiederaufnahme des historischen Entwurfes nicht ausgeschlossen. Auch die „Braut von Messina“ ist gewissermaßen eine neue Konzeption der „Räuber“, mit deren Fortsetzungsmöglichkeit der Dichter sich gleichzeitig beschäftigte. Alle derartigen Selbstwiederholungen und Selbstverbesserungen sind technische Experimente, die bereits zu dem Thema des folgenden Abschnittes hinüberreichen.

3. P l a n u n d G e s t a l t u n g a) Plan Fabel, Absicht und Technik wurden im ersten Buch (S. 136 ff.) als die analytisch erfaßbaren rationalen Elemente des Kunstwerkes zusammengefaßt unter dem Begriff des Planes. Die Kritik des Werkes läßt erkennen, ob es nach einem festen Plan gearbeitet wurde, oder ob der Plan während der Entstehungszeit sich verschob, veränderte, verwirrte. Eine genetische Betrachtung, die nicht vom Werk, sondern von der Person des Dichters ihren Ausgang nimmt und aus der Entstehung der Dichtung die Gesetze ihres Werdens erkennen will, hat konkretere Beziehung zu suchen. Der Plan ist dann im ersten schriftlichen Niederschlag der Konzeption zu finden. Während deren innerer Verlauf nur mittelbar bezeichnet sein kann in Vorreden oder späteren Berichten und Erinnerungen, die vom Dichter der Mit- und Nachwelt mitgeteilt werden, offenbart der aufgezeichnete Plan unmittelbar die erste Rechenschaft, die der Dichter sich selbst über sein Vorhaben gegeben hat. Tritt dieses Protokoll |#f0446 : 422|

der frühesten Arbeitsphase, das die Grundsteinlegung des Baus als eingemauerte Urkunde überliefert, aus dem Nachlaß ans Licht, so muß es mit der vom Dichter selbst gegebenen Darstellung in Einklang gebracht werden. Es stellt eine Kontrolle jenes Berichtes dar und kann zu dessen Bestätigung oder Berichtigung führen. In solchem Falle hat die kritische Arbeit des Philologen einzusetzen und im ersten Niederschlag des Planes Beziehung zu suchen zur stofflichen Überlieferung, die der Dichter vorfand, oder zum Erlebnis, das ihm den Anstoß gab. Wie oben (S. 116) gezeigt wurde, löst sich mit Abzug des Stofflichen die in der Konzeption vollzogene Verschmelzung wieder auf, und die von Erlebnis und Weltbild aus eingeleitete Umgestaltung des Stoffes wird äußerlich sichtbar. Was sich für die Analyse des Einzelwerkes ergibt, kann bei Wiederholung desselben Verfahrens als charakteristisch für die Schaffensweise eines Dichters angesehen werden. Z. B. hat Schiller es als seinen Grundsatz ausgesprochen, das Geschichtliche zu überwinden, aber im möglichsten Umfange zu benutzen eine Methode, die sich bei Konzeption des „Wallenstein“ und der „Maria Stuart“ für ihn herausgebildet hatte. In gleicher Weise kann von jenem festen Punkt des ersten Planes Ausblick gehalten werden zum fertigen Werk hin. Der Vergleich mit ihm steckt den Weg ab, den die weitere Arbeit zurückzulegen hatte. Nicht immer läßt sich der aufgezeichnete Plan in Übereinstimmung bringen mit dem Bericht des Dichters, der bei getrübter Erinnerung manchmal der Versuchung ausgesetzt ist, vom fertigen Werk aus dessen Werden zu rekonstruieren. So geschah es z. B. Goethe, der in „Dichtung und Wahrheit“ die Entstehung seines „Prometheus“ erzählte, ohne die ersten Entwürfe zur Hand zu haben. Seiner Erinnerung stellte sich die Prometheus-Ode als Monolog aus dem geplanten Drama dar, während sie in dem überlieferten Szenar keinen Platz hatte. Man muß sie also entweder als nachträgliche Konzentration auffassen, die verschiedene, auseinander hervorgehende dramatische Szenen in eine einzige lyrische Situation zusammendrängte, oder als eigene Konzeption, die dem Drama vorausging und in dessen Szenar aufgelöst wurde. Wenn mit Aufzeichnung des Planes das werdende Werk über die Schwelle des Bewußtseins geführt und den Einflüssen des absichtvollen Willens und der technischen Berechnung überantwortet wird, so bedarf allerdings nicht jede Konzeption dieser überlegten Weiterführung. Am wenigsten die reinste Form der Inspiration, die das Werk fertig vor der inneren Anschauung erscheinen läßt. Konzeption |#f0447 : 423|

und Ausführung fallen dann zusammen, indem das Bewußtsein ohne Reflexion die aus dem Unterbewußtsein auftauchenden Gaben entgegennimmt. Ein Ringen zwischen Unbewußtem und Bewußtem, das zueinander nicht finden kann, geht der zweiten Stufe der fieberhaften, schmerzvollen, chaotischen Konzeption voraus. Einzelne Momente des werdenden Werkes stellen sich der Phantasie bereits in visionärer Deutlichkeit dar, ohne daß ein planmäßiger Zusammenhang zwischen ihnen zustande käme. In dieser Weise glaubten die Stürmer und Dränger das Schaffen des Naturgenies Shakespeare als schöne Raritäten auf dem Jahrmarkt des Lebens zu verstehen, als eine Reihe von Guckkastenbildern, wie Goethes Rede zum Shakespearetag ausmalt: „Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.“ Der junge Goethe charakterisiert damit seine eigene Schaffensweise, die in der dramatisierten „Geschichte Gottfriedens v. Berlichingen“ abgerissene Einzelauftritte locker aneinanderfädelte, so wie sie den Anfang des „Ewigen Juden“ als „ersten Fetzen“ hinwarf und auch die Szenen des „Urfaust“ nicht nach ihrer inneren Folge ausarbeitete. Ein Besucher Frankfurts, dem das Genie in das Werden seiner gewaltigsten Dichtung Einblick gewährte, bekam kein zusammenhängendes Manuskript zu sehen, geschweige denn einen aufgezeichneten Plan, sondern beobachtete nur, wie der Dichter aus einem Papiersack lauter einzelne Blätter, Zettel und Schnitzel ausstreute, aus denen er vorlas. Das auf Postpapier geschriebene Manuskript, das 1775 nach Weimar mitgebracht wurde und dem Inhalt nach durch die Abschrift des Fräulein v. Göchhausen bekannt ist, stellt also gar nicht den eigentlichen „Urfaust“ dar. Den wirklichen Urzustand versuchte Gustav Roethes überscharfsinnige Untersuchung durch Auflösung in lauter Fetzen zu gewinnen, die er nach Form- und Stilkriterien datierte und innerhalb von drei Schaffensperioden unterbrachte. Die naturalistische Prosa sollte vorangehen. In Widerspruch dazu meinte Schuchardt die ältesten Knittelvers-Partien der akademischen Satire bereits in die Leipziger Zeit versetzen zu dürfen. Goethe selbst glaubte kurz vor seinem Tode sich zu erinnern, daß die Konzeption „jugendlich“ (d. h. in himmelstürmender Improvisation) und „von vorne herein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorlag“. Es scheint demnach, daß er zunächst nur die |#f0448 : 424|

Szenenfolge des Eingangs geordnet vor sich sah; es ist eine viel umstrittene Frage, ob in weiterer Planung bereits über das Schicksal des Helden entschieden war. Auch wenn der alte Dichter als eine seiner ältesten Konzeptionen die Gestalt der Helena erklärte, so ist damit noch nicht gesagt, ob das Stück in der Hölle oder im Himmel enden sollte. Erst in Rom, am 1. März 1788 heißt es: „Zuerst ward der Plan zu ‚Faust‘ gemacht, und ich hoffe, diese Operation soll mir geglückt sein.“ Wie der verlorene römische Plan aussah, wissen wir nicht; wir können nur aus der Funktion der neueingefügten Szenen „Hexenküche“ und „Wald und Höhle“ Schlüsse ziehen. Auch hier bleibt die Frage unentschieden, ob Untergang oder Erlösung das Ziel war. Gesichert ist der Erlösungsgedanke erst durch den neuen Anlauf, der 1797 genommen wurde. Jetzt setzte sich Schillers Forderung durch, einen poetischen Reif um die hochaufquellende Masse zu schlagen und das Ganze einer philosophischen Idee zu unterwerfen. Die Einschlagstellen dieses Reifens sind „Prolog im Himmel“ und Paktszene, die dem „Urfaust“ wie dem 1790 erschienenen Fragment fehlten. Mit ihnen war die Idee des nirgends beharrenden rastlosen Vorwärtseilens und der Erlösung durch strebendes Bemühen festgelegt. Eine von Riemer und Eckermann auf Grund Goethischer Äußerungen hergestellte „Chronologie“ besagte für das Jahr 1797: „Das Schema zum ‚Faust‘ vervollständigt.“ Charakteristisch für Goethes jetzige Arbeitsweise ist das erste Paralipomenon, für dessen Datierung Goethes Milton-Lektüre im Jahre 1799 in Anschlag gebracht werden kann. Zunächst gibt es eine abstrakte Schematisierung des bereits Ausgeführten, das nachträglich der Idee unterworfen wird: Ideales Streben nach Einwircken und Einfühlen in die ganze Natur. Erscheinung des Geists als Welt und Thaten Genius. Streit zwischen Form und Formlosen. Vorzug dem formlosen Gehalt Vor der leeren Form. Gehalt bringt die Form mit, Form ist nie ohne Gehalt. Diese Widersprüche statt sie zu vereinigen disparater zu machen. Helles kaltes wissensch. Streben Wagner Dumpfes warmes Schüler. Für das Neue, d. h. für den zweiten Teil, der mit Ausnahme des Anfanges des Helena-Aktes noch lange unausgeführt blieb, genügt vorerst die Andeutung der Idee in wenigen Stichworten, deren Überschrift „Lebens Thaten Wesen“ durchgestrichen ist: |#f0449 : 425|

Lebens Genuß der Person von außen gesehen 1ster Theil in der Dumpfheit Leidensch. Thaten Genuß nach aussen zweyter Theil und Genuß mit Bewußtseyn. Schönheit. Schöpfungs Genuß von innen. Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle. Wenn in Goethes Alter planmäßiges Schematisieren zu einer Regel wurde, die sich in Italien mit dem Szenar zur „Nausikaa“ herausgebildet hatte und dann bei der „Achilleis“, der „Natürlichen Tochter“ und der „Novelle“ Fortsetzung fand, so entwickelt sich im Weitergang des zweiten Faust-Teiles dieses Verfahren unter vielfachen Wandlungen der ursprünglichen Konzeption zu ausführlicher Selbstberatung und zu Vorankündigungen an die Leserschaft. Schillers Arbeitsweise scheint eher die umgekehrte Entwicklung genommen zu haben. Vorarbeiten zu den Jugenddichtungen fehlen; aber briefliche Äußerungen deuten an, daß die Konzeption ihren Ausgang nahm von der Begeisterung für einen großen Menschen, und daß diesem Helden Gelegenheit zur Charakterentfaltung in starken Situationen gegeben werden mußte. Solchem Ansatzpunkt entspricht aber nicht der erste Plan des „Don Carlos“, der im Bauerbacher Entwurf aus dem Winter 1782/3 erhalten ist. Das Stoffliche, das sich enger als die spätere Ausführung an St. Réals Novelle anschließt, ist nicht nach Szenen und Akten disponiert, sondern nach dem psychologischen Fortgang in fünf Schritten: Schürzung des Knotens Der Knoten verwickelter Anscheinende Auflösung, die alle Knoten noch mehr verwickelt Don Carlos unterliegt einer neuen Gefahr Auflösung und Katastrophe. Jeder Schritt wird weiter in der Gegenbewegung von Spiel und Gegenspiel, in der Spannung zwischen Entwicklung der Liebe und sich steigernden Hindernissen abstrakt analysiert, ohne daß die Charaktere umrissen würden oder der Zusammenstoß der Gegensätze in bestimmten dramatischen Situationen ins Auge gefaßt wäre. Es ist kaum anzunehmen, daß solch nüchterne Planmäßigkeit bereits bei den Jugend-Dramen zur Anwendung kam. In dem Werk des Übergangs und der Läuterung mag die Reflexion an den Anfang gesetzt sein als erzwungene Selbsterziehung, die über die Mängel an psychologischer Motivierung, unter denen die ersten Jugenddichtungen litten, Herr werden will. In der folgenden großen Pause des dramatischen Schaffens klärte sich der Gattungsbegriff dahin, daß „das erwirkte Erlebnis weniger Wirkung des Stoffes als der am besten benutzten tragischen Form sei“. Die Abhandlung „Über die tragische Kunst“ führte aus, daß die |#f0450 : 426|

Form in allen Teilen dem Zweck der Mitleiderregung durch Verkettung von Ursache und Wirkung und durch die Übereinstimmung der vorgestellten Affekte und Charaktere mit der Natur unserer Seele dienen müsse. Gleichwohl hat sich Schiller in seiner weiteren Praxis einen möglichst elastischen Begriff der Form freigehalten: „Die Idee eines Trauerspiels muß immer beweglich und werdend sein, und nur virtualiter in hundert und tausend möglichen Formen sich darstellen.“ Damit konnten so entgegengesetzte Formprinzipien, wie sie in „Braut von Messina“ und „Wilhelm Tell“ zutage treten, ihre Rechtfertigung finden. Während beim „Wallenstein“ noch ein detailliertes Szenarium entworfen worden war, „um die Übersicht der Momente und des Zusammenhangs auch durch die Augen mechanisch zu erleichtern“, ist der Aufbau des „Tell“ so locker, daß noch während der Arbeit die Stellung einzelner Auftritte wechseln konnte. Wie frei sich die spätere Arbeitsweise Schillers von Pedanterie und Dogma hielt, zeigen die Fragmente des Nachlasses. Zwar waren die Bruchstücke des „Demetrius“ von den ersten Herausgebern in einer Folge geordnet, die vom Allgemeinen zum Besonderen fortschritt. Aber die sorgfältige Untersuchung Gustav Kettners, die jedes einzelne Blatt nach äußeren Kriterien (Schriftzügen, Beschaffenheit des Papiers und seiner Wasserzeichen, Rücksichtnahme auf den wechselnden Bestand des Weimarer Bühnenpersonals) datierte und das Ganze nach Analogie der bei anderen Entwürfen eingeschlagenen Arbeitsweise ordnete, kam in bezug auf die Chronologie zu entgegengesetzten Schlüssen. Zunächst wurden einzelne Situationen und Theaterwirkungen ins Auge gefaßt, ehe an die Stützpunkte des Aufbaus, die von Schiller als „punctum saliens“, „aufbrechende Knospe“, und „prägnanter Moment“ bezeichnet werden, zu denken war. Erst nachdem die Eignung zur dramatischen Form und zur tragischen Wirkung sich in einer „Echtheitsprobe“ (nach Spenglers Wort) erwiesen hat, erfolgt die planmäßige Konstruktion des Knochengerüstes. Die bereits vorher entworfenen Situationen werden ihm eingefügt oder verworfen, aber es kommt nirgends zu so nüchterner Schematisierung, wie es Goethes spätere Art gewesen ist. Mit der auf Anschaulichkeit und Wirkungsberechnung eingestellten Schaffensart erweist Schiller seine Zugehörigkeit zu dem dritten Typus des intuitiven und konstruktiven Arbeiters, der einem Durchbruch der Idee suchend entgegensieht. Charakteristisch dafür ist auch das Sammeln von Stoffen, die in den Titelverzeichnissen des Nachlasses als Programm neuer dramatischer Möglichkeiten sich zur Wahl stellen. Schiller ging darin zwar nicht so weit, wie der französische |#f0451 : 427|

Theaterroutinier Victorien Sardou, der seinen Besuchern Einblick in eine Vorratskammer von über hundert in Angriff genommenen Stücken gewähren konnte, aber er gehörte auch nicht zu jenem Dichtertypus, der, wenn er erlebnismäßig von einem Thema besessen ist, nicht nach rechts und nicht nach links schaut, sondern nur in diesem einen Werk leben und wirken kann. Das Gegenteil davon führt leicht zur Zersplitterung, wie z. B. Jos. Vict. v. Scheffel nach dem „Eckehard“ zwischen den Stoffen zu acht geschichtlichen Romanen schwankte, von denen keiner mehr zur Vollendung gelangt ist. Dem vierten Typus, der als meditativ bezeichnet worden ist, scheint Hebbels dramatisches Schaffen nahezukommen, das meist von einer Ideenkonzeption ausging. Bei einem Meinungsaustausch zwischen ihm und Gutzkow gestanden sich beide, daß sie keine ausführlichen Pläne zu machen pflegten, obwohl Gutzkow es für ratsam erachtete. Hebbel hielt an seinem ungebundenen Verfahren, das der abkühlenden Verstandesarbeit wie der pedantischen Schematisierung auswich, fest. Aber der ursprüngliche Schwerpunkt verschob sich dabei nicht selten, und die erste Konzeption wurde im Verlauf der Arbeit mit Änderung der Problemstellung durch einen neuen Plan verdrängt. So ist während der Entstehung der „Genoveva“ die Situation des Golo wichtiger geworden, als die der Heiligen. Ähnlich trat bei der „Agnes Bernauer“, deren erster Plan von der Idee der Schönheit als Schuld ausging, in der Umgestaltung mehr und mehr das Problem des Staatsgedankens in den Vordergrund. Lag im Stoff zunächst die Eignung zum Intrigenstück, so gewann es mit der neuen Dynamik, die aus der Spannung zwischen Vater und Sohn erwuchs, den Charakter des Problem- und Ideendramas. Das „Trauerspiel in Sizilien“ wiederum wurde mit der Sicherheit eines Nachtwandlers in einem Zug begonnen, bis eine gesundheitliche Hemmung eintrat und die Wiederaufnahme durch einsetzende Reflexion gelähmt wurde. Das eigentliche Feld der meditativen Konzeption und Schaffensweise liegt, wie schon oben (S. 418) gesagt wurde, in der erzählenden Dichtung. Während Theodor Fontane bei der Ausführung seiner sprunghaften Stimmungsballaden intuitive Inspirationen erlebte, z. B. bei „Schloß Eger“, das er während des Ankleidens in wenigen Minuten auf das Papier warf, oder bei „Archibald Douglas“, dessen Strophen er am Abend der Stoffindung im Vorraum des Schauspielhauses auf herausgerissene Blätter seines Notizbuches schrieb, tat er sich sehr schwer als Prosa-Erzähler. Sein Romanschaffen, das an der Hand seines Nachlasses sich bis ins einzelne verfolgen läßt, gibt das |#f0452 : 428|

Beispiel einer Arbeitsweise, die in mancher Beziehung mit der des Naturalisten Zola übereinstimmt. Fontane nannte sich den „langsamsten Arbeiter der Welt“: Es käme darauf an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buch widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied sei als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist. Der unvollendet gebliebene erste Berliner Gesellschaftsroman „Allerlei Glück“ plante eine lockere Verwebung mannigfachster Charaktere und Schicksale aus allen Ständen; es kam aber schließlich zu keiner Konzentration. Der letzte Roman „Der Stechlin“ wählte ein begrenzteres Thema und machte sich zur Aufgabe, den Adel darzustellen, „wie er ist und wie er sein sollte“. Die Idee führte zunächst auf den Gedanken eines Erziehungsromanes, indem Woldemar v. Stechlin zum Vertreter des „Adels, wie er sein sollte“, heranzubilden war. In der Ausführung ist es schließlich bei dem „Adel wie er ist“ geblieben, als dessen Repräsentant der alte Dubslav v. Stechlin im Vordergrund steht. Trotz dieser Verlegung des Schwerpunktes hat sich der Aufbau des Ganzen, der im ersten Plan festgelegt war, selbst in der Folge und Einteilung der Kapitel nicht so wesentlich verschoben, als man erwarten sollte. Nur haben sich alle Partien, in denen der Vater das Wort hat, durch die Lebensfülle der Charakteristik und die Freude am Gespräch verbreitert, während die Entwicklung des Sohnes trotz der Absicht, ihn mit allen Zeitideen in Berührung zu bringen, sich nicht in Handlung umsetzte, sondern blaß und wirkungslos blieb. b) Wandlungen des Planes Wenn in lyrischer Inspiration das Werk wie Minerva aus dem Haupte Jupiters hervorspringt, kann von Veränderungen der Grundkonzeption kaum die Rede sein. Es ist ein seltener Fall, daß ein lyrisches Gedicht nach Jahren unter dem Eindruck neuer Erlebnisse derartige Umgestaltung erfährt wie Goethes „An den Mond“, dessen erste Gestalt Frau v. Stein zugedacht war und als intimes Bekenntnis in ihren Händen blieb, während nach zehn Jahren für die erste Ausgabe der Gedichte aus veränderter Seelenlage eine objektivere Fassung hergestellt wurde. Gedankenlyrik, die einer meditativen Entstehungsweise zuneigt, erfährt viel häufiger formale und sogar inhaltliche Umgestaltung, wie etwa Hölderlins späte Hymnen zeigen, die in zwei oder drei Fassungen nebeneinander stehen. Auch Schiller wußte von seinen

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„Künstlern“ zu sagen, daß gerade das, was ihn zu diesem Gedicht antrieb, weggestrichen worden sei, als es fertig war. Als Dramatiker hat Grillparzer geklagt, daß er bei länger dauerndem Arbeiten leicht dem ersten Plan untreu werde, weil alte Lieblingsthemata und Ansichten, die er mit sich herumtrug, unbewußt sich einmischten. Meistens aber bestehen in neuen Erfahrungen wie in gereifter Kunst- und Lebensanschauung die Ursachen für Veränderung eines Planes. So hat Schiller in den „Briefen über Don Carlos“ zugegeben, daß während der langen Entstehungszeit sich in ihm selbst vieles verändert habe: „Neue Ideen, die indes bei mir aufkamen, verdrängten die früheren; Carlos selbst war in meiner Gunst gefallen, vielleicht aus keinem anderen Grunde, als weil ich ihm in Jahren zu weit vorausgesprungen war, und aus der entgegengesetzten Ursache hatte Marquis Posa seinen Platz eingenommen. So kam es denn, daß ich zu dem vierten und fünften Akte ein ganz anderes Herz mitbrachte.“ Die in Bauerbach entworfene Liebesgeschichte aus einem königlichen Hause, die den Titel „Kabale und Liebe“ hätte tragen können, hatte Carlos und Elisabeth zu Hauptpersonen; daraus war in der zweiten Phase des Planes eine Kronprinzen-Tragödie geworden, bei der die Spannung in der Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn lag; inzwischen entwickelte sich als dritte Phase mit dem Gegenüber von Posa und Philipp ein politisches Ideendrama. Die Verteidigung des Dichters gegen seine Kritiker in den „Briefen über Don Carlos“ legte endlich dem fertigen Werk nachträglich eine vierte Konzeption zugrunde, die seine Einheitlichkeit hätte retten können. In der Ausführung besteht diese Einheitlichkeit nicht, da der erste und fünfte Akt durch den ersten Plan festgelegt sind, der zweite und vierte durch den zweiten Plan und der Mittel-Akt durch den dritten. Das gewagte Spiel, mit dem Posa aus dem Stück scheidet, ist ein verzweifeltes Mittel, aus dem dritten Plan wieder zum ersten zurückzulenken. Ganz anders verhielt sich Lessing bei der durch 18 Jahre sich hinziehenden und mehrere Arbeitsphasen durchlaufenden „Emilia Galotti“. Die Umsetzung des zunächst geplanten Virginia-Dramas in ein dreiaktiges italienisches Hofstück aus dem Zeitalter des Absolutismus und dessen Erweiterung zum fünfaktigen Drama durch Einfügung der Gegenspielerin Orsina, brachten mancherlei Veränderungen mit sich, aber das Ganze wurde jedesmal mit solcher Überlegung umgeschmolzen, daß die Analyse keine Spuren verschiedener Bauperioden in bezug auf Stil und Motive entdecken kann. Nur eines bleibt unsicher, nämlich die innere Motivierung des Tochtermordes, |#f0454 : 430|

der den Kern der Virginia-Sage bildete. Wir wissen, daß Lessing bis zur letzten Stunde über das Ende im Ungewissen war und daß erst die Drohung des Braunschweiger Theaterdirektors, einen Schluß aus eigener Erfindung anzufügen, ihn zur Entscheidung zwang. Theaterrücksichten haben auch den Jugendstücken Schillers, den „Räubern“ wie dem „Fiesko“, Änderungen des Schlusses auferlegt. Ebenso hat der Theaterleiter Goethe 1806 das Graf-v.-Gleichen-Motiv in „Stella“ durch einen tragischen Ausgang ersetzen müssen. Auch Ibsen wurde durch die Moral des Publikums dazu bestimmt, in einem Theaterschluß seine „Nora“ zu ihren Kindern zurückzuführen. Heinrich v. Kleist aber hat es beklagt, daß er sein als Märchendrama angelegtes „Käthchen von Heilbronn“ durch Bühnenrücksichten in die Bahn des Ritterdramas gelenkt und damit ganz verdorben habe. Ebenso hat Grillparzer die Verantwortung dafür, daß seine „Ahnfrau“ als Schicksalsdrama gelten konnte, dem dramaturgischen Berater Schreyvogel zugeschoben. Eine Theaterrücksicht war es auch, daß Schiller seinen „Wallenstein“, der zunächst als fünfaktige Tragödie aufgebaut war, in eine sogenannte Trilogie zerlegte. Um die zwei letzten Akte der ursprünglichen Komposition zur fünfaktigen Tragödie „Wallensteins Tod“ aufzufüllen, war die Einlage neuer Szenen erforderlich, die im Urplan noch nicht vorgesehen waren. Goethes Verteilung des „Götz von Berlichingen“ auf zwei Theaterabende war dagegen eine äußerlichere dramaturgische Unternehmung, die nur den großen Umfang bewältigen wollte, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen. Umgestaltungen des Planes können auch durch neue Quellenstudien verursacht sein, mit denen der Dichter während der Arbeit seine Geschichtskenntnis erweiterte. So hat sich für Schiller der Charakter König Philipps umgeprägt, als er den spanischen Historiker Ferreras und den Engländer Watson kennen lernte. „Tasso“ veränderte sein Gesicht unter dem Eindruck der Lebensbeschreibung von Serassi, die Goethe in Rom las. An die Stelle des Gegenspielers Battista Pigna trat nun der Staatsmann Antonio Montecatino. Aus äußeren wie inneren Anzeichen ist zu erkennen, welche Partien dem früheren oder dem späteren Plan ihrer Ausführung nach angehören. Zu den äußerlichsten Kennzeichen gehört die Betonung des Namens Antonio, der in den neuen Partien viersilbig erscheint, während sein dreisilbiger Gebrauch verrät, wo ursprünglich an seiner Stelle Battista stand. Die im Verlauf des Stückes veränderte Haltung des Gegenspielers bestätigt in denselben Szenen, welche Wandlung auch im Organismus des Dramas durch den neuen Plan eintrat. |#f0455 : 431|

Es können auch politische Tendenzen zur Umgestaltung und Erweiterung verlocken. So hat Schiller für den „Demetrius“ eine Kerkervision Romanows erwogen, in der nach Shakespearescher Weise die Zukunft des russischen Kaiserhauses prophezeit werden sollte, verbunden mit einer Huldigung für die Großfürstin Maria Paulowna, Weimars künftige Herzogin. Im Kleistschen „Michael Kohlhaas“ aber ist das Schlußmotiv der Prophezeiung, die Preußen über Sachsen erhebt, entgegen dem ursprünglichen Plan eingefügt. Im allgemeinen gibt die erzählende Dichtung weniger Anlaß zur Umarbeitung als das Drama, das die Probe der Bühnenwirkung bestehen muß; nur der autobiographische Roman ist notwendigen Veränderungen ausgesetzt, wenn das Leben des Dichters über den geistigen Raum des ersten Planes hinausgeführt hat. Bei der Jugendgeschichte bleibt der stoffliche Bestand, und die Änderungen beziehen sich mehr auf die Mittel der Erzählungstechnik, als auf den Erinnerungsinhalt; dagegen können sich Weiterführung und Schluß mit Verschiebung der Lebensziele wesentlich wandeln. Als Goethe „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ schrieb, war die Aufgabe des Helden, durch Einbürgerung Shakespeares zum Schöpfer eines deutschen Nationaltheaters zu werden, durchaus ernst gemeint, und die Hamlet- Aufführung sollte nach damaligem Plan den Höhepunkt darstellen. In den „Lehrjahren“ aber bedeutet dieses Ereignis nicht mehr den Gipfel der Komposition, sondern nur einen Übergang, der als Abkehr von der Welt des Scheines zur Richtung auf das tätige Leben hinführt. „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ wiederum entsprechen so wenig dem Plan der „Lehrjahre“, an den sie äußerlich anzuknüpfen hatten, daß sie kaum mehr als Fortsetzung gelten können. Zwischen den beiden Fassungen des Alters-Romans ist nochmals eine Verschiebung des Zieles eingetreten in bezug auf das Verhältnis zur neuen Welt. Die amerikanischen Schicksale der Auswanderer hätten nun das Thema einer weiteren Fortsetzung „Wilhelm Meisters Meisterjahre“ abgeben können, aber dieser Plan gewann keine feste Form mehr und konnte mit der eigenen Lebenserfahrung des Dichters nicht bestritten und bewältigt werden. Auch Grimmelshausens „Simplicissimus“ hat mehrere Fortsetzungen erlebt, zunächst in dem Anhängsel des sechsten Buches, das die wundervolle Rundung, die im fünften Buch mit der Rückkehr zum Einsiedlerleben gefunden war, zerstört. Die angefügte Robinsonade, die der Anregung einer literarischen Quelle folgt, verbindet das Motiv der Weltflucht mit dem des kuriösen Erlebnishungers; es zeigt sich, daß der künstlerisch bessere Abschluß des fünften Buches doch |#f0456 : 432|

keine ganz dem Lebensgefühl des Dichters entsprechende Echtheit besaß. Jede Umarbeitung eines früheren Werkes trägt der gewandelten Lebenserfahrung Rechnung. So hat auch Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“, der nach ursprünglichem Plan in einem zypressendunkeln Schluß das verfehlte Leben erlöschen ließ, sich in der zweiten Gestalt dem neuen Aufbau eines tätigen Lebens zugewandt. Damit war dem Beruf, den der Dichter selbst inzwischen gefunden hatte, entsprochen. Endlich sei noch die Wiederaufnahme eines Planes nach jahrzehntelanger Pause erwähnt mit Goethes „Novelle“, die auf das dreißig Jahre zurückliegende Stanzenepos „Die Jagd“ zurückgeht. Wilhelm v. Humboldt hat von dem Plan des Jahres 1797 berichtet, und es ist zu sehen, daß wesentliche Motive erhalten blieben. Aber Gattungswechsel und Übergang zur Prosa haben neben dem Altersstil die Ausführung unter andere Gesetze gestellt. c) Ausführung In und mit dem Plan pflegt bereits die sprachliche Gestaltung einzusetzen in einem Maße, das den verschiedenen Typen der Schaffensweise entspricht. Mit der unmittelbaren Inspiration ist der Rhythmus des Ganzen eingegeben; bei der intuitiven Schaffensweise kommen während des Suchens nach der Idee und bei ihrer Herausarbeitung einzelne Partien probeweise zur sprachlichen Gestaltung; bei der meditativen Arbeit beginnt die Sprachgebung erst nach Feststellung des Planes, um sogleich der endgültigen Form zuzueilen. Es kommt darauf an, ob die erste Konzeption festgehalten wird. Wie Goethes eben erwähnte „Novelle“, so wurden, ohne gleichgroßen Abstand von der endgültigen Ausführung, Hölderlins „Hyperion“ und Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ zunächst als Versdichtungen begonnen. Schiller war genötigt, seinen „Don Carlos“ für den Gebrauch kleiner Bühnen in elende Prosa zurückzuübersetzen, und es bleibt umstritten, ob er dafür ursprüngliche Entwürfe, die der Versifikation vorausgegangen waren, verwendet hat. Den „Wallenstein“ begann er nach den gemachten Erfahrungen in Prosa und lebte als Dichter erst wieder auf, nachdem er sich für die Versform entschlossen hatte. Goethe hat sogar um die Form der Iphigenie in vier verschiedenen Fassungen von Prosa und rhythmischer Prosa gerungen, bis er am Ufer des Gardasees die endgültige Form fand. Eine Änderung des Planes war damit nicht verbunden. Bei dramatischen Dichtungen kann eine Prosa-Skizze des Dialogs zwischen dem Szenar und der Versgestalt die Zwischenstufe bilden, |#f0457 : 433|

so daß das ursprüngliche Manuskript in zwei- oder dreispaltiger Anlage die Phasen des Werdens veranschaulicht. Dieses Bild bietet beispielsweise der erste Entwurf von Lessings „Nathan“, und in gleicher Weise hat Schiller stückweise bei den Fragmenten des Nachlasses gearbeitet. Er hat auch als Lyriker bei dem Entwurf des Gedichtes „Deutsche Größe“ die Prosa-Skizze und die Anfänge der Versifikation auf demselben Blatt nebeneinander gestellt. Ein anderes Stück seiner Gedankenlyrik, nämlich „Die Führer des Lebens“, benutzt Bild und Wortlaut des Anfanges einer damals noch ungedruckten ästhetischen Abhandlung „Vom Erhabenen“ zur Umgießung in Verse. Im Zeitalter des Rationalismus waren sogar prosaische Oden möglich und galten, wie Lessings Versuche zeigen, als rhetorische Kunstleistungen, nicht als vorläufige Entwürfe. Wieland bekannte, daß er bei seinen Oden-Dichtungen zuerst alle Hauptvorstellungen, die darin vorkommen sollten, in seinem Kopfe sammle, sie anordne und dann erst in poetischen Enthusiasmus versetzte. Das war gewiß nicht die Art Klopstocks, dessen Odendichtung vom Enthusiasmus eingegeben war. Die rationalistische Methode ist indessen noch im 19. Jahrhundert von Dichtern angewandt worden, bei denen man es nicht erwartet. So berichtet E. A. Poe selbst über die mühevolle Disposition seines Gedichtes „Der Rabe“. Ähnliche Methoden scheinen von Dowson und Keats gehandhabt worden zu sein, und von Dante Gabriel Rossettis Arbeitsweise gibt sein Bruder folgende Beschreibung: zuerst schuf er den Umriß des Gedichtes; erst dann erfolgte die Ausarbeitung der Einzelheiten, die unzählige Veränderungen zur Folge hatte. Dazu hat er sogar Wörterbücher nachgeschlagen und einen Briefwechsel mit Freunden über strittige Fragen unterhalten. Das Endergebnis wurde erst nach längerer Zeit veröffentlicht. Dichterhandschriften verraten die Gleichmäßigkeit oder Erregtheit des Seelenzustandes beim Schaffen. Émile Zola, der täglich seine bestimmten Arbeitsstunden hatte, setzte sich nicht eher an den Schreibtisch, als bis er sein Material geordnet und völlig durchdacht hatte. Um jährlich einen Roman von 500 Seiten zu liefern, schrieb er täglich etwa 50 Zeilen in seiner sauberen großen Schulschrift, ohne zu ändern. Ähnlich hielt Paul Heyse seine regelmäßigen Arbeitsstunden inne und förderte mit flüssiger Feder das innerlich fertige Werk. Anders war es bei Flaubert, der unter schmerzlichsten Anstrengungen schuf und beim Schreiben öfter innehielt, das Geschriebene durchstrich, darüberschrieb, die Ränder anfüllte und Worte quer darüberzog. Von zwanzig Seiten, die er geschrieben hatte, konnte er schließlich |#f0458 : 434|

nur eine verwenden; unter hundert Ausdrücken konnte er nur einen als den allein richtigen herausfinden, und öfters erlebte er einen Zusammenbruch im Kampf mit den Worten. Er sagte einmal: „Ich habe vier Stunden verbracht, ohne eine Phrase fertigzubekommen. Ich habe heute keine Zeile geschrieben, oder vielmehr, ich habe hundert gekritzelt. Was für eine furchtbare Arbeit!“ Während Wieland gestand, drittehalb Tage über einer Strophe beim Suchen eines einzigen Wortes hingebracht zu haben, erzählte der Verfasser der „Emilia Galotti“ von einem jungen Tragikus, der ähnlich arbeite wie er selbst. „Er macht alle sieben Tage sieben Zeilen; er erweitert unaufhörlich seinen Plan und streicht unaufhörlich etwas von dem schon Ausgearbeiteten wieder aus.“ Wieder ein anderes Bild zeigen die Romanmanuskripte Theodor Fontanes, der sich selbst als einen „Pußler“ bezeichnete und unaufhörlich an der Form feilte. Er beginnt mit Bleistifteintragungen in seinem Notizbuch, das Blatt schreibt er ab, oder klebt es auf und schreibt wieder ab, bis endlich nach neuer Ausarbeitung die Druckvorlage durch die Hand seiner Frau zustandekommt. Die Rückseiten der Manuskript-Blätter waren ursprünglich Vorderseiten und enthalten viele Skizzen vorausgegangener, inzwischen ausgeführter Entwürfe. Die zeitliche Folge in der sparsamen Ausnutzung desselben Papierblattes zeigt immerhin kein so chaotisches Durcheinander verschiedener Pläne, wie es in Handschriften Clemens Brentanos zu sehen ist, oder wie dem undisziplinierten Genie Peter Hille nachgesagt wird, dessen Manuskripte in Bierbaums „Stilpe“ folgende Beschreibung finden: „Ein Konzeptbogen in Quart, der außer den ersten Szenen zu einem Drama zwei Kapitel aus verschiedenen Romanen, sechs Gedichte in Prosa, drei in Versen und außerdem etwa fünf Dutzend Aphorismen und verschiedene Essay-Brouillons enthielt, alles durcheinandergeschrieben, erst waagerecht, dann in senkrechten, dann in diagonalen Zeilen dazu.“ Einen ähnlichen chaotischen Eindruck machen auch die Korrekturfahnen Balzacscher Romane, die zwar nur dem einen Werk galten, aber den Text noch im Satz des Druckes siebzehn- oder achtzehnmal völlig umwarfen. 4. A r b e i t s w e i s e Das graphologische Charakterbild der Dichterhandschrift, das in einer Vielheit von Manuskripten sich vermannigfaltigt und immer neue Einblicke in Wesen und Werden, Werkstatt und Arbeitsweise, Seelenlage und Stimmung des Schaffenden gibt, erfährt anschauliche |#f0459 : 435|

Ergänzung durch alle Berichte aus der Umwelt des Dichters, die über die von ihm selbst gesuchten oder hergestellten Arbeitsbedingungen Aufschluß geben. Klima und Jahreszeit fördern die Schaffensfreudigkeit in verschiedener Weise. Für Schiller brachte der Eintritt des Frühjahrs eine traurige Stimmung unruhigen und gegenstandslosen Sehnens mit sich, die dem bei anderer Gelegenheit (vgl. S. 411) geschilderten Zustand vor der Konzeption entspricht. Das alljährliche Erlebnis der erwachenden Natur geht wohl an keinem Poeten spurlos vorüber, aber die Frucht folgt der Blüte oft viel später. Selbst Uhland, der recht eigentlich ein Frühlingsdichter war, hat Lenzlieder in den Wintermonaten verfaßt. Jean Paul fühlte sich in trüben Zeiten besonders zur Arbeit aufgelegt; sein Exkurs über die natürliche Magie der Phantasie im „Quintus Fixlein“ erklärt, der dichterische Regenbogen wölbe sich, ebenso wie der optische, bei niedrigstem Stande der Sonne am höchsten (also abends und im Winter). Auch Wilhelm Raabe hat den November, den die meisten Menschen hassen und fürchten, als den willkommensten Monat für seine Arbeit gepriesen. Den 15. November 1854, an dem er die Inspiration zur „Chronik der Sperlingsgasse“ erlebte, hat er als „Federansetzungstag“ gefeiert, und noch 25 Jahre später wird in „Fabian und Sebastian“ der Zauber, den der erste Flockenfall im Bilde der Welt hervorruft, als Kern tiefsinniger Symbolik gepriesen. Man wird bei diesen beiden Beispielen fragen, ob es gerade eine Eigenart des Humoristen sei, aus der trüben Jahreszeit Stimmung zu schöpfen. Aber auch der Tragiker Hebbel war im Sommer unproduktiv. Es ist möglich, daß der Unterschied zwischen nach außen und nach innen integrierten Menschen sich in der Abhängigkeit von der Jahreszeit auswirkt. Goethe jedenfalls, dessen Wohlbefinden von der Sonne abhängig war, pflegte den kürzesten Tag des Jahrs und die ihm vorausgehenden Wochen in deprimierter Stimmung zu verseufzen: „Wenn das Barometer tief steht und die Landschaft ohne Farbe ist, wie kann man leben?“ Wie Tag und Nacht trennen sich Früh- und Spätarbeiter. Während der Licht-, Farben- und Sonnenmensch Goethe für sein „Hauptgeschäft“, die Vollendung des zweiten Teiles „Faust“, im Alter nur noch die ausgeruhten Morgenstunden benutzte, in denen er am schaffensfrohesten war, dankte sein „Epilog zu Schillers Glocke“ dem Freunde für das Opfer seiner durchwachten Nächte, die unseren Tag erhellt haben. Allerdings wollte Goethe in Schillers Schaffensweise etwas Gewaltsames erkennen. |#f0460 : 436|

Schiller hat in der Jugend sogar bei Tag sein Arbeitszimmer verdunkelt und künstlich beleuchtet (vgl. S. 342). Andere suchten durch eine besondere Art magischer Beleuchtung sich in Stimmung zu versetzen; so arbeitete Edward Young, der Dichter der „Nachtgedanken“, beim Licht einer Kerze, die in einen Totenkopf gestellt war, und E. Th. A. Hoffmann hatte in seinem schwarztapezierten, mit Gerippen, Totenköpfen und Teufelslarven ausgeschmückten Zimmer die Lampen mit grünen, weißen und blauen Schleiern verkleidet. Selbst die Arbeitsweise kann im Sinne der Dichtung stilisiert werden. Zu den künstlichen Mitteln der Vorstellungssteigerung gehört auch eine phantastische Kleidung, wie Alexander Pope, Voltaire und Richard Wagner sie anzulegen pflegten. Alexander Dumas d. J. soll sogar ein rotes Priestergewand mit wallenden Ärmeln und Sandalen, Pierre Loti orientalische Gewänder getragen haben. Auch Geruchsempfindungen üben ihren Reiz auf die Nerven aus. So wurde Lord Byrons Phantasie durch das Aroma von Trüffeln angeregt; Jens Peter Jacobsen konnte am besten schreiben, wenn er Hyazinthen im Zimmer hatte; aus Schillers Schreibtisch stieg, wie Goethe einmal bemerkt haben will, ein Duft von faulen Äpfeln auf, was als Heimatgefühl des Schwaben gedeutet worden ist, der sich gern an den Duft gärenden Apfelmosts erinnern ließ. Schon im Altertum war nicht nur von Anakreon, sondern von Aischylos berichtet, daß er im Rausch gedichtet habe. Auch das berühmte Trinklied des chinesischen Kaisers Wang-Kan soll seine Echtheit dem gleichen Zustand verdanken. Wo Inspiration und Intuition nicht natürlich quellen, verhelfen Stimulantien wie schwarzer Kaffee, Spirituosen, Absinth oder Tabak zur Überwindung von Hemmungen und zur produktiven Erregung. Die gesteigerten Phantasie- Erlebnisse des Opium- oder Haschisch-Rausches, die zwischen Traum und Wahnsinn schwebend in einer Stunde mehrere Menschenschicksale erfahren lassen, sind auch zum Gegenstand der Dichtung geworden, indem Baudelaire und de Quincey aus eigener Erfahrung sie besangen und beschrieben. Für manche Dichter ist dagegen der Dienst der Muse eine Askese. Dickens und Daudet sollen im ausgehungerten Zustand besonders produktiv gewesen sein. Wieder andere, z. B. der jüngere Dumas, verspürten beim Schaffen einen gesteigerten Appetit und erhöhte Lebensfreude. Zu den gewählten Schaffensbedingungen gehört auch eine der Gemütslage entsprechende körperliche Situation. Die Romantiker scheinen sogar angenommen zu haben, daß der Leser sich auf dieselbe |#f0461 : 437|

Haltung einstellen müsse, um eine Dichtung zu verstehen; wenigstens berichtete Achim v. Arnim einmal an Clemens Brentano: „Deinen Ponce hat sie Abends im Bette gelesen, Du hast ihn im Liegen geschrieben.“ Der amerikanische Humorist Mark Twain arbeitete tagsüber im Bett und rauchte dabei seine große Zigarre. Andere liegen auf dem Boden oder stehen am Pult oder laufen im Zimmer umher. Sie wandern in Gedanken durch die dargestellte Gegend; es werden Karten ausgebreitet auf dem Schreibtisch und Landschaftsbilder eingesehen, um sich im Schauplatz zurechtzufinden. So hatte Schiller, der den Meeresstrudel des „Taucher“ an einem Mühlrad studierte, für die Lokalisierung des „Wilhelm Tell“ eine Landkarte des Vierwaldstätter-Sees vor sich, an die er sich genau hielt; ebenso verfolgte er den Zug des Demetrius nach Moskau auf dem Atlas. Als die Brüder Goncourt an einem Roman arbeiteten, der in Rom spielte, hingen sie einen Stadtplan an der Türe auf: „pour continuer à y être, à nous y promener les yeux.“ Ortsnamen auf der Landkarte verhalfen gelegentlich zur Benennung von Personen. Auf einer Karte der Umgebung von London stehen nebeneinander Barnelms und Telham hill, und es ist wohl möglich, daß Lessing dadurch auf die Namen des Liebespaares in seinem Lustspiel verfiel, ebenso wie Goethe auf den Vornamen seines Faust, statt des überlieferten Georg oder Johann, dadurch gekommen sein könnte, daß Heinrich und Margarete im Kalender nebeneinander standen. Theodor Fontane hat viele seiner Adelsnamen durch Ortschaften bestimmen lassen, die er als Wanderer durch die Mark kennen lernte; im übrigen hat er, um seine lokale Anschauung zu stützen, den genauen Lageplan einer Ortschaft, eines Gutes, einer Straße, die Einteilung eines Hauses, die Einrichtung eines Zimmers, ja sogar die Tischordnung einer Gesellschaft mit Feder oder Bleistift skizziert ein Verfahren, das sich ebenso bei Zola angewandt findet und von geringer innerer Anschauung wie von starkem äußeren Anschauungsbedürfnis zeugt. Der visionären Kraft kann nachgeholfen werden durch Anfertigung eines Personenverzeichnisses, das die äußere Erscheinung jeder einzelnen Gestalt aufs genaueste beschreibt. Walter Scott, Spielhagen und Zola haben solche Steckbriefe entworfen, nach denen sie sich im Verlauf der Arbeit richteten. Galsworthy hat einen Stammbaum, wie er ihn zunächst wohl für eigenen Gebrauch angefertigt hatte, zur Orientierung des Lesers seiner Forsyte-Saga beigegeben. Das ist sonst nur im Drama notwendig, das außerhalb des Dichterwortes |#f0462 : 438|

den Darstellern Anweisungen gibt. Schillers Personenverzeichnis zum „Fiesko“ geht in seiner steckbrieflichen Genauigkeit über das Übliche hinaus und nähert sich epischer Beschreibung; es ist wohl als Rest ursprünglicher Vorarbeiten anzusehen. Ebenso sind im Drama des frühen Naturalismus, z. B. in Hauptmanns Jugendstücken, die Angaben über Äußeres und Bewegung der Personen in novellistischer Schilderung stecken geblieben. Wir hören weiter mancherlei Kulissengeheimnisse. Von einem lebenden Dramatiker, Wolfgang Eberhard Möller, wird berichtet, daß er sich für die Arbeit am „Sturz des Ministers“ eine Struensee- Maske modellierte, in die er alle quellenmäßigen Charakterzüge hineinlegte, um so mit der Physiognomie seines Helden am Schreibtisch Zwiesprache zu halten. Für das „Frankenberger Würfelspiel“ ließ er sich den noch erhaltenen echten Würfelbecher, aus dem die Bauern um Leben und Tod warfen, kommen. Auch Ibsen hatte geschnitzte Figuren vor sich stehen und empfing von ihnen Suggestionen. Flaubert stellte einen ausgestopften Papagei auf seinen Tisch, um nach der Natur zu „malen“. Während manches Dichteratelier mit schwelgerischem Luxus prunkt, wissen wir von Goethe, daß er in seinem spartanisch einfachen Arbeitsraum jede Verweichlichung von sich wies: „Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Möbeln hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen, passiven Zustand. Eine geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir sind, ein wenig unordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte und läßt meiner Natur volle Freiheit, tätig zu sein.“ Zum Niederschreiben konnte Goethe sich nicht zwingen. Im Herumgehen diktierte er. „Was ich Guts finde in Überlegungen, Gedanken, ja sogar Ausdruck, kommt mir meist im Gehn. Sitzend bin ich zu nichts aufgelegt. Drum das Diktieren weiter zu treiben“ schrieb er schon 1780 in sein Tagebuch, und an Frau v. Stein berichtete er über die auf der Reise nach Gotha bedachte Situation im Wilhelm Meister: „Ich wollt gern Geld drum geben, wenn das Capitel ... aufgeschrieben wär; aber man brächte mich eher zu einem Sprung durchs Feuer. Diktieren könnte ich's noch allenfalls, wenn ich nur immer einen Reiseschreiber bei mir hätte. Zwischen so einer Stunde, wo die Dinge so lebendig in mir werden, und meinem Zustand in diesem Augenblick, wo ich jetzt schreibe, ist ein Unterschied wie Traum und Wachen.“ Später gewöhnte er sich ganz an das Diktat unter der Voraussetzung, daß er mit sich im Reinen war. Eine Dichtung mußte innerlich fertig sein, ehe sie zur Niederschrift kam. |#f0463 : 439|

Über dieses Fertigsein haben sich allerdings viele Dichter, die die Ausführung unterschätzten, großen Selbsttäuschungen hingegeben, weshalb die eigenen Angaben, z. B. bei Lessing und bei Gottfried Keller, nicht immer ganz zuverlässig sind. Goethe hat sich zur Fertigstellung einmal zwingen wollen, indem er sich vornahm, für das Epos „Die Geheimnisse“ an jedem Tag des Kalenders eine Stanze zu absolvieren. Aber dieses Kommandieren der Poesie widersprach seiner Natur. Die italienische Reise erlöste ihn aus der Gewaltsamkeit und führte sein Schaffen zum natürlichen Ausreifen zurück. Auf Reisen wurde Goethes Schaffenstrieb besonders angeregt. Am Ufer des Gardasees fand sich die endgültige Form der „Iphigenie“. Auf der erwähnten Fahrt nach Gotha (5. Juni 1780) hatte er seine Lieblings-Situation im „Wilhelm Meister“ ausgeführt: „Ich ließ den ganzen Detail in mir entstehen und fing zuletzt so bitterlich zu weinen an, daß ich eben zeitig genug nach Gotha kam.“ Ganze Gedichte kamen im Reisewagen zustande; die Verse „An Schwager Kronos“ tragen den Untertitel: „In der Postchaise 10. Okt. 1774“; vierzig Jahre darnach (am 25. Juli 1814) flogen ihm auf der Fahrt nach der Heimat in der Erfurter Gegend drei Gedichte des „Westöstlichen Diwan“ zu, und noch die „Marienbader Elegie“ verdankte ihre Unmittelbarkeit der Entstehung auf der Heimreise: „Morgens acht Uhr auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtnis Gefaßte nieder, so daß es Abends fertig auf dem Papier stand.“ Durch die minder besinnliche moderne Hast des Reisens scheint die ambulante Produktion weniger begünstigt zu sein, wenn auch der geübte Journalist heute seine Schreibmaschine mit ins Flugzeug nimmt. Der fliegende Poet ist eine Zukunfts-Utopie. Aber der Behauptung, daß die Eisenbahn der Tod der Poesie sei, wurde schon von vielen Dichtern widersprochen. Peter Rosegger bekannte, daß er im Eisenbahnwagen leicht und viel gearbeitet habe, und Cäsar Flaischlen fühlte sich nirgends freier und wohler: „Man kann dort nichts tun, nichts, als allenfalls Verse machen.“ Voraussetzung der fliegenden Arbeitsweise ist allerdings, daß man nicht einen Berg von Vorarbeiten zu bewältigen braucht, wie Jean Paul, der nach den Zettelkästen sogar seine Romankapitel im „Quintus Fixlein“ bezeichnete. Auch Otto Ludwig, von dem die berühmtesten Beispiele visionärer innerer Schau stammen, war durch seine Arbeitsweise wie durch seine Gesundheit an den Schreibtisch gefesselt. Liegen doch die Vorarbeiten zu seiner „Agnes Bernauer“ |#f0464 : 440|

in 49 Heften vor und stellen fast 20 verschiedenartige Versuche dar, worunter drei Fassungen vollständig ausgeführt sind. Keine konnte der Selbstkritik des Dichters, der die Kunst schließlich mit einer beinahe wissenschaftlichen Grübelei betrieb, voll genügen. Im Abschluß von der Welt und in der stillen Konzentration kann der dichterische Schaffensvorgang mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise mancherlei Gemeinsames haben. Die eigentümlichen Begleiterscheinungen auf beiden Seiten sind individuell; sie sind weniger durch Konstitution und Seelenverfassung als durch äußere Lebensverhältnisse und Nerven bestimmt; auch gehören sie schwerlich dem Typus einer Rasse, eines Stammes oder eines Zeitalters allein an, noch entsprechen sie einer bestimmten Art geistiger Arbeit, sei es Kunst oder Wissenschaft. Das geht aus dem reichen Material anekdotischer Züge, den sogenannten „Idiergasten“ hervor, die ein belesener Kuriositätensammler Heinrich Klenz in Aufsätzen der „Zeitschrift für Bücherfreunde“ zusammengetragen hat. Aus allem ergibt sich, daß die Leistung, sei sie künstlerisch oder wissenschaftlich, in ihren letzten Ergebnissen gleich wenig von den äußeren Umständen ihres Entstehens und von den Schaffensgewohnheiten beeinflußt ist. Selbst wenn die äußere Entstehungsgeschichte einzelner Werke durch Kenntnis solcher Umstände erhellt werden kann und, da Dichter und Werk eines sind, der Zusammenhang nicht als rein zufällig zu erachten ist, wird das Wesen des Schöpfers in seinem innersten Kern dadurch nicht berührt. Das eigentliche Sein von Dichter und Dichtung ist in seinem Sinn und Wert aus den äußeren Arbeitsverhältnissen nicht zu verstehen. Für den Dichter selbst sind seine Arbeitsmethoden nur Behelfe, zur Entfaltung und Offenbarung der eigenen Existenz zu gelangen. Er pflegt wenig dafür übrig zu haben, daß man ihm nachrechnet, wann er aufgestanden und welchen Weg er gegangen ist und ob er mit Seil oder Steigeisen oder Kletterschuhen den Gipfel erreicht hat. Die Hilfen und Stützen fallen ab, wie das Gerüst eines Denkmals, sobald es in seiner Erscheinung vollendet ist. Auf seiner Höhe kann der Dichter, ohne der vorausgegangenen Handgriffe zu gedenken, gleich dem Menschenschöpfer Prometheus sagen: „So bin ich ewig, denn ich bin.“ |#f0465 : E441|

VIER TER HAUPTTEIL DIE EXISTENZ DES DICHTERS Gesang ist Dasein. Rilk e . 1. S p e k t r u m Wenn in Goethes „Wilhelm Meister“ der Dichter als „Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen“ gepriesen wird, so läuft diese Zusammenfassung, die einem nüchternen Skeptiker in den Mund gelegt ist, weder auf systematische Zergliederung hinaus, noch erhebt sie den Anspruch, den ganzen Aufbau der dichterischen Existenz zu deuten; aber in ihrer Viergliedrigkeit trifft sie ziemlich genau zusammen mit jenen Kategorien, die am Schluß unseres ersten Buches (S. 271 ff.) als Maßstäbe für die Wertung des einzelnen Werkes eingeführt wurden: ästhetische, ethische, religiöse und volkhafte Bestimmung. Diese Gesichtspunkte sind nun, nachdem sie der Einschätzung des Werkes gedient haben, auch auf die Gesamtschau des Dichters zu übertragen. „Lehrer“ ist nicht als Berufsstand aufzufassen. Lehren ist wirkendes Sein in der Ausstrahlung von Gedanken und Gefühlen wie von Weisheit und Welterfahrung. Es ist Selbstdarstellung und Übertragung des eigenen Erfahrungsinhaltes auf andere. Es ist Deutung von Geheimnissen in tiefem Einfühlen, in packendem Mitsichfortreißen und ergriffenem Miterlebenlassen. Das alles geschieht durch das einzige Mittel der S p r a c h e . So ist der Lehrer der Steller und Beantworter von Fragen, der Erreger von Spannungen, deren Lösungen er bringt, der Wecker von Lebensgefühlen, der die Augen öffnet für die Zusammenhänge des Weltgeschehens, für das Wesen des Menschen und seine Schicksale. Er bereitet die, die ihm folgen, auf ihr eigenes Schicksal vor, indem er sie mit fremdem vertraut macht; er formt Charaktere und bildet die Seelen, die er in Bann zwingt durch die Zaubergewalt seines Mundes. Bei Platon wird Homer als Erzieher ganz Griechenlands gefeiert; er ist es geworden dadurch, daß ganz Griechenland seine Sprache verstand. Firdusi hat in seinem Königsbuch ein iranisches Nationalepos |#f0466 : 442|

geschaffen, aus dem sein Volk neu erstehen konnte. Dante, der in seiner Schrift „De vulgari eloquentia“ wie in seinen Dichtungen zur nationalen Literatursprache den Grund legte, kann als erster Schöpfer der italienischen Einheit betrachtet werden. Auch das finnische Volksepos „Kalewala“ ist durch seine sprachliche Wiederherstellung ein Sinnbild des Nationalbewußtseins und der politischen Selbständigkeit seines Volkes geworden, und sein Neuschöpfer Lönnrot wurde dem legendarischen Lykurg verglichen, der die homerischen Gesänge nach Griechenland brachte und die einzelnen Stämme sich als Nation fühlen ließ. Das stolze Volksbewußtsein solchen Besitzes faßt die Sprache nicht als das allgemeine Verständigungsmittel zu jedermanns handen auf, sondern als das eigenste Organ der überlegenen Kraft, in der der Dichter seine Existenz kund tut. Die Sprache ist die Kunstform, in der er nicht für die Dauer eines Augenblicks lebend wirkt, sondern in der seine Wirkung dauernd lebt. Sie lebt nicht als eindrucksvolle Erinnerung, sondern als stets sich erneuernde Gegenwart. Die sprachlichen Gebilde, die sich von dem Dichter abgelöst haben, sind Wirklichkeiten geworden und bilden die einzige Erscheinungsform sinnlich erfaßbarer Existenz, die von ihm bleibt. Die Sinnlichkeit der Sprache, sowohl mit ihrer unmittelbaren klanglichen Wirkung im Ton und Rhythmus, als auch des mittelbaren Reichtums der auf die Phantasie übertragenen Sinnesreize in Bildern und Vorstellungen, in Stimmungen und Gefühlen das alles ist gestaltetes Sein. „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Dies Hölderlin-Wort hat Martin Heidegger unter die Leitmotive seiner Erörterung über das Wesen der Dichtung gestellt, die mit Würdigung der Sprache als des Geschehens, das über die höchsten Möglichkeiten des Menschseins verfügt, ihren Anfang nimmt. Dieses gestiftete Dasein ist in seinem sinnlichen Wert nur dem ä s t h e t i s c h e n Sprachsinn erfaßbar. „Wahrsagen“ scheint ebenfalls in den Bereich der Sprache zu gehören, aber der Nachdruck liegt auf dem ersten Bestandteil des Wortes. Der Wahrsager ist richtig zu verstehen aus dem, was er nicht ausspricht, sondern in Symbolen andeutet. Was er als Welt erblickt, ist Schicksal; was er kündet, ist Fügung; was er enträtselt, ist Sinn des Daseins; was er gestaltet, ist kein Spiel freier Willkür, sondern inneres Gebot. Während die Sprache das Arbeitsfeld des Lehrers ist und den Boden darstellt, in dessen Tiefe jeder Schritt des Dichters die eindrücklichen Spuren seines Daseins eingräbt, liegt das Gesichtsfeld des Wahrsagers im Gegenüber; sein Seherblick ist gerichtet auf die Bilder des Lebens, das ihm zum Problem wird, das er als Ganzes |#f0467 : 443|

in sich aufnimmt und das seinem Dasein Gewicht, seiner Haltung Gleichgewicht gibt. Was er als tiefen Zusammenhang des Geschehens erkennt, wird seine Schicksalsdeutung. Was er als Sinn in die Dinge hineinschaut, ist für ihn G e s e t z , selbsterrungene E t h i k , Richtschnur und Schwerpunkt seines Daseins. Dem „Freund der Götter“ aber, dessen Blick nach oben gerichtet ist, winkt Erlösung von drückender Lebenslast und Erhöhung des Daseins durch die Dichtung. Dem in Qual Verstummenden gibt ein Gott, zu sagen, was er leidet. Des Erdenlebens schweres Traumbild sinkt und sinkt, wenn Herakles die Angst des Irdischen von sich wirft und zur Göttlichkeit aufsteigt, wenn Ganymed, der Götterliebling, emporgetragen wird in die Arme des alliebenden Vaters, wenn der Florentiner verzückt aufschaut in das Licht des Empyreums, wenn Faust die entgegenkommende himmlische Gnade und ewige Liebe erfährt, oder wenn der andächtige Beter des „Stundenbuches“ um Gott kreist zahllos sind die Sinnbilder für Gottsuchertum und Gottbegegnung, die der Existenz des Dichters ihren r e l i g i ö s e n Inhalt verleihen und Erfüllung finden in seinem G l a u b e n . Der „Freund der Menschen“ aber gelangt zu jener in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ verkündeten Ehrfurcht vor denen, die uns gleich sind; „Nun steht er stark und kühn, nicht etwa selbstisch vereinzelt; nur in der Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte gegen die Welt.“ Sein Umblick wendet sich zu denen, die in Schicksalsgemeinschaft sich an seine Seite heften und hinter ihm stehen. Er ist ihr aller Vorsprecher, als führende Stimme des Chores, als der Vorfühlende der Gemeinschaft und ihres Empfindens. So lebt er im kosmischen Sinn allein in der Wahrheit als Mittler zwischen Gott und Volk, und in diesem v o l k h a f t e n Wirken besteht seine heilige S e n d u n g , wie sie ihren herrlichsten Ausdruck in Hölderlins Versen gefunden hat: Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen. Wenn in den aufgezählten Hauptrichtungen die Existenz des Dichters sich auswirkt, so steht man, um das Ganze im Einzelnen zu begreifen, vor einem Nebeneinander jener vier Begriffe, in denen Faust nacheinander den Logos des Evangeliums erfassen wollte: Wort, Sinn, Kraft, Tat. Jede dieser Ausstrahlungen aber kann eine weitere |#f0468 : 444|

Brechung und Lichtspaltung erfahren nach denselben drei Dimensionen, die im ersten Buch auf die Bewertung des einzelnen Werkes als Maßstäbe angewandt wurden: Echtheit, Größe, Sinnbildhaftigkeit.

2. S p r a c h e a) Echtheit Der italienische Sprachphilosoph G. Bertoni hat in seinem Buch „Lingua e pensiero“ einen Unterschied gemacht zwischen „lingua“ als der allgemeinen Verständigungsmöglichkeit, die einem ganzen Volke gemeinsam ist, und „linguaggio“, der eigenen Ausdrucksform, die als fortwährende Neuschöpfung eins ist mit der künstlerischen Persönlichkeit. Im Deutschen gibt es keine Möglichkeit solcher trennenden Wortbildung, aber wir unterscheiden bereits durch die bloße Betonung. Wenn wir von einem Dichter reden, so ist seine S p r a c h e der allgemeine Ausdruck seines Volkstums und der Werkstoff, den sein Künstlertum zu formen hat. Was er aus diesem Instrument hervorlockt, ist s e i n e Sprache, die aus der allgemeinen Ausdrucksweise als sein eigenster Ton hervorklingt, über den er allein verfügt als sprachliche Verwirklichung seines Wesens. Ob es nun wirklich s e i n e Sprache ist, sein unverkennbarer persönlicher Stil und sein unverfälschter Wesensausdruck, diese Frage führt wieder zu dem Kriterium der E c h t h e i t hin. Der Dichter ist sprachlicher Eigenschöpfer nicht allein als Neutöner, der bisher ungebräuchliche Wortbildungen und Wortzusammensetzungen in Kurs bringt, sondern er kann ältestes Sprachgut aufwerten, indem sein Gebrauch die sinnliche Urkraft wiederherstellt; er kann dem Wort sein eigenstes Leben einhauchen durch den Platz, den er ihm anweist, durch den Rhythmus, von dem er es tragen läßt, durch den Nachdruck, den es damit erhält, und durch den Sinn, den es im Verhältnis zu seiner sprachlichen Umgebung ausspricht. Die Dichtersprache muß von einer eindeutigen Dichte und Festigkeit sein, die keine windige Nebenluft durchläßt; das Wort muß die Prüfung auf einer Goldwaage bestehen, die jede Falschmünzerei entlarvt und abgegriffene Wertlosigkeit des Papiergeldes emporschnellen und davonwehen läßt, während der wahre Gefühlsgehalt in Ausdruckskraft sein Gewicht erweist. So sagt Schiller in einem seiner Kalliasbriefe, der Dichter müsse die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen durch die Größe seiner Kunst überwinden und den Stoff durch die Form besiegen. Nicht das ist künstlerisch, was im Stoff des eigenen Lebens und Leidens stecken bleibt und nach einem Wort Rilkes geklagt |#f0469 : 445|

wird, statt gesagt zu werden. An jene Dichter, die in einer Sprache voller Wehleid beschreiben, wo es ihnen weh tut, wird die Echtheitsforderung gestellt, sich hart in Worte zu verwandeln. Wie sich der Steinmetz einer Kathedrale Verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut! b) Größe Die Größe, die schon zum Teil in dieser Wägung und Prägung Ausdruck findet, besteht sowohl in einer nach außen erscheinenden Quantität als in einer von innen hervorstoßenden Intensität und in einer Relation zwischen beiden. Der objektive Umfang des Wortschatzes zeigt bei den größten Dichtern wie man z. B. für Shakespeare und Goethe errechnet hat einen Reichtum, der allen Zeitgenossen des gleichen Volkes überlegen ist. Die Treffsicherheit und Anschaulichkeit in Sinn und Sinneseindruck ist als subjektive Spiegelung der Welt zu messen an der Größe der Vorstellungen, die im Sprachgebilde gestaltet werden. Die Beziehung der Wörter zueinander verleiht in Dynamik und Rhythmik dem schöpferischen Willen einen Kraftstrom, der mit sich reißt. Endlich bilden sich im Fluß der Wörter die Gedanken, die nicht erst, nachdem sie fertig sind, in der Sprache Form suchen, sondern die, wie Heinrich v. Kleist in seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zeigte, aus der Sprache heraus sich formen, so daß die Größe der Gedanken abhängig ist von der Größe der Sprache. Schon Herder verlangte vom Leser jenes dichterische Auge, „das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in welchem sein Geist denkt und spricht und handelt.“ c) Sinnbildhaftigkeit In sprachlicher Verkörperung leuchtet der Geist aus den Bildern der Dichtung. Der Engländer Middleton Murry hat in seinem Buch über das Problem des Stiles als persönliche Kristallisationen der Gefühle und Gedanken und als den einzigen Ausdruck der individuellen Sehweise eines Dichters die Bilder bezeichnet. Die Sinnbildhaftigkeit der Sprache, die in ihnen als Verschmelzung von Ich und Welt zum Ausdruck kommt, ist nur auf induktivem Wege zu erkennen; aber sie kann nicht einfach durch eine tabellarische Zusammenstellung aller Metaphern und Gleichnisse erfaßt werden. Damit wäre wohl der zahlenmäßige Reichtum zu überschauen, aber nicht die Bedeutsamkeit. In dem Bestand der Bilder muß charakteristische Eigenschöpfung gesondert werden von literarischer Tradition, der jeder, auch der |#f0470 : 446|

Größte unterworfen ist. Auch Shakespeares Bilderreichtum ist, wie Wolfgang Clemen gezeigt hat, vom Zeitstil bedingt. Es genügt aber nicht das Subtraktionsexempel jenes Filtersystems, das bei der Werkanalyse (S. 201 f.) für die Sichtung des Materials sich empfahl; vielmehr sind die Bilder eigenster Prägung, die nicht nur in der einzelnen Dichtung hervortreten und ihrer Grundidee entsprechen, sondern im Gesamtwerk charakteristisch wiederkehren, als Sinnbilder der Seele, als Bestandteil des persönlichen Weltbildes, als geformte Erlebnisse und Gleichnisse tiefster Daseinserfahrung zu begreifen. Als solche sind sie von existenzieller Bedeutung und geben der Stilforschung eine Möglichkeit, in die Tiefen des Seelenlebens einzudringen. Nicht in jedes Dichters Sprache liegen die Durchblicke des inneren Lebens gleichermaßen offen. Eine fruchtbare Gegenüberstellung bringt Gerhard Frickes Buch über die „Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius“, das einen Vergleich zieht zwischen der naiven Bildhaftigkeit Homers, der allegorischen Bildhaftigkeit des Gryphius und der symbolischen Bildhaftigkeit Heinrich v. Kleists. In Kleist ist ein Dichter herangezogen, für den die äußere Form des Bildes nur zur Offenbarung des Inneren da ist; seine Bilder stellen im vollsten Sinne Selbstdeutungen seiner Existenz dar. Kleists „Ideenmagazin“, das er sich in früher Zeit anlegte, bestand, wie man aus den Briefen an die Braut schließen darf, in Wirklichkeitsbeobachtungen, denen ein symbolischer Lebensbezug beigelegt wurde. Ein Bild wie das des Torbogens, der feststeht, weil seiner Steine jeder stürzen will, kehrt nach Jahren wieder als Sinnbild der Lage Penthesileas. Es war auch die Seelenlage des Dichters, die aus ihrer Labilität Widerstandskraft zog. Andere Bildsymbole wie Sonne, Stern, Jagd, Höhe, Baum, Berg und Hagelsturm, in denen Kraft und Maßlosigkeit, Unrast und Stolz Penthesileas wie ihrer Gefolgschaft charakterisiert werden, sind gleichfalls aus der Erlebnistiefe geschöpft. Die früheren Dichtungen fanden andere Sinnbilder für ihre Lebensstimmung und die des Dichters; so wird das Schicksal der Schroffensteiner als stürzende Eiche, in deren Krone der Sturm gegriffen hat, versinnbildlicht, wie das bewegte Volk im „Robert Guiscard“ durch das in immer neuer Steigerung wiederkehrende Bild des brandenden Meeres. In „Penthesilea“ aber ist der Gebrauch der Bildsymbole am reichsten, weil der Dichter in dieses sein liebstes Werk „den ganzen Schmerz und Glanz seiner Seele“ gelegt hat. Mit ganz ähnlichen Worten hat Goethe von seiner „Novelle“ gesprochen: „Man fühlt es ihr an, daß sie sich vom tiefsten Grunde

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seines Wesens losgelöst hat.“ Auch hier läßt ein Bildsymbol, wie das des Löwen, der von einem Kinde gezähmt wird, als Sinnbild gebändigter Kraft die Idee der Dichtung im Zusammenhang mit dem inneren Wesen und Weltbild des Dichters sichtbar werden. Solche Bilder sind Perlen zu vergleichen, die aus der Tiefe der Seele heraufgeholt werden; in diesem Sinne hat Hans Carossa die Arbeit Rilkes an den „Duineser Elegien“ mit der eines Perlentauchers verglichen. Bei Schiller hat man von einem Bilder-Pluralismus gesprochen, weil seine Metaphorik in reicher Fülle auf der Oberfläche sich ausbreitet, ohne aus der Erlebnistiefe des Unbewußten emporzusteigen. Er springt von einem Teil der natürlichen Welt zum andern, vom Sonnenuntergang zum Frühling, vom Sturm zur Sphärenmusik: „wir lassen die rauschende Folge nur noch an unserm Ohr vorüberfluten, ohne uns die Mühe zu geben, das Bild mit allen Organen erleben zu wollen.“ Das einzelne Bild gräbt sich nicht symbolhaft in unsere Vorstellung ein, wie etwa der Kleistsche Gegensatz der kranken abgestorbenen und der gesunden Eiche im Sturm. Wallensteins „Da steh' ich, ein entlaubter Stamm!“ geht ohne gesättigte Bildwirkung vorüber. Nach dieser Unverbindlichkeit, die auch zu Goethes Symbolik im Gegensatz steht, mag Schillers Bildhaftigkeit dem allegorisierenden Brauch zuzurechnen sein. Shakespeares Bilderwelt hinwiederum, so oft sein Stil barock genannt wurde, ist symbolisierend. Wie Carolin F. Spurgeon und Wolfgang Clemen gezeigt haben, weisen seine Bilder in bestimmte Bereiche, die sowohl der Grundstimmung jedes einzelnen Stückes wie dem Weltbild des Dichters entsprechen. Die Metaphorik des „Othello“ bewegt sich vorwiegend in der wogenden Leidenschaft des Meeres, die des „König Lear“ im körperlichen Leiden, die des „Timon von Athen“ im Gold. Durchgehende Hauptsymbole der Shakespeareschen Dramatik aber sind in den Gebieten des Pflanzenlebens, der Krankheit und des Sturmes zu erkennen. Während das Buch von Clemen sich zum Ziel setzt, eine stilgeschichtliche Entwicklung Shakespeares auch in der dramentechnischen Anwendung seiner Bilder festzustellen, geht die Spurgeonsche Untersuchung darauf aus, in Shakespeares Bildern ihn selbst zu finden und seine eigenste Vorstellungswelt als Erkenntnisquelle für die Persönlichkeit und Menschlichkeit des Dichters auszuwerten. Damit sind Aufgaben einer existenziellen Stilforschung, wenn nicht gelöst, so doch in Angriff genommen. Frickes Untersuchungen über Gryphius sind, wie der Untertitel |#f0472 : 448|

„Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literatur- Barock“ ausspricht, mehr auf den Zeitstil, als auf den Personalstil eingestellt. Die Bilderwelt des Gryphius erscheint als ein Teilgebiet des Barock, und man könnte mit Pongs wünschen, daß in ihr mehr der Eigenausdruck des Gryphius und der Einblick in die unbewußten Schichten des Ursprungs gesucht würde. Doch fallen auch für die persönliche Vorstellungswelt des Dichters Beobachtungen ab. Wenn das Material ohne entwicklungsgeschichtliche Folgerungen systematisch geordnet ist, wozu Pongs noch das Wirkungsfeld der Sachsymbole hinzufügen möchte, so bildet die Bedeutungsgruppe, die der Verbildlichung von Welt und Leben, Zeit und Vergänglichkeit, Tod, Schicksal, Körper, Natur usw. gewidmet ist, einen Übergang von der Stilgeschichte zur Problemgeschichte. Ohne daß die letzten Aufgaben einer Stilmonographie erfüllt wären, bedeutet Frickes Buch einen beachtenswerten methodischen Fortschritt in der Richtung auf das Ganze der Erscheinung, von deren äußeren Symptomen aus ein Vorstoß zum inneren Zusammenhalt und zur Wesenheit unternommen werden muß.

3. G e s e t z a) Echtheit Das unentrinnbare „Gesetz, wonach du angetreten“, ist in Goethes „Urworten“ dem Walten des Dämons und der Nötigung unterworfen, während Tyche und Eros die strenge Grenze gefällig umgehen und überfliegen. Die „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“, ist als Charakter, inneres Eigengesetz und Entelechie in ständiger Beweglichkeit und stetiger Metamorphose begriffen. Goethe selbst spricht in jungen Jahren von der Pyramide seines Daseins, die er von der gegebenen Basis aus so hoch als möglich in die Luft spitzen wolle, und häufiger noch gebraucht er das Bild von den abgestoßenen Schlangenhäuten seiner Entwicklung. Auch Schiller erkennt ein Gesetz des Werdens an, das aber mehr oder weniger Diktat des Willens ist. Er verlangt, daß der Dichter seine Individualität veredle und zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufläutere, um sie vor Mit- und Nachwelt auszustellen: „Der höchste Wert seines Gedichtes kann kein anderer sein, als daß es der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemütslage, eines interessanten vollendeten Geistes ist ... Kein noch so großes Talent kann dem einzelnen Kunstwerk verleihen, was dem Schöpfer desselben gebricht, und Mängel, die aus dieser Quelle entspringen, kann selbst die Feile nicht wegnehmen.“ |#f0473 : 449|

Diese Worte, mit denen nicht nur über den Naturdichter Bürger, sondern auch über den Naturalismus der eigenen Jugend-Lyrik Gericht gehalten wird, verbinden die Forderung der Echtheit mit dem Verlangen nach einer Idealisierung, die nur Ausfluß des in der Dichterseele wohnenden Ideals von Vollkommenheit sein könne. In einer modernen Charakterkunde, wie der von Paul Häberlin, gelten die Lebensideale als moralische Angelegenheit und als Religiosität in der tätigen Hinwendung zur Welt; aber zugleich werden auch ästhetisch bestimmte Ideale anerkannt, die auf Veränderung und Reinigung der eigenen Ästhetizität eingestellt sind. In ihrer Befolgung kommt die Echtheit künstlerischen Strebens zum Ausdruck. Schillers berühmter Brief an Goethe vom 31. August 1794 nennt es das Höchste, was der Mensch aus sich machen könne, „seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen“. Sieben Jahre später wird die Meinung wiederholt, daß die objektive Kunst auf dem Ideellen beruhe: „Totalität des Ausdrucks wird von jedem dichterischen Werk gefordert, denn jedes muß Charakter haben oder es ist nichts; aber der vollkommene Dichter spricht das Ganze der Menschheit aus.“ Man wird, obwohl der briefliche Meinungsaustausch die Gegensätzlichkeit nicht berührte, sondern eine Einheit der Überzeugungen feststellte, dennoch den verschiedenartigen Ausgangspunkt nicht verkennen. Für den objektiven Idealismus beruhte er im Einklang des Innern mit dem Naturgesetz, für den Idealismus der Freiheit dagegen im Vorrang der Idee. Aber auch einer dritten Art von Echtheit ist ihr Recht zuzugestehen: sie hält sich nur an die naturgesetzmäßige Wirklichkeit und findet in ihr den Maßstab der Dinge und ihrer Einschätzung. So sprach Hugo v. Hofmannsthal von einem einzigen Gesetz, unter dem der Dichter stehe, nämlich „keinem Ding den Eintritt in seine Seele zu wehren“. Wenn er den Dichter „einen Sklaven aller lebendigen Dinge und ein Spiel von jedem Druck der Luft“ nennt, so entsprach es dem Bekenntnis des Impressionismus. Echtheit war aber auch dem leidenschaftlichen Naturalismus des von Schiller verurteilten Bürger nicht abzustreiten, nur fehlte seiner zerrissenen Persönlichkeit wie seiner Ausdrucksform die innere und äußere Größe. b) Größe Eckermann überliefert ein Goethewort vom 14. April 1824: „Im Ganzen ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines Innern; will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor |#f0474 : 450|

klar in seiner Seele, und will jemand einen großartigen Stil schreiben, so habe er einen großartigen Charakter.“ Der schulmeisterliche Imperativ ist vermutlich der Wiedergabe Eckermanns zuzuschreiben; denn Goethe kann nicht gemeint haben, daß die Absicht eines großartigen Stils zur Charaktergröße verhelfe, sondern umgekehrt, daß nur der große Charakter eines großartigen Stils fähig sei. Insofern stimmt Größe mit Echtheit überein. Conrad Ferdinand Meyer schreibt: „Das Mittelmäßige macht auch deshalb so traurig, weil es in uns selbst verwandten Stoff findet darum suche ich so sehnsüchtig das Große.“ Schon während der ersten italienischen Reise bemerkt er: „Den Sinn des Großen raubt mir keiner mehr.“ Größe des Charakters aber hat zum Hintergrund eine Größe des Weltbildes, worin das kosmische Bewußtsein des Einzelnen sich einordnet, indem es im Sinn seiner Existenz sich einer transzendenten Weltordnung und metaphysischen Gesetzen verantwortlich fühlt. Die Größe solches organischen Weltbewußtseins kann sich damit bescheiden, am farbigen Abglanz das Leben zu haben und dennoch alles Vergängliche als Gleichnis des Ewigen zu betrachten. Diese faustischen Bilder sind in einem Prosaspruch Goethes auch auf die Existenz des Dichters bezogen. „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.“ c) Sinnbildhaftigkeit Der französische Philosoph Emile Boutroux hat den Unterschied deutscher und französischer Geisteshaltung zu fassen versucht, indem er auf der einen Seite die „Idee des Ganzen“, auf der andern die „Idee des Einen“ als Lebensgesetz bezeichnete. Ernst Robert Curtius versuchte in seiner Balzacmonographie, den Gegensatz zu versöhnen, indem er in beiden Richtungen nur das doppelte Gesicht des Weltwesens überhaupt erblickte und den französischen Geist von der Einheit zur Ganzheit, den deutschen von der Ganzheit zur Einheit streben ließ. „Aber der Geist selbst ist einig und ewig, und vor seiner Wirklichkeit vergehen die Gegensätze.“ Soviel Unterscheidendes nun Rassen, Nationalitäten, Stämme, Landschaften, Zeitalter und Generationen in Daseinsrichtung, Erlebnisform und Problemstellung ihrer Natur nach mit sich bringen, für sie alle liegt im Wesen der Dichtung das Gesetz des \en kaì pãn, wonach das Einzelne zum Sinnbild des Ganzen wird. Indem der Dichter seine |#f0475 : 451|

Seele zum Spiegel der Welt werden läßt, prägt er aus seinem inneren Eigengesetz Sinnbilder des Lebens. Mag der Denker vor unüberwindlichem Zwiespalt stehen, der Dichter muß eine Harmonie der Gestaltung finden, indem er das Ganze als Eines sieht unter dem Gesichtspunkt einer leitenden Idee, und das Eine als Ganzes unter dem zwingenden Gebot der Form. Wenn Inhalt und Form, wie die Analyse des Einzelwerkes (S. 244 f.) begründete, in der gipfelnden Idee zusammentreffen, so kann gleicher Aufbau auch für die Gesamterscheinung des Dichters gelten. An die Stelle der einen Idee, die das einzelne Kunstwerk beherrscht, tritt ein Ideenkomplex, der im Weltbild und Lebensgesetz zusammengefaßt ist und in Bildern und Gleichnissen sich symbolisch entfaltet. Die Sicht des Dichters ist, wie Pongs in seiner Grundlegung einer existenziellen Literaturwissenschaft ausgeführt hat, eine andere als die des Analytikers der Existenz. Das Krisenhafte der Entscheidung tritt innerhalb der Dichtung zurück hinter dem Ganzen der symbolischen Existenz und ihrer Gültigkeit. Für den großen Dichter fällt das Existenzielle mit dem Symbolischen zusammen. Goethe schrieb nach der winterlichen Besteigung des Brocken an Charlotte v. Stein: „Sie wissen, wie symbolisch mein Dasein ist.“ Ein späteres Goethe-Wort aber sagt, man müsse seine Existenz aufgeben, um zu existieren. Darin sind zwei Begriffe der Existenz zur Ablösung gebracht; das reale Dasein und das dichterische, dem es geopfert wird. In der Ideenwelt des Dichters, die gleich Charakter und Weltanschauung bei angeborener Grundanlage erlebnismäßige Wandlung und Entwicklung durchlaufen muß, ist der Zusammenhalt seines ganzen Schaffens gegeben; sie ist das Prisma, das seine bunten Strahlen aussendet und ein farbiges Spiegelbild des Lebens hervorzaubert auf dem düsteren Hintergrund persönlichen Leides, das stellvertretend das Leid der Zeit, der Volksgemeinschaft und der ganzen Menschheit in sich schließen kann: Zart Gedicht, wie Regenbogen, Wird nur auf dunkeln Grund gezogen; Darum behagt dem Dichtergenie Das Element der Melancholie. Das erlebnisgesättigte Weltbild des Dichters gibt der Dichtung ihre Bilder, so wie die Dichtung Sinnbild der Welt wird. Wandlung und Werden aber kristallisieren sich nach Aufgabe der realen Existenz zu einem neuen Sein von Unvergänglichkeit, worin sich das schöne Wort Adalbert Stifters erfüllt: „Was im Menschen rein und herrlich ist, bleibt unverwüstlich und ist ein Kleinod in allen Seiten.“ |#f0476 : 452|

4. G l a u b e „Das letzte der Persönlichkeit ist immer ein Glauben; aus ihm fließt jede ihrer Äußerungen.“ Mit diesen Worten begründete Paul Ernst den Titel „Ein Credo“ für die Sammlung seiner Bekenntnisse. Die Daseinsganzheit des Dichters, die sich als seine Existenz offenbart, hat ihren Kern im Glauben an sich selbst, in dem das Verhältnis des Ich zu Gott und Welt eingeschlossen ist. Rilke in den „Geschichten vom lieben Gott“ und im Drama „Das tägliche Leben“ hat die Auffassung, daß hinter allem Dichten eigentlich ein einziger großer Dichter sei Gott. Jedes Heraustreten der Persönlichkeit ist bestimmt durch die Stellung zum Universum und vereint Selbstbewußtsein mit demütiger Einordnung in das Ganze. Diese Haltung gelangt aber erst auf Grund innerer Erfahrung und als Ertrag eines Lebens zu entwicklungsgeschichtlicher Ausprägung. a) Echtheit Die religiöse Verfassung des Menschen ist ein im Erleben entwickeltes dispositionelles Erbteil: in rassischen Anlagen sind die Typen des immanenten oder transzendenten Mystikers, des Ekstatikers, des Quietisten, des Fatalisten, des Rationalisten, des nordischen Gottsuchertums und der orientalischen Erlösungssehnsucht begründet, und aus der Seelenstruktur der Rassen und Völker sind die Glaubenslehren hervorgegangen, deren Tradition die religiöse Seelenstruktur des Einzelnen in ihrem Werden formen hilft. Während das Eigengesetz des Charakters auch ohne bewußte Erziehung sich aus angeborener Anlage herausbilden könnte, bedarf der Glaube bestimmter Vorstellungsformen, zu denen nur Gemeinschaft und Erziehung hinführen. Jede Untersuchung und Darstellung einer religiösen Existenz wird daher die Umwelt der Kindheit und Jugend, die Glaubenshaltung der Eltern, den Geist der Schule, die maßgebenden Einflüsse bestimmender Persönlichkeiten, die Autorität der Kirche und die Vermittlung ihrer damals geltenden Lehre in Betracht ziehen müssen. Man wird bei Luther den Geist der Eisenacher Schule und den des Augustiner- Ordens, bei Wieland wie bei Schleiermacher und Hardenberg die pietistische Atmosphäre ihrer Jugendbildung, bei Adalbert Stifter die der Klosterschule, bei Annette v. Droste-Hülshoff das theologische Gesamtbild des damaligen Katholizismus heranziehen müssen, um den Unterbau der Glaubensanschauungen zu finden, der auch bei späteren Wandlungen oft noch in untilgbaren Spuren sichtbar bleibt. Von einer Echtheit des Glaubensbekenntnisses kann indessen erst |#f0477 : 453|

dann die Rede sein, wenn autoritäre Lehren nicht mehr unselbständig und automatisch nachgesprochen werden, sondern in der Tiefe eigenster Glaubenserlebnisse innerste Aneignung, Bestätigung und Bekräftigung gefunden haben. Mystisches Gottsuchertum kann allerdings auch unabhängig von dogmatischen Lehren und im Gegensatz zu ihnen schon in früher Jugend eigene Wege nehmen, wie der junge Goethe zeigt, dessen Gemütsbedürfnis in der trockenen Moral des aufklärerischen Religionsunterrichtes kein Genüge fand. Er errichtete sich mit dem Musikpult des Vaters und den einzelnen Stücken seiner Naturaliensammlung einen Hausaltar, auf dem Feueropfer darzubringen waren, die in der brennenden Flamme das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen bedeuten sollten. So skeptisch der alte Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ den frühen Kult ironisiert, so kann man doch mit Obenauer in diesem Kindheitserlebnis den Durchbruch einer tief eingeborenen Religiosität erblicken: „So früh leuchtet, in dem Bewußtsein des Kindes schon, der Weg vor ihm auf, den er einmal gehen muß, auf dem er Gott in der Natur auf s e i n e Weise lieben, schauen, verehren und ihm dienen wird.“ Goethe selbst hat eine Rückkehr von der natürlichen Religion zu anerzogenen Offenbarungsdogmen für unmöglich gehalten. Andere gingen gleichwohl diesen Weg und fanden zum Kindheitsglauben zurück, wie Clemens Brentano, dessen Umkehr allerdings von erotischen Erlebnissen (Luise Hensel), wie vom Einfluß geistlicher Führung (Joh. Mich. Sailer) begleitet war. Die Rettung, die nach Schiffbruch des Lebens in den Armen der Kirche gesucht wird, kann zur Ableugnung nicht nur der Freigeisterei, sondern auch der anerzogenen Glaubensformen führen, wie es bei Johannes Scheffler, Friedrich Schlegel, Zacharias Werner nach ihrem Übertritt geschah. Man mag bei der krampfhaften Überkompensation des typischen Konvertiten zwar die Echtheit der Glaubenshaltung in Frage ziehen, aber man wird doch in der vorausgehenden Seelenverfassung, z. B. in Schefflers Serafinismus oder in Werners freimaurerischer Mystik und Liebesreligion bereits die Vorbereitung des späteren Schrittes erkennen können. b) Größe Mag das große Gotteserlebnis in der Natur oder im Geiste sich vollziehen, jeder Künstler steht vor der Aufgabe, aus der eigenen Endlichkeit in gläubiger Schau Unendliches zu gestalten. Nach englischen Lehren der Aufklärungszeit erschien die Schönheit |#f0478 : 454|

als Vorhof der ewigen Wahrheit, und das Wort eines heutigen englischen Ästhetikers Bridges besagt noch dasselbe, indem es den Dichter als Pionier bezeichnet, der bis an die Tore der Ewigkeit führt. Auch die größte Kunst kann indessen nicht Religion werden, sondern nur einen Altar religiöser Sinnbilder erbauen. Sie kann ebensowenig irreligiös sein, sonst würde sie jede Größe verlieren. Der Dichter ist kein Religionsstifter; aber ein glaubensloser Dichter ist ebenso undenkbar wie eine Dichtung, der nichts heilig wäre. Wenn man mit Häberleins Charakterkunde Frömmigkeit schlechthin als Geistigkeit auffaßt, die sich entweder ins Ästhetische oder ins Moralische wendet, so kann der Weg zum Ästhetischen sich wohl vom kirchlichen Dogma entfernen, weil es zu eng ist, aber dieser Weg kann nur in Ausweitung des großen Glaubens gegangen werden, der eine ganze Weltanschauung trägt. So heißt es in der Schillerschen Votivtafel, die „Mein Glaube“ überschrieben ist: Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, Die du mir nennst! Und warum keine? Aus Religion. H. A. Korff findet im „Geist der Goethe-Zeit“ die Absicht, an Stelle des Christentums den humanen Glauben eines bis zur Religion gesteigerten Kunstevangeliums zu setzen. Für den alten Goethe aber, der sich das eine Mal als einen „dezidierten Nichtchristen“ bezeichnet hat, das andere Mal als einen „Hypsistarier“, der aus allen Religionen das Beste nimmt, mündet die Parallele zwischen Natur und Kunst in das göttliche Wesen ein. Beide sind in stetiger Wechselwirkung auf eine Identität von Gott und Wahrheit gerichtet, in die alle lebenskräftigen Glaubenssymbole, auch die des Christentums, eingehen. So sagt das „Künstler-Lied“ der „Wanderjahre“: Wie Natur im Vielgebilde E i n e n Gott nur offenbart, So im weiten Kunstgebilde Webt ein Sinn der ew'gen Art. Dieses ist der Sinn der Wahrheit, Der sich nur mit Schönem schmückt Und getrost der höchsten Klarheit Hellsten Tags entgegenblickt. Die Kraft des bergeversetzenden Sturm-und-Drang-Glaubens hatte im göttlichen Schöpferdrang des Prometheus als eines ins Titanische gesteigerten Menschen ihr Sinnbild gefunden; das geplante Epos „Die Geheimnisse“ wollte alle Weltreligionen im Geist der Herderschen Humanität zusammenführen; der zweite Teil des „Faust“ aber konnte |#f0479 : 455|

nur mit einer Anleihe bei den mittelalterlichen Himmelsvorstellungen, die in das zur Unendlichkeit geweitete Weltbild Aufnahme fanden, beendet werden. So allein war die Lösung der entgegenkommenden ewigen Liebe zu begründen, die dem auf Erden Unerlösten als Götterliebling Rettung bringt. So stellt sich die Größe geprägter Mythen und Glaubensvorstellungen in den Dienst der Dichtung, die nur in Bildern und Gleichnissen das Unendliche fassen und ergreifen kann. c) Sinnbildhaftigkeit Der Schmuck des Schönen, mit dem nach Goethes Versen der Sinn der Wahrheit ausgestattet wird, besteht in den Bildern als Ausdrucksmitteln der großen Vorstellungseinheit. Das Vielgebilde der Natur, das den einen Gott offenbart, teilt sich in Sinnbilder seines Waltens, denen Göttergestalt verliehen wird. Solche Personifikation bedeutete für den Griechen sinnenfrohe lebendige Wirklichkeit, für das Mittelalter totes Götzentum, für Renaissance und Barockzeit allegorische Gebilde, in denen die Wesenszüge des Weltgeistes gedankliche Verkörperung fanden. Die Göttergestalten neuerer Kunst vereinen dagegen die Erscheinung sinnlich naturhafter Wirklichkeit mit der bildhaften Bedeutung der Zeichen göttlichen Geistes. In dieser Doppelbeziehung liegt ihr Symbolgehalt. Der Dichterglaube durchwandelt jene drei Reiche der sichtbaren Wirklichkeit, der symbolischen Welt und der Allegorie, die schon bei der Werkanalyse des ersten Buches auseinandergehalten wurden (vgl. oben S. 186 ff.). Der Dichter legt sich auf keines der drei Felder fest. Als Künstler bekannte sich Goethe zum Polytheismus, während er als Naturforscher Pantheist, als sittlicher Mensch Monotheist sein wollte. Klopstocks Oden-Dichtung ersetzte von einem bestimmten Zeitpunkt ab die griechischen Götternamen und Sinnbilder durch solche der germanischen Mythologie; bei alledem blieb er doch der gläubige Christ und Messias-Sänger. Hölderlin beschwor die Götter Griechenlands und erlebte gläubig in feierlichem Nennen ihre Wirklichkeit; er führte sogar Dionysos und Christus zusammen und wollte schließlich auch Baldur ihnen zugesellen, ohne zu Konflikten mit seinem christlichen Glauben zu gelangen. Spitteler stellte den Göttern Griechenlands als neue Allegorie und Repräsentation der Neuzeit den automatischen Urgötzen gegenüber, der die Allmacht der seelenlosen Maschine verkörpert. |#f0480 : 456|

Alle künstlerischen Glaubenssymbole sind nur in übertragenem Sinn als existenzielle Entscheidungen eines religiösen Bekenntnisses zu werten. Was von philosophischer Seite im Lauf der Jahrtausende gegen die Wahrheitsbegriffe der Dichtung eingewandt wurde, auch von abgefallenen Dichtern wie Kierkegaard, richtet sich gegen die Lässigkeit und Unverbindlichkeit ihrer Symbole, die aus der Glaubenswelt in die Gefühlswelt entgleiten. Man kann die religiöse Existenz des Dichters kaum als widerspruchslose Einheit begreifen, wenn die ästhetische Sinnbildhaftigkeit der Dichtung in seine Bekenntnisse einbezogen wird. Und wenn sie ausgeschlossen würde, was bliebe dann vom Dichter übrig? Die Methode, der religiösen Existenz eines Dichters nahe zu kommen, kann entweder eine geschichtlich-deskriptive sein, indem alle Glaubenszeugnisse aus Leben und Dichtung gesammelt werden, um aus ihrer Folge das Bild einer Entwicklung zu gewinnen. Für den Kern der religiösen Persönlichkeit wird auf diesem Wege aber kaum eine eindeutige Formel gefunden. Auf der anderen Seite bietet sich der phänomenologische Weg, alle bekenntnismäßigen Widersprüche zu lösen und aufzuheben, um mittels Intuition zur religiösen Existenz durchzudringen. Aber die Einheit, die schließlich gefunden wird, ist eine subjektive und kann eigentlich nur dadurch Überzeugungskraft gewinnen, daß sie auf Grund von Einfühlung zum Eigenbekenntnis des Darstellers geworden ist. Selbst beim religiösen Menschen, der in der Glaubensentscheidung seine ausschließliche Existenz findet, verhält es sich nicht viel anders als beim ästhetischen. Sein Glaube ist mehr zu erfühlen als zu beweisen; er muß erlebt werden, um Gestaltung zu finden, und die Gestaltung sucht nach Symbolen. Nicht nur ein dichterisches Buch, wie das der Ricarda Huch über „Luthers Glaube“, das mehr das Bekenntnis der Verfasserin als das des Reformators erkennen läßt, sondern viele wissenschaftliche Untersuchungen verdanken ihre Überzeugungskraft dem persönlichen Einleben in die Glaubenswelt des Dargestellten. Auch beim religiösen Menschen kann im übrigen seine Existenz nicht von Sendungsbewußtsein und Wirkung losgelöst werden. 5. S e n d u n g Erfüllt sich die volkhafte Sendung des Dichters in seiner Tat, so liegen deren Voraussetzungen in Wort, Sinn und Kraft. Bietet die Sprache das Mittel, so verleiht das innere Gesetz den ethischen Willen und sittlichen Gehalt; der Glaube aber gibt die Weihe und Kraft |#f0481 : 457|

der Begeisterung. Von diesen drei Dimensionen der dichterischen Existenz steht bei der ersten die Echtheit, bei der zweiten die Größe, bei der dritten die Sinnbildhaftigkeit im Vordergrund, während das Gleichgewicht der Dreieinigkeit in der Sendung zustande kommt. a) Echtheit Die Echtheit der dichterischen Sendung ist durch innere Berufung gewährleistet, und diese ruht im Bewußtsein einer magischen Sprachgewalt, der es gegeben ist, die Menschen zu fesseln und zu lenken. Der innere Ruf kommt in der Sprache zur Wirkung nach außen; die äußere Erfahrung sprachlicher Wirkungsmöglichkeit verstärkt die innere Berufung. Bedeutet die Selbstbefreiung durch Aussprache eigenen Leidens und eigener Freude beim überschwenglichen Erleben des Ich-Dichters ersten Antrieb und inneren Zwang, so stellt sich doch selbst beim persönlichkeitsbewußten Individualisten ein Gemeinschaftsgefühl her, das ihn ein stellvertretendes Aufsichnehmen und Vorerleben des gemeinsamen Schicksals als Aufgabe ergreifen läßt, wie Goethes „Vermächtnis“ es ausspricht: Denn edlen Seelen vorzufühlen, Ist wünschenswertester Beruf. Der Beruf des Dichters war nach einem von Paul Kluckhohn gegebenen Überblick im Altertum als der eines Erziehers der Gemeinschaft aufgefaßt, in der altgermanischen Zeit als Fürsten- und Herrendienst, im christlichen Mittelalter als gottwohlgefälliges Werk, in der höfischen Kultur als Dienst der ritterlichen Gesellschaft. Humanismus und Renaissance fügten zu erhöhtem Selbstbewußtsein und Anspruch auf Unsterblichkeit das Ziel des Ruhmes, der für die ganze Nation zu erwerben war. Damit wurde zum ersten Male eine nationale Sendung des Dichters begründet. Bei Klopstock trat die innere Berufung des Dichters, dem Gott, Freundschaft, Freiheit, Vaterland bestimmende Erlebnisse wurden, in den Vordergrund; sein stolzes Selbstbewußtsein beanspruchte trotz fürstlicher Gunst, die er als ihm zukommend entgegennahm, volle Unabhängigkeit für die Erfüllung seiner Sendung. Diese Selbständigikeit, die noch von den Romantikern mit aller Scheu vor gesellschaftlichen Fesseln gewahrt wurde, verlor sich, als das Schriftstellertum mehr und mehr zum bürgerlichen Beruf wurde. Der Zivilisationsliterat drängte sich an die Stelle des Dichters. Damit riß auch jene Verwahrlosung der Sprache ein, über die schon Friedrich Nietzsche im Kampf gegen den Bildungsphilister die Lauge seines Spottes goß. Nach ihm schrieb Stefan

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George in den Blättern für die Kunst: „Die Gestalt des Dichters scheint dem Deutschen ganz verloren gegangen zu sein. Es gibt jetzt nur den Gelehrten, Beamten, Bürger, der Gedichte macht, und das Schlimmste: den deutschen Literaten, der Gedichte macht.“ George forderte damals eine autonome Kunst, „frei von jedem Dienst“; aber das Bewußtsein der eigenen Sendung führte seine Entwicklung über den scheinbar wurzellosen Egotismus und Ästhetizismus der Anfänge hinaus, so wie der Kreis, der im Bann seiner Persönlichkeit stand, sich weitete. Nach dem Versuch einer Religions- Stiftung kehrte George zu Heimat und Volk zurück und endete mit der prophetischen Verkündigung politischen Führertums im Neuen Reich. Unter dem Gebot der Zeitlage wurde nach dem Weltkrieg auch in den anderen europäischen Ländern, in Frankreich, England, Italien der dekadente l'art-pour-l'art-Standpunkt im Sinne von geistiger Erneuerung und wirklichkeitsnaher Aktivität überwunden. In Deutschland erschien im Jahr der Wiedergeburt die Sammlung „Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart“, die die Stimmen von 28 lebenden Dichtern vereinigte zum gemeinsamen Bekenntnis der Verantwortlichkeit vor Nation und Volkheit und zum Willen, der Kunst Lebenswert und Lebenswirkung zu erhalten. Der echte Dichterberuf wurde wieder in den Dienst der Gemeinschaft gestellt. b) Größe Goethe sprach zu Eckermann von der bedeutenden Wirkung, die ein großer dramatischer Dichter von mächtiger edler Gesinnung erreichen könne, indem die Seele seiner Stücke zur Seele des Volkes werde. Er nannte als Beispiel den Einfluß Corneilles, der die Fähigkeit zur Bildung von Heldenseelen besaß. Unausgesprochenerweise lag darin auch ein Hinweis auf Schiller, der schon in seiner Mannheimer Rede von der Schaffung und Entzündung des Nationalgeistes durch die Wirkung der Schaubühne gesprochen hatte. Athen war das unerreichte Vorbild: „Was kettete Griechenland so fest aneinander? Was zog das Volk so unwiderstehlich nach seiner Bühne? Nichts anderes als der vaterländische Inhalt der Stücke, der griechische Geist, das große überwältigende Interesse des Staats, der besseren Menschheit, das in demselbigen atmete.“ Wenn Aufklärung und Neu-Humanismus den Erziehungsgedanken, der auf Gemeinschaftsempfinden in Menschheit und Nation zielte, als Sinn und Aufgabe der Dichtung neu belebt hatte, so blieb diese Sendung nicht auf Theater und Drama beschränkt, sondern nahm |#f0483 : 459|

auch die anderen Gattungen in Anspruch. Schiller selbst hat in dem unausgeführten Entwurf, dem der Titel „Deutsche Größe“ gegeben wurde, die dem Dichter zugeteilte Mission sogar auf die ganze Nation übertragen. Die Stellung des Deutschen innerhalb der Menschheit sollte analog sein der des Dichters in seinem Volke: „Ihm ist das Höchste bestimmt, die Menschheit, die allgemeine, in sich zu vollenden und das Schönste, was bei allen Völkern blüht, in einem Kranze zu vereinen ... Er ist erwählt von dem Weltgeist, während des Zeitkampfs an dem ew'gen Bau der Menschenbildung zu arbeiten. Seine Aufgabe ist nicht, im Augenblick zu glänzen und seine Rolle zu spielen, sondern den großen Prozeß der Zeit zu gewinnen.“ Der eigene vom Politischen abgesonderte Wert, der damit für den Deutschen begründet werden sollte, entsprach dem Los des Poeten in der „Teilung der Erde“: Willst du in meinem Himmel mit mir leben So oft du kommst, er soll dir offen sein. Es war ein idealistischer Verzicht, der zum späteren praktischen Geltungswillen des Bühnendichters allerdings in Widerspruch stand. Er wurde überwunden durch den wachsenden Wirklichkeitssinn des kommenden Jahrhunderts. Für Heinrich v. Kleist bereits war es ein tragisches Los, die Sendung, die er auf sich genommen hatte, nicht erfüllen zu können: Wehe, mein Vaterland, dir, die Leier zum Ruhm dir zu schlagen, Ist, getreu dir im Schoß, mir, deinem Dichter, verwehrt. Die glücklicheren Altersgenossen, denen die Erhebung mitzuerleben beschieden war, konnten ihre Kunst ganz in den Dienst des Freiheitskampfes stellen, und ihr aus der Not geborener Enthusiasmus vererbte sich auf die folgenden politischen Dichter, die der inneren Befreiung und der Einswerdung des großen Vaterlandes dienen wollten. Aber der religiöse Mittlergedanke zwischen Gott und Volk, der von Hölderlin und den Romantikern dem Dichter zugedacht war, schwand dahin, als im jungen Deutschland der Zeitgeist zum Frondienst aufforderte. Im Streit, ob der Dichter Partei nehmen oder auf einer höheren Warte über den Kämpfen stehen solle, ging Größe und Echtheit der Berufung verloren. Der Geist des Biedermeier kehrte zu der Resignation zurück, daß unter Aufopferung des eigenen Lebensglücks aus tiefem Leid die harmonische und trostgebende Versöhnung aller Mißklänge in der Dichtung zu schaffen sei. Die Echtheit wurde gegenüber aufgedonnerter Scheingröße gewahrt, wenn Adalbert Stifter in seinem Aufsatz |#f0484 : 460|

„Die Poesie und ihre Wirkungen“ aller von außen diktierten Tendenz absagte: „Der echte Künstler hat nie Tendenzen, außer die, ein Schönes zu bringen. Außer den allgemeinen ewigen Empfindungen des menschlichen Geschlechtes, die er in seinem Werke gibt, hat er allerdings auch die Färbungen seiner Zeit und seines Volkes, er hat sie aber naiv und unbewußt, wie er in einer Zeit und in einem Volke lebt und leben muß, und dies ist es, was man das Volkstümliche, das Zeitalterliche eines Kunstwerkes nennt. Wenn aber ein Künstler absichtlich ein deutscher, welscher usw. zu werden strebt und, wie man sich ausdrückt, ‚auf der Höhe der Zeit stehen‘ will, so wird er etwas zuwege bringen, was seiner Partei Freude macht, was einer Zeitrichtung eben schmeichelt, er wird wahrscheinlich das Nationale zum Zerrbilde machen, in seltenen Fällen aber ein dauerndes Kunstwerk liefern.“ c) Sinnbildhaftigkeit Von der Größe des Dichtergeistes, deren einprägende Wucht die Seele eines ganzen Volkes gestalten und gewinnen kann, unterscheidet sich die entgegengesetzte Richtung des Volkhaften, die vom organischen Sein ausgeht. Hier erscheint der Körper, der die Seele nicht erst bildet und gewinnt, sondern in sich trägt. Der Dichter, der in seiner eigenen Leiblichkeit, seiner Abstammung, seiner Wesensart, seiner Sprache, seinem Denken und Fühlen ein Glied des Volkskörpers ist, verkörpert sinnbildhaft das Ganze der Volksseele, zu deren Vertretung er durch seine Sendung berufen ist. Echtheit und Größe brauchen hinter dem Wertmaßstab der Sinnbildhaftigkeit nicht zurückzustehen, sondern gehen in ihm auf. Die Echtheit der Sprache beruht in ihrer volkstümlichen Sinnbildhaftigkeit; sie greift desto weiter um sich, je weniger sie provinziell bleibt, sondern dem Sprachgefühl des ganzen Volkes und aller seiner Landschaften gerecht wird. Die Größe der Gesinnung findet die Wurzeln ihrer Kraft im Boden des Volkstums. Die Bodenständigkeit ist heimatverwurzelt, aber sie ragt mit um so stolzerer Krone empor, je breiter der Begriff der Heimat ist, aus dem sie ihre Kraft zieht. Das innere Gesetz des Daseins wird um so gültiger, je umfassender der Dichter das Schicksal seines ganzen Volkes durchlebt als Geschichte sowohl wie als Sorge der Gegenwart und als Fürsorge der Zukunft. Seine Selbstbesinnung kann zur Stimme des Gewissens für das ganze Volk werden, und sein Glaube ist um so repräsentativer, je artechter er ist und je mehr er dem Erlebnis der Gemeinschaft entspricht und von ihr geteilt wird. |#f0485 : 461|

Wie die Sinnbildhaftigkeit im Ästhetischen, Ethischen, Religiösen und Volkhaften einen entscheidenden Wertmaßstab für die Einschätzung des einzelnen Werkes darstellt (vgl. S. 274 f.), so ist sie es in erhöhtem Maße für die Sendung des Dichters, der mit der Einheit seiner Existenz für das Ganze einsteht. Will man einwenden, daß der Wert des Kunstwerkes in seiner Form liege und der des Künstlers in seinem Können, so ist zu sagen, daß auch die kunstvollste Form erst durch das Gewicht ihres sinnbildhaften Gehaltes Dauer erhält und daß diese Substanz, wenn sie echt ist, keine andere als die des Dichters sein kann. Von dem Wert der einzelnen Dichtung gilt das Wort Wilhelm Raabes: „Nur diejenigen Kunstwerke haben Anspruch auf Dauer, in denen die Nation sich wiederfindet.“ Denselben Gedanken hat Paul Ernst auf die Geltung des Dichters übertragen: „In einem Dichter kommt eine Nation zu ihrem Selbstbewußtsein; der Dichter sagt das mit deutlichen Begriffen, in klaren Bildern und in festen Worten, was in der Nation unbewußt lebt. Das ist nur so möglich, daß im Dichter das Wesen der Nation zu seiner schärfsten Ausprägung kommt, das Wesen der Nation, wie es sich in seiner Zeit äußert; denn dasselbe Wesen äußert sich ja in den verschiedenen Zeiten verschieden; man mache sich etwa klar, daß Parzival, Simplizissimus und Wilhelm Meister alle drei von deutschen Dichtern gedichtet sind, alle drei deutsches Wesen darstellen, aber in den drei verschiedenen Zeiten, in so verschiedener Art, daß der oberflächliche Blick kaum Verwandtschaft zwischen ihnen feststellen kann. Bei der Einheit von Erleben und Dichten muß man annehmen, daß das Erlebnis des Dichters auch das Erlebnis seiner Nation in seiner Zeit sein muß.“ Man kann weitergehen, wenn man über diese Sinnbilder deutschen Wesens zu seiner größten überzeitlichen Ausprägung gelangt, zu Goethes „Faust“, in dem nicht nur eine Nation, sondern die Menschheit sich selbst, ihr Schicksal und ihr Streben erkannt hat. Die Gestalt konnte solche sinnbildhafte Geltung nur erhalten, weil sie keine humane Abstraktion bedeutet, sondern erlebnisgesättigt aus der Volkheit aufgestiegen ist und in ihrer Wesensart das Ganze darstellt, das in seiner verkörperten Wirklichkeit sinnbildhaft werden kann für Schicksal und Gemeinschaft der Menschheit. Die Großen sind dadurch aufgestiegen, daß alle Kräfte des Volkstums in ihnen lebendig sind; ihre Deutung hat zu zeigen, daß sie nicht nur sich selbst, sondern Blut und Stamm, Landschaft und Gesellschaft vor der Menschheit voll vertreten. Schon zu Goethes Lebzeiten hat der kerndeutsche Ernst Moritz Arndt in seinen „Briefen an |#f0486 : 462|

Freunde“ (1810) von der deutschen Allgemeinheit Goethes gesprochen, weil sein Sinn seines Volkes sei. Er fuhr fort: „Ein großer Mensch steht nicht allein in den Schranken seines Volkes und seiner Zeit, das Größte und Höchste aller Zeiten und Völker nennt er durch Geburtsrecht sein, weil er der Hochgeborene ist.“ 6. W i d e r h a l l Wie der Ton von seiner Resonanz, so hängt die Existenz des Dichters von der Wirkung ab, in der sich seine Sendung erfüllt. Die Kausalreihe, die durch das Verhältnis zwischen Dichter und Werk begonnen wird, setzt sich fort in der Gemeinde, die der Dichter durch seine Werke findet in Raum und Zeit. Es ist eine endlose Kette, in der, wie Rudolf Alexander Schröder einmal ausgesprochen hat, Dichtung erst Wirklichkeit wird. Wenn man in gleicher Weise sagen kann, daß der Dichter in seiner Wirkung erst zur Existenz gelangt, so entscheidet nicht der unmittelbare Erfolg. Die Aufnahme, die jedes einzelne Werk und schließlich die Gesamterscheinung des Dichters bei zeitgenössischer Kritik und Leserschaft gefunden haben, wird zur Geschichte von Widerständen, die aus rückständigen Vorurteilen erstarrter Autoritäten, überlebter Geschmacksrichtung und der Befremdung bedrohter Gesellschaftsschichten hervorgegangen sind. Der Satz, daß der Lebende recht hat, pflegt sich weder in der Haltung des Publikums, noch in der Erfahrung des Dichters zu bewahrheiten. Es ist vielmehr eine traurige Wahrheit, daß oftmals erst dem Toten das Recht zuteil wird, um das der Lebende vergebens gerungen hat. Aber wenn es eine Tragik ist, so ist sie erhebender Art, insofern es den Rechtsspruch eines ästhetischen Weltgerichtes gibt, vor dem wahrhafte Echtheit und Größe sich als Ewigkeitswerte durchsetzen, während aller bloß zeitliche Glanz verblaßt. Das Nachleben entscheidet über die wirkliche Existenz des Dichters in einem zweiten Dasein, das ihm in seinen Werken verliehen ist. Alle Untersuchungen über seine Fortwirkung finden indessen ihre Berechtigung nur in der Tatsache, daß er heute noch lebendig ist und daß seine Sendung fortbesteht. Das Weiterleben eines Vergessenen, der keinerlei Wirkung mehr auf die Gegenwart ausüben kann, bis zu dem Zeitpunkt zu verfolgen, an dem die Wirkung erlosch, also bis zu seinem zweiten Tode, hätte wenig Sinn, auch wenn ein Weiterbestehen der Geltung durch Jahrhunderte zu verfolgen wäre. Diese geschmacksgeschichtliche Frage könnte zu existenzieller Bedeutung erst dadurch gelangen, daß sich die Vergessenheit als Scheintod erweist |#f0487 : 463|

und der Wiederbelebte zu neuer Wirkung und Ausübung seiner Sendung erweckt wird, wie es Hans Sachs und Grimmelshausen durch Goethe und die Romantiker zuteil wurde, also durch Dichter, nicht durch Wissenschaft oder Kritik. Ist diese Existenz gleichzusetzen mit der sich immer erneuernden Gegenwart des Dichters, also mit der zeitlichen Dauer seiner Wirksamkeit, so läßt sich auf der anderen Seite die räumliche Ausdehnung als die Breite seines geschichtlichen und gegenwärtigen Wirkens erkennen und abgrenzen. Wir streifen damit den bereits im Eingang (S. 9 ff.) berührten Begriff der Weltliteratur, der erst im vierten Buche eingehende Erörterung finden kann. Für den einzelnen Dichter kommt es nicht nur auf die vielfältige Wandlung seiner Existenz durch Übersetzungen an, wobei sich außer der Sprache auch der Gehalt, der Glaube, die Sinnbildhaftigkeit und Bedeutung der Sendung leise verändern können, sondern ebenso sehr auf die Fortwirkung seines Geistes in fremden Dichtungen, für die er als Bildungsgut, Vorbild, Mythos und Maßstab ideeller Existenz in Anspruch genommen wird. Weltgrößen wie Homer, Dante, Shakespeare, Goethe sind als Bildner der Menschheit mit den Strömen ihrer unzerstörbaren Lebenskraft in so unendlich viele Kanäle eingeflossen, daß, selbst wenn einmal niemand mehr sie läse, ihre Sendung nicht beendet wäre, sondern in mittelbarer Nachwirkung weiter bestände. Die Wirkung der Größten in ihrem vollen Umfang räumlich und zeitlich zu ermessen, ist eine darstellerisch kaum zu bewältigende Aufgabe. Michael Bernays, der den Plan hatte, die Geltung Homers in der Weltliteratur darzustellen, ist in der Sammlung eines unerschöpflichen Materials stecken geblieben; ein geglückter Versuch, wie er in Thaddäus Zielinskis Buch über das Nachleben Ciceros vorliegt, hat keinen eigentlichen Dichter zum Gegenstand. Die unübersehbare Wirkungsbreite eines Dante, eines Shakespeare, eines Goethe kann kein Ende und keine abschließende Darstellung finden. Vergleichende Zusammenfassung der bisher nur auf einzelne Länder gerichteten Untersuchungen könnte von völkerpsychologischer Bedeutung und Ergiebigkeit sein, indem sie zu den Fragen seelischer Verwandtschaft oder Gegensätzlichkeit hinführt, aber sie kann nicht von der Tatsache ablenken, daß der Dichter die erste und eigentliche Erfüllung seiner Sendung in seiner eigenen Sprache und beim eigenen Volke erlebt und daß seine Wirkung und Geltung in erster Linie innerhalb dieses Zusammenhanges Darstellung finden kann und muß. Wenn die Frage des Geltungsbereichs wieder zu den am Schluß des ersten Buches gestreiften Darstellungsaufgaben hinblicken läßt, |#f0488 : 464|

deren grundsätzliche Erörterung dem fünften Buche vorbehalten bleibt, so zeigt sich, daß die Sichtung nach Wert, Wirkung und Größenverhältnis durch die sinnbildhafte Bedeutung jedes Einzelnen bestimmt sein muß. Jeder Dichter ist Vertreter seines Volkes und Stimme seiner Zeit, so wie der Baum in seiner Form Vertreter eines Waldes ist und in seinem Rauschen die Bewegung lautwerden läßt, von der alle berührt werden. Das Unterholz wächst aus demselben Boden wie die hochstämmigen Gipfel; es besteht aus Seitentrieben, die derselben Wurzel entstammen; es verbreitert die Wachstumsrichtung der großen Stämme in seinem niederen Lebenskreise. Wenn man es lichten muß, geschieht es, um Wege zu bahnen, Durchblicke zu schaffen und freien Zug zu gewinnen für den Sturmwind der Zeit. Wie weit die Zahl der Kleineren zur Darstellung kommen kann und was von ihren Werken als charakteristisch hervorzuheben ist, hängt hauptsächlich von der Raumfüllung ab und von der Beschaffenheit des Bodens. Je nachdem es sich um das geistige Leben einer Stadt, einer Landschaft, einer Nation, eines Erdteils, einer Rasse oder der ganzen Menschheit handelt, ist die Bedeutung bemessen und die Auswahl der Vertreter beschränkt. Von der Stadtverordnetenversammlung, die der Lokalforschung entspricht und manche Größe zu Ehren bringt, die in der Gesamtvertretung keine Beachtung verdienen würde, bis zum Weltparlament oder Fürstenkongreß und der ihnen gleichenden Weltliteratur, die in Überwindung räumlicher Trennung die Größten als erkorene Vertreter ihrer Nationen zusammenführt und in gelegentlichem Treffen sich messen läßt, besteht eine Stufenfolge, die mit beschränkender Auslese und gesteigerten Anforderungen aufsteigt. Die Bedeutung des Einzelnen bestimmt den Aufwand, der an seine Einführung und Würdigung gesetzt wird. Nach den Verhältnissen des Raumes, in dem die Versammlung sich vereinigt, und nach dem Umkreis der Geladenen hat sich Rangordnung und Ausmaß der Berücksichtigung zu richten. Die Werke sind die Reden, mit denen der auserwählte Vertreter seines Amtes waltet und seiner Berufung Folge leistet. Ob sie im engen Raum oder unter freiem Himmel, vor der Nation oder vor der Welt gehalten werden, sie sind kennzeichnend für die Größe dessen, der sich in ihnen ausspricht; sie sind sinnbildhaft für die Gemeinschaft, die hinter ihm steht; in ihrer Echtheit liegen Kraft und Tragweite, Wirkung und Widerhall begründet. So bedeutet die entscheidende Abstimmung ihrer Werte das Schicksal, das als Literaturgeschichte zu betrachten und darzustellen uns zufällt. |#f0489 : E465|

FRAGMENTE UND VORARBEITEN ZUM DRITTEN UND VIERTEN BUCH Aus dem Nachlaß Einleitung zu Buch III und IV: SYNTHETISCHE LITERATURWISSENSCHAFT Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft.

Go e th e 1. W e r k e u n d G a t t u n g e n Das Schlagwort „synthetische Literaturgeschichte“, das der geisteswissenschaftlichen Revolution zu Anfang unseres Jahrhunderts entstammt, bedeutete als neue Losung eine in Vergessenheit geratene Selbstverständlichkeit. Es war eine Art Pleonasmus, denn jede Geschichtsdarstellung muß synthetisch sein und strebt in zusammenfassendem Aufbau über die Analyse hinaus. Das Gegenbild, dem der Name „analytische Literaturgeschichte“ beigelegt wurde, war um so widersinniger, denn die Mittel der Zerlegung, der immer ein geschlossenes Einzelnes zugrunde liegen muß, sei es ein Wortsinn, ein Satz, eine Strophe, der Ausdruck einer Stimmung, ein ganzes Werk oder die Seele des Dichters, können zu geschichtlichem Aufbau nicht führen. Selbst große Einheiten, die in Vielfältigkeit bestehen, wie der Charakter einer Familie, eines Stammes, eines Volkes, einer Rasse oder das Programm einer Schule, das Ideengut eines Kreises, einer Generation, das Wesen einer geistigen Bewegung und die innere Form eines Stiles sind zu analysieren, indem die einheitlichen Züge auf ihre verschiedenen Ursachen zurückgeführt werden. Das Ergebnis solcher Untersuchung ist Voraussetzung |#f0490 : 466|

geschichtlicher Gestaltung; es muß in eine Darstellung der Taten aufgenommen werden, aber es kann den Fluß nicht beleben und zum Ziele führen. Es gleicht der Exposition eines Dramas, aber nicht seiner Handlung. Das Mißverständnis kommt zum Ausgleich, sobald nicht mehr von Gegensätzen der Literaturgeschichte, sondern von zwei Seiten der Literaturwissenschaft gesprochen wird. Dann ist die formale Einzeluntersuchung von der gestaltenden Zusammenfassung, das Nebeneinander von der Folge, die Kritik von der Geschichte, das Verstehen von der Darstellung unterschieden, ohne daß die untrennbare Beziehung zwischen beiden einen Riß erfährt. Analytische Philologie und synthetische Geistesgeschichte sind innerhalb der Literaturwissenschaft aufeinander angewiesen. Der Philologe darf nie das Ziel, der Geistesgeschichtler nie die Grundlagen aus dem Auge verlieren. Bleiben wir bei der knappen Formel, daß Analyse Untersuchung, Synthese Darstellung sei, so sehen wir, daß Darstellungen ohne vorausgegangene Untersuchung Luftschlösser bleiben; Untersuchungen ohne den Zweck belebender Darstellung sind dagegen Maulwurfsarbeit, Katakomben im doppelten Sinne der lichtlosen Behausung und der Totengruft. Einzeluntersuchungen bilden die Basis des Aufbaus, und die Zusammenfassung muß sich jederzeit der Vielfältigkeit, die ihr zugrunde liegt, bewußt bleiben. So hat auch der Erbauer eines Turmes, einer Brücke, eines Flugzeugs für seine Konstruktion mit dem aus den Erzgruben verschiedener Länder stammenden Werkstoff in bezug auf Gewicht und Tragfähigkeit zu rechnen. Der Weg von der Analyse zur Synthese ist der Wissenschaft von der Dichtung vorgezeichnet und bestimmt die Zweiteilung der darzulegenden Aufgaben. Beim Rückblick auf den ersten Band dieses Unternehmens ist als Grundstein des systematischen Unterbaus die Überlieferung des einzelnen W e r k e s zu finden. Von den Elementen, aus denen sich die Erscheinungswelt der Dichtung aufbaut, wurde der Ausgang genommen. Im zweiten Buch, das dem D i c h t e r galt, vollzog sich schon ein Übergang, insofern seine menschliche Einheit als Gegenstand der Analyse, die Einheit seines vielfältigen Werkes aber als Ergebnis einer Synthese aufzufassen war. Bei aller Vereinzelung konnte es in den beiden vorausgehenden Büchern an Ausblicken auf die Dichtung überhaupt mit allen ihren möglichen Problemen und Formen, wie auf die Tätigkeit des Dichters in ihren bewußten und unbewußten Funktionen nicht fehlen. Nun, vom dritten Buch an, hat die D i c h t u n g im Vordergrund zu stehen, und ihr allein gilt die Betrachtung, während Werk und Dichter nur |#f0491 : 467|

noch als Beispiele, Teilglieder und Vertreter eines Größeren und Allgemeineren oder sogar des Ganzen, dessen Organe sie sind, herangezogen werden. Auch dann bleibt immer noch die doppelte Aufgabe: 1. Das Gesamt der Dichtung als geschichtliche Gegebenheit synthetisch zu begreifen. 2. Das Wesen der Dichtkunst, die der Menschheit als göttliche Gabe verliehen ist, in ihrer Seinsweise zu verstehen und zu analysieren. Beide Aufgaben sind aufsteigend in gegenseitiger Annäherung begriffen. Der Vortritt aber hat gewechselt. Jetzt steht die Frage im Vordergrund, wie eine synthetische Zusammenfassung der einzelnen Werke und Dichter im Sinne einer Gesamt-Darstellung zustande kommen kann. Wenn nicht als allumfassendes Ganzes, so doch als ein gegliederter Organismus soll die Dichtung begriffen werden. Die Zusammenfassung der Schöpfungen eines Dichters im Begriff seines Gesamtschaffens, das schlechthin sein „Werk“ genannt wird, ist schon im 2. Buch behandelt. Die folgenden Bücher werden mit der Zusammenfassung der Dichtungen eines Volkes in der Einheit dessen, was seine Dichtung genannt wird, ihr Ziel finden und schließlich auf die Zusammenfassung der Dichtungen aller Völker und Zeiten im Begriff einer Dichtung der Menschheit oder der Dichtung überhaupt den Ausblick nehmen. Abseits von diesem Stufengang liegt die Zusammenfassung gleichartiger Dichtungen im Begriff der G a t t u n g ; es ist ein Seitensprung vom geschichtlichen Wege auf das Gebiet der Kunsttheorie, aber der Umweg muß zwecks Prüfung aller Möglichkeiten gemacht werden, da eine geschichtliche Darstellung bei der Entwicklung des Gehaltes und der Technik jeder Gattung nicht ausgeschlossen ist. War der Gattungsbegriff bisher als Mittel der Analyse angewandt worden, so stehen wir jetzt vor der Frage, ob er Entwicklungsmomente genug enthält, um das schaffende und wirkende Leben einer Gattung als einen sich entfaltenden Organismus zur Darstellung zu bringen. Sind die Gattungen wiederum lebendige Glieder der Dichtung, so daß sich deren ganzer Umfang in Darstellung ihrer Gattungen erfassen ließe? Führt die Synthese weiter dahin, daß die Geschichten einzelner Gattungen sich zur Dichtungsgeschichte ergänzten, so daß deren Aufgaben mit solcher Zusammenlegung erfüllt wären? Das wäre nur möglich, wenn man sich auf jenen Begriff der Dichtungsgeschichte beschränkte, der schon im ersten Band (S. 62) seine Ablehnung gefunden hat. Sobald die Literaturgeschichte zur Geschichte des geistigen Lebens wird, verlieren die Dichtungsgattungen die Bedeutung einer erschöpfenden Einteilung. |#f0492 : 468|

a) Gattungsgeschichte Um den Gattungsbegriff in den Dienst der Werkanalyse zu stellen, mußte das erste Buch die reinen Typen in vielerlei Zwischenarten auflösen. (S. 120128.) Dabei wurde auch bereits mit den Problemen einer Gattungsgeschichte die Frage der Synthese aufgeworfen. (S. 248.) Gattungsgeschichte kann nur Formgeschichte sein. Aber ein Beispiel, wie die vierzehnbändige „Geschichte des Dramas“ von Julius Klein, läßt bandweise nur Einzeldarstellungen des griechischen, des römischen, des indischen, italienischen, spanischen, englischen Theaters zustande kommen, wobei das italienische fünf, das spanische vier, das englische zwei Bände in Anspruch nahmen und französisches wie deutsches Drama gar nicht mehr erreicht wurden. Auf diese Weise konnte eine fortlaufende Entwicklung des geschichtlichen Zusammenhanges nicht durchgeführt werden. Glücklicher war vorher A. W. Schlegel gewesen, der in seinen berühmten Wiener Vorlesungen gleichfalls die Länder trennte, aber doch einen Zusammenhang zwischen ihnen aufrecht erhielt, indem er sie in verschiedener Weise an dem Widerspiel zwischen klassischem und romantischem Drama teilnehmen ließ. Auch die auf kleinere Zeitabschnitte beschränkte Gattungsgeschichte ist nur in räumlicher Gliederung zu bewältigen. So erkannte schon Wilhelm Scherer, daß allein die landschaftliche Aufteilung eine Möglichkeit zur Darstellung des deutschen und lateinischen Dramas der Reformationszeit biete. Er wurde damit der Vater des Programms, das später sein Schüler August Sauer in der Rektoratsrede „Literaturgeschichte und Volkskunde“ vorlegte. Sein Erbe wurde dessen Schüler Josef Nadler mit seiner „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“, die nun allerdings auf die einzelnen Gattungen nur noch insofern Rücksicht nimmt, als sich ihre Bevorzugung in bestimmten Gebieten aus Stammescharakter und landschaftlichen Bedingungen erklären läßt. Dagegen hat Hans Naumann, als er es unternahm, „Die deutsche Dichtung der Gegenwart“ darzustellen, eine Einteilung in die drei Abschnitte „Das neue Schauspiel“, „Der neue Roman“, „Die neue Lyrik“ für zweckmäßig gehalten. Das ging an unter Verzicht auf geschichtliche Entwicklung; aber inzwischen ist die Dichtung, die zwischen 1885 und 1933 an der Tagesordnung war, größtenteils bereits historisch geworden und in eine andere Sicht getreten; es haben sich Verschiebungen und Risse bemerkbar gemacht, die das innerhalb einer Gattung Zusammengestellte auseinanderfallen lassen. Dafür treten |#f0493 : 469|

über die Gattungsgrenzen hinweg bisher nicht gesehene räumliche und zeitliche Zusammenhänge neu in Erscheinung. Zu den räumlichen Voraussetzungen für die zeitliche Blüte einer Gattung gehören die gesellschaftlichen Bedingungen, durch deren Gleichartigkeit Beziehungen zwischen den Ländern hergestellt werden. Das ist besonders beim D r a m a zu zeigen, dessen Grundlagen in der sozialen Gemeinschaft eines Theaters und seines Publikums bestehen. Wo wir Ursprünge des Theaters erkennen können, nicht nur im alten Griechenland, sondern auch in anderen Erdteilen, liegen sie in religiösen Kulten begründet. Die germanischen Stämme kannten theatralische Kultformen verschiedener Art, deren Ausläufer noch im Brauchtum unserer Tage weiterleben. In manchen Landschaften haben sich Schwertertänze und wilde Männer, Pferdeweihe, Perchtenlaufen, Haberfeldtreiben und Bräuche der Rauhnacht bis in unsere Zeit erhalten. Man mag die Ursache im dramatischen Spieltrieb des bayrisch-österreichischen Stammes erkennen oder in der gläubigen Anhänglichkeit an Althergebrachtes, die auch im freien Bauerntum anderer Stämme vorhanden ist. Auch in anderen Ländern Europas ist es dasselbe Verhältnis. So entspricht dem norddeutschen Schimmelreiter das englische hobby horse, das von Otto Höfler auf den Wodankult altgermanischer Männerbünde, also auf religiöse und gesellschaftliche Gemeinschaftsbildung zurückgeführt wird. Die Kirche, die sich vergebens um Unterdrückung bemühte, hat manches Übernommene den gottesdienstlichen Riten ihrer Feste angepaßt; die Klöster sorgten für literarische Verbreitung; in den Städten des späten Mittelalters bildeten sich Spielgemeinschaften unter geistlicher Leitung, deren Texte und Bühnenpläne auch in der umgebenden Landschaft Verwendung fanden. Wie in Frankreich die Pariser „confrérie de la passion“ für das ganze Land maßgebend wurde, so wurden Wetterau, Hessen und Rheinland vom Frankfurter Dom aus mit Spieltexten versorgt; Freiburg i. Br. und Luzern wurden Mittelpunkte für die alemannischen Spielkreise, Freiberg für den sächsischen, Augsburg für den schwäbisch-bayrischen, Bozen für den tirolischen. Das profane Drama aber stützte sich auf die städtischen Zünfte, zu deren Privilegien die Veranstaltung von Tänzen und Aufführungen gehörte; aus dem Nürnberger Schembartlaufen wuchs das Fastnachtsspiel, das Meister Folz von Worms dorthin verpflanzt hatte und das dann in Basel und Bern mit dem politischen Leben Fühlung suchte. Wenn in Lübeck sich eine höhere Gesellschaftsschicht der ernsteren |#f0494 : 470|

Form widmete und in den Spielen der Zirkelbrüder lehrhafter Allegorie huldigte, so entsprach es niederdeutscher Stammesart. Gleicherweise wurde in England und in den Spielen der niederländischen Rederijkerkammern die Moralität gepflegt. In Frankreich dagegen parodierten die jungen Rechtsgelehrten der Basoche den ernsten Prozeßgang und führten komische Rechtsfälle in der Art des „Maître Pathelin“ auf. An das lateinische Drama der Humanisten, wie es auch an deutschen Universitäten und Höfen in Aufnahme kam, schloß sich das Schuldrama, das in protestantischen Gegenden die alte Passion verdrängte, während im katholischen Gebiet das Ordensdrama zum Propagandamittel der Gegenreformation wurde. Wir dürfen auch religiöse Wandlungen zu den soziologischen Bedingungen der Dichtung rechnen und sehen ihren Einfluß namentlich in der Geschichte des Dramas sich auswirken. In England trat der Puritanismus dem volkstümlichen Laienspiel entgegen; dagegen hielten die Großen des Landes ihre eigenen Schauspieltruppen, aus denen ein Berufsstand hervorging, der seine eigenen Dichter brauchte (Shakespeare). So lange diese Truppen unbeschäftigt waren, gingen sie auf Reisen und führten ihre Kunst und ihren Spielplan dem Festland zu. Sie fanden zunächst an nord- und mitteldeutschen Höfen Unterkommen und standen hohen Fürstlichkeiten zur Verfügung für Aufführung eigener Dramen, die auf ihr Spiel berechnet waren. An großen katholischen Höfen dagegen wie in Wien und München übernahmen die Jesuiten, die ihre eigenen Dichter hatten, mit prunkvollen Spielen die Repräsentation des Hoftheaters. Während die englischen Wandertruppen weiter in den großen Handelsstädten ihr Brot suchten und auf der Frankfurter Messe die Nürnberger Handwerker aus dem Felde schlugen, übernahmen deutsche Wandertruppen ihre Nachfolge. Sie behielten auch den Spielplan bei, den sie mit Elementen des Barockdramas, der commedia dell' arte und der Oper durchsetzten. So entstand die „Haupt- und Staatsaktion“, deren Verwahrlosung sich aus dem Mangel gesellschaftlichen Rückhaltes erklärt. Erst als die deutschen Truppen des 18. Jahrhunderts sich in den großen Handelsstädten seßhaft machten, schufen sie sich ein Publikum; auch brauchten sie eigene Theaterdichter und bestellten klassizistische, bürgerliche und Sturm- und Drang-Dramen bei Gottsched, Lessing, Klinger und Schiller für Leipzig, Hamburg, Mannheim. Der in Hamburg gescheiterte Gedanke eines Nationaltheaters fand Aufnahme bei den Höfen, und die Münchener Akademie erließ ein Preisausschreiben für Stücke aus der nationalen Geschichte, wodurch eine Überschwemmung Bayerns mit Ritterdramen verursacht

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wurde. Erst in Weimar wurde der klassischen Dichtung die Herrschaft über das Theater erobert. An dem Wege dieser Entwicklung haben fast alle Stände des deutschen Volkes teil: Bauern und Handwerker, Bürger und Geistlichkeit, Schule und Universität, Hof und Adel. Diese Vielfältigkeit der Stände und Gesellschaftsschichten hat mindestens ebensoviel Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des deutschen Dramas wie die stammhaften Anlagen und landschaftlichen Verschiedenheiten oder das Fortschreiten der Gattungstechnik. Nur hängt das Theatralische mehr von der Gesellschaft ab als das Dichterische, das in der Stammesart wurzelt. Die Gattung, die vom Strom der Zeit getragen wird, erfährt ein rhythmisches Auf und Nieder im Wechsel dieser Einflüsse. Die Geschichte des Dramas ist von der des Theaters nicht zu trennen, und diese fällt in den großen Zusammenhang der Kulturgeschichte und Soziologie. Deshalb liegen die Blütezeiten des Dramas in jeder Kultur, ja bei jedem Volke in einem anderen Zeitpunkt: Griechenland, China, Indien, Rom. Auch die Renaissance läßt die in Kulturgemeinschaft lebenden europäischen Völker nacheinander in das Amphitheater der großen Tragödie ihren Einzug halten: Italien, Spanien, England, Frankreich, Holland, Deutschland, Skandinavien, Rußland. Man hat diese Reihenfolge trotz aller gegenseitigen Beziehungen nicht als Übertragung von einem Lande zum andern zu betrachten, sondern als autarke Bewegung, die von geschichtlichen, politischen und sozialen Entwicklungsbedingungen gefördert ist. Der Höhepunkt der dramatischen Kunst ist nicht immer der Gipfel politischer Machtentfaltung, aber immer mit politischem Aufschwung, Zielsetzung, Selbstbesinnung und Kampfwillen verbunden. Müde und gesättigte Völker führen das Drama zu keinem neuen Aufstieg. Die e r z ä h l e n d e D i c h t u n g ist schon ihrer Form nach mehr auf das vergangene Geschehen als auf zukunftträchtige Vergegenwärtigung gerichtet. Aber die gesellschaftliche Abhängigkeit, die dem Drama zuzuschreiben ist, hat in anderer Art auch für die Erzählungskunst Geltung. Deshalb ist auch hier kein einheitlicher Zeitablauf einer Entwicklung zu verfolgen. Gewisse technische Fertigkeiten, die in allmählicher Entwicklung zur Aufnahme kommen, sind unleugbar, und solche Fortschritte mögen sich in Wechselwirkung zwischen verschiedenen Ländern vollziehen. Es gibt Übertragungen des Erzählungsstoffes von Volk zu Volk durch Handel und Verkehr wie durch Bildungseinflüsse. Daher könnte eine allgemeine Geschichte der erzählenden Dichtung bei der unaufhörlichen Wanderschaft von Stoffen, Fabeln und Motiven noch eher einen fortlaufenden Faden finden, als |#f0496 : 472|

die Geschichte des Dramas, bei dem das Stoffliche und seine Neuheit nicht so wesentlich ist. Obgleich die Stoffe des Dramas weniger erfunden als übernommen werden, darf diese Gattung nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Wiedergeburt antiker Vorbilder betrachtet werden; der eigenständige Ursprung aus Kult und Brauchtum jedes Volkes ist nicht zu übersehen. Wo lägen nun aber bei einer Geschichte der Erzählungskunst die Urformen, von denen der Ausgang zu nehmen wäre? Sie könnten vielleicht als Typen erfaßt werden, aber schon ein Überblick über das Gebiet der Märchenforschung zeigt, daß die inventarisierten Motive verschieden zu lokalisieren sind und unter wechselnden kulturellen Verhältnissen ihr Gesicht verändern. Es sind weit mehr Analogien als Zusammenhänge erkennbar. Zwar läßt Heldenlied und große Epik entfernter Völker, wenn sie sich auf übereinstimmender Kulturstufe befinden, ohne zeitliche Übereinstimmung oder Abhängigkeit einen Gleichschritt erkennen. Das konnte, worauf schon im ersten Band (S. 8) hinzuweisen war, zum Gegenstand paralleler Darstellung werden, nachdem schon Frazer, Olrik, Heusler die typische Kulturstufe eines heroischen Zeitalters charakterisiert hatten. Stets ist die Blütezeit des Epos ein Rückblick auf große Taten. Für Nordeuropa kehrten homerische Zeiten in der Völkerwanderung wieder, die zugleich eine Dichterwanderung bedeutete, denn alle Heldendichtung lag in den Händen von Berufssängern, die an den Höfen ihr Brot fanden und im Umherziehen die Stoff- und Stilgemeinschaft der germanischen Stämme aufrechterhielten. Europäische Sonderentwicklung führt weiter zur Christianisierung, wodurch die Klöster, die miteinander in Austausch standen, zu Dichtungszentren wurden. Seit der Karolingerzeit kamen bestimmte landschaftliche Gebiete, wie das fränkische, alemannische und bayrische, durch die Kunst ihrer geistlichen Sänger zur Vormacht, während der niederdeutsche Heliand-Dichter, dessen Heimat und Stand noch immer umstritten ist, im Festhalten an den Stilmitteln der alten Epik abseits steht. Spielleute erhielten indessen die Stoffe der Heldensage am Leben und versetzten sie mit vielen aus dem Orient kommenden Motiven. Das nahm ein Ende, als mit dem höfischen Roman der Kreuzzugszeit eine neue Heldendichtung vor die herrschende Gesellschaft des internationalen Ritterstandes tritt. Aber sie hat nur kurze Dauer; die ritterlichen Ideale schwinden, die aristokratische Haltung wird aufgegeben, die Form zerstört; der Widerhall einer höfischen Hörerschaft verklingt. Mit der Verbreitungsmöglichkeit des Buchdrucks |#f0497 : 473|

tritt wieder eine neue Erzählungskunst vor ein neues Publikum, und der Leserkreis teilt sich in verschiedene Bildungsschichten. Der Prosaroman, in dem sich spätgriechische, morgenländische, ritterliche, novellistische und Märchenelemente mit der Erzählungsform der Volksbücher vereinigen, zeigt zwar im 17. Jahrhundert noch eine sehr lebhafte Wechselwirkung der verschiedenen Länder in Übersetzung und Nachahmung. Aber schon zeichnen sich die Charaktere der Nationen deutlich ab: in der italienischen Novellistik; in der spanischen novela picaresca; im utopischen Staatsroman, zu dem auch „Robinson“ gerechnet werden kann, wie im bürgerlichen Familienroman Englands; in der langatmigen galanten Geschichtserzählung wie im kurzen psychologischen oder im sentimentalen Leidenschaftsroman Frankreichs; und im abenteuerlichen Entwicklungsroman Deutschlands. Alle diese Erzählungsarten spiegeln die verschiedenen Staats- und Gesellschaftsformen ihrer Länder. Die gesellschaftlichen Leser- und Bildungsschichten blieben außerdem in jedem Lande getrennt, und zu den landschaftlichen Verschiedenheiten kamen die religiösen: so fand der volkstümlich-realistische Schelmenroman spanischen Musters zuerst im katholischen Süddeutschland, der idealistische Geschichtsroman in Hofkreisen des protestantischen Nordens Aufnahme. In humoristischer, empfindsamer und romantischer Richtung wie im Zeitroman stellte sich während des 18. und 19. Jahrhunderts wieder ein europäisches Gleichgewicht her, aber der Sieg des Realismus ließ trotz gleichartiger Erzählungstechnik und vermittelnden Übersetzergewerbes die Verschiedenheiten des nationalen Lebensgehaltes immer mehr hervortreten. Wenn schließlich der russische, der skandinavische, der amerikanische Roman in den Vordergrund getreten sind, die alle von der Eigenart ihrer Gesellschaftsverhältnisse und Lebensprobleme Zeugnis ablegen, so war (wenigstens vor den großen politischen Umwälzungen dieses Jahrhunderts) eine vergleichende Betrachtung des Gegenwartsromans möglich, aber schwerlich die Darstellung einer fortlaufenden Entwicklung der Gattung bis zur jüngsten Zeit. Vollends eine allgemeine Geschichte der L y r i k , namentlich des gesungenen Liedes, ist undenkbar; sie würde, wenn sie möglich wäre, in das Gebiet der Völkerkunde und Völkerpsychologie fallen; ihre Entwicklungsgeschichte müßte bei der Gegenwart beginnen, d. h. bei den Gesängen der primitivsten Naturvölker unserer Zeit, wie sie noch eben lebendig gehört und aufgenommen werden können. Von da aus müßte sich die Darstellung in zeitlichem Krebsgang rückwärts bewegen zur ältesten Überlieferung von Sprüchen und Arbeitsliedern

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der Kulturvölker, um sich von da aus wieder vorwärtsschreitend zu verzweigen zu den vollendeten Formen fernöstlicher, vorderasiatischer, griechischer und nordeuropäischer Kunstlyrik, die sich ohne gegenseitigen Zusammenhang zu ganz verschiedenem Charakter entwickelt haben. Die Hexagramme des chinesischen Schi-King, die arabischen Ghaselen, die alkäischen Oden, die italienischen Sonette, die skaldischen Stabreime haben nichts miteinander zu tun. Die Übernahme ihrer metrischen Gebilde, nicht ihres Lebensgehaltes in andere Literaturen der Neuzeit wäre zu verfolgen und würde mit Rückkehr in die Gegenwart einen zeitlichen Kreislauf, nicht eine geradlinige Entwicklung zum Abschluß bringen. Auch da, wo man die Übernahme einer Gattungsform aus einem Raum in den andern annimmt, wie es bei der Hypothese eines arabischen Ursprungs des Minnesangs der Fall ist, wäre wenn es sich beweisen ließe die höfische Gesellschaftsform des Mittelalters in beiden Raumgebieten eine Voraussetzung. Es ist also außer der räumlichen und zeitlichen Kategorie auch hier wieder die dritte, nämlich die räumlich-zeitliche der G e s e l l s c h a f t in die Entwicklung einzuschalten. Nur durch solche Vermittlung lassen sich Verpflanzungen dieser Art erklären. Gerade das lyrische Gedicht ist im übrigen mehr als jedes andere Kunstwerk in seiner intimsten Wirkung an den Boden, aus dem es hervorsproßt, an den Raum, in dem es sich entfaltet, an artverwandtes Gefühlsleben, in dem es Widerhall findet, an Melodie und Rhythmus, in denen der Charakter der Landschaft und die Seele des Volkes zum Klang werden, gebunden. Selbst das politische Zeitgedicht, das den Spannungen der Stände, der Bekenntnisse, der Völker entspringt, beschränkt sich in seiner Wirkung auf einen Raum, und sei es auch der eines ganzen zeitbewegten Erdteils. Wie wäre also eine andere Gattungsgeschichte denkbar als raumbedingte, die als Längsschnitt durch eine nationale Literaturgeschichte gelegt ist und die zeitbedingten Kapitel ihrer Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchläuft? Da würden allerdings einzelne Werke über die Bedeutung, die ihnen im Rahmen der Literaturgeschichte zukommt, hinausgehoben werden müssen, dann nämlich, wenn sie als Musterbeispiele ihrer Gattung aufzufassen wären, deren Regeln, Gesetze, Stil und Technik an ihnen in besonderem Maße sichtbar werden. Lessings „Emilia Galotti“ verdient in einer Geschichte des deutschen Dramas besondere Beachtung als Probe auf die Regeln der „Hamburgischen Dramaturgie“ und ist innerhalb der Gattungsgeschichte vielleicht bedeutsamer als das Lustspiel „Minna von Barnhelm“. |#f0499 : 475|

Ebenso verdienen Gustav Freytags „Fabier“, das mit dem Schiller- Preis gekrönte, längst vergessene Musterdrama, als Beispiel für die klassizistische „Technik des Dramas“ hervorgeholt zu werden, obwohl es heute niemand mehr liest, geschweige denn spielt. „Die Journalisten“, die weit lebenskräftiger geblieben sind, haben im Kostüm des Biedermeier ihre Geltung mehr als Zeitstück wie als überzeitliches Muster eines Lustspiels, wofür man sie früher gehalten hat. Wie es seit Urzeiten an Homer und Vergil versucht worden ist, so wurde „Hermann und Dorothea“ in Wilhelm v. Humboldts „ästhetischen Versuchen“ zum Schulbeispiel klassischer Verstechnik erhoben. In dieser Eigenschaft hätte Goethes idyllische Homer-Spiegelung neben Vossens „Luise“ innerhalb einer Geschichte der deutschen Versepik die wir im übrigen nicht haben Anspruch auf mindestens ebensoviel Platz wie der sowohl in seiner literarhistorischen und geistesgeschichtlichen Bedeutung wie an Umfang, Gehalt und Stoff gewichtigere „Messias“ Klopstocks, der formal dem deutschen Hexameter und inhaltlich der religiösen Empfindsamkeit Bahn brach. Trotzdem dürfte dieses gewaltige Ereignis, obwohl vielfach nachgeahmt, in einer Gattungsgeschichte nicht den beherrschenden Platz einnehmen, der ihm in der Literaturgeschichte gebührt: die Haltung des Dichters ist eben nicht durchaus die eines Epikers, was sie bei diesem Stoff auch gar nicht sein kann, sondern mehr die eines religiösen Lyrikers. Das war schon Schillers Urteil: „So ist mir die Messiade als ein Schatz elegischer Gefühle und idealischer Schilderungen teuer, wie wenig sie mich auch als Darstellung einer Handlung und als ein episches Werk befriedigt.“ Damit ist zugestanden, daß manches literarhistorisch bedeutsame Werk innerhalb einer Gattungsgeschichte gar nicht seiner Wirkung entsprechend gewürdigt werden kann. Sehr richtig erklärt Friedrich Beißners „Geschichte der deutschen Elegie“ es als Mißverständnis, in einer Gattungsgeschichte ausgewählte Kapitel aus der allgemeinen Literaturgeschichte sehen zu wollen: „Sie setzt ganz andere Akzente, da das Schicksal der Gattung oft von Dichtern entscheidend gelenkt wird, die auf anderm Gebiet überhaupt nicht hervortreten und deshalb von der allgemeinen Literaturgeschichte nicht selten übergangen werden.“ b) Bedingtheit der Gattung Nicht weniger als durch die räumlichen Begriffe Volk und Stamm wird die Bevorzugung bestimmter Gattungen durch die jeweilige Zeitlage und die allgemeinen Erlebnisse begünstigt. Die Behauptung, |#f0500 : 476|

daß jede Stammesanlage ebenso wie die Anlage jedes Dichters zu einer bestimmten Gattung neige und unveränderlich auf sie festgelegt sei, läßt sich nicht halten. Daß Grillparzer kein großer Lyriker werden konnte, liegt weniger in seinem Österreichertum begründet, wie behauptet werden konnte, als vielmehr in seiner Zeit. Von des Minnesangs Frühling über Walther von der Vogelweide und Neithart von Reuenthal bis zu Rilke, Trakl und Weinheber ist der Gegenbeweis geführt gegen die Stigmatisierung einer auf das Dramatische beschränkten Stammesanlage des Österreichers. Es gibt überhaupt kein Volk ohne Lyrik, eher ein solches ohne Drama, wenn die religiösen Voraussetzungen für theatralische Kultformen fehlen und wenn das Schicksal nicht zu dieser Gattung drängt. Insbesondere setzt die Tragödie tragisches Volksschicksal voraus. Deshalb wechselt die Bedeutung der Gattung als Ausdruck nationalen Lebens. Niemals hätte das kleine niederländische Volk (auch wenn es Seneca zum Vorbild hatte) zur großen Tragödie der Vondel und Hooft gelangen können, wenn nicht der politische und religiöse Freiheitskrieg des vorausgehenden Jahrhunderts es erhoben hätte. Und wäre Norwegen zur tragischen Dichtung Ibsens und Björnsons einfach durch den Anschluß an gesamteuropäische Strömungen gelangt, wenn nicht ein leidenschaftlicher Drang nach Freiheit und Selbständigkeit durch das ganze Volk gegangen wäre? Andere Völker zeigen die umgekehrte Folge der Erscheinungen. Beim Überblick über die dramatische Produktion des Reformationszeitalters hätte man für die Schweiz zu derselben Folgerung, die fälschlich für Österreich angenommen wurde, nämlich der Verdrängung des Lyrischen durch das Dramatische gelangen können. Aber in unserer Zeit scheint diese Ader, die in den Reformationskämpfen pulsierte, dort versiegt, während dem alemannischen Stamm mit Pestalozzi, Gotthelf, Keller, Meyer, Spitteler, von den Lebenden nicht zu reden, die Gabe des lehrhaften Erzählens angeboren scheint, die sich im übrigen, wie an Keller und Meyer zu zeigen ist, mit der des Lyrikers durchaus verträgt. Die Zeit scheint für die Bevorzugung bestimmter Gattungen wichtiger als der Raum: Zeiten gesteigerten Gefühlslebens schaffen sich in der Lyrik, Perioden großer Erinnerung im Heldenepos, Spannungen innerer Kämpfe und Gegensätze im Drama und in der Satire, Perioden erwachenden Wirklichkeitssinnes im Roman ihren Ausdruck, und friedlose Zeiten wenden ihre Sehnsucht der Idylle zu. So geht durch jede Gattungsgeschichte ein schicksalsmäßiger Zug, und der Wechsel des Übergewichts kann sich innerhalb eines Raumes |#f0501 : 477|

mit gewisser Regelmäßigkeit vollziehen, wenn die berufenen Vertreter der Gattung, der das Wort der Zeit zufällt, zur Hand sind. Denn für den einzelnen bleibt die typische Gattungsveranlagung Voraussetzung. Man wird zum Dramatiker, Epiker oder Lyriker geboren, und wenn die Entwicklung des episch oder lyrisch veranlagten Dichters in eine Zeit dramatischer Konjunktur hineinwächst, so wird er entweder von der bevorzugten Gattung sich fernhalten oder Dramen epischen oder lyrischen Charakters schreiben. Ein allgemein gültiges Gesetz im Geltungswechsel der Gattungen kann nicht erkannt werden. Aus dem griechischen Paradigma darf man nicht schließen, daß immer und überall auf ein episches Zeitalter ein lyrisches, auf dieses ein dramatisches folge und ein didaktisches den Schluß bilde, wie es Friedrich Schlegel mit seiner Aufeinanderfolge von dorischer, jonischer, attischer und alexandrinischer Schule als Schema aufstellte. Die Übernahme dieser Reihenfolge, die durch Ernest Bovet dem Wechsel der Tageszeiten verglichen wurde, kann man für ein paar Jahrhunderte der französischen Literaturgeschichte allenfalls gelten lassen, aber keineswegs für die Dichtung aller Nationen. Noch weniger ist die biologische Generationsfolge, in die Brunetière die Gattungen bringen wollte, indem er sie dem menschlichen Lebensgang der Geburt, des Wachstums, des Absterbens und des Todes unterwarf, als ein literarhistorisches Gesetz anzuerkennen. Die Gattung ist kein individuelles Lebewesen, sondern eine relativierende Anschauungsform der Dichtung, die als Kennzeichen bei der Analyse des Einzelwerkes, bei der Typisierung der Anlage des einzelnen Dichters, wie bei dem ersten ordnenden Überblick über die gesamte Überlieferung unentbehrliche Dienste tut, aber nicht als Grundstein und Pfeiler für den Aufbau des Ganzen verwendbar ist. c) Überwindung der Gattung Es gibt Schöpfungen, die alle herkömmlichen Formbegriffe sprengen, weil sie nicht ihresgleichen haben und wegen ihres Größenmaßes und Tiefganges gar nicht durch das Schleusenwerk enger Gattungsbestimmung hindurchzulotsen sind. Dantes „Divina Commedia“ bildet eine Gattung für sich, da sie trotz der Beschwörung Virgils und der erzählenden Form weder als Epos noch ihrem Titel gemäß als Drama noch in ihrem Visionscharakter als Lyrik zu bezeichnen ist. Das Werk stellt in sich einen Kosmos dar und bringt den Geist eines ganzen Zeitalters in höchster Verklärung zum Ausdruck. Von da aus, mehr als vom persönlichen Erlebnis des Dichters, am wenigsten aber von dem System textkritischen, genetischen, sprachlichen, |#f0502 : 478|

stilistischen, problemgeschichtlichen Begreifens, das am Ganzen nur Einzelnes, am Einzelnen nicht das Ganze erfassen kann, ist solche Symphonie in ihrem letzten Geheimnis als Einheit zu ergründen. Nicht anders ist es mit Goethes „Faust“, auf den gleichfalls alle drei Gattungsbegriffe angewandt worden sind, indem man diese Dichtung als „die deutsche Göttliche Komödie“, als „l'épopée du siècle“ (Taine) und als das Hohelied der Menschheit bezeichnet hat. Im Werden dieses einzigartigen Bekenntniswerkes konnte nicht nur die ganze Lebensgeschichte seines Dichters aufgerollt werden, was Eugen Kühnemann versucht hat, sondern es wurde danach durch Günther Müller die ganze Stoff- und Gedankenentwicklung, die vom Volksbuch zu Goethes Dichtung reicht, als eine „Geschichte der deutschen Seele“ dargestellt. Und im Typus des „faustischen Menschen“, in dem Oswald Spengler den Geist des Abendlandes charakterisierte, war sogar ein weltgeschichtlicher Kulturkreis umschrieben. Ein solches Werk trägt nicht allein den ganzen Dichter in sich, der ihm seine Seele verliehen hat, es repräsentiert in seinem Werden und vollendeten Sein zugleich die Gemeinschaft des ganzen Volkes, dessen Stimmführer der Dichter geworden ist, ebenso wie der Geist seines Zeitalters und der ganzen Menschheit in ihm wesend und wirkend zu finden ist. Was hätte dabei der Gattungscharakter zu bedeuten? Wenn die Form gewaltiger Schöpfungen so inkommensurabel sein kann, begreift man den Widerspruch eines Philosophen wie Benedetto Croce gegen die Gültigkeit aller kunsttheoretischen Einteilungen. Gattungen sind keine Teilgebiete der Dichtung, aus deren Zusammenfassung sich ihr Ganzes restlos begreifen ließe. Eher als von den Gattungen könnte man sich von dem einzelnen großen Werk zum Begriff der Dichtung hinführen lassen. Und doch ist an einer einzigen Schöpfung, und sei es die allergrößte, das Wesen der Dichtkunst überhaupt nicht erläuternd zu veranschaulichen. Das wäre nur im Vergleich mit Nicht-Dichtung durchführbar, und damit käme man wieder zur Analyse, die mit dem Vergleich zwischen Stoff und Ausführung beginnt. Dabei würden nur Teilergebnisse für die Erscheinung des Dichterischen zum Vorschein kommen. Die Erscheinungsformen der Dichtkunst und ihre Möglichkeiten sind zu reichhaltig und vielseitig, auch in ihren räumlichen und zeitlichen Bedingtheiten zu verschiedenartig und in ihren Bedeutungswerten zu ungleich, als daß auf induktivem Wege zu einem einheitlichen Begriff gelangt werden könnte, geschweige denn, daß eine allgemein gültige Formel aus irgendeinem einzelnen Werke abzuziehen wäre. Das ist so wenig möglich wie aus der Beobachtung eines einzigen |#f0503 : 479|

Menschen das Wesen des Lebens zu erschließen. Durch seinen Zusammenhang mit einem bestimmten Dichter, dessen Sprache, dessen Denken, dessen Fühlen einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Volke angehört, bleibt der Charakter jedes Werkes individuell oder darf als typisch gelten, aber es kann niemals generell allumfassend sein. Wenn aber ein einzelnes Werk die Grenzen der Gattung sprengt, so stellt es uns deshalb noch nicht das All der Dichtung dar. Läßt es in der Vollendung seines Seins vergessen oder gleichgültig werden, aus welchen Bedingungen es entstanden ist, so hebt es in seiner Einmaligkeit doch nicht den organischen Werdegang des Ganzen auf. 2. D i c h t e r t y p e n Wie die Werke nach Gattungen, so können die Dichter nach Typen gruppiert werden, nur daß solcher Zusammenschluß nicht auf die ohne weiteres sichtbare äußere Form sich gründet, sondern auf die seelische Verschiedenheit des Schöpfertums, deren Ausdruck der Stil ist. Wie die Gattungsbestimmung als Mittel der Werkanalyse (Buch I, S. 120 ff.), so ist der Dichtertypus bereits (Buch II, S. 343 ff.) als Hilfe für die Personalcharakteristik und Erkenntnis der dichterischen Eigenart behandelt worden. Hier aber kommt es auf die Möglichkeit einer gliedernden Zusammenfassung an. Es ergibt sich dieselbe Frage, die für die Gattungen beantwortet werden mußte: Sind die Typen Einheiten synthetischen Charakters, mit deren Zusammensetzung wir das Ganze gewinnen können? Typen werden durch vergleichende Analyse erkannt. Auch der Dichter, der, wie schon im Eingang des 2. Buches (S. 277) und oben (S. 466) gesagt wurde, eine Synthese darstellt, kann in seiner Einform wieder Gegenstand der Analyse werden. Führt diese Analyse zum Typus hin, so ist damit nicht gesagt, daß die so gewonnenen Typen wieder zu einer neuen Synthese, die die Vollständigkeit aller denkbaren und zu beobachtenden Typen als ein Ganzes ergibt, zusammenzuschließen sind. Das im 1. Buch (S. 111) aufgestellte Schema der Werkanalyse klammerte den Dichter ein, weil sein Name und seine Person, falls sie unbekannt sind, nicht mit Sicherheit auf analytischem Wege aus dem Werk selbst festzustellen sind. Eher hätte an dieser Stelle das Erlebnis eingesetzt werden können. Erlebnisse, deren Niederschlag in dem Werk zu erkennen ist, können sogar zur Ermittelung des Verfassers verhelfen, wie es bei Johann Beer der Fall war. (Buch I,

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S. 102.) Fehlen alle Handhaben dieser Art, so können Sprache, Mundart, Technik, Stil zu einer räumlichen und zeitlichen Einkreisung führen, die zwar keine bestimmte Person erreicht, wohl aber einen Typus, dem der Unbekannte zuzurechnen ist. Unbekannte Dichter treten überhaupt nur als Typen vor uns, aber jeder Typus, dem wir sie zurechnen, kann repräsentiert sein durch einen anderen bekannten Dichter, von dem der unbekannte vielleicht abhängig ist, mit dem er aber nicht bis zur Identifikation gleichgesetzt werden kann. Die Ermittelung eines Dichters kann schließlich über den erkannten Typus zum Individuum führen. Umgekehrt kann die erkannte Individualität einem Typus zugerechnet und dadurch in ihrer Wesensart verstanden werden. a) Typenreihen Der Dichter steht in dreierlei Gestalt vor uns: als Mensch hinterläßt er in jedem einzelnen seiner Werke persönlichen Lebensausdruck, Selbstausprägung und ein Bekenntnis, das im Zusammenhang mit seinem Dasein und dessen Geheimnissen begriffen werden muß; als Ideenträger und Mittler erfüllt er den Auftrag seines Zeitalters wie seines Volkes und steht sowohl wirkend als bewirkt, treibend und getrieben, mitten in den Wirren der Zeit, die in seiner Dichtung einen typischen Niederschlag finden; als Schöpfer gewinnt er in der Gesamtheit des durch ihn Hervorgebrachten eine je nach seiner Bedeutung dauernde Existenz, die von den Bedingungen des Werdens losgelöst und vieler individueller Züge entkleidet ist. In der ersten Gestalt ist er seinen eigenen Erlebnissen verpflichtet, die in der Vergangenheit liegen; in der zweiten hat er sich vor der Gegenwart zu verantworten, auf die er wirken will; in der dritten überantwortet er sich der Zukunft, die über ihn das Urteil zu sprechen hat. Dieser Weg bedeutet in zunehmender Entfernung von individuellem Erleben und Zeitbedingtheit nicht nur Mythisierung, sondern auch fortschreitende Typisierung. Wie schon ein einzelnes außergewöhnliches Werk in Deutung und Wertung Forschungsaufgaben stellen kann, die mit der Lotung unerschöpflicher Tiefen ins Unbegrenzte übergehen und ein ganzes wissenschaftliches Leben erschöpfen, so mag auch die überragende Erscheinung eines großen Dichters ausschließliche Hingabe fordern und im kultmäßigen Dienst zum Ausbau einer Eigenwissenschaft von besonderen Maßstäben führen. Homer-Forschung, Shakespeare- Forschung, Goethe-Forschung sind neben der Dante-Forschung Beispiele |#f0505 : 481|

für ein ausgefülltes Spezialistentum, das in der Größe des Individuums seine Rechtfertigung findet. „Einen Einzigen verehren!“ rief Goethe aus im Hinblick auf William, den Stern der höchsten Höhe. Für die Beschäftigung mit ihm selbst ist dieser Vers oft zum Motto geworden. Während nun aber die Goethe-Forschung durch übertriebenes Augenmerk für biographische Einzelheiten sich Blößen gegeben haben mag, kann bei der Hingabe an die andern genannten Dichter davon nicht die Rede sein. Das Gedicht des jungen Fontane auf „Shakespeares Strumpf“ war nur ein Spott über den in Leipzig beobachteten Schillerkult. An Reliquien und Dokumenten des Shakespeareschen Lebens haben wir wenig, und mehr ist über sein Menschentum aus den Dichtungen zu erschließen. Die Verfasserschaft wird ihm von manchen, die allerdings nicht gerade Shakespeare-Forscher zu nennen sind, abgestritten. Ein witziger Kopf (war es der Amerikaner Mark Twain oder der Ire Bernard Shaw?) soll dafür eine hübsche Formel gefunden haben, Shakespeares Werke stammten nicht von ihm, sondern von einem Manne gleichen Namens. Selbst wenn nachzuweisen wäre, daß Bacon, Rutford oder ein anderer Großer der elisabethanischen Zeit sich hinter dem Namen des Schauspielers versteckt hätten, würde doch der Dichter der Shakespeareschen Dramen eine lebendige Einheit bleiben, die unter diesem Pseudonym zu verehren wäre; die Shakespeare-Gesellschaft brauchte ihren Namen nicht zu ändern; die Existenz des größten dramatischen Genius der Weltliteratur, die in dem Reichtum seiner Werke begründet ist, bliebe unberührt. Bei Homer liegt es noch anders; seine Person ist ein Mythos. Schon im Altertum stritten sich Städte und Landschaften um seinen Ursprung; im 18. Jahrhundert noch glaubte Alexander Pope aus seinen Werken den Nachweis führen zu können, daß er unehelicher Herkunft gewesen sei, und Wieland entgegnete darauf im „Teutschen Merkur“: „Wir wissen soviel als gar nichts von seinen Lebensumständen; aber wir haben das wodurch sein Leben allen folgenden Zeiten ehrwürdig und wohlthätig worden ist, das wodurch er war was er war, das worinn sein Genius, sein Herz, seine die ganze Menschheit, ja (soweit es in seiner Zeit möglich war) die ganze Natur umfassende Individualität ewig fortlebt, wir haben seine W e r k e und in seinen Werken ihn S e l b s t ; was kümmert uns alles übrige?“ Nun ist neuerer Forschung auch die Individualität Homers zweifelhaft geworden; die beiden großen Epen, die unter seinem Namen überliefert sind, gehen schwerlich auf denselben Dichter zurück; |#f0506 : 482|

trotzdem bedeutet der Name als bewußte Synthese, als Prototyp des archaischen Epikers eine unauflösbare Einheit. Der Typus hat die Individuen verschlungen. Aber ist ein Dichter überhaupt als Einzelner zu betrachten? In einer neuartige Ausblicke eröffnenden Erörterung literaturwissenschaftlicher Aufgaben und Gegenstände ist diese Frage kürzlich verneint worden. Der Dichter könne als solcher überhaupt niemals ein Einzelner sein, da ja schon seine Sprache allen, an die er sich wendet, als ein Gemeingut gehöre. Deshalb könne er auch nicht einem einzelnen Vorgänger verpflichtet sein. Der Schweizer Emil Staiger will mit dieser Begründung den ärgerlichen Begriff des „Erlernten“ aus der Schererschen Poetik und aus der Welt schaffen. Die Sprache ist dafür allerdings nicht das glücklichste Beispiel, denn gerade sie ist zum Erlernten zu rechnen. Erlernt nicht bei einem Einzelnen, sondern durch Hineinwachsen in eine Gemeinschaft, die das Sprachvermögen unzähliger Vorgänger vermittelt. Selbst der eigene Sprachschöpfungstrieb des Kindes wird durch die Gemeinschaft in Familie und Schule zunächst reguliert und eingeschränkt, ja oft erstickt, und erst in einem weit späteren Lebensalter bricht der eigenwüchsige Charakter wieder durch. Er ist dabei oftmals entbunden durch einen einzelnen Vorgänger, dessen Richtung eingeschlagen wird, vielleicht nur vorübergehend, solange das Erlebnis dieser Erscheinung einen mächtigen Einfluß ausübt, oder dauernd, wenn in dem Vorgänger ein innerlich verwandter Typus angetroffen wurde. Wenn das Erlernte so verstanden wird, dürfte man ihm seinen Anteil, auch wenn er geringer wäre als Scherer meinte, nicht streitig machen. Das erkennt Staiger auch an, aber er scheut weiter nicht die Paradoxie, daß das Frühere erst von der Höhe aus als Vorstufe verständlich werden könne. Ohne weiteres mag das für die Sprachgeschichte gelten, da ja jede Etymologie eine Frage nach den Vorstufen ist, um aus ihnen den gegenwärtigen Wortsinn zu erklären. Auch für die Literaturgeschichte ist es keine ganz neue Fragestellung, bezeichnete doch schon vor vielen Jahren in Vorahnung volksbiologisch-organischer Literaturbetrachtung Wilhelm v. Scholz die Erscheinung Johann Christian Günthers als ersten Versuch der Natur, einen Goethe hervorzubringen.

Ebenso dürfte Immanuel Pyra als verfrühter Versuch, Klopstock hervorzubringen, aufgefaßt werden oder Johann Elias Schlegel als erster Anlauf des meißnischen Stammes, schon in der vorausgehenden Generation zu einem Lessing zu gelangen. Lessing selbst hat sich in der „Hamburgischen Dramaturgie“ auf die Übereinstimmung berufen, |#f0507 : 483|

ohne daß er sich einer Abhängigkeit von den lange nach Schlegels Tod ans Licht getretenen Reformgedanken bewußt gewesen wäre. Gerade die Dichter pflegen solches Gefühl für die Wiederkehr des Gleichen in sich zu tragen. In Vorahnung eines Nachfolgers, der seine Entdeckung im Reich der Kunst verwirklichen werde, schrieb der Dichter des „Robert Guiscard“ am 5. Oktober 1803 an seine Schwester Ulrike: „Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein Jahrtausend im voraus, vor seinem Geist.“ Und ungefähr ein halbes Jahrtausend zuvor sind die isländischen Sagas entstanden, deren Wirklichkeitsauffassung nach Lugowski in Kleists Erzählungen ihre Wiederauferstehung erlebt, ohne daß ein anderer Zusammenhang nachzuweisen wäre als der des germanischen Lebensgefühls und der volkhaften Erinnerung. Auf stilistische Übereinstimmungen des Kleistschen Verses mit den Variationen und Verschränkungen der altgermanischen Dichtung hatte ich schon vorher hingewiesen. Solches Vorläufertum erfüllt eine Teleologie, indem immer gerade die Kräfte vorhanden sind, denen eine bestimmte Sendung auferlegt werden kann. Von den vielfältigen Typen, über die jedes Volk und jedes Zeitalter verfügt, tritt in rascher Aufeinanderfolge gerade der in den Vordergrund, dessen die Gesamtlage bedarf, um eine Förderung zu erfahren. Auf ähnliche Fälle der Anamnese stößt man an vielen Orten: Klopstock, der mit Wiedererweckung der Bardendichtung auf falscher Fährte war, kommt in seinen freien Rhythmen dem Wesen des germanischen Versbaus unbewußt auf die Spur, während er des Glaubens ist, die hebräischen Psalmen nachzubilden. Martin Opitz nimmt als Reformator des deutschen Verses eine ähnliche Stellung ein wie Otfrid von Weißenburg als Schöpfer althochdeutscher Reime, und beide schicken ihrem Unternehmen die Frage voraus, warum allein die deutsche Sprache den andern nicht ebenbürtig erachtet werden solle. Hundert Jahre nach Opitz beginnt Gottsched sein vielverkanntes Reformwerk mit demselben Blick auf überlegene Vorgänger und mit der patriotischen Absicht, ihren Vorsprung auf Grund der richtigen Regeln einzuholen. Grimmelshausen hat im Waldidyll des „Simplicissimus“ eine Begegnung mit Wolframs „Parzival“, ohne ihn zu kennen, und bei Jean Paul tauchen wieder die märchenhaften Motive weltentrückter Kindheit und des tumben Toren auf. Das typisch Deutsche ist durch einen Vergleich Wolframs mit Chrestien, bei dem das Waldidyll fehlt, Grimmelshausens mit Mateo Aleman, bei dem wohl Einsiedler und hohler Baum, aber nicht die Naturstimmung zu finden ist, oder Jean Pauls mit Lawrence Sterne zu erkennen. |#f0508 : 484|

Mit dem Nationaltypus verbindet sich ein Schicksalstypus. So begrüßte Daniel Schubart, der Gefangene von Hohenasperg, in Nikodemus Frischlin den schicksalsgleichen Bruder seines Geistes, und David Friedrich Strauß ging daraufhin von der Biographie des einen Landsmannes zu der des andern über. Auch Georg Büchner wäre schwerlich zur Abfassung seiner Lenznovelle gekommen, wenn er nicht eine innere Gleichheit empfunden hätte, und es ist kein Zufall, daß sich diese Wahlverwandtschaft im Naturalismus der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts fortsetzt, indem die ersten literarhistorischen Bemühungen von Max Halbe und Gerhart Hauptmann Lenz und Büchner zum Gegenstand hatten. So lassen sich durchgehende Fäden im Gewebe der neueren Literaturgeschichte erkennen, und man kann den Versuch machen, aus dem Gefüge des Ganzen bestimmte Typenreihen herauszulösen. Für eine wirklich organische Auffassung muß das Verhältnis zwischen dem einzelnen Dichter und seinen Vorläufern ein wechselseitiges sein. Er steht auf ihren Schultern; die Vorgänger bleiben unter ihm und tragen ihn. Sie teilen ihm die Richtung ihres Strebens mit, und er bringt zur Ausführung, was sie gewollt und nicht erreicht haben. Oder er bleibt unter ihnen als Nachtreter, den die Lehre unselbständig werden ließ, so daß er vergebens sich zur Höhe aufzuschwingen sucht. Endlich kann er sich von dem Vorbild frei machen und seinen Platz gegenüber den Vorläufern einnehmen, indem er mit Bewußtsein zu ihnen in Gegensatz tritt. So ist Hardenbergs „Heinrich von Ofterdingen“ aus einer Nachahmung Goethes zu einem Anti- Meister geworden und Hauffs „Mann im Mond“ zu einer Parodie des zuerst nachgeäfften Clauren. Das sind verschiedene Formen der Abhängigkeit zwischen den Gliedern des Organismus, als welchen wir die Nationalliteratur betrachten. Verfolgt man weiter das von Staiger angewandte Gleichnis, das den Samen nach der Blüte, aber nicht die Blüte nach dem Samen abschätzen läßt, so müßte wiederum die Blüte entsprechend der Frucht gewertet werden, soweit sie nicht fruchtlos verwelkt. Dann wäre es durchaus sinnvoll, wenn der Dichter weniger nach seinen Vorläufern als nach seiner Folgewirkung beurteilt würde; denn nach dieser bestimmt sich der Platz, der ihm von der Nachwelt zugewiesen wird. Seine Ernte ist es, wenn er sowohl in geschichtlicher Betrachtung als in Abmessung seiner Bedeutung zur Einordnung gelangt in das Gesamtbild der Dichtung seines Volkes, oder sogar der Dichtung der Menschheit. Von den drei Gestalten des Dichters, die eingangs auseinandergehalten wurden, ist die dritte die endgültige. |#f0509 : 485|

Wenn Nachwirkung und Geltung, Dauer und Wert des Dichters als seine eigentliche Existenz bezeichnet werden kann, so soll deshalb das Werden aus Samen, Wurzel und Wachstum ebensowenig unbeachtet bleiben, wie das unmittelbare Wirken, in dem das endgültige Sein sich vorbereitet. Die Erscheinung jedes Dichters richtet ihren Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er ist Glied einer unendlichen Kette, und damit geht seine individuelle Existenz in einem größeren, ja in dem größten Zusammenhang auf. Es kann aber zu einer neuen Vereinzelung kommen, die allerdings nur scheinbar ist und partiell genannt werden muß, weil sie zwischen Einheit und Vielheit vermittelt. Dies tritt, wie oben schon angedeutet ist, dann ein, sobald von der Individualität des Dichters abgesehen wird und er als T y p u s erscheint. Er kann als repräsentativer Vertreter seines rassischen Erbteils, seiner psychologischen Anlage, seiner Volks- und Stammesart, seiner Generation, seiner Gesellschaft, seiner Geistesrichtung, seiner Stilform eingeführt werden. Dann steht der einzelne für viele, die in bedeutenden Wesenszügen ihm gleich sind; er wird aus dieser Gruppe als Stimmführer herausgenommen. Der Dichtertypus gleicht dann dem künstlerischen Symbol, indem seine Existenz eine ganze Kategorie versinnbildlicht, und diese Kategorie gleicht wiederum der Dichtungsgattung, die sich am einzelnen Werk veranschaulichen läßt. Die Gleichheit, die eine Voraussetzung alles Typischen ist, läßt sich entweder auf räumliche Gemeinschaft zurückführen, wie bei Rasse, Volk und Stamm, oder auf zeitliche Zusammengehörigkeit, wie bei Generation und Zeitgeist. Oder es tritt ein räumlich-zeitliches Zusammenwirken in Kraft. So bei der Gesellschaft, die zugleich eine Schicht des Volksganzen und eine zeitlich veränderliche internationale Erscheinung darstellt; so beim Geist, der Nationen und Zeitalter, räumlichen und zeitlichen Einheiten gemeinsam ist; so beim Stil, der neben dem individuellen Personalstil in den Spielarten des wandelbaren und in gewissen Zügen regelmäßig wechselnden Epochalstils und des bei zeitlicher Veränderung doch im Kern unwandelbaren Nationalstils uns entgegentritt. (Buch I, S. 197 ff.) Der Stil ist die greifbarste Erscheinungsform der Geistesrichtung eines menschlichen Typus, und der Typus ist gewissermaßen die allegorische Personifikation eines Stiles, Zeiterscheinung und Raumerscheinung ergänzen sich dabei und stehen in ständiger Wechselwirkung. Im einzelnen Dichter kann man sogar verschiedene Typen repräsentiert sehen, je nachdem sie in Raum, Zeit, Gesellschaft oder Stil- und Geistesrichtung ihren Bereich haben. Je größer der Dichter ist, |#f0510 : 486|

desto weniger ist sein Stil auf eine einzige sich gleichbleibende Formel zurückzuführen oder sein Wesen auf den Nenner eines einzigen Typus zu bringen. Die Verschiedenheiten zeigen sich teils in Aufeinanderfolge verschiedener Lebensstufen, denn je umfassender der Mensch ist, desto mehr Umfang beansprucht der Spielraum seiner Entwicklung; aber auch ein Nebeneinander verschiedener Typen ist im Reichtum großer Gestalten zu erfassen. In Shakespeare z. B. verbindet sich der Rassetypus des germanischen Dramatikers, der sich bei Vergleich mit antiker Tragödie oder romanischem Klassizismus herausstellt, mit dem Nationaltypus des Engländers wie mit dem Zeittypus eines Dichters der Spätrenaissance, die bereits zur Barockzeit übergeht. Auch kann in ihm nach Otto Ludwig der Typus des Sachdichters im Gegensatz zum Ichdichter erkannt werden. Oder in Gemeinschaft mit Molière der des schauspielerischen Dramatikers, von dem Grillparzer sagte: „Shakespeare war in erster Linie Theaterdirektor, aber weil er ein Genie war, ist er hinter seinem eigenen Rücken der größte Dramatiker geworden.“ Das unvergleichliche Genie schließt in sich eine Summe von Möglichkeiten typischer Entfaltung, aber jede Einseitigkeit wird überwunden, je mehr die Individualität alles Durchschnittliche übersteigt. So repräsentiert schließlich die Vielfältigkeit seiner Gestaltungskraft ein ganzes Volk und eine ganze Welt. Wenn, wie oben gesagt, der Dichtertypus in gewissem Sinne dem Gattungscharakter des Werkes entspricht, der gleichfalls durch die Größe vielfältiger Entwicklung gesprengt werden kann (z. B. sind Dantes „Göttliche Komödie“ oder Goethes „Faust“ weder auf lyrische noch auf epische oder dramatische Gattungsbegriffe einzuschränken), so verengt sich dieser Zusammenhang, sobald der Typus, dem der Dichter zuzurechnen ist, einer bestimmten Gattung sich zuneigt. In den Erzählungen Schillers, Kleists, Grillparzers, Hebbels schlägt der Puls des Dramatikers, in den Dramen Otto Ludwigs, Paul Heyses, Paul Ernsts der langsamere des Erzählers, und wenn Jean Paul, Adalbert Stifter oder Wilhelm Raabe sich jemals im Drama versucht hätten, so wäre es ihnen kaum anders gegangen als Gottfried Keller, Theodor Fontane und Conr. Ferd. Meyer, deren dramatische Experimente Fragment blieben. Nun kann ein bestimmtes Werk in seinem Gattungscharakter ganz besonders dem Typus seines Dichters entsprechen. Es würde in diesem Fall für ihn charakteristisch sein. Typisch wäre es erst zu nennen bei Gegenüberstellung mit dem Werk eines wesensverschiedenen Dichters, das für diesen ebenso charakteristisch wäre als jenes |#f0511 : 487|

für den Typus des ersten. Durch den Vergleich erst würden die beiden charakteristischen Werke typisch, indem sie die Verschiedenheit ihrer Dichter hervorzukehren und damit deren Typen zur Schau zu stellen hätten. Solcher Vergleich kann nur bei einer gewissen Ähnlichkeit der Grundlagen fruchtbar werden. Wir wählen als Beispiele zwei Dichtungen, die nach Gattung, Form und Zeitalter ihrer Entstehung zusammengehören, nämlich Goethes „Werther“ und Hölderlins „Hyperion“, den man nicht ganz zutreffend als „griechischen Werther“ bezeichnet hat. Beide Werke haben die gleiche Form des einseitigen Briefromans und liegen auf der Grenze zwischen epischer und lyrischer Gattung. Wenn die Gegenüberstellung allerlei Beobachtungen für die Feststellung von zwei nicht allzuweit voneinander entfernten Dichtertypen ergibt, so ist die Einschränkung zu machen, daß „Werthers Leiden“ nur für eine bestimmte Lebens- und Schaffensperiode des jungen Goethe charakteristisch ist, daß der zeitliche Abstand sich auf Hölderlins Seite als Abhängigkeit auswirken konnte und daß räumliche Herkunft den Schwaben vom Franken trennt, obwohl er sein Werk in der Nähe Weimars begann und in Goethes Vaterstadt weiterführte. Von diesen Umständen kann indessen bei einem Vergleich, der auf Bestimmung des dichterischen Typus ausgeht, abgesehen werden. Wir stellen zwei ähnlich aufgebaute Perioden einander gegenüber, die aus gleicher Situation und Stimmung, aber ungleicher weltanschaulicher Haltung verschiedene Gefühle sich entwickeln lassen: [Beginn Spaltensatz]

W e r t h e r am 10. Mai Wenn das liebe Tal um dich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, und ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräschen mir merkwürdig werden. Wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten all der Würmchen, der Mückchen näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns all nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält. Mein Freund, [Spaltenumbruch]

H y p e rio n a n B e lla rmin Und wenn ich oft dalag unter den Blumen und am zärtlichsten Frühlingslichte mich sonnte, und hinaufsah ins heitre Blau, das die warme Erde umfing, wenn ich unter den Ulmen und Weiden, im Schoße des Berges saß, nach einem erquickenden Regen, wenn die Zweige noch bebten von den Berührungen des Himmels, und über dem tröpfelnden Walde sich goldne Wolken bewegten, oder wenn der Abendstern voll friedlichen Geistes heraufkam mit den alten Jünglingen, den übrigen Helden des Himmels, und ich so sah, wie das Leben in ihnen in ewiger müheloser Ordnung durch den Äther sich fortbewegte, und die Ruhe der Welt mich umgab und erfreute, daß ich aufmerkte [Ende Spaltensatz]

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wenn's denn um meine Augen dämmert. und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten; dann sehn ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes. [Spaltenumbruch]

und lauschte, ohne zu wissen, wie mir geschah hast du mich lieb, guter Vater im Himmel? fragt' ich dann leise, und fühlte seine Antwort so sicher und selig am Herzen. [Ende Spaltensatz]

Beginnen wir mit dem Satzbau, so sind unter den drei mit „wenn“ eingeleiteten Bedingungssätzen Goethes die zwei ersten mit mehrfachem „und“ weitergeführt, ohne zum Abschluß zu gelangen, während der dritte die Lösung der Spannung bringt. Deutlich scheidet die Dreigliedrigkeit stimmunggebende Landschaft, beseeltes Lebensgefühl und versagenden Gestaltungsdrang. Hölderlins Periode ergibt ein anderes rhythmisches Bild; ihr gleichmäßigerer Fluß ist durch vierfaches „wenn“ im Aufgesang schneller emporgeführt, um dann mit vierfachem „und“ sich zu verbreitern, zu verfließen und abzusinken. Nicht der ferne Freund, sondern der immer nahe gute Vater im Himmel wird gerufen, und das lösende „dann“ ist nicht Höhepunkt, sondern abklingende Senkung. Das Zeitverhältnis ist ein verschiedenes: bei Goethe ist alles einmalige Gegenwart, die schon hier im Augenblick die Ewigkeit erfassen will; bei Hölderlin ist es stetig schweifende Erinnerung. Im „Werther“ ist die Stimmung des frischen Frühlingsmorgens einheitlich festgehalten, während Hyperions Landschaftsbild in gleitendem Farbenwechsel sich entwickelt vom heiteren Mittagsblau des Himmels über die vom Sinken der Sonne vergoldeten Wolken bis zum Aufgehen des friedlichen Abendsterns, der die mit heroischen Namen ausgezeichneten anderen Sternbilder nach sich ziehen wird und das zur Ruhe gegangene Leben der Erde in der ewig mühelosen Ordnung des Äthers sich fortbewegen läßt. Bei Goethe führt der Weg zunächst von der großen Umgebung zur Kleinwelt; durch das dampfende Tal und die undurchdringliche Finsternis des Waldes stehlen sich einzelne Sonnenstrahlen und lenken die Wahrnehmung auf die Halme und Gräser am fallenden Bache; zwischen ihnen offenbart sich nun erst das Gewimmel der Würmchen und Mückchen, deren Kleinleben die wirkende Gegenwart des Allmächtigen, Alliebenden und Allerhaltenden gegenständlich fühlen läßt. Die Empfindung Hölderlins schwingt sich dagegen von der Beobachtung des Einzelnen, der Blumen und der noch tröpfelnden Ulmen- und Weidenzweige empor ins Metaphorische und |#f0513 : 489|

Kosmische, um dann mit abgeschlossenem Kreislauf wieder im eigenen gotterfüllten Herzen zu enden. Wenn „Werther“ sich wie Ganymed emporgetragen fühlt zu dem alliebenden Vater, der der Bildner des Universums ist, zieht Hyperion den himmlischen Vater zu sich nieder. Die Sehnsucht des einen ist schaffensmutiger Künstlerdrang nach dem Bild, das die Seele zum Spiegel Gottes werden läßt; die des andern kehrt zurück zum kindlichen Gottempfinden goldener Jugendzeit und friedlichen Naturlebens. Beachten wir, daß bei Hölderlin das stillbewegte Pflanzendasein, die Ruhe der Welt und die mühelose Ordnung des Himmels zu einem makroskopisch ausgedehnten, bei Goethe das Gewimmel der Mückchen und Würmchen zu einem fast mikroskopisch verengten Gotteserlebnis führt, so offenbart sich auch ein grundverschiedenes Verhältnis zur Natur, ein aufschauendes und ein eindringendes. Begegnet bei Goethe im d a m p f e n d e n T a l , in den s i c h s t e h l e n d e n Strahlen, im f a l l e n d e n Bach die bewegende Kraft des Zeitworts, bei Hölderlin im z ä r t l i c h e n Frühlingslicht, im h e i t r e n Blau, in der w a r m e n Erde die Vorliebe für das malende Beiwort, so kommt auch darin der Gegensatz zwischen aktivem Schöpferwillen und hingebender Empfänglichkeit zum Ausdruck. Die Verba finden wir bei Hölderlin mehrfach in Doppelformen angewandt, die alle hastige Bewegung mäßigen und zum Ausgleich bringen, z. B. wenn die „Ruhe der Welt mich umgab und erfreute, daß ich aufmerkte und lauschte“. Bei Goethe tritt solche Doppelform nicht als Abschwächung, sondern als eine für den Höhepunkt der Schilderung aufbewahrte Verstärkung auf: „der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält.“ Bei Anwendung der Leisegangschen „Denkformen“ würde Goethes Vorstellungsfolge als kreisförmig, die Hölderlins als Kreis von Kreisen sich erkennen lassen. Ebenso findet Diltheys Typologie mit der Zuteilung Goethes an den „objektiven Idealismus“ und Hölderlins an den „Idealismus der Freiheit“ in stilistischer Beziehung Bestätigung. Aber dazu kommen Unterschiede des Temperamentes, durch die das Typische differenziert wird: hier die aktive Dynamik des fordernden Sturm und Drang; dort die anders geartete Empfindsamkeit des beginnenden romantischen Zeitalters, das in sehnender Rückschau die unendliche Harmonie glücklicher Kindheitsträume sucht oder in passiver Ruhe der Wiederkehr goldener Zeiten entgegensieht.

Bei der von Hermann Nohl vorgenommenen Spaltung des Freiheitsidealismus ist Hölderlin deshalb einem Typus der Versöhnung zugerechnet, |#f0514 : 490|

der von dem Verklärungstypus Schillers unterschieden wird. Es käme nun darauf an, die verschiedene Haltung dieser beiden Dichter in ihren Werken aufzuzeigen. Dilthey selbst hat in Hölderlins Weltauffassung einen Panentheismus gesehen, der das Universum durch eine von den Elementen der endlichen Wirklichkeit getrennte göttliche Kraft hervorbringen läßt und den menschlichen Geist in seiner unsterblichen Entwicklung über das endlich bestimmte Erdendasein hinausführt. Diese Charakteristik gilt den Hymnen an die Ideale der Menschheit, die nicht nur als melodischer Nachklang der Schillerschen Jugenddichtung aufzufassen sind, sondern bereits den eingeborenen Sinn für die Melodik der Sprache als Eigenausdruck offenbaren. Die Loslösung Hölderlins von Schiller ist seitdem durch Kurt Wendt dargestellt worden an der Hand zweier Gedichte, die das gleiche Thema, nämlich die Erziehung des Menschen durch die Kunst, zum Gegenstand haben: „An die Muse“, und „Die Künstler“. An Stelle der Diltheyschen Typologie treten da die kunstgeschichtlichen Kategorien Wölfflins, mit deren Hilfe zwei verschiedene Stiltypen charakterisiert werden, die flächenhafte und tektonisch geschlossene Form Schillers und die mehrschichtige Tiefenhaftigkeit und offene Atektonik Hölderlins. Nun ist Wölfflin oft mißverstanden worden, als sei er auf ein allgemein gültiges Typensystem ausgegangen, während er den geschichtlichen Vorgang veränderter Sehweise im Übergang von Renaissance zu Barock erfassen wollte. Bei Wendt ist die Anwendung ziemlich gezwungen, und es zeigt sich die Mißlichkeit, literarische Vergleiche in das Prokrustesbett eines aus anders geartetem Kunsterlebnis stammenden Schemas zu pressen. Unbefangener und vorurteilsfreier sind jedenfalls die Gegenüberstellungen motivgleicher Gedichte, wie sie an verschiedenen Abendliedern in eigenen Schriften von Lewandowski und Pfeiffer vorgenommen wurden. Ein Vergleich zweier Gedichte von Eichendorff und Mörike, wie ich ihn bereits im ersten Buch versuchte (S. 177 ff.), ergab das Übergewicht des musikalischen Wohllautes auf der einen Seite und der Bildhaftigkeit auf der andern. Solcher Einzelvergleich bedürfte noch der Bestätigung durch weitere Gedichte derselben Verfasser, um zu einer Typisierung erweitert zu werden, in die dann auch andere Lyriker eingeordnet werden könnten. Einen neuen Gesichtspunkt des Vergleiches bei Betrachtung lyrischer Kunstwerke hat nun Emil Staiger in dem oben erwähnten Buch eingeführt, indem er an Stelle der Weltanschauung die reine |#f0515 : 491|

Form der Anschauung und an Stelle des Diltheyschen Erlebnisbegriffes den Heideggerschen Begriff der Zeit zur Geltung bringt. Die „reißende Zeit“ bei Clemens Brentano, dem immer Hingerissenen, der „Augenblick“ als die auf das Dauernde gerichtete Einbildungskraft bei Goethe und die „ruhende Zeit“, die sich bei Gottfried Keller in die Ständigkeit des Raumes auflöst, sind nicht nur in drei beliebig herausgegriffenen Gedichten zu erleben, sondern dienen zum Ausgangspunkt tiefdringender Wesensschau bei allen drei Dichtern. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, drei allgemein gültige Typen gegeneinander abzugrenzen, was möglich gewesen wäre bei Gegenüberstellung der verschiedenen Welten des Klanges, der Form und des Lichtes. Das sind die hauptsächlichsten Sinnesbereiche dieser Dichter, die demnach als überwiegend musikalisch, plastisch und malerisch aufgefaßt werden könnten. Aber indem der eine als Romantiker, der andere als der Symboliker, der in Wissenschaft, Kunst und Dichtung das Gesetz der Dinge sucht, der dritte als Vertreter des Schweizer Geistes betrachtet wird, verteilt sich die Verallgemeinerung auf die drei verschiedenen Ebenen der Generation, des Stils und des Stammes, in denen jedesmal eine eigene Typologie ihren Boden findet. Und obwohl die Reihenfolge weder durch Wertskala bestimmt wird noch durch Chronologie (Goethe steht als Überwinder der „reißenden Zeit“ in der Mitte), wird auf den Versuch einer geistesgeschichtlichen Einordnung nicht verzichtet. Die Lebensfülle der Charakteristik, die namentlich im Bilde Brentanos die individuellsten Züge herausarbeitet, durchbricht allen Schematismus. So darf dieses hochkultivierte, feinfühlige Buch, dessen drei Charakteristiken ein auf andere philosophische Haltung gegründetes Gegenstück zu den vier berühmten Diltheyschen Essays bedeuten, als Anlauf, von abstrakter Typologie zu synthetischer Darstellung vorzudringen, begrüßt werden. Wenn der Verfasser bedauert, seine Schau nicht durch Heranziehung weiterer Dichtungen verbreitern zu können, so bleibt allerdings der Wille zur Typologie unverkennbar, und es erhebt sich die Frage, welche weiteren Zeitformen der dichterischen Einbildungskraft möglich wären. Ebenso bleibt zu beantworten, ob solche Typologie sich, wie es im Falle Kellers geschehen ist, in eine Entwicklungsgeschichte nach räumlichen und zeitlichen Kategorien einbauen läßt. Ergänzend ist zu fragen, inwieweit Brentanos Eigenart durch sein italienisches Blut bestimmt war und Goethes Einbildungskraft mit seiner Generation übereinstimmt. |#f0516 : 492|

b) Methoden der Typenbildung Jede Typologie bleibt zahlenmäßig begrenzt und beginnt mit einem ungleichen Paar, da der Typus zunächst an seinem Gegentypus zu erkennen ist. Nach durchgeführtem Vergleich ergibt sich als logische Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit die ergänzende Hinzuziehung eines dritten Typus, der entweder eine Zwischenstellung zwischen den beiden im Vergleich gewonnenen Gegensätzen einnimmt, oder ihre Reihe fortsetzt, indem er den Gegensatz nach der einen Seite hin steigert. Alle Typenbildung findet in der Dreizahl eine vorläufige Abrundung. Wenn der dritte Typus C sowohl mit dem ersten Typus A als mit dem zweiten B Gemeinsamkeiten teilt, die jeweils zu dem andern in Gegensatz stehen, so werden durch seine Zwischenstellung die Pole verbunden. Wenn aber der dritte Typus den Gegensatz verschärft, indem er über einen der anfangs festgestellten Typen, sagen wir A, in einseitiger Steigerung oder neuer Richtung weit hinausgeht, dann kann das Gleichgewicht durch einen vierten (D) wieder hergestellt werden, der die Übersteigerung des Typus B nach der anderen Seite hin vollzieht. Es können sich also die zwei Reihen: A C B oder C A B D ergeben. Im einen Fall bleiben A und B die Extreme, die am weitesten voneinander entfernt sind. Im anderen Fall können sich zwischen den neuen Extremen (C und D) und den ursprünglich aufgestellten Gegensätzen (A und B) bei Heranziehung weiteren Vergleichsmaterials neue Zwischenstufen ergeben, so daß die Sechszahl erreicht wird in der Reihe C E A B F D. Oder es kann sogar, wenn jetzt erst das Mittelglied zwischen A und B gefunden wird, ohne Zahlenmystik ein Siebengestirn aufleuchten: C E A G B F D. Solche Spaltung trat beispielsweise bei Weiterbildung der Diltheyschen Weltanschauungstypen in Erscheinung (Buch II, S. 356). Ebenso bei den Rutz-Sieversschen Schalltypen, die mit der Dreizahl begannen, oder bei den Integrationstypen Jaenschs, die sich mit ihr nicht begnügten. Zur Sechszahl gelangten Eduard Sprangers „Lebensformen“ in weitergreifender Ausdehnung der Strukturpsychologie auf alle menschlichen Anlagen. Der eine seiner Typen, der uns hier allein angeht, der des ästhetischen Menschen, ist wieder in drei Unterabteilungen gegliedert, die des Impressionisten, des Expressionisten und des dazwischenstehenden Klassikers. Der eine gibt sich der äußeren Welt und ihren Eindrücken hin, der andere kommt den Lebenseindrücken in ausströmender Gefühlswelt zuvor; beim dritten |#f0517 : 493|

harmoniert die Entfaltung des Ich mit Assimiliation der Lebenseindrücke.

Literarhistorische Beispiele für das Nebeneinanderbestehen dieser drei Typen werden wir am besten in der Zeit der beginnenden deutschen Klassik und der vorausgehenden Sturm- und Drangbewegung finden. Soll zur Ergänzung der bisher aus Roman und Lyrik gegebenen Proben auch einmal das Drama Berücksichtigung finden, so ist es natürlich weit schwerer, auf motivgleiche Gegenbilder zu kommen, die im kleinen Ausschnitt bereits eine Veranschaulichung des ganzen Unterschiedes ermöglichen. Eine günstige Gelegenheit bieten die zwei Rivalen Klinger und Leisewitz, deren Bruderzwistdramen zu gleicher Zeit völlig unabhängig voneinander entstanden und bei dem Hamburger Ausschreiben 1776 in Wettbewerb traten. Beide Stücke gipfeln im Brudermord und im Gericht des Vaters, der sein eigenes Geschlecht auslöschen muß, indem er selbst das Urteil über den Mörder vollzieht. Der Unterschied liegt darin, daß bei Leisewitz als Motiv der tragischen Verkettung die Liebe zu demselben Mädchen vorherrscht, während bei Klinger außerdem das strittige Recht der Erstgeburt die ungeheuerliche Tat des Zurückgesetzten erklärt. Wichtiger für den Vergleich ist der Umstand, daß Leisewitz mit ganzer Sympathie auf der Seite des Ermordeten steht, während Klinger sich in die Rolle des Mörders einlebt und seine Tat durch unbändiges Temperament, kraftstrotzende Wildheit und die unerträgliche Benachteiligung verständlich macht. Das kann schon expressionistisch genannt werden, wenn widernatürliches Handeln als Ausbruch der eigenen Natur zu erklären ist. Man darf also sagen, daß Leisewitz in seinem Helden Julius, Klinger dagegen, der „Löwenblutsäufer“, wie er genannt wurde, in der Kraftnatur des Guelfo sich selbst ausspricht. Es mögen demnach die zwei Liebesszenen einander gegenübergestellt werden, in deren einer Julius seine ihm vorenthaltene Geliebte im Kloster aufsucht, während in der andern Guelfo die Braut des Bruders, die dieser eben heimgeführt hat, gewaltsam in die Arme schließt. [Beginn Spaltensatz]

J u l i u s v o n T a r e n t II 2 B l a n c a : Lassen Sie mich, hören Sie, die Glocke zur Hora läutet. J u l i u s : Aber ein Andenken deines itzigen Standes mußt du mir geben. (Er nimmt ihr den Rosenkranz von der Seite.) Pfand der klösterlichen Liebe, wie will ich dich schätzen Mir für [Spaltenumbruch]

D i e Z w i l l i n g e II 5 K a m i l l a : Stehn Sie auf! Wir können uns unmöglich wiedersehen, das ich doch wollte. G u e l f o : Das war Kamilla! Da entquillt ihren Lippen Erquickung, daß sich Ritter Guelfo aufrichten kann! Oh, Kamilla kann einen aus Todesschlaf [Ende Spaltensatz]

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nichts feil, als deinen ersten Morgenkuß an unserm Hochzeitstage; dafür kannst du ihn einlösen, und alsdann soll er dein bestes Hochzeitsgeschmeide sein. B l a n c a : Mein Hochzeitstag ist schon gewesen. J u l i u s : Zerreiß deinen Schleier, Blanca ich will den großen Streit mit dem Himmel wagen Ich weiß, du liebst mich, aber ich muß es jetzt aus deinem Munde hören ich beschwöre dich bei den Tagen der Freude, die vorbei sind, und die kommen sollen, versichre es mir noch einmal. (Er küßt sie.) B l a n c a : Abtissin helfen Sie mir. (Sie wird ohnmächtig.) J u l i u s : Sie liebt mich. Sehen Sie, Abtissin, das ist eine Versicherung, unsrer Liebe würdig, sie liebt mich wahrhaftig und wenn ein Engel seinen Finger auf das Buch des Schicksals legte und schwöre: Blanca liebt Julius, so wäre es für mich nicht wahrhaftiger. A b t i s s i n : Ich bitte Sie, verlassen Sie uns. J u l i u s : Erst will ich diese göttlichen Augen wieder offen sehen (Blanca schlägt die Augen auf). Es ist genug Abtissin, ich danke Ihnen winselnd sehen Sie mich nicht wieder. (Ab.) [Spaltenumbruch]

wecken, kann einen umwenden mit einem Blick! Nun ist mir doch gar wohl. K a m i l l a : Und Tränen im Auge? G u e l f o : Sehen Sie das? Pfui, Guelfo! sei Mann! folg' dem Bescheid! K a m i l l a : Kommen Sie ans Fenster! Es ist prächtig Abendrot; die Sonne geht herrlich unter. Freuen Sie sich doch mit mir! G u e l f o : Die letzten Sonnenstrahlen durch die Bäume her Ich möchte mich in die Feuerhelle dort schwingen, auf jenen Wolken reiten mit vergoldetem Saume! Kamilla! (Faßt sie an die Hand.) Ach! und ich bin wieder so hin ich möchte diese Feuerwolken zusammenpacken, Sturm und Wetter erregen und mich zerschmettert in den Abgrund stürzen! Kamilla! Kamilla! Kamilla! (Küßt sie heftig.) K a m i l l a : Guelfo! Guelfo! Lassen Sie mich! Heda! G u e l f o : Schrei nicht! Und noch einen! und noch einen! Ha! so der letzte Kampf! Zu deinen Füßen gestreckt bleib! bleib! ich geh'! Schrei nicht, Kamilla! Ritter Guelfo heult; und wenn er heult, heult Lieb' aus ihm. [Ende Spaltensatz]

Die impressionistischen Züge des „Julius von Tarent“ liegen in der Klosterstimmung, in der Symbolik des Rosenkranzes und des Schleiers, in der Teilnahme der Äbtissin, die selbst seit Jahrzehnten verlorener Liebe nachtrauert (bei Klinger beklagt dagegen Guelfos Vertrauter Grimaldi eine dahingegangene Juliette); dazu gehört endlich das zarte Bild des Engels, der seine Finger auf das Buch des Schicksals legt. Es ist ein unpersönlich harmonisches Eindrucksbild, während Klingers Gleichnisse ichbetonte Metaphern des eigenen Seelenzustandes darstellen. Wenn Leisewitz durch die Liebe vergangene Tage der Freude zurückrufen läßt, so gibt Klingers vorwärtsstürmende Rhetorik ihr die Kraft, aus dem Todesschlaf zu wecken. Das Naturbild des herrlichen Sonnenuntergangs wird gewaltsam gesteigert in der ausströmenden Leidenschaftlichkeit des

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weltverachtenden Liebhabers, der sich als Reiter auf die Wolken schwingen und mit ihnen, zu Sturm und Wetter geballt, in den Abgrund stürzen möchte. Als Gegensatz finden wir ein lieblich ausgemaltes Landschaftsbild, das dem Natursinn des Impressionisten Leisewitz entspricht, an einer anderen Stelle. Wir können ihr nun gleich das Beispiel eines dritten Sturm- und Drangdramas, das Bruderzwist zum Thema hat, aber Brudermord vermeidet, entgegensetzen. Die monologisch gesprochenen Worte Karl Moors an der Donau, da er die Sonne sinken sieht, als sterbe ein Held, vergleichen wir mit dem Monolog des Julius vor dem Abschied von der Heimat: [Beginn Spaltensatz]

J u l i u s v o n T a r e n t IV, 1 Nie dich wiedersehn, Tarent, nie wieder die Sonne hier heller scheinen und die Blumen frischer blühen sehen als an jedem andren Orte. Und ihr Freuden der Rückkunft, bestes Produkt des mütterlichen Landes, ich werde für euch tot sein nie das Jubelgeschrei des Schiffsvolks hören, wenn es diese väterliche Küste sieht nie in einer Abendsonne die Türme von Tarent wieder glänzen sehn und mein Pferd schärfer spornen. Niemals werde ich wieder in diesem Saale alles, was ich liebte, an einem Tische versammelt finden, nie wieder hören, daß mein Vater spricht: Gott segne euch, meine Kinder! Und alle diese Bande, die ich zum Teil eh'r trug, ehe ich die Welt betrat, zerreiß' ich um eines Weibes willen um eines sterblichen Weibes willen nein, nicht für ein sterbliches Weib, für dich, Blanca, du bist mir Vaterland, Vater und Mutter, Bruder und Freund. [Spaltenumbruch]

D i e R ä u b e r III, 2 Meine Unschuld! Meine Unschuld! Seht! es ist alles hinausgegangen, sich im friedlichen Strahl des Frühlings zu sonnen warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden des Himmels? daß alles so glücklich ist, durch den Geist des Friedens alles so verschwistert! die ganze Welt E i n e Familie und ein Vater dort oben M e i n Vater nicht Ich allein der Verstoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen mir nicht der süße Name Kind nimmer mir der Geliebten schmachtender Blick nimmer, nimmer des Busenfreundes Umarmung! (Wild zurückfahrend.) Umlagert von Mördern von Nattern umzischt angeschmiedet an das Laster mit eisernen Banden hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr mitten in den Blumen der glücklichen Welt ein heulender Abbadona! [Ende Spaltensatz]

Wenn man Schillers Bruderzwistdrama zwischen die beiden Vorgänger stellt, so ist der Dualismus von impressionistischer und expressionistischer Stimmung ebenso charakteristisch wie der Kontrast zwischen dem Frieden der Natur und den Stürmen des Innern. Die Anlage zum späteren klassischen Stil aber zeigt sich in der Gewichtsverteilung zwischen Spiel und Gegenspiel: während bei Leisewitz und Klinger die zweiten Brüder, sowohl der wilde Guido als der milde |#f0520 : 496|

Ferdinando, blaßgezeichnete Folien bleiben, springen sich in Karl und Franz Moor zwei gleichmäßige Gestalten an, der erhabene Verbrecher und der niedrige, und die zwei Weltanschauungen des Idealismus und des Materialismus, die durch sie in Kampf treten, geben den Charakteren symbolische Bedeutung. Diese weltanschauliche Antinomie entspricht nicht der Einseitigkeit des Sturm und Drang. In Klinger und Leisewitz nehmen zwei verschiedene Dichtertypen an der Bewegung teil, in der eine empfindsame und eine gewaltsame Spielart des Geniewesens auftritt. Während bei Goethe ganymedisches und prometheisches Verhalten sich ergänzen, bilden sie hier einen Gegensatz. Nehmen wir Schiller hinzu, so finden wir drei verschiedene Entwicklungsstufen des deutschen Dramas vertreten: der Impressionist Leisewitz, der noch an Lessing anzuknüpfen ist, gehört zur Vorstufe des Sturm und Drang und hat seinen Gipfel nicht erreicht; der von Shakespeares Feuer und Urkraft entzündete explosive Expressionist Klinger ist über den Sturm und Drang nachmals hinausgekommen und hat in späterer Abklärung als Medeadichter zum Stoffkreis der Antike gefunden. Trotzdem wurde er kein Klassiker. Die Entwicklung Schillers aber ist den schon in den „Räubern“ vorgezeichneten Weg weiter gegangen. Don Carlos sollte als Held Blut und Nerven des Julius von Tarent mitbekommen; dann erhielt in der Spannung zwischen Vater und Sohn der Realpolitiker Philipp II. das Übergewicht, und in der dritten Arbeitsphase tritt die realidealistische Gestalt des Marquis Posa beherrschend in den Vordergrund. Das ebenbürtige Gegenspiel von Realismus und Idealismus liegt weiter als Spannungsmoment zwischen Wallenstein und Max Piccolomini, zwischen Elisabeth und Maria Stuart, zwischen Talbot und Johanna und begegnet zum letztenmal in den feindlichen Brüdern von Messina und den ihnen zugeteilten Chören. Damit gelangt das Bruderzwistthema des Sturm und Drang zur antikisierend-klassizistischen Gestaltung, die als extremer Stilgegensatz sowohl dem Julius von Tarent, mit dem die Fabel mehr Ähnlichkeit hat, gegenübergestellt werden kann als den „Zwillingen“, denen der tragische Ausgang in der Bereitschaft des Schuldigen, über sich selbst Gericht zu halten, näher kommt. Schiller repräsentiert aber wieder einen andern Typus des Klassikers als Goethe. Wenn er als Dramatiker dem Expressionismus näher steht, so zeigt seine Lyrik mehr rationale Elemente. Wo die Gemeinschaft beider in engster Zusammenarbeit erscheint, ist der Unterschied ihrer Wesensart am deutlichsten zu erkennen: in den Balladen. Da begegnen sich im Totenspuk der „Braut von Korinth“ |#f0521 : 497|

und in der sonnenklaren Moral der „Kraniche des Ibykus“ irrationale und rationale Einstellung, und wenn man noch eine frühere Ballade Goethes hinzuziehen darf, so erscheint die gänzlich verschiedene Haltung gegenüber dem Naturelement, dessen magische Anziehungskraft den Fischer willenlos zu sich niederzieht, während der Taucher in Erhabenheit die brandende Gewalt überwindet und erst beim zweitenmal ihr erliegt. Damit wäre ein impressionistisches oder expressionistisches Übergewicht auch in der Klassik zu unterscheiden. Wie der Typus des Klassikers, so würden sich auch Impressionist und Expressionist, die bei Spranger Untertypen des ästhetischen Menschen sind, in neuen Spaltungen verdoppeln und immer weiter differenzieren lassen. Aber mit jeder Vermehrung würde der Wert einer ordnenden Übersicht sich verwaschen und verlieren. Das Streben nach einer Vollzähligkeit der Typen, die in Erschöpfung aller Möglichkeiten sich zum Kreis rundete, widerstreitet dem Vorteil klarer Sonderung und Vereinfachung. Diese bleibt in ihrer Bestimmtheit ein Hilfsmittel zur Charakteristik des Einzelnen, aber sie kann nicht eigentlich zum Gerüst synthetischen Aufbaus für das Ganze werden. Immerhin ist der Versuch, einen geschichtlichen Rhythmus der Ablösung zwischen den einzelnen Typen herzustellen, öfters unternommen werden. c) Geschichtliche Typenfolge Eine der ersten und folgenreichsten Typologien der Dichtung war Schillers Unterscheidung zwischen naiv und sentimentalisch. Es ist lehrreich zu sehen, wie die Grenzen der Anwendbarkeit dem Verfasser während seiner Arbeit selbst zu Bewußtsein kamen. Der Ausgangspunkt war, wenn wir dem Gang der Abhandlung folgen, die Selbstanalyse, die das eigene Interesse für die Natur als ein moralisches, auf eine Idee gegründetes erkannte. Wenn nun in Auseinandersetzung mit Kant dem Naiven der Überraschung ein Naives der Gesinnung gegenübergestellt wurde, so schien dies zweite vorwiegend im Menschen des Altertums vertreten. Damit bereitet sich als Ergebnis vergleichender Analyse, bei der z. B. Goethes Werther dem Sauhirten Homers entgegentritt, die Bezeichnung der antiken Dichtung als naiv, der der modernen als sentimentalisch vor. Als Entwicklung vom Altertum zur Neuzeit zeichnet sich also der Weg vom Naiven zum Sentimentalischen ab. Aber schon wird mit der Bemerkung, daß jedes wahre Genie naiv sei, dieser Aufbau erschüttert. Shakespeare und Molière sind naive Dichter und Goethe soll, gerade im „Werther“, naive und sentimentalische Züge vereinigen. |#f0522 : 498|

Der geschichtliche Gang wird abgebogen zugunsten der Gegenwartsaufgabe einer Überbrückung der Gegensätze. Der Rangstreit der Alten und Modernen muß fallen, wenn beide Dichtertypen, der naive und der sentimentalische, unter einem „gemeinschaftlichen höheren Begriff“ verglichen werden. Ein dritter Typus, der in der deutschen Klassik sich herausstellen soll, wird in dialektischer Synthese programmatisch konstruiert. Aber nun tritt wieder die Analyse in Erscheinung: neben die Selbsterkenntnis des sentimentalen Dichters Schiller, der nach naiven Stoffen zu suchen sich vornimmt, tritt die Analyse Goethes, der sentimentalische Stoffe mit naiver Kunst behandelt. Es kommt also auf die Selbstbehauptung sowohl der neueren Dichtung gegenüber der Antike als auch des Dichters Schiller gegenüber seinem großen Nachbarn an. Schließlich kehrt nach Betrachtung verschiedener Gattungen, die sowohl naive als sentimentalische Empfindungsweise ausdrücken können, die Abhandlung wieder zu einer moralischen Betrachtung zurück. Wird von dem naiven und sentimentalischen Charakter das abgesondert, was beide Poetisches haben, dann bleiben im praktischen Leben die zwei Klassen des Realisten und des Idealisten übrig, deren Unterschied jetzt nicht mehr durch das Verhältnis zur Natur, sondern durch den Gegensatz von Natur und Vernunft bestimmt ist. Es ist nicht mehr die Rede davon, daß diese beiden Typen im höheren Begriff des Dichters zusammenfallen, daß der Gang der Dichtung entwicklungsmäßig durch sie bestimmt sein könnte oder daß naive und sentimentalische Dichtung in ihrer Vereinigung den höheren Begriff, den Inbegriff der Dichtung überhaupt, repräsentierten. Es ergibt sich letzten Endes, daß nicht die Dichtung, wie nach dem Titel anzunehmen war, in Typen aufgeteilt werden kann, sondern daß solche Gruppierung unmittelbar nur den Menschen und insbesondere den Dichtern zukommt. Bei einem Dichter unserer Zeit, in Erwin Guido Kolbenheyers „Bauhütte“, findet sich ein ähnlicher Ansatz zu entwicklungsmäßiger Periodisierung nach zwei sich ablösenden Typen. Wenn sie als Idealisten und Naturalisten auseinandergehalten werden, kann man eine Weiterführung der Schillerschen Reihe sehen, insofern der Naturalismus in seinem Verhältnis zur biologischen Wirklichkeit die naive Bejahung des organischen Lebensbewußtseins wieder aufnimmt, während der Idealismus ungefähr dieselbe Rolle spielt, die bei Schiller dem sentimentalischen Menschen zufiel. Es handelt sich bei Kolbenheyer um Denkformen, nicht um Dichtungsformen. Nicht bis Sokrates und den Vorsokratikern wird die

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Kurve der Entwicklung zurückgeführt, sondern von Descartes, der an den Anfang des neuzeitlichen Idealismus gesetzt wird, bis zu Ernst Mach, der die Auflösung bedeutet, reicht der Überblick über die idealistischen Denkertypen. Bei Goethe taucht in den Jahren seiner Vollkraft bereits ein Vorgefühl für die Schwelle der kommenden Zeit auf und eine Vorahnung des biologischen Naturalismus und seiner Anpassungsformen, die den Bauplan der Gegenwartsmetaphysik bilden. Trotz des Übergangs über die Schwelle wird nun aber doch eine als Logochorismus bezeichnete gegenseitige Ergänzung und Anregung der formlogisch-idealistischen und der inhaltslogischnaturalistischen Denkartung als notwendig anerkannt, wobei der Idealismus sein funktionelles Übergewicht in Zeiten verhältnismäßiger Anpassungsruhe, der Naturalismus in Zeiten verhältnismäßiger Anpassungsbewegtheit findet. Also wird mit mehrfachem periodischem Wechsel gerechnet. Es kommen aber beide Typen nicht nur in wechselndem Nacheinander, sondern auch nebeneinander vor, genau so wie Schiller zwischen den Gegensätzen des Naiven und Sentimentalischen, aus denen er die Charaktertypen des Realisten und des Idealisten ableitete, ein ständiges Gleichgewicht hergestellt hat. Bei Kolbenheyer scheidet sich der Typus des Tat- und Willensmenschen von dem des Geistesmenschen logisch-ordnender Funktion. Wie nun Schillers Stellungnahme als Selbstbehauptung des sentimentalisch-idealistischen Typus gegenüber dem naiv-realistischen aufzufassen ist, so fehlt auch dem Naturalismus Kolbenheyers nicht der persönliche Bekenntnis-Charakter. Wenn Schiller von der Dichtung zum Menschen absteigt, so nimmt Kolbenheyers biologischer Weg in umgekehrter Richtung vom niedersten Lebewesen den Ausgang und kann vom Menschen zur Dichtung weitergeführt werden. Wenigstens ist in einer anderen Schrift des Dichters dem Naturalismus das Verdienst zugesprochen, den Roman zur Dichtung erhoben zu haben. Vor allem aber wird dem Naturalismus die Erkenntnis der biologischen Gründe für die Notwendigkeit wachsender Typisierung der Einzelwesen unter immer weiter umfassender überindividueller Funktion zugesprochen. Wenn als Organ der in Entfaltung begriffenen polytypen Individuation das Gehirn des Menschen gilt und von der funktionellen Durchbildung der Gehirne der Bestand eines Volkes und einer Rasse abhängig gemacht wird, so soll damit nicht gesagt sein, daß erst die Anatomie der Großhirnrinde über den Typus eines Dichters Aufschluß geben könne. Aber wohl wird der biologische Grund der menschlichen Typenbildung in erbmäßigen Reaktionsbedingungen gesucht, „die der aktiv-bewußten Anpassung der Individuen

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erst ihre typische Richtung geben“. Hier ist ein Sprung gemacht von der grundlegenden Plasmogenese des tierischen Lebens zum entwickelten Menschen, der, wie man gesagt hat, ins Überbiologische hineinreicht. Zwar müssen wir uns daran gewöhnen, daß Wille, Geist, Bewußtsein und Seele durch den Naturalismus als idealistische Hypostatik verworfen und durch Ordnungsvorstellung, Reaktionsablauf des Organismus, Differenzierungsstufe der plasmatischen Individuation oder Anpassung des Erregungssystems an das lebendige Plasma ersetzt werden, aber wenn auch der einzelne Kulturmensch nur als ein ephemerer Funktionsexponent des überindividuellen Plasmalebens aufgefaßt wird, so bedeutet das persönliche Schaffen des einzelnen Dichters und das Entstehen des einzelnen Werkes doch eine Absonderung, deren psychologischer Vorgang durch eine Reihe von allgemeinen Faktoren bedingt sein kann. Wenn Geistesrichtung, Lebenshaltung und ethischer Charakter biologischen Sinn nur als ausgebildete nervöse Erregungssysteme erhalten, so müssen deren Ursachen gesucht werden. Wenn typische Familien-, Standes-, Stammes- und Volksreaktionen als Erbdispositionen erklärt werden, die unter aktiver Anpassung zur Funktion gelangen, so wäre diese Skala weiterzuführen zu rassischen Reaktionen, die in den Völkern sich auswirken. Werden nun aber die Probleme der Erbsubstanzen einer Spezialforschung überlassen, die sich abschließen darf, aber noch nicht abgeschlossen ist, so bleibt eine Lücke in bezug auf die rassische Individuation, die der biologischen Typenbildung zugrunde liegen müßte. Die Brücke zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist hier noch nicht geschlagen. Von beiden Seiten sind Versuche gemacht worden, etwa in der Konstitutionslehre Kretschmers, in der Integrationspsychologie Jaenschs, in der Claußschen Rassenpsychologie und in der stammeskundlichen Literaturgeschichte Nadlers, ohne daß der Versuch gelungen wäre, naturwissenschaftlich-biologische und geistesgeschichtliche Typen endgültig zur Deckung zu bringen. d) Rasse- und Schicksalstypen Schiller war von der Kulturkreislehre Herders, die im kurz vorausliegenden vierten Band der „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit“ auf die hellenische Kultur zurückblickte, nicht unberührt, aber ihm lag nicht daran, das Naive als ethnische Eigentümlichkeit des Griechentums zu erklären und ihm das Sentimentalische als Charakter der germanischen Kultur Nordeuropas

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gegenüberzustellen. Noch weniger dachte er daran, die sentimentalischen Züge, die er schließlich auch bei den Griechen finden mußte, als Einwirkung rassischer Fremdkörper zu erklären. Erst neuerdings ist man darauf gekommen, das Dionysische und das Apollinische, deren Zwiespalt Nietzsche im Griechentum erkannte, auf eine Kreuzung orientalischen und nordischen Blutes zurückzuführen und damit eine Typenbildung aus dem Raum zu begründen, die allerdings noch mit mancherlei ungeklärten Hypothesen arbeiten muß. Eine Zuteilung verschiedenartiger Dichtertypen an bestimmte Rassen, die bis zur restlosen Deckung von Rassentypus und Dichtertypus führen würde, ist durch die Verschiedenheit der Denk- und Ordnungsgrundsätze ebenso erschwert wie durch Zahlenverhältnis und Veränderlichkeit. Während alle psychologische Typenbildung sich aus dem Dualismus des relativierenden Vergleichs entwickelt, ist die physiologische Mannigfaltigkeit der Rassen von vornherein pluralistisch aufgebaut. Muß die Zahl der Idealtypen des Dichters für den Gebrauch gegensätzlicher Charakteristik möglichst gering gehalten werden, so bleibt die Zahl der Rassen, wenn man ihre Entfaltung seit Urzeiten und ihre Vermischung im Lauf der Jahrtausende in Rechnung zieht, kaum übersehbar. Dabei ist zu bemerken, daß die psychologische Typenbildung, obwohl sie von Raum und Zeit absieht, in räumlicher und zeitlicher Nachbarschaft die günstigsten Vergleichs- und Unterscheidungsmöglichkeiten findet, während die Typisierung der Rassen von den entferntesten Gegensätzen ihren Ausgang nehmen muß. Die primitivsten Rassenmerkmale, die zuerst ins Auge springen, sind die Farben von Haut, Haar und Auge. Nach ihnen trennen sich die Bevölkerungen der Erdteile. Bei den Europa bewohnenden weißen Rassen gelangt man weiter von Körperbau und Schädelmessung zu den charakteristischen Ausdrucksbewegungen, zum Seelenleben, zu den Künsten, zur Sprache und Literatur, Weltanschauung und Philosophie. An diesem letzten Punkt, der zur feinsten Differenzierung des Denkens einlädt, setzt die Strukturpsychologie ein und bedient sich der vergleichsweise gewonnenen Typen zur Ausdehnung ihres Bereichs auf immer ferner liegende Felder. Beide Bewegungen haben also eine entgegengesetzte Richtung: im einen Fall führen sie von der Ferne zur Einzelanalyse, im andern von der Nahbeobachtung zur Verallgemeinerung.

Die Begriffe liegen trotz unverkennbarer Analogien auf verschiedenen Ebenen, und es besteht die Gefahr, daß die einander entgegengesetzten Bewegungen aneinander vorbeigehen. Erstrebt die Rassenpsychologie |#f0526 : 502|

oder Psycho-Anthropologie, wie dieser neue, der Völkerpsychologie zur Seite gestellte Wissenschaftszweig genannt wird, zwischen geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Typisierung eine Einigung, so ist sie vorerst durch die räumliche Beschränkung auf europäische und vorderasiatische Typen in der Hälfte des Weges stehen geblieben. Sieht die psychologische Typisierung der menschlichen Anlagen, sobald sie auf geschichtliches Leben angewandt wird, eine ewige Wiederkehr gleicher Erscheinungen vor, oder wahrt sie zum mindesten den unveränderten seelischen Grundformen eine Unabhängigkeit von zeitlichen Einflüssen, so kann die Rassenforschung trotz der Neigung, in Erbgesetzen eine stetige Folge festzuhalten, doch nicht den zeitlichen und räumlichen Wandel ganz ausschalten. Diese Entwicklung ist beispielsweise ein Grundgedanke der biologischen Anpassungslehre Kolbenheyers. In jeder Rasse, in jedem Volk, jedem Stamm, ja sogar jeder Familie wird ein Nebeneinander verschiedener psychologischer Typen beim Einsatz der vergleichenden Methode zu beobachten sein; ja, eigentlich wird nur bei einer gewissen Verwandtschaft die Feststellung auseinandergehender Typen sich mühelos ergeben. Allerdings können sie nicht im gleichen Verhältnis vertreten sein. Die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel bedeuten z. B. geradezu Gegenpole der Frühromantik; einig sind sie darin, daß beide nicht eigentlich dem rein romantischen Typus, wie er durch Wackenroder und Friedrich von Hardenberg vertreten war, entsprachen. Wenn es auch kaum zur Alleinherrschaft eines bestimmten Typus in den genannten Gruppen kommen wird, da ihre Analyse um so mehr zur Differenzierung einlädt, je einheitlicher sie dem äußeren Blick erscheinen, so kann doch auch kein Gleichgewicht ihres gegenseitigen Verhältnisses zu allen Zeiten bestehen. Nicht die Einheitlichkeit, sondern das Übergewicht eines bestimmten Typus wird charakteristisch sein für die Eigenart einer Familie, einer Stadtbevölkerung, eines Standes, eines Stammes, ja sogar eines Volkes oder einer Rasse. Besondere Typen bilden sich heraus im Bereich des Witzes, der seit alters an bestimmte Ortschaften, wie Abdera oder Schilda, sich heftet und in der Anwendung auf bestimmte Stämme, Völker und Rassen zur Karikatur wird. Die einseitige Festlegung des Geistes eines Stammes oder Volkes auf einen ausgesprochenen Typus pflegt zur Verfälschung zu führen, und die Mannigfaltigkeit der Dichtung als Ausdruck des Volksgeistes ist der sicherste Prüfstein des wahren Verhältnisses. Zweifellos haben unter den Franzosen die |#f0527 : 503|

Rationalisten das Übergewicht, und Voltaire war der typische Franzose seines Zeitalters. Gleichwohl hat dieses Volk unter seinen Dichtern klassische Menschen wie Racine, Romantiker wie Rousseau, Victor Hugo und Verlaine gesehen. Wenn wiederum in französischem Licht jeder deutsche Dichter als mehr oder weniger romantisch aufgefaßt wird, so ist eine subjektive Verallgemeinerung aus dem Bewußtsein der Gegensätzlichkeit hervorgegangen. Dagegen ist nicht zu verkennen, daß gerade Denker deutscher Herkunft wie die Enzyklopädisten Holbach und Grimm im französischen Geistesleben eine antiromantische, materialistische und naturalistische Richtung vertreten haben. Deutscherseits hinwiederum hat man rationale Strömungnen allzugern auf fremde Einflüsse zurückgeführt. Das Berlin Friedrichs des Großen hat das Gepräge der nüchternsten Aufklärung, wie sie bei Friedrich Nicolai und seinem Kreis vertreten war. Soll das auf den Einfluß der herbeigeholten französischen Philosophen oder auf den Anteil, den die angesessene französische Kolonie an der Zusammensetzung des Berlinertums hatte, beruhen? Beides ist möglich; im zweiten Fall würde die kalvinistische Religiosität mitspielen. Gleichwohl lagen in derselben Stadt und zur selben Zeit die frühen Romantiker Tieck und Wackenroder in der Wiege, von denen der erste sich aus dem Nicolaischen Aufklärertum befreien mußte, um in seinen letzten Novellen wieder in den Realismus zurückzufallen. Unter den Vertretern der späteren Berliner Romantik finden sich wiederum französische Namen wie Friedrich de la Motte Fouqué und Adalbert Chamisso, deren Familien man auf normannischen Ursprung zurückführen kann. Die folgende Generation der französischen Kolonie aber hat sich mit Willibald Alexis und Theodor Fontane dem Realismus zugewandt. In der bretonischen Refugiéfamilie Harenc, der der erste angehörte, kann man nordisches Blut vermuten, aber der Ursprung des zweiten führt nach Gascogne und Cevennen. In der Heimat Hamanns und Herders hat man wiederum das Ursprungsgebiet der deutschen Romantik erblicken wollen. In der Tat gibt der Königsberger Freundeskreis der musikalischen Kürbishütte im 17. Jahrhundert mit seinem Kult des Todesgedankens bereits einen Vorklang. Und doch hat von dort der Erzrationalist Gottsched seinen Ausgang genommen und nach ihm der Philosoph der deutschen Klassik, Immanuel Kant. Auf die Naturalisten Arno Holz, Max Halbe und Hermann Sudermann sind wiederum in unserer Zeit die Romantiker Agnes Miegel und Ernst Wiechert, sowie der Expressionist Alfred Brust gefolgt. Alle sind Kinder desselben Landes, aber |#f0528 : 504|

verschiedener Zeiten. Es ist zu sehen, daß bei unverkennbarem Festhalten an gewissen Zügen der Stammeseigentümlichkeit sich innerhalb desselben Raumes ein zeitlicher Wandel der Richtungen und ein Wechsel der Typen vollzieht, wie er sogar innerhalb der Erbfolge einer Familie zu beobachten ist. Phänotype Wandlungen verwischen das Bild der rassischen Einheit, soweit von einer solchen überhaupt die Rede sein kann. Man ist zwar versucht, das räumliche Nebeneinander verschiedener Typen auf genotype Unterschiede zurückzuführen, die nach Mendelscher Erblehre auch in derselben Sippe mit sprunghafter Wiederkehr wechseln können. Aber bei aller Anziehungskraft, die begreiflicherweise die junge Rassenforschung auf jugendliche Literarhistoriker ausübt, ist vor blindem Übereifer in rassischer Analyse von Dichtungen zu warnen. Die Rassenforschung ist zu ernst und gewichtig, als daß sie zum Kinderspielzeug oder zur unverstandenen Formel für Zauberlehrlinge werden darf. In ihren eigenen kritischen Auseinandersetzungen ist oft genug betont worden, daß man, mit den bekannten volkstümlichen Darstellungen bewaffnet, noch kein Rassenforscher ist. Wenn etwa, wie es geschehen ist, das Fragmentarische bei Kleist und Hölderlin als Ausdruck einer bestimmten Artgesetzlichkeit der nordischen Seele erkannt werden soll, während Kleists Sehnsucht nach Verstandenwerden ostische Stilgesetzlichkeit verrate (sind deshalb seine meisten Werke vollendet?), so mag bei solchen Folgerungen aus ihren Lehren den Urhebern vielleicht selbst nicht ganz wohl sein. Auch wenn die deutsche Dichtung keine Erscheinung von der üppigen Fruchtbarkeit eines Lope de Vega aufweist und das Fragmentarische (bei Lessing, Goethe, Schiller, Grillparzer, Hebbel) häufiger zu finden ist als bei den Klassikern anderer Nationen, so zerbrach doch Kleists und Hölderlins Schaffen unter einem besonders tragischen Schicksal, an dessen Immanenz man glauben kann, das auch für typisch deutsch gehalten werden darf, das aber auf ein von geschichtlichen Einwirkungen unberührtes rassisches Erbteil nicht zurückzuführen ist. Noch weniger kann man mitgehen, wenn sogar ganze geistige Bewegungen, die räumlich nicht begrenzt sind, ausschließlich aus rassischen Ursachen erklärt werden sollen. Da wird z. B. in jugendlichem Überschwang der deutsche Sturm und Drang als das Werk zweier Rassen, der dinarischen und ostbaltischen, erklärt mit dem Ergebnis, den Ostbalten (Hamann, Herder, Lenz) bleibe die Wiederentdeckung der wachstümlichen Bereiche, der magischen Mächte und grotesk-realistischen Möglichkeiten im Dichten vorbehalten, den Dinariern (Klinger, Schiller) der große leidenschaftliche Kerl, der mit

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hymnischer Rhetorik die theatralische Gebärde gegen Menschen, Schicksal und Himmel richte. So sind zwei Typen der Stürmer und Dränger nach Stämmen und Landschaften geteilt. Wird damit die früher aufgestellte Hypothese verbunden, daß der ganze Barockstil seine Entstehungen der dinarischen Rasse verdanke, so käme man zu dem Schluß, daß der eine Teil des Sturm und Drang nichts anderes als wiederauflebender Barock sei, wobei der gleiche Rassetypus sich durchgesetzt habe. Beide Richtungen, zwischen denen einzelne verwandte Züge zu erkennen sind, müßten also in denselben Gegenden ihre Stammgebiete haben. Aber gerade in Bayern und Österreich, wo die meisten dinarischen Menschen zu finden sind und der Barockstil in Blüte stand, gab es keinen Sturm und Drang, der sich gegen die josephinische Aufklärung erhoben hätte. Vielmehr herrschten die Aufklärer nach Überwindung des Barock auf lange hinaus und wurden erst im neuen Jahrhundert durch die Romantiker verdrängt. Dann erst kam zur Zeit Grillparzers als Synthese von Aufklärung und Romantik eine österreichische Klassik zustande, die durch den Namen „Biedermeier“ keine Herabsetzung erfahren soll. Was soll man aber dazu sagen, daß in Schillers Jugendwerken die dinarische Geistigkeit dominiere, während in den Werken der Reife mehr nordische Formen hervortreten, und daß Goethe, der als vorwiegend dinarisch und ostisch mit nordischen Einschlägen erklärt wird, nur gerade in dem Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 von seinem Dinariertum Gebrauch machte und es vorher wie späterhin verleugnete? Von der ganzen Hypothese bliebe, wenn wirklich ein dinarisches Rassenerbteil für Goethe bestimmend wäre, nur eine umstürzlerische Haltung in der Jugend übrig; aber dem steht gegenüber, daß schon der junge Goethe eigentlich der gemäßigteste unter den Sturm- und Dranggenossen gewesen ist und manche Züge des werdenden Klassikers vorausahnen ließ. Dasselbe gilt von Schiller, der sogar wegen seiner philosophischen Haltung von der Sturm- und Drang-Generation abgerückt wurde. An solchem Beispiel wird augenscheinlich, daß auch der einzelne Dichtertypus zeitlichen Veränderungen ausgesetzt ist. Lebensalterstil (das ist der Sturm und Drang) und Rasse- oder Stammesstil kreuzen sich in Zeit und Raum. Die Erkenntnis, daß die geniale Persönlichkeit nicht durch Unterordnung unter einen bestimmten Typus erschöpfend charakterisiert werden kann, findet wie bei Shakespeare, so auch bei Goethe Bestätigung. Der junge Goethe als Stürmer und Dränger, der Klassiker Goethe und der verjüngte Greis, der mit der romantischen Generation |#f0530 : 506|

zusammentrifft und an ihr Anteil nimmt, stehen nebeneinander als drei Typen. Sie können gegeneinander ausgespielt werden, wie es in Weitbrechts „Diesseits von Weimar“ geschah. Es besteht ein Wettstreit, wem mehr Verehrung zu erweisen sei, ungefähr wie bei drei verschiedenen Madonnenbildern, die im Volksglauben durch ihren Standort individualisiert sind. Für den Stürmer und Dränger ist der oberrheinische Raum Umwelt und Schauplatz seines Wirkens, für den Klassiker Italien, für den Weimaraner Weltbewohner das Universum. In Ausweitung des Lebensraumes und zeitlichem Reifen entfaltet sich eine Persönlichkeit, die die verschiedensten Typen, Weltanschauungen und Stilarten umfaßt und mit den Mitteln psychologischer Analyse kaum zu erfassen ist. In der zeitlichen Gemeinschaft der Generation können ebenso wie in der Gemeinschaft des Raumes verschiedene Typen nebeneinanderstehen. Das Auftreten einer neuen Jugendgemeinschaft pflegt immer als Auflehnung gegen den bisher herrschenden Typus und als dessen Ablösung zu erscheinen. Ein bestimmter Typus, der vorher unterdrückt war, ergreift die Führung; hinter ihm tritt der andere, der bisher die Führung hatte, zurück und bleibt entweder verspäteter Vertreter einer überlebten Geisteshaltung oder verkündigt als verfrühter Vorbote das Kommende; ein dritter Typus aber, den man den umgelenkten nennen kann, leistet entgegen seiner ursprünglichen Anlage dem führenden Typus Gefolgschaft und paßt sich ihm an, während er vielleicht in der folgenden Generation zur selbständigen Opposition oder sogar zur Führung gelangen würde. So findet jeder Typus in der Erbanlage seine Vorbestimmung, aber in der Zeitlage sein Schicksal. Das Nebeneinander entgegengesetzter Typen innerhalb der Dichtung eines Volkes kann in einem bestimmten Zeitpunkt als Doppelgipfel zweier gleichwertiger Größen emporsteigen, und nach Jahrhunderten wiederholt sich dieser Gegensatz in gleicher Weise. So taucht der nicht nur im Ständischen und Stammhaften begründete Antagonismus zwischen Wolfram v. Eschenbach und Gottfried von Straßburg in Grimmelshausen und Philipp von Zesen, in Haller und Hagedorn, in Klopstock und Wieland, in Hebbel und Stifter wieder auf. Die Gegensätze solcher in Raum und Zeit zum Zusammenstoß kommenden Paare lassen die Spannweite erkennen, die im deutschen Charakter und im Typus des deutschen Dichters gegeben ist. Auch Goethe und Schiller kamen sich beim ersten Zusammentreffen geradezu als Gegenfüßler vor, als seien sie, wie Goethe sagte, „durch mehr als einen Erddiameter getrennt“; Erfahrung und Idee waren die |#f0531 : 507|

Parolen der Auseinandersetzung; Realist und Idealist schienen zunächst, wie noch die Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ ahnen läßt, unversöhnlich einander gegenüber zu stehen. Wie zwischen den Menschen aber, so ist auch zwischen den beiden Dichtern unter Überwindung der Gegensätze eine einzigartige Gemeinschaft zustande gekommen, und es bildete sich, mit Herz und Vernunft wie mit Einsicht und Willen herbeigeführt, der Typus des deutschen Klassikers heraus. Es wurde oben schon betont, wie verschieden die Anlagen waren. Aber durch Schicksalsfügungen wie die räumliche Begegnung in Thüringen, das zeitliche Zusammentreffen an der Jahrhundertwende, die gesellschaftliche Verknüpfung an Hof und Hochschule und durch geistige Einfügung in die Weltanschauung des deutschen Idealismus wird dieser Typus zur geschichtlichen Größe. Nicht nur mit Typenspaltung also, sondern auch mit Typenzusammenschluß haben wir es zu tun. Nicht anders hatte es Schiller selbst vorausgesehen, als er am 21. März 1796 an Wilhelm von Humboldt schrieb: „Man wird uns, wie ich in meinen mutvollsten Augenblicken mir verspreche, verschieden spezifizieren, aber unsere Arten einander nicht unterordnen, sondern unter einem höheren idealischen Gattungsbegriff einander koordinieren.“ Analyse und Synthese begegnen sich auch hier; die typenbildende Analyse als Mittel vergleichender Wesenserkenntnis muß auf Unterscheidung ausgehen, die Synthese als Mittel einer geschichtlichen Darstellung der Schicksalsgemeinschaft auf Zusammenschau und Zusammenspiel. Diese Einigung muß eintreten, sobald die in Einzelvergleichen gefundenen und bestätigten Typen in das Panorama von Raum und Zeit gesetzt werden, etwa wie einzelne Porträt- und Kostümstudien in ein großes historisches Gemälde. Der Analytiker gleicht dem Schauspieler, der eine Rolle psychologisch durchdringt und im Verhältnis zu seinem Gegenspieler zur Wirkung bringt; der Synthetiker ist dem Spielleiter zu vergleichen, der die einzelnen Rollen und Szenen zum Ganzen des dargestellten Dramas harmonisch zusammenfügt. Auch einem Epiker kann der synthetische Darsteller gleichgestellt werden, wenn er den einzelnen Typus, dessen Bild durch vergleichende Analyse gewonnen ist, zum Helden nimmt und seinen Werdegang durch Jahrhunderte verfolgt. So setzte Max Wieser in seinem Buch über den sentimentalen Menschen ohne Gegenüberstellung des naiven Gegenparts einem Typus der neueren Geistesgeschichte und ihres religiösen Lebens sein Denkmal; Bernhard Groethuysen tat in seiner Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Denkens dasselbe für den Bourgeois-Typus, und die Typen des Dandy |#f0532 : 508|

oder des Zerrissenen wurden gleichfalls in eigenen Kapiteln der Soziologie als typische Zeiterscheinungen behandelt. Ebenso hat Paul Hoffmann auf Grund einer Analyse des Mönches Notker den deutschen Menschen des Mittelalters als Zeittypus zu entwickeln gesucht. Das Bemühen, den deutschen Menschen überhaupt als Typus im europäischen Raum zu erfassen, geht noch weiter. Schon Arthur Moeller van den Bruck hat in seinen, unter dem Titel „Die Deutschen“ zusammengefaßten Essaysammlungen aus den Gruppen der verirrten, führenden, verschwärmten, gestaltenden, scheiternden, entscheidenden Deutschen, deren typische Schicksale er zusammenstellt, einen Beitrag zum Gesamtbild des deutschen Menschen gewinnen wollen. Aber alle diese Monographien, seien sie von psychologischer, geistesgeschichtlicher oder kulturgeschichtlicher Einstellung, vermögen vom Einzelnen nicht zum Ganzen zu führen. Indem sie dichterische Selbstzeugnisse und Selbstgestaltungen neben Bekenntnissen und Handlungen anderer Art als Schlüssel benutzen, um in menschliche Wesensformen einzudringen, lassen sie die künstlerische Entfaltung der Dichtung unbeachtet; sie benutzen literarhistorisches Material, aber in ihrer Zielsetzung entfernen sie sich von der Literaturgeschichte. Selbst wenn sie dazu beitragen, bestimmte Dichtertypen zu analysieren, führen sie zu Spielarten der Dichtkunst hin, aber nicht zum Ganzen der Dichtung.

3. D i c h t u n g u n d D i c h t k u n s t a) Unterscheidung Indem wir die Abstraktion „Dichtkunst“, der sowohl die Gattungen als die Dichtertypen unterzuordnen sind, neben die konkretere Tatsache der „Dichtung“ stellen, nehmen wir aufs neue den Unterschied zwischen Analyse und Synthese auf. D i c h t u n g ist immer ein Gewordenes, ein synthetisches Ganzes, sei es, daß sie als künstliche Schöpfung der Wahrheit gegenübergestellt wird wie im Titel von Goethes Lebensbeschreibung oder der Geschichte, von deren Überlieferung sie sich befreit, oder den Lebensproblemen, die in ihr Gestaltung fanden, oder endlich der Wissenschaft, zu deren Forschungsgegenstand sie gemacht werden kann. Wir sprechen von der Dichtung Nürnbergs oder Berlins, von der elisabethanischen oder victorianischen, von der des jungen Deutschland oder des Biedermeier, von höfischer oder bürgerlicher, von japanischer oder amerikanischer, von der der Gegenreformation, des |#f0533 : 509|

Pietismus oder des Nationalsozialismus. Immer handelt es sich um Gehalt, Gesinnung und Bewegung einer Gemeinschaft, die in der Dichtung Ausdruck findet. Die räumliche, zeitliche, gesellschaftliche oder weltanschauliche und geistesgeschichtliche Bestimmung weist jeder dieser Erscheinungen einen Platz im Aufbau eines noch größeren Ganzen, nämlich der Dichtung einer Nation oder eines Zeitalters, an. Dagegen kann von der D i c h t k u n s t der Nürnberger Pegnitzschäfer oder des Göttinger Hains, der Skalden oder der Minnesänger, der Neulateiner oder der Jesuiten, des Irrationalismus oder des Naturalismus auch bei zeitlicher Festlegung vorwiegend im Sinne einer analysierenden Charakteristik der Form, des Technischen und Stilistischen die Rede sein. Gehalt und Gesinnung spielen dabei eine geringere Rolle. Je enger allerdings Weltanschauung und Stil zusammenhängen, desto eher kann man Dichtung und Dichtkunst in Beziehung setzen, und in zeitlich bestimmten Begriffen wie Renaissance, Klassik, Romantik fallen die Erscheinungen beinahe zusammen. Man kann Dichtung und Dichtkunst in gegenseitiger Annäherung aufsteigen lassen zum Treffpunkt des Geistes, so wie im ersten Teil (S. 111) für das einzelne Dichtwerk eine Begriffspyramide von den Grundlagen des Stoffes und der Form bis zum Zusammentreffen in der Idee emporgeführt wurde. Wie dort, so würden hier auf der einen Seite, auf der der Dichtung, alle Qualitäten des Gehaltes, auf der anderen, der Dichtkunst, alle Formbegriffe, aber auch die der Gattung liegen. Aber ohne die Wechselbeziehung können, für sich betrachtet, die Elemente der Dichtkunst keine Bausteine der Synthese bedeuten, weil es an Substanz fehlt. Wie in der Mittelsäule jenes Schemas hat man auch hier einen tragenden Pfeiler anzunehmen im Volkskörper und seinem Erleben. An den Platz, der dort dem Dichter zugedacht ist, wäre hier die Nation zu setzen, die in den verschiedenen Typen ihrer Dichter repräsentiert ist. Dichtung besagt durchweg einen Sammelbegriff, der auf ein einzelnes Werk eigentlich nur bei wahrhaft allumfassender Bedeutung, wenn es den Geist einer Nation oder eines Zeitalters repräsentiert, anzuwenden ist; Dichtkunst bezeichnet eine Leistungsfähigkeit, kraft deren schon ein kleineres Meisterstück Anerkennung finden kann. Dichtung erscheint immer als etwas Hervorgebrachtes, Dichtkunst als ein Vermögen hervorzubringen. Was in der Dichtung als unbegreiflicher Vorgang innerer Notwendigkeit, unter deren Zwang nicht nur der Einzelne, sondern die Gemeinschaft steht, sich vollzogen hat, wirkt bei der Dichtkunst als ein mehr oder weniger bewußtes Können, |#f0534 : 510|

nicht als Müssen. Gleichwohl ist Können und Müssen ein Spiel und Müssen ohne Können ein Trauerspiel. Dichtung setzt immer Dichtkunst voraus, und deren Anwendung ist wiederum dem Gebot der Dichtung unterworfen, so daß auf dem ganzen Wege eine Wechselwirkung zu erkennen ist, die durch das Gemeinschaftserlebnis in Zusammenhang und durch die Kritik in Fluß gehalten wird. Beides sind Wertbegriffe, die im einen Fall durch das ausdruckgebende Schöpfertum, sei es eines einzelnen Dichters, sei es einer Stadtkultur, eines Freundeskreises, einer Gesellschaftsschicht, eines Volkes Bedeutung gewinnen, im anderen Fall durch die Ausdrucksmöglichkeit überhaupt, die besonders im Verhältnis zu anderen Künsten sich auszeichnet. Auch bei der Dichtkunst kann die Frage nach Urheber und Vervollkommner aufgeworfen werden, aber die Antwort führt weder auf eine individuelle Persönlichkeit noch auf das Ganze, sondern auf einen Typus des Künstlers, der sich als Dichter von dem Typus des Malers, des Bildhauers, des Tonsetzers, des Baumeisters, des Schauspielers unterscheidet. Die Frage mündet also in die psychologische Typenlehre, auch insofern, als Doppelanlagen in den Gattungen und Arten der Dichtkunst Gestalt werden, sobald deren sprachliche Ausdrucksmittel musikalische, malerische, plastische, rhythmische, schauspielerische Werte fördern. Man darf also sagen, daß die Dichtung, gleichviel welchen Umfang wir ihr geben, einem bestimmten Charakter, die Dichtkunst einem bestimmten Typus Ausdruck verleiht. Beide Reihen streben einander zu und treffen erst in der Spitze zusammen als Vereinigung des menschlichen Charakters und des künstlerischen Typus in edelster Gestalt. Ist nach Schiller der Dichter allein der wahre Mensch, so ist in der Dichtung der wahrste Gehalt reiner Menschlichkeit und in der Dichtkunst ihre wahrste und reinste Form zu finden. b) Überblick über die Dichtung Der Weg der ersten beiden Bücher, der in der Reihenfolge von Sammlung, Kritik, Gliederung, Deutung zu Werk und Dichter hinführte, braucht im Blick auf das Ganze der Dichtung nicht einmal von vorne anzufangen; die ersten beiden Stufen bleiben erspart, denn gesammelt werden können nur Werke, und kritisiert werden Dichter. Die vollständige S a m m l u n g aller Dichtung, etwa alles dessen, was in den verschiedensten Sprachen der Erde jemals rhythmisch gewogen oder gereimt wurde, was der Einbildungskraft entsprang oder die Phantasie erregte, wäre eine unübersehbare und unermeßliche |#f0535 : 511|

Masse von gesprochener, gesungener oder geschriebener und schließlich gedruckter Überlieferung. Keine Bücherei der Welt wäre groß genug, auch nur den tausendsten Teil des im Laufe von Jahrtausenden Fabulierten und Versifizierten, soweit es erhalten ist, aufzunehmen, geschweige denn, daß es als Rohstoff der Wissenschaft jemals von einem Einzelnen oder sogar von dem organisierten Aufgebot der Gesamtheit zu registrieren, zu durchdringen, zu beherrschen oder gar darzustellen wäre. Wenn in der modernen Naturwissenschaft die Theorie eines wachsenden Universums aufgestellt worden ist, so steht für das All der Dichtung diese unendliche Expansion außer Zweifel. Um so weniger ist es möglich, diese geistige Welt als Summe einzelner Teile zu erfassen. Es wäre ein ebenso unmögliches als wertloses Unterfangen. Jede Sammlung setzt Sichtung, Zusammenziehung, Umwechselung der Scheidemünzen in Gold oder große Schatzanweisungen voraus. Von der Unsumme muß zu den Werten fortgeschritten werden, von der Q u a n t i t ä t zur Q u a l i t ä t . Diese Umwandlung der Zahl in den Wert liegt bereits hinter uns durch die jahrhundertelange Tätigkeit einer teils unbewußten, teils bewußten K r i t i k , die auf dem Dreschboden des Geschmacks die echte Dichtkunst und die charakteristische Literatur von der wesenlosen Spreu abgesondert hat. Es gilt das Gleichnis vom Sämann. Was sich nicht als fruchtbar erwiesen hat, bleibt tot. Was verbrannt, verdorrt, verfault oder vom Winde verweht ist, kann nicht wieder aufgelesen werden. Was aber standhielt, bedarf der Pflege und muß vor Unkraut und Entartung bewahrt werden; die Befreiung von Entstellungen und die Wiederherstellung der echten Form ist Sache der wissenschaftlichen Kritik. Ist diese Arbeit an den einzelnen Werken getan, so bleibt noch immer eine unübersehbare Masse, die der G l i e d e r u n g bedarf und einer ordnenden Erkenntnis der Zusammenhänge zu unterwerfen ist. Gliederung bedeutet nicht eine Übersicht, die aus der Zusammenstellung formaler Gleichheiten übereinstimmender Motive oder gleichartiger Typen zu gewinnen ist, sondern einen alle Gegensätze und Spannungen berücksichtigenden Aufriß des Organischen nach seinen Entstehungsbedingungen. Wir gelangen damit zur Kategorie der R elatio n . Die scheinbar äußerlichste, ohne weiteres gegebene und den Sinnen erkennbare Einteilung liegt in der Sprache, die ein vom Dichter in Höchstleistung verfeinertes und verstärktes Gut der Allgemeinheit ist. Das Instrument, aus dem er Töne hervorzaubert, die nur ihm eigen zu sein scheinen, ist entlehnt. Als ein Pfund, mit dem er zu wuchern |#f0536 : 512|

hat, stellt es einen Besitz der Gemeinschaft dar. Aber nur einer bestimmten Gemeinschaft, die in räumlichem Zusammenschluß lebt. Es handelt sich hier nicht um die Idee der Sprache, um die Sprache an sich, deren geheimnisvolle Schöpfer- und Bildkraft imstande ist, unerhörte Schätze an Erkenntnissen zu vermitteln und dauerndem Leben zu überliefern. Diese allgemeine Sprachkraft als göttliche Gabe ist das unteilbare Substrat der Dichtkunst. Anders steht es um das Verhältnis der greifbaren Dichtung zu ihrer Sprache, deren Geltungsbereich begrenzt ist. Der Boden, in dem die Dichtung wurzelt und aus dem sie ihre Kraft zieht, ist kein ungeteiltes Ganzes, sondern eine umgrenzte Allmende, neben der noch andere Äcker liegen. Mag es auch ursprünglich ein einheitliches Feld gewesen sein, so ist es jetzt in Umzäunung auseinandergerissen in Gebiete, die durch die Art ihres Anbaus Eigentümlichkeit gewonnen haben. Ungezählte Sprachen sind nach Schrift- und Klangbild wie nach Bau und Sinngebung unterschieden. Zwischen ihnen besteht die räumliche Trennung der Sprachgrenzen, die in Wanderungen und Kreuzungen der Rassen und Stämme, durch Besiedlung des Bodens und durch seine Kultur, im Wechsel der Besitznehmer, im politischen Zusammenschluß oder Wettbewerb der Völker, unter wirtschaftlicher und kultureller Ausstrahlung der Städte und auf den Wegen des Handels und Verkehrs im großen wie im kleinen Umfang sich herausgebildet haben. Ein menschlicher Urbestand wirkt noch im Charakter jedes Volkes und jeder Landschaft nach, und dieser Volkscharakter mit allen Schicksalen, die ihn im Laufe der Zeiten geformt haben, prägt sich in der Mundart wie in der Schriftsprache aus. Die Raumbegriffe der Rasse, des Volkes, des Stammes, der Landschaft wirken sowohl als unmittelbares im Volkskörper sich fortpflanzendes Charaktererbteil wie als mittelbar an die Sprache gebundene Ausdrucksform auf die Dichtung ein. Und wurzelechte Dichtung selbst trägt zur Wahrung der Eigenart bei. Wenn nun der räumliche Bestand durch schicksalsmäßige zeitliche Einwirkungen verändert wird, so geschieht dasselbe mittelbar durch die Sprache, die in ihrer Geschichte alle großen Erlebnisse der Gemeinschaft aufbewahrt hat, wie unmittelbar durch das Zeiterleben, unter dessen Eindruck die Dichtung steht. Die Dichtung aber ist nicht nur der örtliche Seismograph jedes erschütternden Geschehens und der Zeitweiser, der erkennen läßt, was die Stunde geschlagen hat; sie gleicht einem astromonischen Uhrwerk, das in Weltweite den Stand der Gestirne anzeigt. Sie treibt, wie es Schillers Gleichnis für die Wirkung der Freude war, als starke Feder die Räder der großen |#f0537 : 513|

Weltenuhr. Bei allen zeitlichen Wandlungen besteht das Verhältnis zwischen Sprache und Dichtung keineswegs nur darin, daß alle Veränderungen der Umgangssprache auch in den sprachlichen Formen der Dichtung sich auswirken. In Wahrheit sendet die sprachschöpferische Dichtung Leuchtraketen aus, die den Vormarsch in ein zu eroberndes Neuland vorbereiten. Nur so lange Dichtung in lebendigem Werden begriffen ist, zeigt sich auch die Sprache unverbraucht und zeugungsfähig; es entstehen kühne Neubildungen in Wörtern und Bildern, die einer Weitung des Raumes und Horizontes, einer Umgestaltung des Weltbildes, einer veränderten Seelenlage, politischen Schicksalen, gesellschaftlicher Umschichtung, religiösen Sehnsüchten und Gemeinschaftserlebnissen wie jeder inneren Erneuerung Rechnung tragen und Ausdruck verleihen. Herders These, daß Dichtung die älteste Sprache des Menschengeschlechtes sei, scheint gestützt zu werden durch die Tatsache, daß in den ältesten Kultursprachen die Überlieferung religiöser, philosophischer, rechtlicher Urkunden an dichterische Form gebunden zu sein pflegt. Diese Prägung hat nicht allein ihre Erhaltung bestimmt, sondern auch entscheidende Wirkung auf den Fortgang der Sprache ausgeübt. In der neueren Zeit aber wiederholt sich eine gleichartige Erscheinung, wenn an der Spitze der italienischen Sprachbewegung kein anderer steht als der Dichter Dante, dessen Name zugleich Sinnbild der nationalen Einigung wurde. Wiederum hat sich in Deutschland die schon vor Luther auftretende Einigungstendenz der hochdeutschen Schriftsprache erst in der klassischen Dichtung voll erfüllt, und damit wurde die Grundlage zur nationalen Erneuerung geschaffen. Allerdings ist solcher Fortgang nicht allein als raumgebunden zu betrachten. Es treten Wechselwirkungen im Wettbewerb benachbarter Sprachen auf, und es sind zeitweilige Einungsbestrebungen, die über die Sprachgrenzen hinausreichen, in Gang gekommen. So wurde auf die Sprachen des Altertums zurückgegriffen. So haben die Kirche des Mittelalters und die Renaissancebewegung des Humanismus das Latein als Einheitssprache der Gelehrten und Gebildeten über die Volkssprachen zu setzen versucht, ohne daß die Dichtung dauernden Gewinn hatte. Die zeitweilige Einigung gelang dank zeitlicher Strömungen, die den Raum durchquerend getragen waren von gesellschaftlichen Schichten wie Geistlichkeit und Gelehrten. Auch die zeitweilige Vorherrschaft einzelner lebender Sprachen hat sich auf bestimmte Gesellschaftsschichten beschränkt wie die des Spanischen, später des Französischen, auf Hof, Adel, Diplomatie oder die des Englischen, |#f0538 : 514|

früher des Italienischen, auf den Handel. Eine einheitliche Dichtersprache, wie sie für den Humanismus im Latein gegeben war, gibt es heute nicht mehr. Und alle esperantistischen Bemühungen, die mit Übersetzungen begannen, ohne ein wirkliches Publikum zu finden, konnten keine Eigenschöpfungen nach sich ziehen, weil der eigentliche Lebensgrund der Sprache, der in einem Volkstum liegen muß, fehlt. Jacob Grimm sprach im Hinblick auf die neulateinische Dichtung von dem fehlenden calor vitalis, der Lebenswärme. Gegen rationale Vorherrschaft dieser Art, sei es, daß sie auf Kunstfertigkeit, Gelehrtendünkel oder Zweckmäßigkeit begründet war, hat sich in regelmäßigem Rhythmus die immer wieder notwendige Gegenbewegung entwickelt, durch die in Überwindung der gesellschaftlichen Unterschiede und Bildungsschichten die volkhafte Einheit raumfüllend auch in Sprache und Dichtung sich wiederherstellte. Sprachliche Einheitsbewegungen, die unter Führung der Dichter stehen und auf das Volkstum sich gründen, sind allgemeine Erscheinungen; sie sind aber nicht nur auf den Lebensraum eines Volkes beschränkt, sondern haben seit Renaissance und Reformation alle Nationen Mittel- und Westeuropas und schließlich auch Osteuropas ergriffen in ungleicher Intensität und zu verschiedenen Zeitpunkten, aber doch nicht so, daß das Nacheinander lediglich als Einwirkung des einen Vorbildes auf die anderen sich erklären ließe. Vielmehr scheinen sie alle einem inneren Gesetz zu folgen, das auf einer bestimmten Entwicklungsstufe sich geltend macht, sobald die allgemeine Strömung diesen Punkt erreicht. Geistige Bewegungen und nationale Zielsetzungen solcher Art durchmessen einen größeren Raum als den einer einzelnen Sprache und eines Volkes. Zwar bestehen Grenzen, wie sie zunächst einmal durch die europäische Kulturgemeinschaft gegeben sind, die Räume zusammenschließt in gleichartigem zeitlichem Erleben, aber innerhalb der räumlichen Einheiten wirken Bewegungen, die weder im Raum selbst ihren Ursprung haben noch sich auf diesen beschränken. Das Sprachleben, das einen Volksraum füllt, wird durch die Einwirkung internationaler Bewegungen zeitlich gegliedert. Ebenso entwickelt die zeitliche Bewegung, deren Auswirkung in jedem Lande durch Lage, Nachbarschaft und gesellschaftliche Schichtung bestimmt ist, ihre räumliche Eigenart. Jede Kulturerscheinung verdankt somit ihren geschichtlichen Ort einer Wechselwirkung von Beharrlichkeit und Fortschritt in Raum und Zeit. Sind die Sprachgrenzen ziemlich unveränderlich festgelegt im begrenzten Raum, so ist die Zeit an sich unbegrenzt, und die Marksteine ihrer Gliederung werden willkürlich |#f0539 : 515|

festgestellt und wissenschaftlich umstritten. Man kann beispielsweise die Romantik als eine auf den Neuplatonismus zurückgehende, im 18. Jahrhundert in Italien wiederauflebende und von England aus nach Deutschland übertragene Bewegung des Irrationalismus betrachten; man kann sie als eine deutsche Bewegung auffassen, die von dem Ostraum ihren Ausgang nimmt; man kann sie in dem Zeitraum einer oder mehrerer Generationen wirksam sehen; man kann sie gesellschaftlich mit den Umwälzungen der französischen Revolution in Zusammenhang bringen oder politisch als Gegenbewegung dazu betrachten. Man kann sie wie in der Dichtung in Musik, Malerei und Baukunst, aber auch in Philosophie, Geschichtsauffassung, Naturwissenschaft und Medizin ungefähr gleichzeitig vertreten sehen. Endlich bleibt es doch eine ideelle Geistesrichtung und eine ausgesprochene Form des Denkens und Fühlens, die räumlich, zeitlich und gesellschaftlich verschieden in Erscheinung treten. Das Zeiterleben ist ein gemeinschaftliches Schicksal, das die Altersgenossen um so mehr verbindet, je enger sie im Raum vereinigt sind. Jede Altersstufe nimmt die Ereignisse ihrer Zeit mit einer gleichartigen ihr eigenen Empfänglichkeit auf, die anders beschaffen ist als die der Vorgänger oder der jüngeren Nachfolger. Dadurch wird sie zur Einheit einer G e n e r a t i o n verschmolzen. Ein Begriff, der ursprünglich der Erbfolge einer Familie entstammt, wird auf eine schicksalsbedingte Gruppenbildung im Volkskörper übertragen, die auch bei anderen Völkern ihre gleichzeitige Entsprechung finden kann. Damit entsteht das eigentliche Zeitmaß geistesgeschichtlicher Entwicklung, das auch für die Entwicklung der Dichtung entscheidende Bedeutung hat. Jede Periode beginnt mit dem Auftreten einer neuen Generation; nicht jede Generation eröffnet eine neue Periode; wohl aber sind die Entwicklungsphasen jeder Periode durch Generationswechsel bedingt. Sind die Mächte des Lebens, die der Dichtung zum Dasein verhelfen, mit Raum und Zeit zu allgemein umschrieben, so gehört zur Umwelt, in der die Dichtung wächst, die G e s e l l s c h a f t als zeitlich bestimmtes Raumgebilde. Sie ist ein Teil des Volkes und damit dem Raum verhaftet, aber sie ist der veränderliche Teil des Volkes, der allmählich von einer Altersschicht zur anderen seine Zusammensetzung und seine Anschauungen wechselt, indem er sie mit gleichen Gesellschaftsschichten anderer Völker in Übereinstimmung zu bringen sucht. Was die Sprache für die räumliche und die Generationen für die zeitliche Ordnung bedeuten, sind die Stände für die gesellschaftliche. Es gibt verschiedene Gesellschaftsschichten innerhalb des

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Volkes, aber die wandelbarste ist immer die, die sich selbst als die „Gesellschaft“, nicht als das „Volk“ fühlt. Sie steht oft der gleichartigen Gesellschaftsschicht anderer Völker näher als der Ganzheit des eigenen; sie ist dem Neuen ergeben und holt es oft aus der Ferne; sie nimmt den Geschmack für sich in Anspruch und spielt Schicksal in der Zuteilung großer Erfolge; sie verkörpert die sogenannte öffentliche Meinung und bildet das tonangebende Publikum, das der Dichtung Wirkungsraum schafft; sie pflegt auf der Höhe ihrer Lebenskraft besondere gesellschaftliche Tugenden, die in dichterischen Charakteren zu Idealtypen der Vollendung sich steigern; sie gibt damit der Richtung des Schaffens Antriebe und Vorbilder bis zum Überdruß, der schließlich den Umschlag der Übertreibung zur Karikatur nach sich zieht. Wie der einzelne Dichter gesellschaftsfromm oder gesellschaftsfeindlich sein kann, so gibt es Zeiten ausgesprochener Gesellschaftsdichtung und solche, in denen das Neue in Einsamkeit sich vorbereitet. Die Dichtung ist bald Erzeugnis einer bestimmten Gesellschaftsschicht, bald Auflehnung gegen ihre Herrschaft und Ankündigung drohender Umwälzung. Daran hat auch der Gegensatz der Geschlechter seinen Anteil. Die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft, die Rolle, die sie sowohl als Gegenstand der Dichtung wie als empfängliches und geschmackbestimmendes Publikum wie als Schöpferin spielt, kann entscheidend sein, daß man von männlichen und weiblichen Perioden der Literaturgeschichte geredet hat. Selten ist die dichtende Frau eine isolierte Erscheinung. Die Frauenklöster, die eine Hrotsvith von Gandersheim und zwei Jahrhunderte später die großen Mystikerinnen beherbergten, waren zu ihrer Zeit Stätten einer gewissen Emanzipation. Die Römerin Vittoria Colonna und ihre französische Zeitgenossin Louise Labé waren Produkte der neuen weltlichen Renaissancebildung. Die deutschen Fürstinnen wie Elisabeth von Nassau-Zweibrücken und Eleonore von Vorderösterreich, die französische Volksbücher übersetzten, folgten einer höfischen Bildungstendenz, und die großen französischen Romanschreiberinnen des 17. Jahrhunderts wie Madeleine de Scudéry und Madame de Lafayette sind aus dem Salon der Marquise von Rambouillet hervorgegangen, wie die deutschen Romantikerinnen später in Jena, Berlin und Heidelberg ihre literarischen Kreise hatten. Jede Gesellschaft nimmt unter Anteil der Frauen besondere Gattungen der Dichtung in Pflege und begünstigt sie in dem Maße, daß mit Übergang der literarischen Führung an eine andere Gesellschaftsschicht auch das Übergewicht der Gattungen wechselt, wie oben (S. 469475) bereits gezeigt wurde. |#f0541 : 517|

Der Kunsthistoriker A. E. Brinckmann hat der Zeit die Stellung der Probleme, der Gesellschaft die Lieferung der Motive zugeschrieben. Um die Dreizahl zu vervollständigen, darf man die Sprache, den Stil und den Gehalt aus dem Raum herleiten. Aber nun fehlt noch ein viertes, das die drei so verstrickten Glieder zusammenhält. Wenn die drei Dimensionen der Gliederung nach Raum, Zeit und Gesellschaft in Sprache, Generation und Stand ihre greifbaren Symbole finden, so führt eine vierte übersinnliche Dimension zum G e i s t , der von Raum, Zeit und Gesellschaft bestimmt ist und doch in keinem dieser Bereiche seinen festgelegten Ort hat. Er kann weder sinnlich noch rational begriffen, sondern nur in seinem Wert erfüllt werden. Die Aufgabe der Gliederung nach der Kategorie der Relation wird abgelöst durch die weit schwerere der D e u t u n g und der Bestimmung der Modalität. Die ästhetische Deutung ist in Übereinstimmung zu bringen mit der Deutung des Sinnes der Dichtung überhaupt. Wie beim einzelnen Dichtwerk liegt in Deutung und Wertung das letzte und höchste Ziel. Der Geist der Dichtung, die in allen Formungen räumlich, zeitlich und gesellschaftlich bedingt ist, erhebt sich über die Grenzen und Abhängigkeiten der drei sinnlichen Dimensionen, sobald er nicht zu einem Volke allein in seiner Sprache spricht, sondern zur ganzen Menschheit, nicht zu einem Zeitalter, sondern zu Jahrtausenden, nicht zu einer Gesellschaft, sondern zur Gesamtheit aller Stände. Die Weltdichtung bedeutet schließlich eine große geistige Einheit, die dem Leben überhaupt, aus dem sie hervorgegangen ist, gegenübersteht. Heben sich aus der in ihren Grundlagen kaum übersehbaren Masse überragende Gipfel heraus, die sich gegenseitig grüßen, so sind sie die eigentlichen Repräsentanten der Dichtung. Aus ihrer Betrachtung ist aber zugleich der höchste Begriff der Dichtkunst zu gewinnen. Die großen Dichter erscheinen nach Wilhelm Diltheys Wort als „Seher der Menschheit“ und stellen eine Gemeinschaft dar, die hinausragt über die ursprungsgemäße Zugehörigkeit zu bestimmten Sprachen, die vielleicht nur noch in ihnen lebendig sind, zu Ländern, Zeiten und Völkern, die wir in ihnen suchen müssen, zu einer gesellschaftlichen Umwelt, die wir nicht mehr kennen. Nirgends wird das materialistische Schlagwort einer „histoire sans noms“ widersinniger als auf der höchsten Höhe, wo die Geschichte aufhört, wo der Geist sich personifiziert in der Dichtung und die Dichtung in ihren großen Schöpfern. Dies Reich, in dem die größten Dichter leben, ohne entwurzelt zu sein, ist nicht etwa das Reich der Schatten oder das Reich der Formen, |#f0542 : 518|

wie Schiller es nennen wollte und als Ideal suchte, sondern reale Wirklichkeit. Das unsterbliche Werk, in dem der Geist der Dichtung sich verkörpert, bleibt hinter keinen unerreichbaren Idealen zurück, sondern verwirklicht ihre Vollkommenheit. Meisterdichtung ist keine Abstraktion, obwohl aus ihr Begriffe und Gesetze der Kunst sich erschließen lassen; sie ist konkrete Daseinsverwirklichung, Spiegel des Lebens im farbigen Abglanz, Offenbarung der Würde der Menschheit, Gewebe des lebendigen Kleides der Gottheit. Der Anblick der im Schleier der Dichtung waltenden Wahrheit verlangt von dem Beschauenden nur noch innere Sammlung; die Kritik, die den Wert in Zweifel zieht, ist verstummt und begnügt sich mit der Sorge um Herstellung und Wahrung der reinen und echten Form; der Zergliederungstrieb unterwirft sich dem Eindruck alleiner Ganzheit, und die Deutung muß beides zusammenschließen; Sinngebung des Lebens, die das Ziel der Dichtung ist, trifft zusammen mit Sinngebung jener Kunst, deren Ausdrucksmittel die Sprache ist. Wenn Dichtung und Dichtkunst im Geist als der größten Synthese ihre Vereinigung erleben, ist der Aufstieg der beiden Strebepfeiler zur Höhe geführt, wie es den Worten des Pater seraphicus entspricht: Steigt hinan zu höherm Kreise, Wachset immer unvermerkt, Wie, nach ewig reiner Weise, Gottes Gegenwart verstärkt. Denn das ist der Geister Nahrung, Die im freisten Äther waltet: Ewigen Liebens Offenbarung, Die zur Seligkeit entfaltet. Der Weg, der zurückzulegen ist bis zur letzten Deutung, schließt eine zunehmende Vergeistigung der Aufgaben in sich; trotzdem bleibt der Gegenstand, zu dem der Aufstieg emporführt, ein konkreter. Abstrakt wird erst die allegorische Personifikation einer Göttin der Poesie, die im Musenhain oder Tempelheiligtum ihren Sitz hat oder im Zaubergarten, in dem die Romantiker (Tiecks „Zerbino“) Dante, Shakespeare, Cervantes und Goethe als Gäste gesellschaftlich vereint sahen. Die Personifikation der Dichtkunst steht indessen nicht allein, sondern verschlingt sich in einem Reigen mit ihren Schwestern, den anderen Künsten, mit denen sie, indem sie bald zur Malerei, bald zur Musik sich mehr hinneigt, Farbe, Körperausdruck, Klang, Rhythmus und Bewegung austauscht. Von diesem Verhältnis zu den Nachbarkünsten geht eine eigene theoretische Betrachtungsweise des Wesens

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der Dichtkunst aus. Was für die Dichtung Gliederung bedeutet, ist für die Dichtkunst ihre Stellung im Verhältnis zu den anderen Künsten. 4. D i e D i c h t k u n s t z w i s c h e n d e n K ü n s t e n d e s R a u m e s u n d d er Z eit Nach Benedetto Croces Ästhetik bilden alle Künste als menschlicher Ausdruck eine Einheit, und da sie gleichartigen geistigen Schöpferakten entspringen, sind keine theoretischen Grenzen zwischen ihnen zu ziehen. Sind die Unterschiede ihrer Ausdrucksmittel so unwesentlich, so wäre als letztes Erkenntnisziel nicht mehr das Wesen der Dichtung, sondern das der Kunst überhaupt zu ergründen. So kannte auch Schiller, der durch Albrecht von Haller den Menschen als unselig Mittelding von Göttern und von Vieh zu betrachten gelernt hatte, im Grunde nur eine Kunst: Im Fleiß kann dich die Biene meistern, In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein, Dein Wissen teilest du mit vorgezogenen Geistern, Die Kunst, o Mensch, hast du allein. Die vorausgehende Kunstlehre vieler Jahrhunderte hat sich mehr um die Sonderung der einzelnen Künste bemüht, als daß sie das Einende überhaupt erkannt hätte. In der mittelalterlichen Scholastik beispielsweise hatte die Dichtung unter den „septem artes liberales“ überhaupt keinen Platz, wie ihn etwa Frau Musica einnahm; sie konnte dagegen Unterschlupf suchen bei „Grammatica“ oder „Rhetorica“, wenn sie nicht wie die Malerei Aufnahme fand bei der anderen Gruppe, die unter dem Namen „artes mechanicae (illiberales)“ auf eine tiefere Stufe herabgedrückt war. Mit der Renaissance kam man zur Aufstellung einer entwicklungsgeschichtlichen Reihenfolge, bei der auf Grund der Nachahmungslehre zunächst der Malerei die Priorität zufiel. Narcissus, der zum Staunen über sich selbst gelangte Mensch, erschien als mythisches Sinnbild des ersten Kunsttriebes (Leon Battista Alberti 1540). An die Stelle der Naturnachahmung trat zwei Jahrhunderte später der Schöpfergedanke. Für die deutsche Bewegung des Sturmes und Dranges, die bei Hamann und Herder einsetzte, war die Poesie als Ursprache des Menschengeschlechtes allen anderen Künsten voraus; auch die Romantiker suchten die Ursprache teils in der Natur, teils in Hieroglyphen, teils in der Musik. |#f0544 : 520|

Anders war es in Hegels Kunstphilosophie, die den Gang des Geistes durch die Geschichte verfolgte. Da begann die Entwicklungsreihe der Künste mit der rein symbolischen Architektur und stieg empor über die Stufen der Plastik, der Malerei, der Musik zur Poesie als der Vereinigung aller Gegensätze auf der Höhe geistiger Innerlichkeit.

Wir erkennen diese Konstruktion heute nicht mehr an. Aber wenn auch die Architektur nicht als Urkunst gelten kann, sondern diesen Platz eher der Mimik und dem Tanz als frühesten menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten einräumen muß, so ist doch der Geltungsbereich und die Entfaltungsmöglichkeit der verschiedenen Künste einem fortschreitenden Wechsel unterworfen. Die kunstgeschichtliche Generationslehre Wilhelm Pinders rechnet heute noch mit Hegels Aufeinanderfolge von Architektur, Plastik, Malerei, Musik und begründet sie induktiv im Hinblick nicht auf die Entstehung, sondern vielmehr auf die wechselnden Blütezeiten, die periodisch in regelmäßiger Folge sich wiederholen. Von diesem Aufbau wird aber die Dichtkunst ausdrücklich ausgenommen und nur insofern eingereiht, als sie jeweils mit der gerade lebenskräftigsten Vertreterin der anderen Künste in Generationsverbindung stehe. Die Richtigkeit der These, die in Pinders Kunstgeschichte „Wom Werden und Wesen deutscher Formen“, von dieser Seite aus gesehen, vorsichtige Anwendung gefunden hat, wäre nun für den Gang literarhistorischer Entwicklungen nachzuprüfen. Sie dürfte, auf die Dichtung übertragen, mehr Bedeutung für die Wandlungen der Stilgeschichte haben als für eine feststehende Wesensergründung. Eine endgültig sich gleichbleibende Grenzbestimmung des Verhältnisses zu den anderen Künsten ist auf diesem Wege schwerlich zu gewinnen. Um eine solche hat sich seinerzeit Lessing bemüht, als er im „Laokoon' die Grenzen der Poesie und der Malerei festlegen wollte und sowohl die Entgleisungen der bildenden Kunst auf dem Irrweg gedanklicher Allegorie als auch die Ausschreitungen der Dichtkunst in Richtung malerischer Wirkungen bekämpfte. Er bediente sich dabei der hergebrachten Unterscheidungen zwischen Künsten des Raumes und der Zeit, die mit der neuerlichen Trennung simultaner und sukzessiver Darstellung zusammenfielen. Die Dichtkunst wurde auf das Nacheinander zeitlicher Folge und auf bewegte Handlung beschränkt, und jeder simultane Eindruck malender und beschreibender Darstellung wurde ihr abgestritten. Aber schon Herder hat im ersten „Kritischen Wäldchen“ dieser Einschränkung widersprochen. Zwischen Raum und Zeit stand für seinen Dynamismus der von Leibniz entnommene |#f0545 : 521|

Begriff der Kraft. Sie fand ihr Wirkungsfeld in der Dichtkunst. Zwischen den Raumkünsten und den Zeitkünsten sollte die Poesie ihren eigenen Platz einnehmen, da ihr durch die Kraft der Worte, durch den in sie gelegten Sinn und durch die innere Kraft der Seele eine Herrschaft in Raum und Zeit zugleich zufiel. Die Wirkung der Plastik und Malerei vollzog sich im Raum und durch den Raum, die der Musik durch die Zeit in die Zeit, aber die Wirkung der Poesie nahm ihren Weg aus dem Raum in die Zeit. Es war, von einer anderen Seite gesehen, dieselbe Einteilung, die Kants „Kritik der Urteilskraft“ zwischen bildender, redender und Kunst des schönen Spiels der Empfindungen traf nach einer weiteren Dreiheit der Ausdrucksmittel, der Ausdrucksarten und des Ausdrucksinhalts. Die Dichtkunst fand ihr Ausdrucksmittel im Wort, ihre Ausdrucksart in der Artikulation, ihren Ausdrucksinhalt in Gedanken. Im Gegensatz zu Herder hat Kant die Ausdrucksformen von Raum und Zeit, die im Bereich der reinen Vernunft unbestimmbaren Umfang und Inhalt hatten, nicht auf die Künste angewandt, aber er vermied es auch, in der Kraft ein nicht ganz entsprechendes Drittes zwischen Zeit und Raum zu stellen. Kraft waltet ja auch in der Zeitkunst der Musik (nach Kant dem schönen Spiel der Empfindungen) und ist nicht allein der Dichtkunst vorbehalten. Eindeutiger hätte von der Einbildungskraft als Antrieb, Spielraum und Verlauf der dichterischen Wortkunst gesprochen werden können. In diesem Sinne hat spätere Ästhetik (Vischer, Volkelt) den Begriff der Phantasiesinnlichkeit eingeführt, die an Stelle der unmittelbaren optischen oder akustischen Eindrücke der anderen Künste alle Sinnesbereiche beherrsche und gleicherweise Raum und Zeit in ungehemmter Entfaltung ausfülle. An Kant schloß sich Schiller an, als er in der „Huldigung der Künste“ die Unbegrenztheit der Poesie hervorhob: Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke, Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort. In den vorausgehenden Versen war trotzdem eine räumliche Beziehung hergestellt, wenn die Dichtung zwar nicht in den einheitlichen und unendlichen Raum versetzt wurde, aber sich rühmen durfte, in fortschreitend sich ausbreitender Bewegung alle Räume zu durchmessen: Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke, Frei schwing' ich mich durch alle Räume fort. |#f0546 : 522|

Wenn Herder in scheinbarer Umkehr dieser Bewegungsrichtung die Dichtung aus dem Raum in die Zeit hatte wachsen lassen, so war es weder auf den vom Dichtwerk (als Buch oder Text einer Vorlesung oder Gegenstand einer Aufführung) für seine Verwirklichung beanspruchten bescheidenen Raum angekommen noch auf den Raum, der in ihm dargestellt war; ebenso wenig auf die zur Darstellung gebrachte oder für Wiedergabe und Aufnahme benötigte Zeit, sondern auf die Dauer der Wirkung. Die Herkunft aus dem Raum betraf bei Herder die sinnliche Erscheinungswelt der bildenden Kunst und ihres Vorbildes, der Natur, zu der auch der Mensch zu rechnen war. Den Natureindruck vermag mittelbar auch die Dichtung zu erreichen durch Einprägung in die Phantasievorstellung der Genießenden. Da baut sich die sichtbare Welt neu und prächtig auf. Dagegen konnte sich der Eintritt in die Zeit auf die nicht stillstehende Folge der stimmungweckenden und gefühlanregenden musikalischen Klänge beziehen, denen die einander ablösenden Bilder der Dichtersprache gleichen. Beides schließt sich erst im Nacheinander zu einem Ganzen zusammen, das Form gewinnt und nachklingt. Die Gesamtwirkung, die bei dem in sich ruhenden Werk der bildenden Kunst das erste ist, kommt bei den anderen Künsten trotz der unaufhörlichen Eindrücke jedes Augenblicks erst mit der Zeit zustande, aber sie läßt sich auch zu jeder Zeit wiederholen durch erneute Wiedergabe des Musikstückes und durch erneutes Eindringen in die Dichtung. Eine Steigerung des Eindrucks durch Wiederholung ist auch bei dem Werk der bildenden Kunst möglich, das erst mehrfacher Betrachtung sich voll erschließt; aber es gibt bei ihm kein da capo der Vorführung; es ist immer da und kann so, wie es da ist, nicht erneuert, sondern höchstens wiederhergestellt oder kopiert werden. Es stellt nicht nur Raum vor und braucht Raum zu seiner Darstellung, sondern es steht einmalig in seinem Raum und leistet in dieser bleibenden Einmaligkeit dem Drang der Zeit Widerstand. Während die Zeit jedes Werk der bildenden Kunst mit allmählicher Zerstörung bedroht, so daß menschliche Aufsicht darauf bedacht sein muß, es in seiner Einmaligkeit zu beschützen, haben bei Kompositionen der Musik und der Dichtkunst lediglich die ersten Niederschriften ihrer Schöpfer oder die ersten Drucke, wenn sie besonders selten sind, Denkmalswert. Weitere Kopien bedeuten für den sammelnden Liebhaber eine Entwertung. Aber Noten und Buchstaben verlieren durch getreue Vervielfältigung, die ihr Weiterleben sichert, nicht an Bedeutung |#f0547 : 523|

und Gehalt. Im Gegenteil. Wie sich ihre Gestalt in Zeitfolge entfaltet, so macht auch ihr Gehalt Anspruch auf Zeit zur vollendeten Wiedergabe, zur Mehrung des Verständnisses, zur ausgebreiteten Anerkennung.

Während ein berühmtes Kunstwerk Scharen von Bewunderern aus weitester Ferne zu sich in seinen Raum zieht, werden die Werke der Musik, die keiner Übertragung in andere Sprachen bedürfen, durch persönliche Interpretation unter Wahrung der von ihrem Schöpfer bestimmten Form in unermeßliche Weiten getragen; aber auch die Werke der Dichtkunst als gesellschaftliche Ereignisse erobern sich mit der Zeit Wirkungsräume von Dauer, ohne daß sie in Weltwanderung und Zeitenwandel die Wurzeln ihrer Herkunft verlieren. Man kann auch sagen, daß sich die geschichtlichen Bedingungen der Ausbreitungsmöglichkeit ebenso verändern wie die Reproduktionsmöglichkeiten der bildenden Kunst oder der Musik. Die Wirkungsräume sind in steter Ausdehnung begriffen. Wenn vor dem Buchdruck der auf einen kleinen Kreis beschränkte Vortrag durch den Dichter die intensivste Wirkungsmöglichkeit war, so ist mit Gutenbergs Erfindung die Verbreitungsmöglichkeit des Lesestoffes unermeßlich gesteigert. Aber die neue Zeit führt darüber hinaus; sie bringt mit dem Rundfunk die Überwindung aller räumlichen Grenzen und mit der Schallplatte die Möglichkeit, die Stimme des Dichters in ihrem persönlichen Eindruck über alle Zeiten hinaus aufzubewahren. Freilich, was auf der einen Seite an Verbreitung und Dauer gewonnen wird, geht auf der anderen Seite durch Oberflächlichkeit des Masseneindrucks verloren. Und es bleiben Grenzen des Wirkungsraumes, die durch den Bereich der Sprache und ihres Verständnisses gezogen sind. Neuere Dichter haben die Bewegungsrichtung Herders umgekehrt und den Weg der Dichtkunst aus der flüchtigen Zeit in den ewigen Raum führen lassen. Aber sie verstanden den Zeitraum der Ewigkeit und die vorübergehende Raumzeit des alltäglichen Lebens. Rilke sprach davon, daß das Kunst-Ding von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben erst zur Dauer gelange und die Fähigkeit zur Ewigkeit erwerbe. Er sah das eigentliche Sein des Kunstwerkes und seiner Dauer darin begründet, daß es sich einen eigenen Raum erzeuge, der nur dem oberflächlichen Hinsehen identisch erscheine mit der öffentlichen Räumlichkeit. Den Gedichten Trakls konnte er das Lob spenden, daß sie einen eigenen geistigen Raum besäßen. Und seine eigene Dichtung begründet die Flucht vor dem engen Lebensraum und die Abkehr von denen, die ihn lieben: |#f0548 : 524|

weil mir der Raum in eurem Angesicht, da ich ihn liebte, überging in Weltraum, in dem ihr nicht mehr wart. (Vierte Duineser Elegie.) Ähnlich sah schon der junge Stefan George das Bleibende im Übergang aus der Zeit in den Raum: Der Zeiten Flug verliert die alten Namen, Und Raum und Dasein bleiben nur im Bilde. (Hymnen.) Ein Dritter aber, Hugo von Hofmannsthal, schloß seinen Vortrag über das Schrifttum als geistigen Raum der Nation mit dem Bilde einer neuen Wirklichkeit, eines inneren Universums, eines Geistesraums der Glaubensgemeinschaft, den die Nation in ihrem eigenen Bewußtsein und in der Welt einnehme. Der Aufstieg von Synthese zu Synthese müsse zu dem höchsten Ziele gelangen, daß der Geist Leben werde und das Leben Geist. Die politische Erfassung des Geistigen und die geistige des Politischen müsse zur Bildung einer wahren Nation führen. Damit findet der Weg vom Raum aus sein Ziel nicht in der Zeit und nicht in der Gesellschaft, sondern im Geist. Alle vier besprochenen Dimensionen mit dem Raum als Anfang und dem Geist als Ende sind in eine Folge gebracht. In dieser Reihe sind nunmehr, wenn wir von der Dichtkunst und ihren theoretischen Möglichkeiten zur Dichtung in ihrer geistigen Expansionskraft zurückkehren, diese Kategorien zu betrachten. Die räumlichen, zeitlichen, gesellschaftlichen und geistigen Zusammenhänge der Dichtung sind zu erklären, und es bleibt dabei nur die Frage, ob sie zu einem äußerlichen Zusammenhang führen oder ob in ihnen wirklich schaffende Kräfte und kollektiv hervorbringende Mächte zu erblicken sind. |#f0549 : E525|

DIE LITERARISCHEN GENERATIONEN (1929) So our virtues Lie in the interpretation of the time. Shakespeare, Coriolanus IV, 7.

1. B e d e u t u n g d e r G e n e r a t i o n e n f ü r d i e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e

An dem Generationsproblem ist alle Wissenschaft vom Menschen und seinen Schöpfungen in irgendeiner Weise beteiligt: Universalgeschichte, Geschichte der politischen Ideen, Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie, Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Entwicklungs- und Vererbungslehre, Biologie, Psychologie und Pädagogik, Sprach- und Stilgeschichte, Geschmacksgeschichte, Geschichte aller Künste und Wissenschaften. Es sind sowohl Naturwissenschaften als Geisteswissenschaften. Jede arbeitet vielleicht mit einem andern Begriff der Generation, aber alle müssen um seine Ergründung bemüht sein. Wenn nun innerhalb der Geistesgeschichte die Literaturwissenschaft ganz besonders lebhaft die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen den gleichzeitig lebenden Altersklassen anhängig macht, so liegt es daran, daß sie in Darstellung des geschichtlichen Verlaufs schlechterdings an die Generationsfolge gebunden ist. Es bleibt ihr kaum eine andere Möglichkeit des Gesamtüberblicks als die Gruppierung nach zeitlichen Gemeinschaften. Die Tatsachen der Abhängigkeit, der Wechselwirkung und einer gewissen Gleichartigkeit aller literarischen Erzeugnisse, die von Altersgenossen innerhalb eines Kulturkreises aus gleichem Lebenszusammenhang hervorgebracht werden, diktieren gebieterisch die Zusammenfassung des Gleichartigen und Gleichzeitigen, denn so verschieden diese Werke und Persönlichkeiten untereinander sein mögen, so stellen sie doch im Vergleich mit den Männern und Werken jeder andern Periode eine Einheit dar. Der Überblick über die literarische Produktionsmasse kann nicht anders Gestalt gewinnen als durch Einordnung in die geistigen Bewegungen, durch die Altersgleiche in

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Bann gezwungen und in ihrem Kunstwillen bestimmt sind. Das Auftauchen neuer Bewegungen, der Widerstand, der sich ihrem Aufmarsch entgegensetzt, die Überwindung, die Herrschaft, die Verteidigung gegen Widerspruch und das Zurückweichen vor einer neuen Welle, vielleicht auch die Wiederaufnahme des bereits Verebbten in abermaligem Aufstieg: alles das stellt sich immer als Austrag von Kämpfen dar zwischen Alter, reifender und altwerdender Jugend und neuanstürmendem Jugendgeist. Die Heftigkeit dieses Gegensatzes ist zeitlich verschieden und die Hitzigkeit des Kampfes ist ein Intensitätsmaßstab für die Wucht und Ursprünglichkeit des neuen Geistes, vielleicht auch ein Wertmesser und eine Bürgschaft für die Dauer seiner Errungenschaften. Immer ist mehr als irgendein anderes Betätigungsfeld menschlichen Geistes das Gebiet des Schrifttums der Schauplatz dieser Kämpfe; denn die Sprache ist die vornehmliche Waffe, in der solcher Streit geführt wird, und von allem Gesprochenen ist das geformte Sprachkunstwerk das Überragende, Bleibende, das in überzeitlichem Sein noch von den Kämpfen zu reden vermag, aus denen es hervorging, wie das Gebirge redet von Überflutungen, Zusammenbrüchen, Rissen, Erhebungen, Ablagerungen und bohrender Arbeit der Ströme oder wie der feine Sand des Meeresstrandes sich rippt und kräuselt unter dem unaufhörlichen Heranwogen der Wellen. Man kann sich dem Zwang dieses Schichten bildenden Wellenschlages der Zeit zu entziehen versuchen durch Einfüllung des flutenden Elements in stille Becken, in denen sich der Himmel spiegelt; man kann in der Ruhelage des Beharrens die sich gleichbleibenden Kräfte und Bedingungen der Gattungsform, des stammhaften Volkstums, der Landschaft oder der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit zum Gegenstand der Betrachtung machen und alle Äußerungen individuellen Lebens diesen Kategorien unterordnen; man kann die ewigen Probleme, die Glaubensgewißheiten, Bekenntnisformen und Weltanschauungen oder die in langsamer Veränderung begriffenen Formen der Gesellschaft, der Stände, der Bildungsschichten als mehr oder weniger feste Grundmauern des Baues betrachten. Immer wird man, wenn auch nur sekundär, die Gliederung jenem Rhythmus der Gegensätzlichkeit, in dem sich der Wandel der Zeitlage ausspricht, entnehmen müssen, es sei denn, daß eine starre Systematik gewaltsam jeden Gesichtspunkt der Entwicklung ausschalten wollte. Literaturgeschichte, die den Ablauf einer Entwicklung darstellen will, ist immer, ausgesprochenermaßen oder unausgesprochen, die Geschichte der literarischen Generationen und ihrer Schöpfungen. Das

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Wort „Generation“ bildet den Schlüssel für die unbestreitbaren Tatsachen der Wandlung und Entwicklung, der Fortschritte und Rückschläge, und es ist bloß die Frage, ob dieser Schlüssel als ein Passepartout gehandhabt werden kann, dem alle Räume sich erschließen, ob er ein Dietrich ist, der den Zugang gewaltsam sprengt, oder ob er ein Geheimschlüssel bleibt, der als Werk subtiler Feinkunst nur in den Händen des Kenners seine Dienste tut. So aktuell heute der Begriff der Generation geworden ist, so wenig ist seine praktische Anwendung für die Literaturgeschichte eine neue Errungenschaft. Man hat schon früher die Bibliotheken der schönen Literatur eines Volkes statt nach Alphabet oder Erscheinungsjahr nach den Geburtsjahren der Verfasser aufgestellt und in diesem Grundsatz eine sachgemäße Gruppierung und die Grundlagen einer Periodisierung erblickt, ohne daß man des Glaubens war, damit eine umwälzende wissenschaftliche Erkenntnis erreicht zu haben. Was neu ist und die Wissenschaft ernstlich beschäftigen muß, ist die Aufgabe der theoretischen Unterbauung einer längst verlaufenden Entwicklung. Diese Theorie ist wieder einem Wandel von Generation zu Generation unterworfen. In der Zeit, da die große Monographie die vornehmlichste Aufgabe literarhistorischer Darstellung bedeutete, schien die Genealogie des Einzelnen, die auf das Erbe der Ahnen zurückführte, vielleicht manchmal wichtiger als die Generation, die ihn mit den Zeitgenossen verband. Für die geistesgeschichtliche Fragestellung der Neuzeit, die zu ergründen bemüht ist, aus welchen Wurzeln die übereinstimmende Richtung gleichzeitiger Anschauungen und Schöpfungen auf allen Gebieten menschlicher Geisteshaltung in Religion, Politik, Rechtsauffassung und Kunst sich herschreibt, ist die Generation ein Hauptproblem geworden. „Generation“ ist heute ein differenzierter Ersatz für den summarischen und kaum faßbaren Begriff des „Zeitgeistes“ und eine grundlegende Voraussetzung des Begriffes „Zeitstil“. 2. B e g r i f f d e r G e n e r a t i o n Die heute gebräuchliche Anwendung des Wortes ist durch vielfältige Übertragungen so vieldeutig geworden, daß zunächst einmal an der Hand von Beispielen der Umfang des Begriffsinhaltes geprüft und abgegrenzt werden muß. Mit der Geistesgeschichte hat das Wort ursprünglich nichts zu tun; vielmehr ist „Generation“ zunächst eine unmittelbar verständliche Gegebenheit nur innerhalb der einzelnen Familienreihe als Schrittfolge der Fortpflanzung. Zum Zeitmaß wird |#f0552 : 528|

diese Horizontalstruktur des Stammbaums durch die Beobachtung einer gewissen Regelmäßigkeit im Altersabstand zwischen Vater und Sohn. Wenn schon Herodot sich von ägyptischen Priestern das Geheimnis verkünden ließ, daß drei Generationen gerade ein Jahrhundert ausmachten, so ist die Voraussetzung ein Durchschnittsmaß von 33 Jahren für diesen Altersunterschied. Eine statistische Nachprüfung, wie sie Gustav Rümelin in seinem Aufsatz „Über den Begriff und die Dauer einer Generation“ (Reden und Aufsätze. Freiburg i. B. 1875, S. 285 bis 304) vorgenommen hat, kam zu dem Ergebnis, daß dieser Durchschnitt nach Zeit und Volk jeweils ein anderer sei, daß er im neuzeitlichen Europa etwa zwischen 32 und 39 Jahren liege (für Deutschland damals 36½, für England 35½, für Frankreich 34½), daß in Ländern früherer Mannbarkeit oder polygamer Sitte aber ein ganz anderes Zahlenverhältnis herrschen müsse, und daß die herodotische Berechnung zwar für sein Zeitalter richtig gewesen sein mag, aber in keiner Weise ein allgemeingültiges unveränderliches Zeitmaß darstellen kann. Dazu kommt nun, daß für geschichtliches Zusammenwirken es ziemlich bedeutungslos ist, ob ein Urenkel etwa genau ein Jahrhundert nach seinem Urgroßvater das Licht der Welt erblickt oder etwas später; viel wichtiger ist die Tatsache, daß das Jahrhundert die Wirksamkeit von fünf Generationen in sich schließt, indem Vater und Großvater jenes am Anfang des Jahrhunderts geborenen Urgroßvaters noch eine gute Weile das Wachstum des Sprößlings und seiner Kinder begleiten und leiten konnten. Und in diesem Übereinandergreifen ohne Ablösung liegt eine schon von David Hume hervorgehobene Besonderheit der menschlichen Generationsfolge gegenüber der tierischen. Eltern und Großeltern sind in der Lage, alle ihre Lebenserfahrung auf die Nachkommen zu übertragen. Diese Übermittlung wird aber nicht selten zu einer Aufdrängung, die der Jugend das Recht auf eigene Lebenserfahrung verkürzt und sie zur Auflehnung gegen die Tradition herausfordert. In einer anderen Weise hat man das Zeitmaß des Dritteljahrhunderts als das einer Generation zu stützen gesucht, nämlich durch den Grundsatz der „Lebenswirksamkeit“ des Einzelnen. Sie soll unter jenen in den Rahmen eines Jahrhunderts fallenden fünf Familiengenerationen nur dreien gegeben sein; denn die historische Wirksamkeit des Menschen soll im Durchschnitt mit dem 30. Lebensjahr beginnen und zwischen dem 60. und 70. enden; also ist der Urgroßvater in der letzten Spanne seines Lebens, die noch in dieses Jahrhundert reicht, nicht mehr lebenswirksam, und der Enkel ist es in seiner |#f0553 : 529|

ersten Lebensphase noch nicht. Diese offensichtlich der Genealogie entnommene Zahlenrechnung mag für die legitime physische Zeugungstätigkeit eher zutreffen als für die Schätzung geistiger Wirkung, für die sie einen vollkommenen Irrweg bedeutet. Hier kann keine Genealogie helfen, denn wir haben es nicht mit aufeinanderfolgenden Gliedern einer Familie zu tun, sondern mit Altersverschiedenheiten ohne verwandtschaftlichen Zusammenhang; noch weniger nützt die Statistik, denn uns beschäftigt im produktiven Geistesleben niemals der Durchschnitt, sondern die Abnormität. Wenn es auch im Abnormen eine Norm gibt, so kann in bezug auf das dichterische Schöpfertum gesagt werden, daß die Aufsehen erregenden, Epoche machenden, zum Feldgeschrei einer jungen Generation werdenden und den revolutionären Ausdruck einer neuen Zeit bildenden Werke des Genies eigentlich immer unter den Erstlingen zu finden sind, während dagegen die späten, aber nachhaltigsten Wirkungen oft von den als Vermächtnis hinterlassenen Alterswerken ausgehen. Goethe hat mit keiner seiner Dichtungen solchen Erfolg und so weitgreifende Wirkung gehabt, wie mit dem „Werther“, den er als Fünfundzwanzigjähriger erscheinen ließ, aber kein anderes Werk erreicht die universale Bedeutung des „Faust“, den der Achtzigjährige abschloß. Joh. Christ. Günther, Friedrich v. Hardenberg, Percy Bysshe Shelley, Wilhelm Hauff, Georg Büchner und der Graf v. Strachwitz haben das 31. Lebensjahr überhaupt nicht erreicht und sind trotzdem lebenswirksam gewesen. Theodor Fontane dagegen hat seinen ersten großen Roman im 60. Lebensjahr erscheinen lassen, und seine Meisterwerke sind Früchte des 7. und 8. Jahrzehnts. In anderen Künsten ist die Spannweite noch größer: Mozart komponierte schon mit 6 Jahren und hatte mit 13 Jahren seinen ersten Opernerfolg, während Tizian noch im 99. Lebensjahr an seiner „Pietà“ malte. Und das letztere ist ein Beweis, daß die „Lebenswirkung“ des Schaffenden mehr als das Doppelte dessen umfassen kann, was als Durchschnittsmaß einer Generation zu bezeichnen üblich ist. Wenn die historische Wirkung eines Geistes so umfassend ist, wie die Goethes, so kann er namengebend ein ganzes Zeitalter beherrschen. Eine Darstellung, wie Korffs „Geist der Goethezeit“ bringt aber schon in ihrem Aufbau zum Ausdruck, daß Goethes Wirkungsbereich den mehrerer Generationen umfaßt; als seine eigene Generation werden wir doch nur die mit ihm Gleichaltrigen, also die Stürmer und Dränger Maler Müller, Sprickmann (1749), die Grafen Christian und Friedrich Leopold zu Stolberg (1748/50), Jak. Mich. Reinhold Lenz (1751), Friedr. Maximilian Klinger und Johann Anton |#f0554 : 530|

Leisewitz (1752) aufzufassen geneigt sein, indem wir beobachten, wie Goethes Entwicklung über sie hinausführte. Schiller wird durch seinen Biographen H. H. Borcherdt schon einer anderen Generation zugezählt, wie bereits Ermatinger in seiner Geschichte der deutschen Lyrik angedeutet hatte. Durch die dynastische Geschichtsschreibung sind wir mehr an die Benennung großer Zeitalter nach den Staatsoberhäuptern gewöhnt: Das perikleische Zeitalter Athens, das augustische Roms, die Mediceerzeit in Florenz, das elisabethanische England und das siècle de Louis XIV. in Frankreich bedeuten im Herderschen Sinne Kulturmaxima der Nationen, und die an jenem Gipfel jeweils Teilhabenden pflegen wir trotz ihrer Altersunterschiede eine Generation zu nennen, solange uns die Kultur, in der sie standen, als Einheit erscheint. Ebenso charakterisieren die Namen Louis XV. und Louis XVI. als Stilbegriffe ihre Zeitalter. Die aufeinanderfolgenden Glieder einer Dynastie können auch jedesmal eine literarische Generation bezeichnen, wenn sie kunstfördernd die Dichtung beeinflußten, ohne selbst produktiv zu sein. Karl der Große ließ alte Heldenlieder von der Art des Hildebrandsliedes sammeln; sein Sohn Ludwig der Fromme bestellte den „Heliand“; sein Enkel Ludwig der Deutsche empfing die Widmung von Otfrids Evangelienbuch; das Ludwigslied aber besingt den Sieg Ludwigs III. bei Saucourt. Hier also bedeutet der Stammbaum der Karolinger in vier Generationen ein Merkblatt für die Chronologie der altdeutschen Dichtung. Und ebenso können die Dienste, die Walther von der Vogelweide zwei Generationen der Staufer und einem welfischen Zwischenkaiser erwiesen hat, zur Datierung seiner Sprüche verhelfen. Nur einmal gab die deutsche Geschichte die Möglichkeit, ein ganzes Zeitalter nach der Person eines großen Herrschers zu benennen. Immanuel Kant bezeichnete das Aufklärungszeitalter als das Jahrhundert Friedrichs des Großen; Lessing hatte in seiner letzten Schrift über die Fabeln der Minnesänger schon im voraus gegen solche Benennung Einspruch erhoben mit der ironischen Frage, ob die guten schwäbischen Kaiser um die damalige Poesie etwa mehr Verdienst gehabt hätten als der jetzige König von Preußen um die gegenwärtige; Goethe kehrte in „Dichtung und Wahrheit“ zu Kants Anschauung zurück und feierte Friedrich als den ersten, der der deutschen Dichtung zeitgeschichtlichen Stoff gab. Trotzdem besteht hier eine Disharmonie. Die Tragik des einsamen Königs, der vor der ihm zugewandten nationalen Dichtung die Augen verschloß, ist Generationstragik: weder unter den ihm vorausgehenden Schriftstellern, |#f0555 : 531|

den Canitz und Besser (1654), den Neukirch (1665), König (1688), Pietsch (1690) und Gottsched (1700) noch unter seinen unmittelbaren Altersgenossen, den Samuel Gotthold Lange (1711), Karl Christian Gärtner (1712) und der Gottschedin (1713), lernte er einen kennen, der ihn für die heimische Dichtung erwärmen konnte. Und zur folgenden Generation, die mit Klopstock, Lessing, Wieland eine neue, ihm fremde Sprache redete, fand er kein Verhältnis mehr. Etwas anders liegt der Fall in dem „Wilhelminischen Zeitalter“, als das nicht zu ihrem Ruhme die hinter uns liegenden Jahrzehnte bezeichnet zu werden pflegen. Die unmittelbaren Altersgenossen Wilhelms II. sind die Schöpfer und Mitläufer des Naturalismus: 1857 war Hermann Sudermann geboren, 1858 Karl Hauptmann, 1859 Julius Hart, Karl Bleibtreu, Heinrich Sohnrey, Gabriele Reuter, Maria Janitschek, Helene Böhlau, 1860 Bruno Wille, Clara Viebig, 1861 Wilhelm Bölsche, Wilhelm v. Polenz, Joseph Ruederer, 1862 Wilhelm Weigand, Johannes Schlaf, Hermann Conradi, Gerhart Hauptmann, 1863 Arno Holz, Hermann Bahr, Richard Dehmel. Die Schriftsteller, deren lebensfrohem Optimismus der Kaiser seine Gunst zuwandte, Joseph Lauff (1855) und Ludwig Ganghofer (1856) gehörten einer früheren Generation an; sie waren Epigonen jenes romantischen Realismus der um 1830 und 40 Geborenen, der mit Scheffel, Stieler, Seidel, Busch, Raabe, Rosegger, Ferdinand v. Saar, Paul Heyse, Felix Dahn und Wildenbruch lebenbejahend das dritte Viertel des vorigen Jahrhunderts erfüllt hatte. Daß dem Kaiser von vornherein jedes Gemeinsamkeitsgefühl mit seinen eigenen Altersgenossen gefehlt habe, wird durch die sozialpolitische Haltung bei Anfang seines Auftretens widerlegt, trotzdem öffnet sich zwischen der unechten Romantik seines Kunstgeschmacks und der rücksichtslosen Wahrheitstendenz des konsequenten Naturalismus eine so tiefe Kluft, daß an diesem Beispiel deutlich wird, wie wenig die relative Einheitsrichtung der um 1860 geborenen Schriftsteller, die von einem neuen Geist erfüllt waren, eine Einheitsrichtung aller gleichaltrigen Deutschen bedeutete. Wenn die „literarische Generation“, die um 1890 im Zeichen des Naturalismus hervortritt, sich aus den um 1860 Geborenen zusammensetzte, so stand doch ein großer Teil der Gleichaltrigen zu ihr in Gegensatz. In diesem Sinne also darf Generation keineswegs als Gesamtheit aller Altersgenossen gelten. Vielmehr zeigt dasselbe Beispiel weiter, daß schon während der Lebens- und Wirkungsdauer dieser Altersgruppe eine ihrem ersten Auftreten entgegengesetzte Richtung den Sieg erringt. Sind auch die ehemaligen Naturalisten der Jahrgänge 1859/63 in der Mehrzahl |#f0556 : 532|

heute noch am Leben, so ist der Naturalismus selbst, dessen Dauerwirkung mehr in der Niederkämpfung unwahrer als in der Errichtung wahrer Kunst bestand, bei uns eigentlich nur zu einer Lebensdauer von gutgerechnet 15 Jahren gelangt. Schon 1890 beginnen die „Blätter für die Kunst“ zu erscheinen, und um 1900 ist der Sieg der idealistischen Neuromantiker, Neuklassiker und Symbolisten entschieden, der zum großen Teil auch eine Selbstbesinnung, Umkehr oder Weiterentwicklung der ehemaligen Naturalisten nach sich zieht. Ricarda Huch (1864), Eduard Stucken, Friedrich Lienhard (1865), Paul Ernst, Richard Beer-Hofmann (1866), Max Dauthendey, Rudolf Georg Binding (1867), Stefan George (1868), Karl Wolfskehl (1869), Alfred Mombert (1872), Hugo v. Hofmannsthal, Richard v. Schaukal, Wilhelm v. Scholz (1874), Rainer Maria Rilke (1875), Herbert Eulenberg, Wilhelm Schmidtbonn, Ernst Hardt, Theodor Däubler (1876) haben mit dem Naturalismus nichts zu tun. Soll man sie nun als den andern Teil der naturalistischen Generation bezeichnen oder als eine neue Generation, deren „historische Wirkung“ bereits zehn Jahre nach der vorhergehenden einsetzt? Noch verwickelter wird das Verhältnis dadurch, daß derselben Altersgruppe ebensowohl Schüler des Naturalismus wie Max Halbe (1865), Ludwig Thoma (1867), Wilhelm Schaefer (1868), die Brüder Mann (1871/75), als auch Vorkämpfer der nächstfolgenden Kunstrichtung, nämlich des Expressionismus, angehören: Ernst Barlach (1870), August Stramm (1874), Else Lasker-Schüler (1876). Wir stehen also vor der Beobachtung, daß jede Altersgruppe sowohl Nachzügler der vorausgehenden als Vorläufer der folgenden Richtung enthält, daß aber ihr Charakter durch einen Mehrheitswillen bestimmt wird, der sich von dem der Vorgänger wie der Nachfolger unterscheidet. Geradezu auf den Kopf gestellt erscheint das hier beobachtete Verhältnis von Naturalismus und Symbolismus bei einem Blick auf Frankreich, wo der Symbolismus mit dem Tod von Verlaine und Mallarmé zu einer Zeit abstarb (1896), wo die ihm folgende Bewegung in Deutschland eben erwachte, während der Naturalismus Zolas noch um die Jahrhundertwende in Blüte stand, als er für die deutschen Nachfolger bereits so gut wie erledigt war. Hier kommen nationale Unterschiede zur Geltung, die in Frankreich den Naturalismus, in Deutschland die symbolisierende Romantik als das ursprünglichere, älter eingewurzelte Element des Volksgeistes erscheinen lassen. So stellen denn auch die nach 1800 geborenen französischen Romantiker eine spätere Generation dar als die deutschen, während im Naturalismus Frankreich um mehr als eine Generation voraus war. |#f0557 : 533|

Es ergibt sich daraus, daß die Generation als Zeitbegriff nicht bestimmten Jahreszahlen wie 1890 bis 1900, die in allen Ländern der christlichen Zeitrechnung dasselbe bedeuten, gleichkommt, sondern daß es sich um eine innere Zeit handelt, die wie Blüte, Reife und Frucht nach klimatischen Unterschieden auseinandergeht, so wie jedes dieser Länder auch einen anderen Meridian hat und den Aufgang und Untergang der Sonne in einem andern Zeitpunkt erlebt. Allerdings scheinen die Altersverhältnisse der Naturalisten und Symbolisten in Frankreich weniger eine generationsmäßige Aufeinanderfolge als ein Nebeneinander aufzuweisen: Baudelaire ist im selben Jahre 1821 geboren wie Flaubert, und Mallarmé (1842) wie Verlaine (1844) sind ungefähr Altersgenossen von Zola (1840). Trotzdem (oder vielleicht gerade wegen dieses Nebeneinandergehens verschiedener Typen) ist im neuzeitlichen Frankreich ein generationsmäßiger Rhythmus der Entwicklung wohl zu beobachten, indem etwa alle zehn Jahre eine frische Jugendgruppe hervortritt, die den fundamentalen Dualismus von Ausdrucks- und Eindruckskunst in neuen Schlagworten ihres Kunstprogramms variiert. Die schematische Wirkungsdauer des Dritteljahrhunderts verliert gegenüber diesen Überschneidungen ihre Gültigkeit; sie hat als Übertragung aus dem Gebiete der physischen Genealogie keinen Bestand im geistigen Leben, in dem unendlich viele physische Generationsreihen nebeneinander hergehen, ohne sich irgendwie zu decken. Tatsächlich wird ja mit jedem Tage in einigen hundert Familien ein Kind geboren, das für diese Geschlechter jedesmal den Anfang einer neuen Generation bedeutet. Jedes Jahr aber bringt eine Generation von Sechsjährigen in der Schule und eine Generation von Zwanzigjährigen an der Universität zu einer Lebensgemeinschaft zusammen, die nicht nur miteinander lernt, sondern sich gegenseitig befruchtet. Die neue Generation im geistesgeschichtlichen Sinne entsteht, sobald diese Gleichaltrigen sich bewußt werden, daß sie etwas anderes wollen als die Älteren, die es für selbstverständlich halten, Nachkommende ihren eigenen Weg zu führen. Insofern ist das Verhalten der Jugend auch von der Elastizität der Älteren abhängig; so lange diese selbst Suchende und Werdende sind, wird es ihnen gelingen, sogar von der Jugend zu lernen und mit ihr zu gehen; ihre Erstarrung aber zwingt die Jugend zur Sezession. Das Problem liegt nun in der Frage, ob der neue Wille der Nachkommen schon durch den Zeitpunkt der Geburt als Prädestination künftiger Leistungen in sie gelegt ist oder ob er unter dem Eindruck gleichartiger Erlebnisse in sympathisch befruchtendem Zusammentreffen |#f0558 : 534|

erzeugt wird. Für beides lassen sich Belege erbringen: die berühmte Duplizität der Fälle zeigt immer wieder, daß Menschen gleichen Alters ohne jede persönliche Berührung im gleichen Zeitpunkt auf dieselbe Fragestellung und gleichartige Lösung geführt werden; aber mindestens ebenso oft ist zu beobachten, daß der Funke überspringt, und daß das Neue als Ergebnis einer sich gegenseitig anregenden Gemeinschaft, als Bewußtwerden gleicher Ziele, als Inhalt gemeinsamer Offenbarung hervortritt. Der geistesgeschichtliche Generationsbegriff, wie ihn etwa der spanische Philosoph José Ortega y Gasset formuliert hat, als „dynamische Verschmelzung von Masse und Individuum“, als „ein neuer, in sich geschlossener sozialer Körper mit seiner eigenen erlauchten Minderheit und seiner eigenen Masse, der mit vorgegebener vitaler Geschwindigkeit und Richtung in den Kreis des Daseins hineingeschleudert ist“, schließt beides in sich: Gleichaltrigkeit und Gleichrichtung. Aber es ist eine verschiedene Ursächlichkeit, ob die Gleichrichtung aus der Gleichaltrigkeit hervorgeht, oder ob die ungefähr Gleichaltrigen in eine bestehende Strömung hineinwachsen und dank ihrer Gleichaltrigkeit zur selben Zeit von ihr erfaßt werden. Es ist, mit einem Wort, die Frage, ob die Generationseinheit geboren wird oder sich bildet. Hier trennen sich zwei verschiedene Richtungen der Generationsforschung: für die eine ist, äußerlich gesehen, die Tabelle der Geburtsdaten Material und Ausgangspunkt; für die andere die Chronologie der literarischen Erscheinungen, aus denen sich der Zeitpunkt des gleichzeitig auftretenden neuen Willens ergibt. Die eine ist also von vornherein mehr individualistisch, die andere mehr kollektivistisch. Astrologie und Mystik sind die sich berührenden Extreme der beiden Betrachtungsweisen, aber in der mittleren Linie wird die eine auf eine biologische, die andere auf eine phänomenologische Methode angewiesen sein. Außer ihnen besteht noch eine dritte Richtung (nach der Zeit ihres Auftretens ist sie die erste), die man universalistisch nennen kann, insofern sie individualistische Gesichtspunkte auf die Totalität überträgt, und chiliastisch, insofern sie das Generationsproblem zum Maßstab weltgeschichtlicher Periodisierungen erhebt. 3. D i e G e n e r a t i o n s t h e o r i e n Die Lage des Generationsproblems zeigt einerseits eine positivistische Fragestellung und anderseits eine romantisch-historische. Der Positivismus findet im biologischen Gesetz der begrenzten, in Altersstufen geteilten Lebensdauer ein willkommenes Mittel, menschliches |#f0559 : 535|

Schicksal quantitativ zu erfassen und in festen Zahlen zu errechnen. Dem romantischen Historismus hingegen bietet die Beobachtung generationsmäßigen Wandels eine Möglichkeit, dem starren Schema der Zahl zu entrinnen und mittels einer nur qualitativ erfaßbaren inneren Zeit die lineare Betrachtung des Ablaufs durch raummäßige Tiefenperspektive zu ersetzen. Für den teleologischen Fortschrittsgedanken des Positivismus bedeuten die Generationen nichts anderes als gleichmäßige Treppenstufen stetigen Aufstiegs; für den relativistischen Historismus sind sie wogende Wellen, deren regelmäßiges Auf und Nieder ein von der Intensität der bewegenden Kräfte abhängiges Zeitmaß darstellt. a) Der mechanisierende Formalismus hat seine Heimat in England und Frankreich, und sein Höhepunkt liegt hinter der Mitte des 19. Jahrhunderts; der organische Historismus wurzelt in der deutschen Romantik und kommt zu neuer Geltung in der Lebensphilosophie der Gegenwart; beide Richtungen aber haben sich oft, Verbindung suchend, berührt. Den Positivismus in Reinkultur stellte etwa das Generationsgesetz dar, mit dem der Franzose J u s t i n D r o m e l 1861 in seinem Buch „La loi des révolutions“ eine wissenschaftliche Enthüllung der Zukunft geben wollte. Die 40 Jahre, über die die politische Wirksamkeit des demokratischen Staatsbürgers sich durchschnittlich erstreckt, werden im Anfang durch das Weiterleben der älteren, am Ende durch das Absterben der eigenen Generation beschränkt; so verfügt jede Generation nur während ungefähr 15 Jahren über die zahlenmäßige Stimmenmehrheit, durch die sie das Geschick des Staates bestimmen kann. Die Zwischenräume zwischen den französischen Umwälzungen der Jahre 1789, 1800, 1815, 1830, 1848 bestätigen das Gesetz; in jedem dieser Zeitpunkte tritt eine neue Generation in die Erscheinung und führt einen Schritt weiter in der Richtung des Menschheitsideales. Der deutsche Historiker, der genau ein Vierteljahrhundert später (1886) seine Generationslehre veröffentlichte, O t t o k a r L o r e n z , suchte eine Vermittlung zwischen Positivismus und romantischer Geschichtsphilosophie und hoffte dadurch Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zu versöhnen. Gegen die Einwände der Naturwissenschaftler, die wie Du Bois-Reymond das zufällige Zahlensystem der Jahrhundertrechnung von den Fingern der menschlichen Hand herleiteten, begründete er die objektive Einheit des Jahrhunderts als Summe der Lebenswirksamkeit von drei Generationen. Im Gegensatz gegen die formalen Periodensysteme der älteren Geschichtsschreibung, namentlich gegen die Auffassung des Mittelalters als einer zusammenhängenden |#f0560 : 536|

Einheit, verlangte er feiner abgestufte Charakteristiken der durch das Führertum großer Einzelpersönlichkeiten bestimmten geistigen Zeiteinheiten. Das entsprach der historischen Pinselführung Leopold v. Rankes, dessen Autorität Lorenz für sich in Anspruch nahm. In der Tat spielt der Wechsel der Generationen in Rankes Geschichtsschreibung eine nicht unbedeutende Rolle, und der viel zitierte Zusatz, mit dem er 1874 die Neubearbeitung seines Erstlingswerkes, der „Geschichte der romanisch-germanischen Völker“ abschloß, entwirft sogar in aller Vorsicht ein darstellerisches Programm, das er selbst nicht mehr durchführen konnte: „Es wäre vielleicht überhaupt eine Aufgabe, die Generationen, soweit es möglich ist, nacheinander aufzuführen, wie sie auf dem Schauplatze der Weltgeschichte zusammengehören und sich voneinander sondern. Man müßte einer jeden von ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen; man würde eine Reihe der glänzendsten Gestalten darstellen können, die jedesmal untereinander die engsten Beziehungen haben und in deren Gegensätzen die Weltentwicklung weiter fortschreitet: die Ereignisse entsprechen ihrer Natur.“ (Sämtliche Werke Bd. 33, S. 323.) Lorenz konnte auch auf Gespräche mit dem Meister hinweisen, in denen dieser die Generation als „Ausdruck für gewisse im Menschenalter wirksame Ideen“ bezeichnet hatte. (Die Geschichtswissenschaft in ihren Hauptvertretern II 138.) Er verschwieg aber auch nicht Rankes Warnung vor Systematisierung, ungeachtet deren er sein eigenes Schema aufgestellt hatte. Dieses System beruht in nichts anderem als einer Übertragung des Generationsverhältnisses auf das Verhältnis der Jahrhunderte untereinander. Wie drei Generationen in der Zusammengehörigkeit von Großvater, Vater und Sohn ein Jahrhundert bilden, so bilden drei Jahrhunderte wieder eine Einheit, und derselbe Dreitakt schließt sich in Riesenprojektion nochmals zu drei mal drei Jahrhunderten zusammen. Es tut nichts, daß das eine Jahrhundert, das mit dem Großvater begonnen wird, ebensogut auch mit dem Vater oder mit dem Sohn anfangen und mit Enkel oder Urenkel hätte schließen können, und daß in gleicher Abwechslung auch das Dreigespann der Jahrhunderte zu schirren wäre: wie im Rosenkranz nach zehn Perlen, so wird hier nach jeder dritten Generation ein Knoten gemacht, und der unaufhörlich rollende Paternoster-Aufzug soll nach 27 Gliedern wieder an der alten Stelle angelangt sein, denn 900 Jahre bilden eine Weltperiode. Eine Stütze für seine Einheiten von 300 Jahren glaubte Lorenz in der deutschen Literaturgeschichte zu finden, nämlich in der Wellentheorie W i l h e l m S c h e r e r s (1883), die zwischen 300jährigem Aufstieg und 300jährigem |#f0561 : 537|

Sinken drei Höhepunkte um 600, 1200 und 1800 heraushob. Aber gerade Scherers großzügige Gliederung, die über den Generationsrhythmus hinwegging, ließ mit der Festsetzung eines hypothetischen Höhepunktes, der wie eine urgermanische Sprachform ohne Beleg um 600 konstruiert wurde, und mit der Annahme zweier Tiefpunkte um 900 und 1500 die anfechtbarsten Blößen der positivistischen Konstruktion erkennen. So vermochte gerade dieser Beistand den Kredit der Generationslehre nicht zu erhöhen; in E r n s t T r ö l t s c h s „Geschichte des Historismus“ wird sie als „reine Kabbala“ abgetan. Von dem Glauben, daß nach 50 Jahren jedes Schulkind in Lorenzschen Generationen rechnen werde, hat sich bisher nur soviel erfüllt, daß wenigstens des Historikers Sohn A l f r e d L o r e n z im Jahre 1928 eine „Musikgeschichte im Rhythmus der Generationen“ erscheinen ließ, die einen alle drei Jahrhunderte sich vollziehenden Wechsel des Übergewichts von Zeit- oder Raumgefühl, das in homophoner Rhythmik oder polyphoner Innenschau sich auswirkt, und eine alle sechs Jahrhunderte sich vollziehende Wiederkehr des gleichen Zustandes als Bilanz der Musikgeschichte in das väterliche Schema einzeichnete.

Unterscheidet sich die deutsche Konstruktion von der französischen dadurch, daß an Stelle des Fortschrittes die Wiederkehr des Gleichen gesetzt ist, so haben beide Arten chiliastischer Geschichtsphilosophie zweierlei gemeinsam: 1. daß die Generation im wesentlichen als Zeitmaß der Gesamtentwicklung betrachtet wird und demgemäß mit wenig persönlichem Leben erfüllt ist, 2. daß im Verhältnis der aufeinanderfolgenden Generationen mehr der Zusammenhang als der Gegensatz betont wird. Dem ersten Mangel begegnet die biologische Betrachtungsweise, die den Zeitpunkt der Geburt entscheidend sein läßt und damit das Einzelleben individualistisch in den Vordergrund stellt, dem zweiten die phänomenologische Einstellung, die auf das Wesen der geistigen Kollektivbewegungen, die zu bestimmten Zeitpunkten in Erscheinung treten, gerichtet ist. b) Die biologische Richtung ist durch das Aufsehen erregende Buch W i l h e l m P i n d e r s über „Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas“ (Berlin 1927) in den Vordergrund des Interesses gerückt worden. Es handelt sich dabei insofern um eine interne Angelegenheit der Kunstwissenschaft, als gegenüber dem neumodischen Ideal einer Kunstgeschichte ohne Namen hier das Recht und die Notwendigkeit der nicht-anonymen Kunstgeschichte mit neuen Gründen verfochten wird. Die geistreich formulierte „Ungleichzeitigkeit |#f0562 : 538|

des Gleichzeitigen“, die aus der Gleichzeitigkeit verschiedener Altersgruppen folgt, sagt an sich nichts Neues, ist aber von besonderer Bedeutung für den kunstgeschichtlichen Wissenschaftsbetrieb, für den allzu leicht Stilbestimmung und Datierung auf ein und dasselbe hinauskam. Demgegenüber wird auf die Erkenntnis Wert gelegt, daß jeder Zeitpunkt mehreren Generationen angehört, von denen jede in einem anderen Zeitalter ihrer selbst steht. Historisches Verstehen ist Erfassen der Polyphonie verschiedener Altersschichten in mehrdimensionalem Zeitdenken. In musikalischen Bildern wird dieses Zusammenklingen verdeutlicht: was als einheitliche Zeitfarbe erscheint, ist die Scheinakkordik des vertikalen Zusammentreffens einzelner Töne, die jedoch verschiedenen Horizontalsystemen einer Fuge angehören. Es handelt sich also um einen Dualismus von Zeit und Generation. Zeitcharakter liegt in der Einheit der Mittel, aber bei dieser Einheit der Mittel gibt es Problemverschiedenheit, und nur die Problemeinheit bringt den Generationscharakter zum Ausdruck. Bezeichnend für die Einseitigkeit des Prädestinationsstandpunktes ist es nun, daß die Probleme nicht an den Werdenden herangetragen werden, sondern daß sie schicksalsbestimmt mit ihm geboren sein sollen. Jedem einzelnen ist die Möglichkeit seiner Entfaltung als Mitgift in die Wiege gelegt, und die Übereinstimmung dieser Möglichkeiten ist die Entelechie der Generation. Was an Reibungen und Erfahrungen, Einflüssen und Beziehungen auf die lebendige Entwicklung der geprägten Form einwirkt, ist sekundär. Wie wenig von solchen Bildungseinflüssen gehalten wird, kommt etwa in dem Satz zum Ausdruck: „Der Philosoph einer Maler-Generation ist nicht der, den sie etwa liest (vielleicht glaubt sie an diesen), sondern der, mit dem sie geboren ist (vielleicht weiß sie nichts von ihm).“ In diesem Sinne wird nun zwischen Vermeer und Spinoza (1632), zwischen Watteau und Berkley (1684), zwischen Manet und Wundt (1832) ein Zusammenhang erblickt. Geburt geht vor Gleichzeitigkeit des Daseins. Der Generationsrhythmus aber und seine Dynamik entstehen durch den Wurf der Natur. Anders als es etwa Ibsens aufklärerische Meinung war, wonach zu jeder Zeit gleichviel Gescheitheit in der Welt herrsche und die verschwenderische Verausgabung besonderer Klugheit immer an ein paar Durchschnittsintelligenzen wieder eingespart werden müsse, kommt bei Pinder die Ökonomie darin zum Ausdruck, daß die Natur gewissermaßen Quartalsverschwenderin ist, daß sie in Reihen sich verausgabt und die Geburt großer Meister auf ein paar Jahre |#f0563 : 539|

häuft, um dann wieder eine Zeit lang auszuruhen. In diesen Intervallen, nicht in der Wirkungsdauer, liegt das Zeitmaß. Es ist unregelmäßig, denn „es gibt Zeiten, in denen die Intervalle sehr klein sind, ein überwältigender Lebensstrom auffallend schnell hintereinander entscheidende Geburtsschichten erzeugt“; aber es gibt auch ganz große Meister, die „die stilgeschichtliche Kraft von Generationsfolgen“ haben. Das erste wird etwa an dem angeblich zehnjährigen Abstand zwischen den Generationen Michel AngeloGiorgione (1475/78) und Tizian-Raffael-Correggio (1477/83/94), die aber ineinander übergreifen, veranschaulicht oder an dem rund zwanzigjährigen Abstand zwischen Menzel (1815) Marées (1837) Hodler (1853), der seine Entsprechung findet in dem Verhältnis zwischen Courbet (1819) Cézanne (1839) van Gogh (1853). Pinder beschränkt aber den Begriff der allwaltenden Natur durch die Kultur, indem er hier ein europäisches Gesetz erblickt, das nur auf das Abendland beschränkt ist und mit dem geistigen Wikingertum Europas in Zusammenhang gebracht wird. Es soll auch für die anderen Künste gelten. Das Generationsgesetz wird sogar gesteigert zu einer allegorischen Übertragung auf ihre Altersfolge, denn die Künste selbst leben wie die Menschen als Zeitgenossen, jede in einem anderen Zeitalter ihrer Entwicklung stehend, nebeneinander her. Die Altersfolge ist Architektur, Plastik, Malerei, Musik. Die Architektur, die heute (1927) nur noch Zweckkunst ist, ist abgelebt, während die absolute Musik noch in ihrer Jugend steht. Beethovens Musik bedeutet für das Jahr 1800 dasselbe wie die Kathedrale für das Mittelalter, dessen Symphonie sie gewesen ist. Für die Dichtung ist bei dieser Anordnung der Künste nach der Länge ihrer Entelechien und nach dem Wechsel ihrer lebenskräftigen Herrschaft und Führerschaft kein rechter Platz da. In einer durch den Doppelcharakter der Sprache als Mitteilungsmittel und als Kunstform bedingten Sonderstellung entzieht sich die Dichtkunst der sogenannten natürlichen Staffelung, dem Generationsgesetz der mathematisch-handwerklich fundierten Künste, und bleibt mit der Philosophie und Wissenschaft vereinigt. Dafür soll sie in jedem Zeitpunkte mit den anderen Künsten, am engsten mit den gerade lebenskräftig herrschenden, in innerlicher Generationsverbindung stehen. Und aus gleichem Geburtsjahre werden nun die Gleichungen bald zwischen Dichter und Maler (Cervantes Greco 1547/48; Heinse Goya 1746) hergestellt, bald zwischen Dichter und Musiker (Hölderlin Beethoven 1770; Eichendorff Weber 1788/86). Wobei zu sagen ist, daß der von Witkop mit Glück durchgeführte Vergleich |#f0564 : 540|

zwischen Beethoven und Heinr. v. Kleist (1777) weit ergiebiger ist als der mit Hölderlin. Als Auslegung einer unbestreitbaren Tatsachenbasis, als wichtige „innerlich begründete, wenn auch unerklärliche Gliederungsmöglichkeit“ stellt Pinder seine Generationslehre zur Diskussion. Die Aufnahme, die ihr bei den kunsthistorischen Fachgenossen zuteil wurde, hat uns hier nicht zu beschäftigen, dagegen wohl das literarische Gegenstück, das Hans v. M ü l l e r in seinem kleinen Buch „Zehn Generationen deutscher Dichter und Denker“ (Berlin 1928) ein Jahr nach Pinder in Erweiterung früherer eigener Versuche erscheinen ließ. Hier ist keine neue Theorie gegeben, sondern Tatsachenbasis ohne Auslegung; eine Erscheinung, die gesehen, aber nicht erklärt werden kann. Ein oberflächlicher Überblick dient zur Einführung der Geburtstabellen, in denen gruppierte Altersfolgen der deutschen Literatur von 1561 (dem Geburtsjahr Christoph v. Schallenbergs) bis 1892 zurechtgeschnitten sind. Die praktischen Gesichtspunkte der Bibliotheksanordnung stehen im Vordergrund; doch verrät sich die in einer früheren Tabelle (1917) schon ausgesprochene Absicht, „revolutionäre Ideen als eine harmlose Anweisung für Sammler zum Aufstellen ihrer Bücher zu maskieren“. Daher hat dies Unternehmen ein doppeltes Gesicht: als eine das bibliographische Handbuch des Goedekeschen Grundrisses ergänzende biographische Zeittafel leistet die saubere Arbeit sehr gute Dienste; außerdem hat sie aber das ungewollte Verdienst, die konsequente Handhabung des Grundsatzes, daß gemeinsame Tendenzen lediglich aus dem Zwang der Geburtslage hervorgehen und daß sie sich, wie nach Linnés System, einfach in Jahreskästen einordnen lassen, ad absurdum zu führen. Äußerlich hat man zwar den Eindruck, daß das Patience-Spiel nach mehrmaligem Legen endlich aufgegangen ist. Zehn Generationen sind gebildet, von denen jede über 29 bis 36½ Geburtsjahrgänge sich erstreckt und in 4 bis 5 Gruppen von 7 bis 8 Jahren Umfang geteilt ist. Die erste bis fünfte Generation bilden ein Zeitalter, das als „Renaissance im weiteren Sinne“ bezeichnet wird und wieder 3 Glieder hat: Frühbarock (Generation I), Hochbarock (Generation II), Spätbarock, gemischt mit Aufklärung (Generation III bis V). Die sechste bis achte Generation schließen sich als das Jahrhundert Hamanns zusammen in drei Gliedern, von denen das erste Rokoko, Sturm und Drang und Klassizismus, das zweite Romantik heißt, während das dritte, nur noch zu einem kleinen Teil von Hamanns Geiste getrieben, durch die Worte Zerfall und Nachblüte charakterisiert wird. Die neunte Generation, die immerhin Namen wie Conr. Ferd. Meyer, |#f0565 : 541|

Josef Viktor v. Scheffel, Paul Heyse, Wilhelm Raabe, Ludwig Anzengruber, Detlev v. Liliencron, Ernst v. Wildenbruch, Karl Spitteler aufweist, soll für die Dichtung ausfallen. Ihr Philosoph Nietzsche spricht ins Leere. Dasselbe hätte mit mehr Recht von der dritten Generation gesagt werden können, in der kein Dichter der Stimme des Philosophen Leibniz antwortet, oder von der vierten, in der alles Gewicht auf die Namen der Musiker Händel und Bach fällt. Diese Generationen sind aber mit mehr Liebe behandelt, weil sie sich immerhin als Ansätze zum Aufstieg in zyklische Zusammenfassung einpassen lassen, während die unglückliche neunte Generation zwar der Gruppe C zugerechnet wird, aber inhaltlos bleibt, weil der dritte Anlauf erst mit der zehnten Generation beginnt. Der Erfolg des Anlaufs ist jedesmal von fremder Hilfe abhängig: Generation I steigt aus dem Nichts empor mit Hilfe der Romanen (in Epos und Lyrik) und der Engländer (im Drama); der zweite Anlauf der sechsten bis achten Generation glückt, weil sich die deutsche Dichtung durch acht verschiedene Quellen der Anregung erneuert, nämlich aus dem orientalischen und klassischen Altertum, aus dem europäischen und asiatischen Mittelalter, aus der englischen und deutschen Volkspoesie, aus Shakespeares Dramen und eigener ästhetischer Besinnung; der dritte Anlauf aber, der mit der zehnten Generation beginnt, stützt sich auf skandinavische, russische und französische Altersgenossen von Generation IX. Und warum die vor der ersten Generation liegende Literatur nicht gezählt wird, ergibt sich aus der Umkehr desselben Prinzips: sie war „durch Inzucht völlig verblödet“ (S. 47). Dies trifft zwar für einen Fischart keineswegs zu, ist aber für die Leichtfertigkeit des Tones und der Begründung charakteristisch. Der uralte und, wie man wohl sagen darf, gänzlich veraltete Grundsatz der Periodisierung nach fremden Einflüssen ist vielleicht dem Generationsprinzip am meisten entgegengesetzt; er läßt sich noch allenfalls mit der Auffassung in Einklang bringen, daß die Generationseinheit durch Hineinwachsen in geistige Strömungen sich bildet, aber am wenigsten mit dem Gedanken, daß sie ihre Potenzen von Geburt an in sich trägt. Schließlich sind aber diese Altersgruppen, zwischen denen ein Abstand von 36 Jahren liegt, gar keine Generationen, weder im genealogischen Sinne, noch im Sinne der Stileinheit oder Problemgemeinschaft. Sie sind auch nicht vom Zentrum her bestimmt, sondern von der Peripherie. Flüssige Grenzen werden fixiert, aber die Kristallisationspunkte werden nicht erfaßt. Zwischen Lessing und Hamann, die im Alter um ein Jahr getrennt sind, wird die Wasserscheide gelegt: |#f0566 : 542|

der eine wird als Krönung und Abschluß der mit Bodmer und Gottsched einsetzenden Normen suchenden Generation gesehen, obwohl doch, wenn irgendwo, ein generationsmäßiger Gegensatz in dem Kampf Lessings gegen Gottsched zum Ausdruck kam; der andere ist der gewaltige Prophet des Irrationalismus, mit dem die neue Generation beginnt. Die Folge ist nun, daß sich nicht nur „schnell noch, um nicht den letzten Moment zu verpassen“, das langlebige Trio des Rokoko innerhalb der Sturm-und-Drang-Generation ans Licht drängt: Wieland, Scheffner und Thümmel mit Musäus als Viertem, sondern daß Erzaufklärer und Rationalisten wie Friedrich Nicolai, Cornelius Hermann v. Ayrenhoff und Joseph v. Sonnenfels in Hamanns Gefolge zur neuen Generation aufrücken, und daß Karl Gotthelf Lessing, der doch auch nach genealogischem Generationsbegriff zu seinem älteren Bruder Gotthold Ephraim gehört, von ihm getrennt wird, während vorher einmal in Johann Jakob Moser und Friedrich Karl v. Moser Vater und Sohn zur gleichen Generation gezählt wurden. Ein ähnliches Mißgeschick ist es, wenn Knorr v. Rosenroth, Heinrich Mühlpfort und Quirinus Kuhlmann als ausgesprochene Vertreter des Hochbarock in die erste Generation der bürgerlichen Aufklärung einrücken müssen oder wenn Kotzebue und Garlieb Merkel, Haug und Weißer, Mathisson und Schmidt v. Werneuchen, die Klassizisten Conz und Baggesen und der Rationalist Paulus, also alle die Vertreter der Rückständigkeit, mit denen die Romantiker in Fehde lebten, nun mit ihnen in Gemeinschaft gebracht werden. Es sind Altersgenossen, aber nicht Generationsgenossen in dem Sinne, in dem der Begriff Generation gerade für die deutsche Romantik zum erstenmal formuliert wurde, nämlich als „ein engerer Kreis von Individuen, welche durch Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen, wie sie in dem Zeitalter ihrer Empfänglichkeiten auftraten, trotz der Verschiedenheit hinzutretender anderer Faktoren zu einem homogenen Ganzen verbunden sind.“ (Dilthey.) Ein Biologe von Fach, W a l t e r S c h e i d t , hat in seinem Buch „Lebensgesetze der Kultur“ (Berlin 1929) das Verfahren, das sich biologisch nennt, einer beachtenswerten Kritik unterzogen und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß mehr ein Kunstfertigkeitsversuch als eine Methode vorliege. v. Müllers Zusammenstellungen stellen nach seiner Prüfung eher einen „Blindversuch“ als eine „experimentelle Bestätigung“ dar. Das Material der Geburtsdaten ergibt keinen Anhaltspunkt für eine unzufällige Gruppierung der Geburtsabstände historisch bekannter Dichter und Denker. Eine Lösung des Rätsels der Gruppenbildung wird vielmehr im lebensgesetzlichen Zusammenhang |#f0567 : 543|

zwischen „Volk“ und „Führer“ gesucht, also in einer Anpassung von Mensch und Umwelt, die nur auf dem dritten Wege Erklärung finden kann. c) In einem Zeitpunkt, da der Positivismus in Blüte stand, hat W i l h e l m D i l t h e y , in dem die Lehren Rankes noch lebendig waren, den romantisch-historischen Generationsbegriff am Beispiel der deutschen Romantik erschlossen. An drei Stellen seiner Werke findet sich angedeutet, worin für ihn das Wesentliche und Anwendbare des Begriffes lag: der Novalis-Aufsatz von 1866 sieht in der Abgrenzung der Generation eine fruchtbare Möglichkeit zum Studium der intellektuellen Kulturepoche; im „Leben Schleiermachers“ von 1870 bildet der Generationsbegriff den Untergrund der Darstellung; in dem Aufsatz „Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat“ (1875) wird er in wörtlicher Anlehnung an den Novalis-Aufsatz als ein Gerüst des Verlaufs geistiger Bewegungen methodisch gewertet. Am deutlichsten spricht das „Leben Schleiermachers“ in seinem 6. Kapitel aus, worin sich Diltheys Anschauung sowohl vom Konstruktionsschema des Positivismus als von der biologischen Prädestinationslehre unterscheidet. Er begnügt sich nicht mit der paradoxen Tatsache, daß die romantische Dichtung, die dicht neben den vollendetsten Schöpfungen Goethes und Schillers, von der Zeit im höchsten Maße begünstigt, alle Kräfte an sich zog, sich dennoch „in sich selber verzehrte, wie infolge einer mitgegebenen Anlage ihrer Organisation“. Vielmehr erscheint ihm diese Tatsache aus der literarischen Konstellation erklärbar. Es lag nicht an einem Mangel der Begabung; vielmehr treten uns ja die Begabungen in staunenswerter Fülle und Frühreife entgegen. „Ungefähr dasselbe Maß der Anlagen, aus denen das dichterische Genie sich formt, mag in einer jeden neuen Generation vorhanden sein. Erst die Bedingungen, unter denen diese Anlagen sich entwickeln, entscheiden über die Lebensbahnen. Oder wie wollte man sonst die Tatsache erklären, daß einer aufsteigenden poetischen Bewegung niemals der vollendende Genius fehlt?“ Die Romantik aber war keine aufsteigende Bewegung: sie sah sich dem dichterischen Höhepunkt unserer Literatur gegenüber; die ganze junge Generation wuchs im Studium von Lebensansichten, ästhetischer Technik und Kunstmitteln der größten Poeten auf; statt sich mit unbefangenem Lebenssinn dem Eindruck der Welt selber hinzugeben, verarbeitete man in sich die verschiedenen Arten, die Welt anzuschauen und dichterisch darzustellen; statt einen neuen vollen Lebensgehalt mit gesunden Sinnen aus Menschen und Schicksalen |#f0568 : 544|

selber zu empfangen, bildete man Ansichten von den Ansichten, unter denen die Welt anderen erschienen war. Bemerkenswert an dieser Darstellung, die das Wesen der Romantik nicht erschöpfen will und sich auf wenige Momente, nämlich das Überliterarische, das Leben aus zweiter Hand, den Intellektualismus der Frühromantiker beschränkt, ist die Bedingtheit durch die erdrückende Leistung der vorhergehenden Generation. Diese Leistung war in der Geburtsstunde der romantischen Altersgenossen noch gar nicht vorhanden und konnte erst in den Jahren der Entwicklung zum schicksalbestimmenden Bildungserlebnis werden. Das Gleichnis der physischen Genealogie steht also auf einem Fuße fest, insofern die Söhne ohne die Väter nicht zu denken sind, aber es hinkt auf dem andern, indem nicht im einseitigen Akt der Zeugung, sondern in der wechselseitigen Berührung, in der Reibung und Spannung zwischen Werdendem und Vollendetem der fruchtbare Zeitpunkt der Bedingtheit zu erblicken ist. In diesem Sinne muß sich an der vollendeten Romantik wieder eine neue Generation gebildet haben, die ohne ihren Vorausgang nicht zu denken ist, auch wenn sie völlig andere Ziele vor sich sieht. Je näher wir unserer eigenen Zeit kommen, desto mehr erfüllt sich der Generationsrhythmus mit persönlichem Leben, sind wir doch gewohnt, von unserer eigenen Lage auf die Zeit der Väter und Großväter zurückzublicken. So hat denn auch das letztvergangene Jahrhundert als erstes zu einer generationsmäßig gegliederten Gesamtdarstellung seiner Literatur herausgefordert. Im Jahre 1909 ließ F r i e d r i c h K u m m e r seine „Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, dargestellt nach Generationen“ erscheinen. Er nannte als Anreger Erich Schmidt, als historische Vorgänger Ranke, Rümelin, Lorenz, als literarhistorische Verwandte Haym, Stern und Bartels, aber er ließ den Namen Dilthey ungenannt, obwohl seine Definition ihm besonders nahe kam: „Eine Generation umfaßt alle etwa gleichzeitig lebenden Menschen, die aus den gleichen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Zuständen hervorgegangen sind und daher mit verwandter Weltanschauung, Bildung, Moral und Kunstempfindung ausgestattet sind.“ Es ist im Grunde dasselbe gedacht, aber ein näherer Vergleich zeigt doch, wie verwaschen die spätere Formulierung ist: „Der engere Kreis von Individuen“ ist ausgedehnt auf „alle etwa gleichzeitig lebenden Menschen“; die „Verbindung zu einem homogenen Ganzen“ ist ersetzt durch eine „Ausstattung mit verwandter Weltanschauung, Bildung, Moral und Kunstempfindung“; es fehlen „die großen Tatsachen und Veränderungen“ als generationsbildende |#f0569 : 545|

Gelegenheiten ebenso wie die differenzierenden Faktoren, die die Generationsbildung nicht verhindern können. Dafür ist in der Ausführung ein entwicklungsmäßiger Gang innegehalten, der den Wellenschlag mit der Zeitlupe sehen läßt und gewissermaßen Generationen innerhalb der Generation auseinanderlegt, nämlich Vorläufer, Pfadfinder, führende Talente, Genies (wenn sie da sind), selbständige Talente ohne führende Bedeutung, abhängige Talente, Industrietalente. Auf die Geburtsdaten ist keinerlei Wert gelegt, sondern nur auf den Zeitpunkt des Auftretens; der von Pinder so richtig gesehene Unterschied zwischen Gleichzeitigkeit und Gleichaltrigkeit ist daher nicht in aller Schärfe erkannt; vielmehr erlaubt das Duldungsprinzip „aller etwa gleichzeitig lebenden Menschen“ einen Austausch innerhalb der Altersgruppen, so daß der 1819 geborene Fontane künstlerisch zur fünften Generation des Jahrhunderts, also den um 1860 geborenen Naturalisten gezählt wird, während der 1857 geborene Sudermann sich in die vierte Generation, in die Nachbarschaft Spielhagens und Lindaus zurückversetzen lassen muß. Die Kritik Hans v. Müllers, daß hier nicht Dichtergenerationen, sondern Lesergenerationen gemeint seien, schießt vielleicht über das Ziel hinaus, aber die richtige Trennung, die Pinder zwischen Einheit der Mittel und Einheit der Probleme macht, vermag den Rechenfehler aufzuzeigen. Fontane hat in der Tat die Mittel mit der jüngeren, die Probleme aber mit seiner eigenen Generation gemeinsam. In diesem Zusammenhang muß ich auch meine eigene Beschäftigung mit der Generationsfrage kurz erwähnen. In der 1913 gehaltenen Baseler Antrittsvorlesung „Literaturgeschichte als Wissenschaft“ (Heidelberg 1914) hatte ich bereits Veranlassung, mich mit Kummers Generationslehre auseinanderzusetzen und zu bemängeln, daß neben der zeitlichen und kulturellen Gemeinschaft die lokale Gruppenbildung als dritte Koordinate des dreidimensionalen Wirkungszusammenhanges zu kurz komme. Die potentielle Trennung in führende Talente, selbständige Talente ohne führende Bedeutung und abhängige Talente riß beispielsweise die drei annähernd gleichaltrigen Landsleute Uhland, Kerner und Schwab in Kummers Darstellung auseinander und zerstörte damit eine landschaftliche Generationseinheit. Anderseits war Kummer darin Recht zu geben, daß gleiches Geburtsdatum nicht unbedingt eine Zusammengehörigkeit verbürge. Als Beispiel nannte ich aus dem 18. Jahrhundert Jak. Mich. Reinh. Lenz und Johann Heinrich Voß, die man schwerlich auf einen Nenner bringen kann, obwohl beide in zwei aufeinanderfolgenden Monaten des Jahres 1751 geboren sind. |#f0570 : 546|

Man braucht das nicht ganz so leicht zu nehmen, wie der spanische Generationstheoretiker José Ortega y Gasset, der die Verschiedenheit der Gegenspieler unter den Zeitgenossen für gegeben hält und hinter den heftigsten Gegensätzen doch immer leicht die Gemeinschaft der Einstellung entdecken will. Es gibt Altersgenossen, die man ohne Kenntnis ihres Geburtsdatums gemäß ihrer historischen Wirkung nimmermehr derselben Generation zuteilen würde. Die Müllerschen Tabellen zeigen noch manches weitere ungleiche Paar dieser Art wie Gottsched und Zinzendorf (1700), Uz und Möser (1720), Vulpius und Fichte (1762), Börne und O. H. v. Loeben (1786), Heinrich Heine und Jeremias Gotthelf (1797), Hauff und Wienbarg (1802), Storm und Scherr (1817), Ricarda Huch und Frank Wedekind (1864), Wilhelm v. Scholz und August Stramm (1874), Jakob Schaffner und Rainer Maria Rilke (1875). Meist ist es die Herkunft aus ganz verschiedenen Landschaften und Lebenskreisen, die die Einheit schaffende Generationstendenz nicht hat durchdringen lassen, aber es wirkt doch noch ein anderes mit, nämlich eine von Zeit, Stamm und Landschaft unabhängige Verschiedenheit des Anlagetypus. Die Behandlung, die ich in meiner späteren Schrift „Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik“ (Leipzig 1926) dem Generationsproblem zuteil werden ließ, konnte auf einen voreingenommenen Beurteiler wie Hans v. Müller den Eindruck machen, daß ich „nur mit den stärksten inneren Hemmungen“ auf die Vorstellung eingegangen sei. Ich glaube, daß diese Hemmungen eher im Gegenstand als in mir lagen. Für die zwei schon früher beobachteten Abweichungen der Regel mußten Erklärungen gesucht werden: für die lokale Begrenzung der Generationsbildung und für die trotz der Einheitstendenz vorkommende Gegensätzlichkeit und Wesensverschiedenheit unter den gleichzeitig Geborenen. Für das erste bot gerade die Ausbreitung der romantischen Bewegung ein sehr günstiges Beobachtungsfeld. Jene von Dilthey hervorgehobene Bedingtheit durch den Gipfel der klassischen Dichtung galt in erster Linie für den in Jena und Berlin versammelten Kreis der Frühromantiker, der unmittelbar vor dieser Höhe stand. Ihm war die Steigerungstendenz diktiert, diesen Gipfel zu überwinden. Der Widerstand gegen die verknöcherte Schulmeisterei der Aufklärung war schon im Pietismus, im Rousseauismus und Sturm und Drang vorausgenommen, so daß sich diese Gegenbewegung bei der jungen Generation nicht selbständig Bahn zu brechen brauchte. Aber in Gegenden, wo der protestantische Pietismus nicht die Seelen erschüttert hatte, wo der Sturm und Drang kaum zur Entfaltung gelangt und |#f0571 : 547|

die Macht der Aufklärung noch ungebrochen war, wie im katholischen Bayern und im josephinischen Österreich, mußte sich in der jungen Generation erst eine spontane Abwehrbewegung entwickeln. Dort war auch keine Klassik zur Entfaltung gekommen; die Romantik stieß unmittelbar auf die Aufklärung, und zwar zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt als in Norddeutschland, wo sie mit der Klassik zeitlich beinahe zusammenfiel. Die Klassik kommt dagegen in Österreich mit Grillparzer, der in den Widerstreit von Aufklärung und Romantik hineinwuchs, als Synthese ganz anderer Elemente (nämlich der Romantik statt des Sturmes und Dranges) erst in einer nachromantischen Generation zur Entfaltung. Trotzdem erblickt im katholischen Bayern schon im Jahr 1765 (also vor den Brüdern Schlegel) der Vollromantiker Franz Baader das Licht der Welt. Die Generation ist da, aber sie muß erst geweckt werden. Für Baader, der schon durch seinen Lehrer J. M. Sailer mit der religiösen Gefühlswelle des Pietismus in Berührung gebracht war, vollendet sich, wie David Baumgardt gezeigt hat, die Erweckung durch seine Freundschaft mit Schelling. Zehn Jahre Altersunterschied, aber um 1797 etwa der gleiche Stand der Naturphilosophie. Eine bayrische Romantik indessen hat doch erst das neue Jahrhundert in Landshuter und Münchner Gesinnungsgemeinschaften herausgebildet. Das andere Phänomen, das der Erklärung bedarf, liegt in der jederzeit zu beobachtenden Sonderstellung, die einzelne Altersgenossen von der Generationsgemeinschaft ausschließt, sowie in der Parteibildung, die zu Zeiten eine Generationsspaltung herbeiführt. Diese Erscheinung läßt sich nicht allein durch lokale Bedingungen erklären, sondern muß, so sehr sie als Gegenbeweis gegen den Zwang der Geburtslage auszuwerten ist, doch letztlich auf die Geburt zurückgeführt werden als individuelle Entelechie und angeborene Bedingtheit der Anlage. Ich habe in meinem Romantik-Buch eine mögliche Lösung dieses Problems durch Verbindung der Generationsvorstellung mit der Typenlehre angedeutet. Unter den gleichzeitig Geborenen mögen die verschiedenen Veranlagungstypen von vornherein in ungefähr gleicher Mischung vertreten sein, aber einem bestimmten Typus ist es vorbehalten, zur Zeit seines Hervortretens in eine gespannte Zeitlage hinein das zündende Wort zu schleudern, das als Gebot der Stunde und als neue Parole die junge Generation einigt. Dieser Typus wird zum f ü h r e n d e n G e n e r a t i o n s t y p , der nicht allein durch ihm günstige Bildungsfaktoren zur vollen Herausbildung seiner Eigenheit, zur Steigerung seiner Anlagen, zur Umbildung alter |#f0572 : 548|

und Schöpfung neuer Formen gelangt, sondern dem es in seiner Geschlossenheit auch gelingt, einen zweiten Teil der Generation, der typisch anders veranlagt ist, mitzureißen. Diese zweite Gruppe bildet den u m g e l e n k t e n T y p u s der Generation, der durch seine Anpassung die Überlegenheit des ersten verstärkt und durch seine Wandlung erst den nach außen hin sichtbaren Eindruck der Generationseinheit vollendet. Denn durch seinen Übertritt wird nun ein dritter dem ersten ganz entgegengesetzter Typus isoliert und zur zeitlichen Wirkungslosigkeit verurteilt. Es ist der u n t e r d r ü c k t e T y p u s , der in Wahrung seiner Eigenart sich nicht zur Geltung bringen kann und daher vor der Wahl steht, entweder in ausgetretenen Bahnen, die seiner Art entsprechen, rückständig weiterzutrotten oder in Verleugnung seiner Eigenart als charakterloser Mitläufer der Mode eine untergeordnete Rolle zu spielen oder in hartnäckiger Versteifung seiner Eigenart als Einsamer auf die Resonanz der Kommenden zu warten. Er stellt sich, wenn er nicht nachgibt, entweder als Epigone zu den Großvätern oder als Vorläufer zu den Söhnen und Enkeln. Das Zustandekommen dieses Bildes ist abhängig sowohl von der Intensität des ersten als von der Nachgiebigkeit des zweiten und dritten Typus. Wird die Umlenkung, die dem ersten Typus die Herrschaft verleiht, nicht durchgesetzt, so kommt es zu keiner Generationseinheit, und die Gegensätzlichkeit zwischen dem ersten und dritten Typus findet ihren Austrag in einer Generationsspaltung.

Es kommt auf die Kraft der neuen Bewegung an, ob sie durch Umlenkung der Halbheit alles mit sich zu reißen vermag. Die deutsche Romantik bietet das Bild der Generationseinheit. Neben dem rein romantischen Typus, der in Friedrich Schlegel, Novalis, Werner, Wackenroder, Brentano personifiziert ist, stehen die Umgelenkten, die sich, wie August Wilhelm Schlegel und Tieck, durch ihre Geschicklichkeit sogar eine zeitweilige Führerrolle sicherten. Ein Troß von Pseudo-Romantikern folgt der Zeitmode. Aber der unromantische Typus, der seine rationale Anlage den Denkgesetzen der Romantik nicht unterwerfen kann, steht in Angriffsstellung bereit und gelangt am Ende mit dem Losbrechen einer neuen Generation zum Übergewicht.

Das Bild der Generationsspaltung dagegen sehen wir mehrfach im späteren 19. Jahrhundert, dessen Uneinheitlichkeit den Eindruck sehr schneller Generationsfolgen aufkommen läßt. Vielleicht wird das am deutlichsten bei den Naturalisten um 1890, die zum Teil Umgelenkte waren und nachmals zu ihrer Eigenart zurückfanden, zum Teil durch |#f0573 : 549|

die siegreiche Gegenströmung, die man auch als Auftreten einer neuen Generation betrachten kann, sich umlenken ließen. Der Romanist E d u a r d W e c h ß l e r bekannte 1923 in einem Aufsatz über „Die Auseinandersetzung des deutschen Geistes mit der französischen Aufklärung“ (Deutsche Vierteljahrschrift I, 615), seit mehr als zwanzig Jahren alle Vorlesungen über Literatur- und Geistesgeschichte auf Altersgemeinschaften aufgebaut zu haben, wobei er weder den genealogischen noch den biologischen, geschweige den naturgesetzlichen, sondern lediglich den geistesgeschichtlichen Sinn Rankes und Diltheys im Auge hatte. „In ungleichen Abständen treten neue Gruppen von Jahrgängen, genauer gesagt die Sprecher und Führer einer neuen Jugend hervor, die innerlich durch gleiche, in der Zeitlage gegebene Voraussetzungen, äußerlich durch ihre Geburt in einer begrenzten Spanne von Jahren verbunden sind.“ Fünf Altersgemeinschaften Frankreichs, zuerst die von Richelieu, Descartes, Gassend, Marquise von Rambouillet, Balzac, Voiture, sodann die zweite der Pierre Corneille, Madeleine de Scudéry und Conrart, die dritte mit Antoine Arnauld, La Rochefoucauld, Cyrano de Bergerac, St. Evremond und Scarron, als vierte Bossuet, Pascal, Molière, La Fontaine, Jean Racine, Malebranche, Boileau, als letzte Pierre Bayle, Fontenelle, Fénélon, Abbé St. Pierre haben den Bau der französischen Aufklärung errichtet. Fünf deutsche Altersgemeinschaften haben sich mit ihm auseinandergesetzt: Zur ersten rechnen die 170819 Geborenen, die gegen 1732 in zwei getrennten Gruppen auftraten, von denen die eine (Friedrich II., Hagedorn, Gellert, Elias Schlegel) dem französischen Vorbild unterworfen, die andere (Haller, Winckelmann, Gluck) einer echteren Einfalt hingegeben war; zur zweiten Altersgemeinschaft gehören die 172033 Geborenen: Kant, Klopstock, Lessing, Geßner, Hamann, Möser, Wieland, Haydn; zur dritten die zwischen 1740 und 1754 geborenen, um 1770 hervortretenden Stürmer und Dränger, zur vierten Schiller und Fichte (die deutschen Gegenbilder zu Corneille und Richelieu), sowie Mozart, Jean Paul und die Führer der Befreiungskriege, zur fünften Beethoven, Hegel, Hölderlin, Schelling und die zwischen 1767 und 1777 geborenen Romantiker. Auffallenderweise wird kein Versuch gemacht, französische und deutsche Generationen des gleichen Jahrhunderts zur Deckung zu bringen, obwohl auch für das Ende des 18. Jahrhunderts drei französische Altersgemeinschaften, die erste mit Mirabeau, die zweite mit Danton, die dritte mit Napoleon an der Spitze, gesondert werden. Mirabeau ist der Altersgenosse Goethes; Danton hat gleiches Geburtsjahr |#f0574 : 550|

mit Schiller; Napoleon ist Altersgenosse von Ernst Moritz Arndt und Alexander v. Humboldt. Den drei Altersgruppen Frankreichs entsprechen also zwei deutsche, und es stellt sich heraus, daß dieser Standpunkt, der die Generationen als Wellen und Schichten geistiger Bewegung auffaßt, jener internationalen Gleichstellung, zu der die Überbewertung des Geburtsjahres führt, sich fernhält und dafür den besonderen Entwicklungsverhältnissen jeder Nationalkultur Rechnung trägt. In einem späteren Aufsatz Wechßlers „Die Generation als Jugendgemeinschaft“ (Geist und Gesellschaft. Festschrift für Breysig 1927, I, 66/102) ist auf die Geburtslage kaum mehr Rücksicht genommen, sondern aller Nachdruck auf den Zeitpunkt gemeinsamen Auftretens gelegt. Das ist der Kairos, der Quellpunkt, an dem ein neuer Jugendgeist durchbricht. „Die Taten und Leiden echten Jugendgeistes: das ist der wahre Inhalt der Weltgeschichte.“ Jugendgemeinschaft aber ist die Trägerin des Jugendgeistes; sie wird erklärt als „die Summe der Jahrgänge in Stamm oder Volkheit oder Welt, welche äußerlich durch gemeinsame Jahre der Geburt und innerlich durch gemeinsame Eindrücke, Erlebnisse und Taten ihrer Kinder- und Jünglingszeit in ähnliche Lebensstimmung, Geisteshaltung und Fragestellung hineingewachsen und darin durch täglichen Umgang und gegenseitige Ermutigung, und oft auch durch den Widerstand der Umwelt bis zu dem Zeitpunkt ihrer ersten Reife und ihres Eintritts in die Zeit gefördert und bestätigt worden sind“. Diese Generationsfolge tritt in unregelmäßigen Zeitabständen hervor, die von unserer gewohnten Zeitrechnung ganz unabhängig sind, aber sie erlaubt doch größere Zusammenfassungen, denn von Zeit zu Zeit ist ein tieferer Einschnitt, eine Wende zu gewahren, wo sich das Neue schärfer vom Alten sondert, und die von einer Wende zur andern reichende Gruppe von Jungmannschaften heißt Zeitalter oder Epoche. Zur Ergänzung dieser Ausführungen sind noch die Thesen heranzuziehen, in denen der Inhalt der von Wechßler auf dem 2. Davoser Hochschulkurs im Frühjahr 1929 über „Das Problem der Generationen in der Geistesgeschichte“ gehaltenen Vorträge niedergelegt ist (Davoser Revue IV. Jahrgang Nr. 8 vom 15. Mai 1929). Hier wird Jugendgeist scharf geschieden vom sogenannten „Zeitgeist“, dessen Wesen darin bestehe, den wahren Jugendgeist zu verdrängen und endlich ganz zu ersetzen. Es wird angenommen, daß die Probleme der neuen Generation organisch in der Seele der Jugend enthalten und verborgen seien; sie entwickeln sich gleichsam im Schatten eines großen Ereignisses, das stattgefunden hat oder im Anzuge ist (Französische |#f0575 : 551|

Revolution oder Weltkrieg). In dem immer neuen Ansturm jeder jungen Altersgemeinschaft offenbart sich die geheimnisvolle Kraft alles Göttlichen. Dieses Göttliche, das sich unablässig erneuert, ergreift zunächst die großen Persönlichkeiten, dann die Massen, aber es ist durch die unvermeidliche Anpassung an eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Land zur Begrenzung und Abschwächung verurteilt.

Wechßlers Gedanken zum Generationsproblem verdanken einen letzten befruchtenden Aufschwung den „Denkformen“ von Hans Leisegang. Dieses 1929 ans Licht getretene System bietet einen durch sorgfältige Textinterpretation gewonnenen Schlüssel für die Verschiedenheiten logischer Sphären und sprachlicher Ausdrucksformen in einer Typologie, die Diltheys drei Weltanschauungsformen zur Vierzahl ergänzt. Eine kosmisch-organische, eine ethisch-persönliche, eine physikalisch-mechanische und eine rational-mathematische Richtung des Welterkennens sind im ganzen Aufbau ihrer Gedankenbildung zu unterscheiden. Dieses System hat Wechßler in sein Buch „Die Generation als Jugendreihe und ihr Kampf um die Denkform“ (Lpz. 1930) eingebaut, indem er nach hinreißender Apotheose des Jugendgeistes im zweiten Teil einen liebevollen Ausbau des Leisegangschen Systems mit tabellarischen Übersichten sowie einer charakterologischen Anwendung der Denkformen auf alle Erscheinungen geistigen Lebens durchführt. Indem die vier Reihen in paralleler Entwicklungsgeschichte über die vier Stufen der Merkformen, der Formen des wahrheitsuchenden Denkens, der Bauformen und der Formen des normativen Anerkennens oder Heilighaltens emporgeleitet werden, ist der Boden für die entscheidende Begegnung zwischen Jugendgeist und Denkform vorbereitet; indessen hätte die Ausführung dieses Themas einen dritten Teil beansprucht, der dem Buche fehlt. In den Davoser Thesen war behauptet, daß jede neue Altersgemeinschaft in ihrer Gesamtheit und jeder ihrer Denker im besonderen zwischen mehreren Denkformen wählen müsse. Wenn sich aber in solcher Wahl überhaupt erst die Gesinnungsgemeinschaft herstellt, so hat die Altersgemeinschaft als Einheit vor dem Durchbruch des Jugendgeistes überhaupt noch nicht bestanden. Eine freie Wahl unter den Denkformen ist dadurch beschränkt, daß die neue Jugendreihe, um einen eigenen Weg zu gehen, eine andere Richtung als die der vorausgehenden Generation einschlagen muß. Die seelische Not, in der die neue Jugend zusammentrifft, ist ja eben in der Unbefriedigung durch das, was die Älteren bieten, begründet. Es bleibt die Frage, ob nicht das Verhalten der vorausgehenden Generation, das den selbständigen |#f0576 : 552|

Weg in einer bestimmten Richtung verlegt, damit, ohne es zu wollen, eine bestimmte andere Richtung aufzwingt. Die Jugend kann, wenn sie ihren Eigenwert erweisen will, gar nicht anders, als daß sie gerade die Probleme aufgreift, deren Lösung die voraufgehende Generation schuldig geblieben war. In diesem Sinne wenigstens wollte Dilthey wohl zeigen, daß der deutschen Romantik, um sich gegenüber der Bewußtheit der Klassiker durchzusetzen, keine Wahl für den einzuschlagenden Weg übrig blieb. Dieser Weg mußte ins Unbewußte führen. Eine neue Generation tritt immer dann auf, wenn das Werk der vorausgehenden in seinen Umrissen fertig ist. Die Lücken, die das System der vorausgehenden Generation offen läßt, zeigen der kommenden den Weg. Jedes Einfache öffnet die Möglichkeit zur Steigerung und Übertreibung; jede übersteigerte Einseitigkeit fordert zu entgegengesetzter Einseitigkeit heraus. Insofern ist der Altersgeist durch sein Versagen nicht minder als der Jugendgeist durch sein Fordern an der Bildung einer neuen Generation beteiligt. 4. D i e g e n e r a t i o n s b i l d e n d e n F a k t o r e n a) V e r e r b u n g . Angeregt durch englische und französische Vererbungstheoretiker wie Galton, G. de Lapouge und Ribot suchte Ottokar Lorenz seine Generationslehre auf Gesetze der Erblichkeit zu gründen. Das, worauf es für seinen Periodisierungszweck vor allem ankam, nämlich die Zusammengehörigkeit von drei aufeinanderfolgenden Generationen, ließ sich, ebenso wie die Stetigkeit des Volksgeistes und Nationalcharakters, mühelos aus Blutsverwandtschaft und Vermischung der Ahnenreihen herleiten. Ebenso schien die Veränderung von Generation zu Generation auf nichts anderem als neuer Blutmischung infolge Verbindung mit anderen Familien zu beruhen. Was für die einzelne Ahnenreihe zutrifft, wurde somit ohne Bedenken auf die Vielheit und Gesamtheit übertragen unter Übergehung der Tatsache, daß geistige Führung niemals in der Weltgeschichte erblich gewesen ist, weder bei einer Familie, noch bei einem Stamm, noch bei einem Volke. Selbst die berühmten Beispiele, die sich in der Familie Bach für gehäufte Musikbegabung, in der Familie Tizian oder bei den Kaulbachs für erbliches Maltalent, in der Familie Bernoulli für mathematisches Ingenium darbieten, sind zumeist um einen überragenden Mittelpunkt gruppiert. Nicht anders ist es mit der poetischen Begabung der Familie Coleridge in England. Im übrigen tritt in bedeutenden Familien dank der „Polymerie“ nicht selten ein generationsmäßiger Begabungswandel in Erscheinung, der |#f0577 : 553|

die Erkenntnis des Erbgutes erschwert: der Kriminalist Anselm Feuerbach hatte den Philosophen zum Sohn und den Maler zum Enkel. Dichterische Begabung scheint weniger als die der anderen Künste ein Familienerbteil zu sein und sich auch in geringerem Maße als das musikalische, zeichnerische, schauspielerische oder mathematische Können im Zeichen erstaunlicher Frühreife zu äußern. Es ist ein einigermaßen seltener Fall der Literaturgeschichte, daß Vater und Sohn in ungefähr gleicher Bedeutung dastehen wie die beiden Alexandre Dumas in Frankreich. Die deutschen Beispiele von Niclas und Hans Rudolf Manuel, Georg und Gabriel Rollenhagen, Andreas und Christian Gryphius, Joseph und Guido Görres zeigen durchweg ein Absinken. Jedenfalls haben nur die romantischen Brüder Schlegel ihren Vater Johann Adolf gewaltig übertroffen. Der theoretisch angezeigte Fall, daß literarische Begabung des Großvaters im Enkel neu hervortritt, wird außer der tragischen Situation von Goethes Enkeln durch keine bedeutenden Belege veranschaulicht (Gottfried Justus und Gottlieb Wilhelm Rabener; August Gottlieb und Alfred Meißner). In der weiblichen Linie dagegen scheint die Vererbung günstiger zu verlaufen als in der männlichen, wofür neben der Nachkommenschaft der Karschin und der Charlotte Birch-Pfeiffer vor allem das Blut der Sophie v. La Roche ein Beispiel gibt. Die empfindsame Verfasserin des „Fräulein v. Sternheim“ hat zur Enkelin die Romantikerin Bettina v. Arnim, zur Urenkelin Gisela Grimm und zu Ururenkelinnen die beiden Schwestern Elisabeth v. Heyking und Irene Forbes- Mosse. Über 5 Generationen (mit einer Unterbrechung) erstreckt sich diese Reihe; aber trotz der starken Familientradition wird bei jeder dieser Schriftstellerinnen die Erbeigentümlichkeit durch die Generationsmerkmale überwogen. Andere Glieder der Familie haben gleiches Begabungserbe mitbekommen, aber sie sind vom Ruf der Generation nicht erreicht worden; das Begabungserbteil erscheint geradezu als Hemmnis, solange es nicht an neuen Zeitproblemen Gelegenheit zu selbständiger Entwicklung findet. Der notwendige Richtungswechsel steht im Widerstreit mit dem Vererbungsprinzip und bedingt, daß dieselbe Familie nicht mehrere Generationen hindurch den Führertypus in Vertretung eines Erbamtes zu stellen imstande ist. b) G e b u r t . Jedes Jahr gibt Jubiläumsrednern und Zeitungsschreibern Gelegenheit, denen, die gerade vor einem oder mehreren Jahrhunderten geboren sind, huldigend sich zuzuwenden. Solches Erntefest des Kalenders lenkt die Aufmerksamkeit auf bisher kaum beachtete Altersgleichheiten, die im Scheinwerfer der Nachwelt einander näherrücken und Beziehungen sichtbar werden lassen, die für |#f0578 : 554|

die Mitwelt kaum erkennbar waren. Wer hätte beispielsweise im 18. Jahrhundert daran gedacht, Klopstock und Kant in einem Atem zu nennen? Damit soll nicht gesagt sein, daß die Nachwelt mit solcher Zusammenstellung sich in optischer Täuschung befindet; manches sieht sie schärfer, indem sie das Fernglas auf überragende Gipfel richtet, deren Zusammenhang sich der Mitwelt gar nicht erschließen konnte, weil ihr Blick in Tälern und Vorbergen beengt war. Erst die Ferne prägt die charakteristische Silhouette des Jahrgangs und stellt damit vor Rätsel unergründlicher Ursächlichkeit. Ist es ein Spiel des Zufalls, daß aus der Roulette der Zeit bestimmte Zahlen herausspringen, die allen Gewinn auf sich vereinigen? Da gab es ein Schicksalsjahr für das Drama, als 1564 Shakespeare, Marlowe, Alexandre Hardy und der Herzog Heinrich Julius von Braunschweig geboren wurden; da erwies sich das Jahr 1632 der Philosophie freundlich, indem es ihr John Locke und Spinoza schenkte; 1685 aber wurde die Musik begünstigt, indem Händel, Bach, Francesco Maria Veracini und Domenico Scarlatti zur Welt kamen. Ein Vergleich mit guten Weinjahren, deren charakteristisches Aroma der Kenner aus dem Produkt jeder Lage herausschmeckt, liegt nahe, nur daß das Wachstum des Weines innerhalb des gesegneten Jahres sich vollendet, während das des Menschen erst beginnt, so daß der Vergleich wenigstens bis zur Flaschenreife ausgedehnt werden müßte, wobei im Begriff des Jahrgangs die ganze Entwicklungszeit zusammenzufassen wäre, die die Gleichaltrigen gemeinsam durchleben. Als Jahrgang kommen sie im allgemeinen überhaupt erst zusammen mit dem Eintritt in die Schule, mit Militärdienst, Studium, Examen, Anstellung und dergleichen. Dabei hat die Altersklasse gegenüber dem Geburtenjahrgang schon Verschiebungen erfahren durch Zurückbleiben der Spätentwickelten und überhüpfendes Vorwärtsdrängen der Frühreifen. Trotzdem bleibt die Erscheinung eines Wurfes der Natur, die sich beispielsweise den Taktschlag von zehnjährigen Intervallen auferlegt zu haben scheint, als sie Johann Elias Schlegel 1719, Lessing 1729, Schubart 1739, Goethe 1749, Schiller 1759 zur Welt kommen ließ. Kann dieser Abstand als ganz natürlich angesehen werden, insofern dem Jüngeren im entscheidenden Zeitpunkt seiner Entwicklung gerade der um 10 Jahre Ältere zum Führer werden mußte, wie es für das Verhältnis von Lessing zu Schlegel, von Schiller zu Goethe allenfalls gelten darf? Es bleibt in dieser Generationsarithmetik ferner ein rätselvolles, auf keine gegenseitige Beeinflussung zurückzuführendes Zusammentreffen, daß das Jahr 1813 eine Altersklasse hervorbrachte, |#f0579 : 555|

die, gleichsam schicksalsmäßiger Bestimmung folgend, den Weg zum Drama einschlug, nämlich Ludwig, Hebbel, Wagner, Büchner, und das noch geheimnisvollere, daß der italienische Musikdramatiker Giuseppe Verdi in jener Schicksalsverknüpfung mit dem Altersgenossen Richard Wagner steht. Und schließlich würde Pinders Satz, daß der Philosoph einer Generation nicht der von ihr gelesene, sondern der mit ihr geborene sei, eine gewisse Bestätigung finden können, wenn man den 1813 geborenen Sören Kierkegaard mit seinem dramatischen „Entweder oder“ neben Hebbel stellt. Wollte man solches Zusammentreffen aus den europäischen Erschütterungen des Kriegsjahres erklären, so würde man das Schicksalhafte in Bedingungen suchen müssen, die vor der Geburt lagen. Man kann aber auch die Nachwirkungen der Befreiungskriege dafür verantwortlich machen, indem diese Altersgenossen in eine mit dramatischer Spannung geladene Atmosphäre hineinwuchsen. Als die französische Julirevolution das Signal für eine Bewegung gab, die den Zeitgenossen geradezu als Weltwende erschien, waren sie eben siebzehnjährig. Und gerade mit diesem Lebensalter setzt die Jugendpsychologie einen Zeitpunkt besonderer Empfänglichkeit und erwachender Selbständigkeit an. Geburtslage ist gleiche Entfernung von den Generationserlebnissen. Richard Wagner und Georg Büchner, die beide in dieselbe Bewegung hineingezogen werden, waren ihrer Anlage nach ganz verschieden. Das Drama aber war durch die Klassiker zur vornehmsten Dichtungsgattung erhoben worden, und die Tatsache, daß die Romantiker trotz ihrem Shakespearekult in dieser Gattung versagt hatten, verpflichtete die folgenden Generationen erst recht, hier ihren Lorbeer zu suchen. So ist es gekommen, daß Otto Ludwig entgegen seiner eigentlichen Anlage, die durchaus episch war, sich in unsäglicher Selbstquälerei zum Drama zwang, und daß auch andere Erzähler der gleichen und der folgenden Generation, wie Gottfried Keller und Paul Heyse die Erfolglosigkeit ihrer dramatischen Versuche kaum verschmerzen konnten. In England dagegen, wo mit Walter Scott der Roman zur herrschenden Gattung geworden war und wo das politische Leben ohne große Spannungen verlief, werden in dieser Generation die großen realistischen Erzähler Thackeray (1811) und Dickens (1812) geboren, die über die Richtung ihres Talentes nie im Zweifel waren. Der Wurf der Natur bleibt etwas Unfaßbares. Tatsachen wie die einer gesteigerten Geburtenziffer und eines Überwiegens männlicher Geburten nach verlustreichen Kriegen lassen ein geheimnisvolles Walten und einen Willen des Ausgleiches erkennen, der rational |#f0580 : 556|

nicht zu deuten ist. Demselben Willen ist es zu danken, daß, wenn die Zeit reif ist, immer der Genius geboren wird, den das Zeitalter braucht. Wann und wie er entsteht, ist unerrechenbar trotz aller Genealogie und aller Horoskope; aber welche Kräfte ihn formen, ist historisch faßbar. Selbst wenn das Bild zutreffen sollte, mit dem einmal eine „Philosophie der Astrologie“ sich begründete, nämlich, daß der ins Leben tretende Mensch nicht etwa ein unbeschriebenes Blatt sei, auf dem das Schicksal willkürlich seine Zeichen mache, sondern daß er einer photographischen Platte gleiche, die zwar belichtet, aber noch nicht entwickelt sei, selbst dann würde der dem Leben zufallende Entwicklungsprozeß, der sich nicht in der Dunkelkammer abspielt, eines Studiums wert sein, weil er wenigstens über einen Teil der Bedingungen des Werdens Aufschluß zu geben vermag. Über einen keineswegs nebensächlichen Teil, da bei schlechter Entwicklung die ganze Platte dem Verderben ausgesetzt ist. Die formgebenden, das Bild sichtbar herausarbeitenden Lebenskräfte des Entwicklers aber sind die gleichen für die ganze Aufnahmeserie; es dauert eine Weile, bis die Lösung ihre Kraft verloren hat und, da sie sich auswirkte, erneuert werden muß. So teilt der Einzelne den Einfluß der formbildenden Entwicklungskräfte mit seiner ganzen Generation, und hier sind, wenn nicht alle, so doch sicher bestimmende Ursachen der Generations-Gleichheit zu erkennen. c) B i l d u n g s e l e m e n t e . Wenn eine weitgreifende Geschichte der Pädagogik nicht nur den Wandel der Erziehungsgrundsätze und Bildungsmittel sowie ihrer Anwendung, sondern auch die Früchte und Ergebnisse dieses Wandels darstellen wollte, so würde sie in den Bildungstypen jedes Zeitalters nichts anderes als Generationstypen erfassen. Bis jetzt sind erst mit Anlehnung an kunstgeschichtliche Stilbegriffe der romanische und der gotische Mensch, der Renaissance-, Barock- und Rokokomensch in der Verschiedenheit ihrer Grundrichtungen gesehen worden. Der Aufklärer, der Empfindsame, der Romantiker, der Mensch der Restaurationszeit setzen die Reihe fort als Repräsentanten in sich geschlossener Ideenwelten. Aber diese Typen zeigen sich nur in groben Umrissen. Zur feineren Gliederung und zum Verständnis der psychogenetischen Entwicklung kann nichts besser verhelfen als die Beobachtung der wechselnden Bildungseinflüsse in ihrer Aufeinanderfolge. Schon die ausgehende Scholastik des Mittelalters erlebte eine generationsmäßige Scheidung mit dem realistisch-nominalistischen Gegensatz der via antiqua des Thomas v. Aquin und der via moderna des Wilhelm v. Occam. Die italienische Renaissance gibt sodann das klassische Beispiel für die Wandlung |#f0581 : 557|

des mittelalterlichen Menschen in den Menschen der Neuzeit, die mit Eindringen und Umsichgreifen der griechischen Bildung, mit Wiedererweckung Platons, mit neuer Naturauffassung, mit Auswirkung der großen Erfindungen und Entdeckungen und mit religiöser Aufklärung ruckweise sich vollzieht. Jakob Burckhardts „Kultur der Renaissance“ und ungefähr gleichzeitig Georg Voigts „Wiederbelebung des klassischen Altertums“, die das erste Jahrhundert des Humanismus behandelte, gliederten bereits die italienischen Humanisten in Generationen: zur ersten, die in Dante (geb. 1265) ihren Vorläufer hatte, gehörten Petrarca (1304), Boccaccio (1313) und Rienzo (1313), jene von der Idee der Wiederaufrichtung des alten Rom und seiner Herrlichkeit berauschten Poeten-Philologen, deren nationaler und persönlicher Ehrgeiz für Burckhardt durch das Symbol der Dichterkrönung auf dem Kapitol charakterisiert schien; zur nächsten Generation gehören die Schüler des Petrarca, die wie Coluccio Salutati (1330) und Luigi Marsiglio (1342) sein Werk in ciceronianischem Stil fortsetzten; eine folgende Generation wuchs schon im Zeichen der von Chrysoloras in Florenz eingebürgerten griechischen Studien auf und entwickelte sich mit Lionardo Bruni (1369), Poggio Bracciolini (1380), Enea Silvio (1405) zu jenem kosmopolitischen Humanismus, der auf dem Kostnitzer Konzil in Erscheinung trat; die unter Bessarion, Plethon, Georgios Trapezuntios, Gaza und Laskaris weiterentwickelten griechischen Studien wirkten sich dann in der neuplatonisch-kabbalistischen Naturphilosophie der Marsiglio Ficino (1430) und Pico von Mirandola (1466) aus. Sie fanden in Deutschland in Rudolf Agricola (1443), Johann Reuchlin (1455) und Johannes Trithemius (1462) ihre Generationsgenossen.

Deutlich scheidet sich in Deutschland eine erste Generation der Humanisten, die in Italien studiert hatte und in deutschen Übersetzungen das neue Bildungsgut verbreitete, wie Niklas v. Wyle (1410), Albrecht v. Eyb (1420), Heinrich Steinhövel (1420), von der zweiten, die an deutschen Universitäten einen neulateinischen Stil nationaler Färbung begründete, wie Wimpheling (1450), Conrad Celtis (1459), Jakob Locher (1471), Heinrich Bebel (1472). Das Bildungswerk der ersten Gruppe aber zog inzwischen weitere Kreise, sich verbreiternd im Bürgertum und Handwerkerstand, und ein Hans Sachs (1494) war, anders als die Meister, bei denen er lernte, bereits imstande, seine Bibliothek mit deutschen Übersetzungen antiker Geschichtsschreiber und Klassiker zu füllen. Drei Generationen später aber liest sein Handwerksgenosse, der Schuhmacher von Görlitz |#f0582 : 558|

Jakob Böhme (1575) naturphilosophische Schriften in deutscher Sprache, und das war erst möglich, nachdem die dritte Generation der deutschen Humanisten, jene Altersgenossen des Hans Sachs, zu denen außer Luther (1483) und Hutten (1488) auch Paracelsus (1493) und Sebastian Frank (1499) gehörten, die Rückkehr zur Muttersprache und die Wiederanknüpfung an die alte deutsche Mystik vollzogen hatten. Spätere Generationen wiederholen somit in einer anderen sozialen Schicht die Bewegung derer, die mit ihren Großeltern gleichaltrig waren. Man darf nicht geradezu im Sinne der Volkskunde von „gesunkenem Kulturgut“ sprechen, da die in einem späteren Zeitpunkt von der Bildungswelle erreichte Gesellschaftsschicht das Überkommene nicht wie angeschwemmtes Strandgut liegen läßt, sondern durch seine Aufnahme selbständig produktiv wird und mit dem Pfunde wuchert, aber man hat den Abstand der Gesellschafts- und Bildungsschichten ebenso im Auge zu behalten wie den der Länder. Wenn im 17. Jahrhundert zwei Generationen schlesischer Dichter, deren Reihe von Martin Opitz (1597) über Friedrich v. Logau (1604), Andreas Gryphius (1616), Christian Hofmann v. Hofmannswaldau (1617), Johannes Scheffler (1624), Daniel Caspar von Lohenstein (1635) bis Quirinus Kuhlmann (1651) reicht, die unbestrittene Herrschaft auf allen Gipfeln des deutschen Parnasses erobert haben, so hat das Übergewicht der Landschaft seine Grundlage in der Vortrefflichkeit der schlesischen Gelehrtenschulen, die schon von Melanchthon als die besten Deutschlands gerühmt wurden. Ein menschlich und künstlerisch seine Altersgenossen überragendes Genie, wie Grimmelshausen (1621/2?), dessen autodidaktische Bildung ihre Wurzeln noch im 16. Jahrhundert hat, ist mehr durch diesen kulturellen als durch seinen räumlichen Abstand von der Generationsgemeinschaft ausgeschlossen worden, obwohl er doch so viel mit den Zeitgenossen gemein hat, daß eine Schrift des ungefähr gleichaltrigen Johannes Scheffler in seine Gesamtausgabe fälschlich mit aufgenommen werden konnte. Ein Jahrhundert später hat die sächsische Bildung das Übergewicht, und die Fürstenschule von Meißen und Pforta haben einem Gellert (1715), Joh. El. Schlegel (1719), Klopstock (1724) und Lessing (1729) die Grundlagen ihrer Bildung gegeben, während die Universität Leipzig ihnen den Anschluß an Gruppen gleichstrebender Altersgenossen und den ersten Anblick der Aufgaben, die ihre Zeit stellte, verschafft hat. Auch der Schwabe Wieland (1733) hat durch seine Schuljahre im Kloster Bergen etwas von der sächsischen Bildungsatmosphäre in |#f0583 : 559|

sich aufgenommen. Ein Dritteljahrhundert danach aber ist es dem organisatorischen Bildungswillen Karl Eugens von Württemberg zu danken, daß eine ganze Generation großer Schwaben mit Schiller (1759), Hölderlin, Hegel (1770), Schelling (1775) heranwuchs, von denen gleichwohl keiner im engeren Vaterland seine Entwicklung vollenden konnte. Dazwischen aber findet sich eine Generation, die weder durch gleiche Schulbildung noch durch landschaftliche Gemeinschaft vereinigt ist; sie treffen zusammen wie die heiligen drei Könige, ohne voneinander zu wissen, aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommend, aber vom gleichen Stern geleitet. Hamann (1730) war ihr Vorläufer in der vorausgehenden Generation; nun nahen sie in Scharen: vom äußersten Osten Herder (1744) und Lenz (1751), vom Norden Gerstenberg (1737), Claudius (1740), die Grafen Stolberg (1748/50); in Mitteldeutschland Goué (1742), Heinse, Gotter (1746) und Bürger (1747); vom Süden Schubart (1739) und Miller (1749), Lavater, Füessli (1741) und Sarasin (1742); vom Westen Jung-Stilling (1740), Friedr. Heinr. Jacobi (1743), Heinr. Leop. Wagner (1747), Goethe, Maler Müller (1749) und Klinger (1752). Sie stammen aus ganz verschiedenen Kreisen: der Graf, der Patriziersohn, der Sohn einer Waschfrau; wo sie sich finden, sei es in Göttingen, in Straßburg, in Darmstadt, in Wetzlar, in Düsseldorf oder in Münster, fühlen sie sich eines Geistes. Sie erleben, auch ohne persönliche Berührung, so sehr die gleiche Problemstellung, daß die drei Dramen, die auf das Schrödersche Preisausschreiben von 1774 einlaufen, in gleicher Weise das Thema des Bruderzwistes behandeln, ohne daß ein Verfasser von dem andern wußte. Solches Thema bietet sich in Zeiten der Generationsspannung und wird ihr besonderer Ausdruck, insofern mangelndem Verständnis der Väter für ihre Söhne die Schuld am Bruderzwist beigemessen wird. Die Jungen, die um 1770 auftreten, danken ihre Gemeinschaft keiner Schule, aber sie sind einmütig im Widerwillen gegen Schulstaub und Bücherwelt; aufgerüttelt durch Rousseaus Verneinung der Kultur suchen sie formende Kräfte im Chaos; einig im Ruf nach Natur und ungebundener Schöpferkraft, schlürfen sie Höhenluft der Freiheit, sei es, daß sie sich ihnen bietet in der Bibel oder in Ossians alten Gesängen, in den Balladen Schottlands oder im deutschen Volkslied, in Shakespeares Wildheit oder in der Naivität Homers, in der Vermessenheit der Gotik, in der Blutfülle italienischer Renaissancekunst oder in der pantheistischen Philosophie Giordano Brunos, Spinozas und Shaftesburys. Fast scheint es, daß nicht sie die Produkte |#f0584 : 560|

ihrer Bildungselemente sind, sondern daß sie alles Große, was sich ihrem Auge öffnet, sich zubilden und gewaltsam umformen: so wird der maßvolle Pindar ihnen ein trunkener Ekstatiker, Shakespeare ein regelloser Titan, Sokrates ein dämonisches religiöses Genie, Spinoza ein revolutionärer Leugner persönlicher Gottheit. So mächtig ist der Bäume entwurzelnde, Dächer abdeckende und alles in seine Richtung zwingende Sturm des Zeitgeistes, der damals ganz Europa durchbraust, als die Hybris der Vernunftherrschaft zusammenbricht und eine neue Welt aus der Gewißheit des Gefühls aufsteigt. Das Versagen der Norm und Form verbrauchter Bildungselemente ist somit die erste Voraussetzung der einheitlichen Bewegung. Andere Länder haben die neue Einstellung schon durch skeptische Vernunftkritik vorbereitet, aber nirgends ballt sie sich mit solchem Ungestüm wie in dem Jugendgeist der deutschen Sturm-und-Drang-Generation, die mit vollen Segeln vor dem Winde liegt. d) P e r s ö n l i c h e G e m e i n s c h a f t . Die drei Stufen der Generationsbildung, die in Karl Mannheims soziologischer Betrachtung des Problems geschieden werden, heißen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit. Von der allgemeinen G e n e r a t i o n s l a g e r u n g , die nichts anderes bedeutet als das auf einen bestimmten Raum beschränkte gemeinsame Zeiterleben, das in der parallelen Teilnahme an denselben Ereignissen und Erlebnisgehalten die Verbindung herstellt, den Boden pflügt und die Disposition für gleichartige Lebensrichtung schafft, steigt es auf zum G e n e r a t i o n s z u s a m m e n h a n g , der sich als Schicksalsgemeinschaft zwischen den in derselben Lagerung befindlichen Individuen herstellt, sobald in den aufgelockerten Boden reale soziale und geistige Gehalte fallen. Im Rahmen des Generationszusammenhanges, der die an gleicher historisch-aktueller Problematik orientierte Jugend verbindet, bilden sich G e n e r a t i o n s e i n h e i t e n als Gruppen, die in verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten. Innerhalb jeder Gruppe kommt ein einheitliches Reagieren und verwandtes Mitschwingen zustande, während sie untereinander polar entgegengesetzt sein können; aber „gerade dadurch, daß sie aufeinander, wenn auch kämpfend, abgestimmt sind“, bleiben sie im Generationszusammenhang.

Diese Erklärung ist sichtlich zugeschnitten auf das politische Leben und seine unerläßlichen Parteibildungen, deren Gegensätzlichkeit mehr Kontinuität hat als die der literarischen Programme. Als Beispiel dient die Teilung der preußischen Jugend am Anfang des 19. Jahrhunderts in eine romantisch-konservative und liberal-rationalistische |#f0585 : 561|

Gruppe, die gleichwohl demselben Generationszusammenhang angehörten, in dem sie nur zwei polare Formen der geistigen und sozialen Auseinandersetzung mit demselben, sie alle betreffenden historisch-aktuellen Schicksal darstellten. In der Dichtung aber bestand damals noch keine Generationsspaltung: die konservativ-romantische Gruppe hatte durchaus das Oberwasser. Wohl teilen Wilhelm Neumann und Adalbert v. Chamisso mit Achim v. Arnim (1781), Varnhagen v. Ense mit Bettina (1785), Johann Ferdinand Koreff mit Max v. Schenkendorf (1783), Hoffmann v. Fallersleben und Harro Harring mit Wolfgang Menzel, Willibald Alexis und Christian Friedrich Scherenberg (1798) das Geburtsjahr; aber für das Hervortreten einer liberalrationalistischen Zeitdichtung war vor dem Jahr 1830 die Zeit noch nicht reif. Nach diesem Zeitpunkt aber wirkt sich eine veränderte Lagerung aus; gegenüber der Generationseinheit, die nunmehr in den Jungdeutschen hervortritt, hat die absterbende Romantik keinen Stand mehr; ihre Generationsblüte ist vorbei. Wenn sich nachmals unter den politischen Lyrikern wie Ferdinand Freiligrath (1810), Franz Dingelstedt (1814), Gottfried Kinkel (1815), Robert Prutz (1816), Karl Beck, Georg Herwegh (1817), Rudolf Gottschall (1823) auch ein reaktionärer Altersgenosse wie George Hesekiel (1819), der Verfasser der „Lieder eines Royalisten“ befindet, so bedeutet die vereinzelte Stimme keine zweite Generationseinheit. Es zeigt sich vielmehr zu allen Zeiten, daß politische Dichtung, wenn sie periodisch auftritt, immer von einer einheitlichen Ideenrichtung beherrscht wird. In solchem Falle scheint zwischen Generationszusammenhang und Generationseinheit kein Unterschied zu bestehen. Von Spaltung des Generationszusammenhanges könnte man eher sprechen, insofern neben den politischen Dichtern auch unpolitische standen, die viel größere Dichter waren. Mörike (1804) und Stifter (1805) sind von Heinrich Laube und Gustav Kühne (1806), von Theodor Mundt (1808) und Karl Gutzkow (1811) nur um wenige Jahre getrennt. Aber sie bleiben unter ihren Altersgenossen ohne nachdrücklichen Anschluß: ihnen fehlt die Gruppe, der Chor, das Orchester, um ihre Stimme richtunggebend im Lärm der Zeit zur Geltung zu bringen. Jene Altersgenossen aber sind erst durch äußeren Druck und Zwang zur Generationseinheit zusammengeschlossen worden. Gutzkow, Laube, Mundt und Wienbarg hatten nur in loser Verbindung gestanden, als Wolfgang Menzels Anklage und der ihr folgende Bundesratsbeschluß vom 10. Dezember 1835 sie zu einer Fraktion zusammenschmiedete. Mit historischem Blick war im Bericht der |#f0586 : 562| Zentral-Untersuchungskommission die Generationslagerung erkannt worden, indem die Literatur aus der Zeit von 1806 bis 19 für die neue, als „das junge Deutschland“ verfemte Bewegung verantwortlich gemacht wurde: Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, Arndts „Katechismus“ und „Geist der Zeit“, Jahns „Deutsches Volkstum“ und „Runenblätter“, Schleiermachers „Gedanken“, Follens „Grundzüge für eine künftige deutsche Reichsverfassung“. Auch der Verdacht eines Zusammenhanges mit der „Giovine Italia“ des Mazzini (1805) wäre im tieferen Sinne des Generationszusammenhanges auf richtiger Fährte gewesen, wenngleich die Anschuldigung eines wirklichen Zusammengehens den Verfolgten Unrecht getan hätte. Zur Generationseinheit wurden sie erst durch das gleiche Schicksal der Unterdrückung, die nachmals in noch härterem Grade die politischen Lyriker traf, die Freiligrath, Kinkel, Herwegh, die im Ausland die zersplitterte Einheit ihres Kreises repräsentieren mußten. Dieser Gruppe der Flüchtlinge, die, wie Freiligrath, um ihrer freien Meinung willen königliche Gunst ausgeschlagen hatten, steht nun eine zweite Generationsgruppe der Unpolitischen gegenüber, die, wie Graf Schack und Geibel (1815), Friedrich Bodenstedt (1819), Hermann Lingg (1820), Wilhelm Heinrich Riehl (1823), Heinrich v. Reder (1824), Heinrich Leuthold (1827), Julius Grosse (1828), Paul Heyse (1830), Wilhelm Hertz (1835), Martin Greif (1839) und Max Haushofer (1840) in München unter der Gnadensonne des Königs Max ihre Heimat finden. Der eklektische Formsinn dieser Münchener Schule stellt auch als Stilrichtung eine Generationseinheit dar, die den Weg fortsetzt, den der einsame Platen (1796) als Vorläufer gezogen war. Höfische Dichtung, wie sie zu mittelalterlichen Zeiten in Champagne und Provence, in Wien und Eisenach in Blüte gestanden hatte, wie sie in Renaissance- und Barockzeit Florenz und Ferrara, London und Paris den größten Glanz verlieh, kommt hier zur letzten Entfaltung. Weimar war vorangegangen; dem Vorbild des klassischen Musenhofs folgt der Zusammenschluß der Münchener auch darin, daß nicht das spontane Erkennen gemeinsamen Jugendgeistes, kein Sturm und Drang die Verbindung herstellte. Auch Wieland, Herder, Goethe, Schiller sind ja in Weimar erst zusammengekommen, als ihre ganz verschieden verlaufene Jugendentwicklung abgeschlossen war. Ihre Einheit bedeutet mehr Generationsausgleich als Generationsbildung. Immerhin besteht noch ein Kern der Jugendgemeinschaft in dem lebendigen Führerverhältnis Herders zu Goethe wie Geibels zu Heyse, nur daß der Anstoß weder in Weimar noch in München erfolgt war, sondern das eine Mal in Straßburg, das andere Mal in Berlin. |#f0587 : 563|

Stätte erwachenden Jugendgeistes, der Funken sprüht in der Reibung der Generationen, ist ihrer Natur gemäß die Universität. Da werden in regelmäßiger Folge die Jahrgänge der Gleichaltrigen zusammengeführt und das Bildungsgut, das die ältere Altersschicht ihnen übermittelt, wird in neuer Einstellung weitergebildet. Heidelberg hat dreimal in der deutschen Literaturgeschichte den Weckruf erschallen lassen, zur Zeit des Humanismus, im Anfang des 17. Jahrhunderts und zwei Jahrhunderte darnach, als die jüngeren Romantiker aus West und Ost sich am Neckar vereinten. Erfurt wurde die Geburtsstätte eines neuen Geistes, als die Verfasser der „Epistolae obscurorum virorum“ über die Vertreter veralteter Mönchsgelehrsamkeit die Lauge ihres Spottes gossen. Leipzig erfuhr die Gunst der Zeit, als um die Mitte des 17. Jahrhunderts das neue Gesellschaftslied durch Fleming und seinen Kreis ins Leben gerufen wurde, und ein Jahrhundert später, als unter Gottscheds Augen eine neue Generation den Bann seiner Diktatur brach. Halle wurde durch die Studiengenossen Gleim, Uz und Götz der Ausgangspunkt der Anakreontik; Göttingen kam an die Reihe, als die Haingenossen den Besuch Klopstocks empfingen. Jena übernahm die Führung, als Fichtes Schüler den „Bund freier Männer“ gründeten, als Hölderlin und Hardenberg zu Schiller aufblickten, als die Brüder Schlegel und ihre Frauen den Sauerteig einer neuen Gärung mitbrachten, als Tieck, Steffens, Ritter, Gries, Brentano der magnetischen Anziehungskraft dieses Kreises zuflogen. Tübingen sah drei Generationen heimischer Jugendgemeinschaft sich bilden, als Hölderlin, Hegel und Schelling in der Idee der unsichtbaren Kirche ihren Vereinigungspunkt fanden, als Uhland, Kerner und Karl Mayer zur Wurmlinger Kapelle aufblickten und als die Blaubeurer Promotion von 1825 mit David Friedrich Strauß, Friedr. Theod. Vischer und Gustav Pfizer den Einzug ins Stift hielt, das Mörike und Waiblinger noch nicht verlassen hatten. Berlin kam zur Geltung mit dem „Nordstern“ und dem „Tunnel über der Spree“, und für Kiel schlug die Stunde, als Theodor Storm mit den Brüdern Mommsen das „Liederbuch dreier Freunde“ erscheinen ließ. Solche Ansätze zu Generationseinheiten breiten sich aus durch Sendboten, die von einem Ort zum andern Brücken schlagen zwischen den Kreisen der Gleichaltrigen; die erste Tübinger Generation entsendet ihre Vertreter nach Jena, die zweite knüpft Verbindung mit den Heidelberger Romantikern an; die Kieler wenden sich nach Berlin, und das „Münchener Krokodil“ wird eine Filiale des Berliner „Tunnels“. Briefwechsel halten den Pegel wie zwischen den kommunizierenden Röhren auf gleicher Höhe und stärken die Gesinnung in

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gemeinsamer Sache, und die Organe, in denen die lokalen Kreise ihr Programm entwickeln, wirken sich in weittragender Werbekraft aus. Generationsbildend sind die von einer Jugendgemeinschaft herausgegebenen Zeitschriften: so ist durch die „Bremer Beiträge“, die Berliner „Literaturbriefe“, das Jenaer „Athenäum“, die Heidelberger „Zeitung für Einsiedler“ oder in neuerer Zeit durch die „Gesellschaft“ und die „Blätter für die Kunst“ jedesmal ein Sammelruf an die Altersgenossen ergangen. Alle diese Blätter haben nur so lange bestanden, bis ihr programmatischer Zweck erfüllt war; sie konnten nicht alt werden, weil sie der Sache der Jugend dienten; keines hat die Lebensdauer einer Generation erreicht. Nicht anders stand es mit den Dichtergesellschaften, die nur als Treffpunkt der Jugend lebendig sein konnten, denn nur die Suchenden brauchen die Gemeinschaft, um sich ihres Weges bewußt zu werden. Mögen die Alten dann in Treue die Pflege gemeinsamer Erinnerungen weiter fortsetzen, ihre Gemeinschaft als solche hört doch auf, produktiv zu sein. Am wenigsten läßt sich solcher Gemeinschaftsgeist vererben. Von den vielen Dichtergenossenschaften, deren Gründung eine Generationseigentümlichkeit der um 1600 Geborenen war, mag der Pegnesische Blumenorden in Nürnberg noch heute bestehen, aber gelebt hat er doch nur in der Gemeinschaft der Gründer Harsdörffer und Klaj sowie des jung zu ihnen stoßenden Sigmund v. Birken. c) G e n e r a t i o n s e r l e b n i s s e . Jene „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, von der Pinder spricht, trifft nicht nur die gleichzeitigen Schöpfungen Altersverschiedener, sondern ebenso ihre gleichzeitigen Erlebnisse, die dem Kind, dem Jüngling, dem Mann, dem Greis etwas durchaus anderes bedeuten, weil er jeweils in einem anderen Zeitpunkt seiner Existenz davon betroffen wird. Von generations b i l d e n d e r Bedeutung müssen die gemeinsamen Jugenderlebnisse sein, die das empfänglichste Entwicklungsstadium fassen und formen. Eine generations a b s t o ß e n d e Wirkung hat das passive Verhalten der Alten, deren Seele nicht mehr mitschwingt bei den Ereignissen, die die Jugend in krampfhafte Erregung versetzen. In welcher Weise die Erlebnisschichtung der Generationen sich unterscheiden kann, zeigt mit besonderer Drastik der Eindruck, den die französische Julirevolution des Jahres 1830 und ihre Folgewirkungen in Deutschland hervorbrachten, welche die Zeit gleichsam in zwei Hälften auseinandersprengte. Zur ersten Hälfte gehörte der 81jährige Goethe, der nach Sorets Bericht von diesen Dingen nichts wissen wollte, denn der Austrag des naturwissenschaftlichen Streites zwischen Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire schien ihm weit wichtiger |#f0589 : 565|

zu sein. So sah auch der 63jährige Wilhelm v. Humboldt mit der Gelassenheit eines Weisen die Störung des Friedens durch wilde Roheit: „Die Dinge der Welt sind in ewigem Steigen und Fallen und in unaufhörlichem Wechsel, und dieser Wechsel muß Gottes Wille sein, da er weder der Macht noch der Weisheit die Kraft verliehen hat, ihn aufzuhalten und ihn zum Stillstand zu bringen“ (an Charl. Diede 7. Sept. 1830). Der 42jährige Joseph v. Eichendorff aber befreite sich von den widerwärtigen Eindrücken der politischen Kannegießerei durch eine satirische Traumerzählung „Auch ich war in Arkadien“, die im Gasthof „Zum goldenen Zeitgeist“ spielt. Die zweite Hälfte beginnt mit den 34jährigen Platen und Immermann, die aus politischer Indolenz aufgerüttelt werden; der eine behandelt in seiner Ode „An Karl X.“ das Ereignis als Erfüllung gerechten Geschicks, während der andere wie im Fieber aus der Ferne teilnimmt an den „ungeheuren Ereignissen des Julius“, um schließlich doch zu der Überzeugung zu gelangen, daß aus der Masse nichts Großes hervorgehen kann. Der 19jährige Gutzkow aber stürzt aus der Preisverteilung der Berliner Universität in eine Konditorei, wo er zum erstenmal in seinem Leben mit Leidenschaft die Zeitung liest; er fühlt einen entscheidenden Wendepunkt seiner Lebensrichtung: „Die Wissenschaft lag hinter mir, die Geschichte vor mir.“ Er war noch jung genug, um sich durch diese Begebenheit in seiner ganzen Wesensart formen zu lassen, während die Älteren dem Ereignis als fertige Persönlichkeiten gegenübertreten. Für sie wird es Generationserlebnis nur insofern, als es den Altersgruppen Gelegenheit gibt. sich durch ihre verschiedenartige Haltung voneinander abzuheben. Es bleibt eine erstaunliche Tatsache, daß die kleinere und für Frankreichs wie Europas politisches Schicksal fast belanglose, unblutige Umwälzung im Moment ihres Ausbruches Deutschland beinahe mehr erschütterte als die weltbewegende französische Revolution des Jahres 1789. Die Ursache liegt wohl darin, daß man gerade durch das voraufgegangene größere Ereignis in ganz anderer Weise auf das Geschehnis vorbereitet war, daß man in Deutschland besonders eine Erlösung von unerträglichem Druck ersehnte und daß von diesem Druck insbesondere die junge Generation betroffen war, während die Alten ihn kaum empfanden. Die Zweiteilung entspricht ungefähr der Alterslage: die einen hatten die erste Revolution oder wenigstens ihre unmittelbaren Folgewirkungen noch selbst erlebt und sahen der Wiederkehr des Gleichen entweder abgestumpft oder mit Grausen entgegen: die anderen kannten das historischen Ereignis nur vom Hörensagen und maßen seiner Wiederholung, zumal sie selbst sich zu aktiver |#f0590 : 566|

Lebensteilnahme daran berufen fühlten, eine erhöhte Bedeutung bei. Im übrigen kann man der Jugend durch nichts mehr Ärger bereiten als durch den Alterssatz, alles sei schon einmal dagewesen. Sie will ihr eigenes Erlebnis, ihre eigene Revolution, ihre eigene Gelegenheit zu Heldentaten und ihr Recht, eigene Dummheiten zu machen. Ein anderes, die Altersklassen scheidendes Zeitereignis ist die allmählich sich vollziehende Umwälzung, die mit der Entwicklung der Verkehrsmittel, der Eisenbahn und des Dampfschiffes eintrat. Die Romantiker sahen darin den Tod aller Poesie; eine Zwischengruppe, zu der Nikolaus Lenau gehörte (An den Frühling 1838), blieb geteilt zwischen Trauer und Hoffnung, während die junge Generation mit Freiligrath, Anastasius Grün, Karl Beck und Hebbel die völkerverbindende Wirkung, den Triumph des Geistes, den pulsierenden Lebensrhythmus und das Tempo der neuen Zeit in weitschauender Zukunftsperspektive begrüßte. Die folgende Generation aber wuchs bereits im Zeichen des neuen Verkehrs auf und mußte ihn als notwendige Lebensform hinnehmen. Wenn sie sich dem idyllzerstörenden Unbehagen und der Poesielosigkeit entziehen wollte, so blieb ihr nur die Flucht in das Reich der Geschichte, und diesen Weg sind die Dichter der Bismarckzeit zwischen aufblühender Geschichtswissenschaft, Historienmalerei und historischer Theaterkunst gegangen. Conrad Ferdinand Meyer (1825) und Scheffel (1826) sind die Altersgenossen von Piloty (1826) und dem Herzog Georg II. von Meiningen (1826), und als die erste Eisenbahn in Deutschland eröffnet wurde, waren sie 9 Jahre alt. Der nächsten realistischen Generation aber war es vorbehalten, die Poesie des daherbrausenden Zuges, der qualmenden Fabrikschlote, der lärmenden Maschine in ihrer Dynamik zu entdecken.

Alle wirtschaftlichen Veränderungen, alle Erfindungen, alle Erweiterungen des Horizontes wirken sich allmählich aus, aber in ihrer kulturellen Bedeutung treten sie plötzlich und ruckweise hervor, indem ein bestimmtes Ereignis die durch solche Wandlungen veränderte Einstellung der jungen Generation offenbar werden läßt. Man kann einen Unterschied machen zwischen k u l t u r b i l d e n d e n und k a t a s t r o p h a l e n Generationserlebnissen. Die einen wirken auf lange Sicht; sie gehören zu den Bildungselementen, die in mählicher Entwicklung den in andere Verhältnisse geistiger Atmosphäre oder technischer Mittel versetzten Menschen umwandeln; die anderen stellen Gewitter dar, die in Wetterleuchten und Blitzstrahl die verschiedenartige Stellung der Zeitgenossen zueinander erhellen. Dasselbe

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Ereignis kann für die eine Generation katastrophal, für die nächste in seinen Folgewirkungen kulturbildend sein. Dabei besteht nicht nur ein Unterschied der zeitlichen Dauer, sondern auch der räumlichen Ausdehnung des Erlebnisses, die von der Wellenlänge der Bewegung abhängt. Eine religiöse Strömung, wie die kluniazensische Bewegung im Mittelalter, die nach Erlöschen der Antike das furchtbare Memento mori vor dem Menschen aufleuchten ließ und die Gedanken ins Jenseits wendete, hat eine ganze Literatur klösterlicher Todesdichtungen als Werk einer Altersgruppe entstehen lassen, und im Wandel der Generationen verändert sich nun die Stellung zu diesem Problem, wie es Walter Rehm in seinem Buch „Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik“ (Halle 1928) gezeigt hat. Die Kreuzzüge, die als Massenbewegung durch die Sorge für das Heil der Seele propagiert wurden, sind mit Erschließung des Morgenlandes ein großes Bildungserlebnis für ganz Europa geworden; aber sie haben zugleich bei den zurückgebliebenen Frauen jene Unbefriedigung mit den seelsorgerischen Gnadenmitteln der nach außen gewandten Kirche erzeugt, die eine Voraussetzung der mystischen Bewegung wurde. Die Entdeckungen und Erfindungen der beginnenden Neuzeit haben wiederum die Freude am Diesseits und den Willen, sich in dieser Welt einzurichten, gesteigert, aber sie haben zugleich das der Renaissance seit ihrem Ursprung innewohnende Bedürfnis nach religiöser Erneuerung wachgehalten. Die Reformation hat sodann eine Doppelwirkung: sie ist katastrophales Ereignis, das zwei Generationen der Humanisten, die durch die Namen Erasmus und Hutten gekennzeichnet sind, auseinandersprengt, aber sie ist zugleich in ihren Folgewirkungen eine umbildende Bewegung, die, wie die Forschungen Max Webers, Ernst Tröltschs, Herbert Schöfflers und anderer zeigen, in Luthertum, Kalvinismus, Puritanismus die gesamte Kulturlage verändernde neue Lebensformen hervorbringt. Die französische Revolution ist als Explosion des Rationalismus nicht nur das katastrophale Ereignis, das die Generationen am Ende des 18. Jahrhunderts trennt, sondern sie hat in ihren Folgewirkungen den Freiheitsgedanken nicht wieder erlöschen lassen. Ebenso war der Weltkrieg und die ihm folgende Umwälzung für die drei Generationen, die daran teilnahmen (die Alten, die noch den Krieg von 1870 mitgekämpft hatten, die mittlere Altersklasse, die in der Zeit zwischen den beiden Kriegen heranwuchs, und die Jungen, die von der Schulbank in den ungeheuren Wirbel hineingerissen wurden), ein vollkommen verschiedenartiges Erlebnis. |#f0592 : 568|

Neben dieser zweifachen Form des Generationserlebnisses gibt es aber noch ein Drittes, das zugleich einmalige Konzentration und mählich bildende Wirkung darstellt, das ist der Eindruck einer großen, zeitbeherrschenden Persönlichkeit, die von der führerlosen Jugend ersehnt wird und, wenn sie erkannt ist, wie ein überwältigendes Naturereignis mitreißt und in lawinenartiger Wirkung des sich fortpflanzenden Einflusses ein ganzes Geschlecht nach ihrem Bilde formt. Solche Führer sucht sich die Jugend selten unter ihren Altersgenossen; unter ihnen findet sie meist nur die Propheten der Götter, die sie verehrt. Die Führer gehören einer älteren Generation an, die unsterblichen Götter sogar meist einer toten. So bildet das Führertum innerhalb der Gegensätzlichkeit der Altersgruppen ein generationenverbindendes, ja oft generationenüberspringendes Moment. f) F ü h r e r t u m . Jedes Zeitalter und, wenn man richtig zusieht, jede Generation hat einen bestimmten gesellschaftlichen Idealtypus vor Augen: die Renaissance den Universalmenschen, die Barockzeit den Hofmann, die französische Aufklärung den bel esprit, die englische den gentleman, die deutsche den redlichen Mann, die Sturm- und-Drang-Zeit das empfindsame Genie, die Restaurationszeit den Zerrissenen, die Dekadenz des 19. Jahrhunderts den Dandy, während gegen Ende des Jahrhunderts der Übermensch zum Leitmotiv wird. Es ist charakterologisch von Bedeutung, daß sich Gebärden, Blickrichtung und Lebenshaltung unter dem Eindruck solchen Bildes zu derartiger Übereinstimmung des Ausdrucks ausprägen können, daß geradezu von einer Generationsphysiognomie zu sprechen ist. Es gehört zu den Wechselwirkungen von Poesie und Leben, daß die Dichtung solchen Typus als Tendenz aus dem Leben nimmt und ihn gestaltet dem Leben der Zeit als Modell zurückgibt. Die Mitläufer einer Bewegung formen sich dann in ihrem Auftreten, ihrer Ausdrucksweise, ihrer Haartracht und ihrer Kleidung nach dem in der Dichtung gestalteten Bilde: so trugen, nachdem Richardsons Grandison seine Rolle ausgespielt hatte, die empfindsamen Genies den blauen Wertherfrack und die Lorenzdose; dann gab den Frauen der Typus Delphine und Corinne, später der Typus Lelia ein Vorbild, und die Männer standen im Zeichen des Byronschen Heldentypus, bis im Auftreten eines Herwegh und seiner Genossen Schillers Marquis Posa als Idealtyp seine Auferstehung erlebte. Der Begriff des Führers läßt sich in verschiedener Weise verstehen: als Organisator, der sich an die Spitze der Gleichaltrigen setzt; als erziehender Mentor, der die Jüngeren auf den Weg weist; als kultisch

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verehrter Heros seiner Zeit. Das erste stellten Opitz, Gottsched, August Wilhelm Schlegel dar; das zweite wollten Bodmer und Gleim sein, auf die Goethe das Bild der „Bruthenne junger Talente“ anwendet, und Herder war es für seine Generation, indem er auf den Heros Shakespeare hinwies; zum dritten dürfen wir Klopstock und Stefan George rechnen, auf anderem Gebiet Richard Wagner; nach jedem von ihnen hat ein Jüngerkreis in seiner ganzen Wesensart sich geformt. Goethe und Fichte wurden so die Heroen der Jenaer Romantik, aber ebenso wie sich die romantische Philosophie über Fichte hinaus entwickelte, so schlägt auch das Verhältnis des eigentlichen Dichters dieses Kreises, Friedrich v. Hardenberg, während der Arbeit am „Heinrich von Ofterdingen“ aus Nachahmung in Gegensätzlichkeit um. Und Heinrich v. Kleist ringt mit dem Olympier, dem er auf den Knien des Herzens sein Werk darbringt, und dem er gleichwohl den Kranz von der Stirn reißen will. Eine ähnliche Wendung erlebt Schiller, als er sich von Klopstock freimacht, Hölderlin, als er Schiller überwindet, Hebbel, als er von Uhland ernüchtert ist, Nietzsche, als er sich von Wagner loskämpft, Gerhart Hauptmann, als seine jugendliche Begeisterung für Felix Dahn erlischt. Deutlich kennzeichnet sich in allen diesen Fällen der Zeitpunkt der Generationsablösung in Erkenntnis erwachender Eigenart und eigener Problemstellung. Die einflußreichsten Generationsführer sind nicht immer die Dichter. Männer der Wissenschaft, insbesondere Philosophen und Naturforscher, vermögen das Weltbild der Jugend, die in ihrem Bann steht, tiefergehend und eindringlicher zu bestimmen, sei es in persönlichem Umgang mit ihren Schülern, sei es in Schrift, sei es in mittelbarer Verbreitung, die oft erst nach dem Tode der großen Lehrer durch werbende Sendboten um sich greift. Unmittelbaren Einfluß einer wissenschaftlichen Persönlichkeit haben die Romantiker erfahren, die in Freiberg zu den Füßen des Geologen Abraham Werner saßen; Gottfried Keller erlebte ihn, als er in Heidelberg in die Gemeinde Ludwig Feuerbachs gezogen wurde; und Jena wurde zum zweiten Male Konzentrationspunkt einer Generation, als die Naturalisten bei Ernst Haeckel in die Lehre gingen. Das tiefere Eindringen in eine philosophische Gedankenwelt pflegt erst einer zweiten Entwicklungsperiode, nachdem die erste naive Gefolgschaft dichterischer Vorbilder überwunden ist, vergönnt zu sein. Herder, der Kants persönlicher Schüler war und ihm den Hinweis auf Rousseau verdankte, hat sich mit seiner Verselbständigung von Kant abgewandt, aber Schiller, Hölderlin, Heinrich v. Kleist gelangen in |#f0594 : 570|

selbständigem Ringen mit dem System des Philosophen, der ihre Generation beherrscht, zum sichtbaren Umschlag ihrer Lebensrichtung. Solcher Entwicklungsprozeß mag sich für den Einzelnen in völliger Abgeschlossenheit abspielen. Aber die plötzliche Schilderhebung eines Denkers vergangener Zeiten kann nur durch Gemeinschaft und Massensuggestion vollzogen werden. So ist Meister Eckhart zu posthumer Wirkung in der ihm folgenden Generation der Mystiker gelangt; so ist Leibniz erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Bildner Deutschlands geworden; St.-Simons Lehre machte erst in der jungdeutschen Generation Schule; Hegels Einfluß beherrschte erst nach seinem Tode die einander gegenüberstehenden Generationsgruppen derselben Zeit; Schopenhauer kam erst im neuen Reich zur Bildung einer Gemeinde, die in Erkenntnis des Wahns ihren Boden hatte; Nietzsche ist erst im neuen Jahrhundert zur Führerschaft durchgedrungen. Und mit ihm der vergessene Lieblingsdichter seiner Jugend, Hölderlin, an dem er seinen Stil gebildet hatte. Dilthey, ein so wirkungsvoller akademischer Lehrer er war, ist auch erst nach seinem Tode zu wirklicher Führerstellung gelangt. Und wenn die heutigen Generationen nicht in Bergson und Husserl ihre Philosophen hätten, so möchte man Pinders oben zitierten Satz beinahe dahin umkehren, daß der Philosoph, den eine Generation liest, nicht der ist, der mit ihr geboren wird, sondern der, der vor ihr starb. Die Gründe für das langsamere Durchdringen philosophischer Bildungswerte liegen gewiß nicht nur in der Schwere des Gehalts und dem Tiefgang, der den Umweg durch Schleusen und Kanäle wählen muß, wo ein leichtes Boot in glatter Fahrt dahingleitet, sondern zum Teil in der Beschaffenheit der Sprache, die der Prägung neuer Terminologie, der Aufnahme neuer Begriffs- und Vorstellungsinhalte passive Widerstände des Verstehens entgegensetzt, die erst durch die aufnehmende und ausbreitende Arbeit einer Generation überwunden werden können. Diese Arbeit wird teils von Kommentatoren geleistet, die den neuen Wein in alte Schläuche füllen, teils von Propagatoren, die die neue Sprachform auch auf alte Vorstellungen anwenden, bis sich endlich Sprachform und Denkform auch im allgemeineren Gebrauche aufeinander eingespielt haben. Denker wie Hamann, Schopenhauer, Nietzsche waren zugleich große Schriftsteller, Stilbildner, Bildschöpfer und Spracherzieher, aber ihre individuell beseelte, musikalisch rhythmisierte, mit Witz, Satire und Ironie gewürzte Sprache hat unter den Zeitgenossen im allgemeinen als unwissenschaftlich gegolten, die des einen als zu |#f0595 : 571|

dunkel, die des andern als zu klar und die des dritten als zu kühn. Umgekehrt waren sie scharfe Kritiker der platten Konventionssprache zeitgenössischen Stils, des „Lumpenjargons der Jetztzeit“, wie Nietzsche im Sinne Schopenhauers den Stil von David Friedrich Strauß und allen hegelianischen Deutschverderbern charakterisierte. Ihre eigene Sprache war, um ein Jean Paulsches Bild für den Hamannschen Stil anzuwenden, ein gestauter Strom, auf dem die deutschen Marktschiffe nicht ankommen konnten, aber die Kraft dieses Stroms kam zum Durchbruch in der von ihm durchfluteten Sprache der folgenden Generationen. g) G e n e r a t i o n s s p r a c h e . Sprache kann nach einem Wort Wilhelm v. Humboldts nicht gelehrt, sondern nur geweckt werden. Dieses Bild besagt, daß die Sprache schläft, solange sie nur gelehrt und in der erlernten Form angewandt wird. Sie bedarf sogar, wie jeder lebende Organismus, der unter dem Gesetz des Stoffwechsels steht, eines kräftesammelnden Schlafes. Aber sie bedarf ebenso des Weckrufs, der in der Morgenstunde einer zu neuer Tätigkeit sich aufrichtenden Generation erschallt. Unter allen die Generationsgemeinschaft herbeiführenden Faktoren ist die Sprache der elementarste, insofern alles gegenseitige Sichverstehen, alle Stellungnahme zu gemeinsamen Erlebnissen, alle Kritik der zu überwindenden Zustände, alle Einigung über gemeinsame Ziele auf das Mittel der Sprache angewiesen ist. Die neue Generation findet sich erst in ihrer Sprache. Jedes neu aufgestellte Programm muß sprachlich Neuschöpfung sein, um zu zünden. Der neue Geist, der eine Jugendgemeinschaft beseelt, sucht nicht allein nach Schlagworten, sondern er wird geradezu geweckt durch die Magie von Zauberworten, in die ein dunkel geahnter Begriffs-, Vorstellungs- und Gefühlsinhalt einfließt. Jede neue Problemstellung in Kunst und Wissenschaft bedeutet einen Wandel der Terminologie, was vielleicht äußerlich am sichtbarsten in der Geschichte der nichtredenden Künste, der Musik und Bildkunst, in Erscheinung tritt; aber von potenzierter Bedeutung ist das Sprachproblem für diejenige Wissenschaft, deren eigenstes Wesen Problemstellung ist, nämlich die Philosophie, und für diejenige Kunst, deren einziges Mittel die Sprache ist, nämlich die Dichtung. Sie lebt nicht nur in Theorie, sondern in ihrer ganzen Praxis durch schöpferisches, weckendes Walten in der Sprache. Jeder in Zielverwandtschaft sich enger zusammenschließende Kreis entwickelt eine eigene Sprache, die das Geheimnis gegenseitigen Verstehens in sich schließt und auf die Außenstehenden zunächst wie

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eine Geheimsprache wirkt. Okkasionelle Wortbildungen und Bedeutungsgebungen werden usuell zunächst innerhalb dieses Kreises, bis sie gefestigt genug sind, um von hier aus weitergetragen zu werden. Dieser Ausbreitung aber sind Grenzen gesetzt durch Passivität der Außenstehenden, die die Aufnahme verweigern, weil die mediale Reaktion auf die Magie der Worte bei ihnen nicht zur Wirkung kommt. Dieses Phänomen rührt auf das engste an das Generationsproblem gemäß der Tatsache, daß spontan schöpferische Sprachphantasie wie rezeptive Sprachtätigkeit in jungen Jahren am lebendigsten sind, und daß in jedem Menschenleben ein Zeitpunkt der Sättigung eintritt, in dem ein gewisser fester Sprachstand seinen Abschluß erreicht. Wenn der französische Sprachforscher Meillet zu dem Schluß gelangt ist, daß nach dem 25. Jahre sich die Sprache des Individuums kaum mehr ändere, so beschränkt sich diese Feststellung jedenfalls auf die phonetischen Eigenheiten der Mundart und mag vielleicht noch besonders durch stärkere Normierungstendenzen der französischen Sprache bedingt sein. Im deutschen Schrifttum haben wir immerhin das Beispiel, daß Justus Möser erst mit 40 Jahren den Anschluß an den Sprachstil der jüngeren Generation fand. Aber in einem gewissen Alter treten der Bereicherung des Wortschatzes Widerstände entgegen; in gleichem Maße, wie sich altfränkische Ausdrucksweise als Rest ehemaliger Spracherziehung erhält, äußert sich Widerwille gegen die Aufnahme von Neubildungen, für deren innere Aneignung das Organ fehlt, weil die aus neuer Geistesrichtung sich bildende begriffliche Tonart nicht mitschwingt. Infolgedessen gibt das leere Gebilde der Neutöner Anlaß zum Spott. Die deutsche Literaturgeschichte liefert ein von der Sprachgeschichte noch lange nicht ausgeschöpftes Beispiel solchen Nichtverstehens in dem „Neologischen Wörterbuch“ des Freiherrn von Schönaich, der als treuer Schildknappe Gottscheds im Jahre 1754 alle neuen Wortschöpfungen „aus den Akzenten der heiligen Männer und Barden des itzigen überreichlich begeisterten Jahrhunderts“ lexikographisch an den Pranger stellte. Der sprachliche Gegensatz zwischen Schweiz und Sachsen spielt dabei eine wesentliche Rolle, und mit dem Generationsproblem scheint diese billige Satire kaum etwas zu tun zu haben, wenn man das Alter Schönaichs (1725) mit dem seiner hauptsächlichen Opfer Bodmer (1698), Haller (1708), Naumann (1719) und Klopstock (1724) vergleicht und zudem in Betracht zieht, daß in ihren Wortbildungen das schwülstige Andenken des Hans Caspar v. Lohenstein (1635) getroffen werden soll. Aber wenn sich auch der junge Schönaich sehr modern fühlt, so kommt |#f0597 : 573|

hier trotzdem der verhärtete Widerstand der alten Generation gegen die Jungen zum Ausdruck, denn Schönaich macht sich in Gottscheds Auftrag zum Anwalt einer erlernten Sprache, die sich in der Natürlichkeitstendenz des Kampfes gegen den Schwulststil des 17. Jahrhunderts bildete und seitdem geschlafen hat. Der von Schönaich unternommene Ausfall des in seine Festung verschanzten Rationalismus gegen die im freien Felde schwärmende Vorhut des Irrationalismus ist gewissermaßen eine schnarchende Reaktion der schlafenden Sprache, die sich durch den ersten Weckversuch nicht stören lassen will. Ähnliches wiederholt sich, als Friedrich Nicolai in seinem „Feynen kleynen Almanach“ (1776) durch in haarsträubender Orthographie gedruckte echte Volkslieder die auf Volkspoesie gerichteten Erneuerungsbestrebungen Bürgers und Herders lächerlich machen wollte, oder als Baggesen, Schreiber und Voß 1810 ihren „Klingklingelalmanach“ gegen die sonettierenden Heidelberger Romantiker aussandten. Wäre der Gedanke des „Neologischen Wörterbuches“ nicht bereits durch Schönaich vorweggenommen gewesen, so hätten ebensogut aus dem Aufklärungslager zum selben Zweck Blütenlesen der Sturm-und-Drang-Sprache oder der Romantikersprache hervorgehen können, und in Einzelkritiken sind solche Zusammenstellungen auch gelegentlich dargebracht worden. Es fehlt aber ebensowenig an Beispielen, daß die junge Generation in mimischer Satire sich über den veralteten und verbrauchten Sprachstand der älteren lustig gemacht hat. Das klassische Beispiel sind die „Epistolae obscurorum virorum“ mit ihrer Verspottung des schlechten Mönchslateins. Ihnen folgt im 17. Jahrhundert die Satire der Rachel und Wernicke mit ihrer ironischen Lobpreisung der amberreichen Schreibart der Schlesischen Marinisten. Der „Mann im Mond“, in dem Wilhelm Hauff (1802) den süßlichen Stil Claurens (1771) verspottete, ist besonders bedeutungsvoll, weil es sich ursprünglich nicht um eine Parodie, sondern um eine Nachahmung handelte, über die der zur Selbständigkeit erwachende jüngere Schriftsteller in seinem Sprachgefühl hinauskam. Die ganze Reihe von glänzenden Parodien zeitgenössischer Schriftsteller, die Fritz Mauthner und Hans v. Gumppenberg aufgestellt haben, ist nicht nur als treffende Aufspießung aller Eigentümlichkeiten des individuellen Stils genußreich, sondern auch für die Charakteristik der Generationsstile von Aufschluß, weil sie zeigen, welche Spracheigentümlichkeiten einer Generation komisch vorkamen, weil sie entweder veraltet oder hypermodern erschienen. Wie die Karikatur für die politische Geschichte, |#f0598 : 574|

so bildet die Parodie für Geschmacks- und Sprachgeschichte ein unschätzbares Material zur Beobachtung der vor sich gehenden Entwicklung. Die Sprachgeschichte kann im Generationsgegensatz ein fruchtbares Erklärungsprinzip der Entwicklung finden, das noch lange nicht ausgenutzt ist, zumal für die Neuzeit, in der das reichhaltige Material und die klar sich abgrenzende schnelle Folge der Generationen unerschöpfliche Beobachtungsmöglichkeiten für die allgemeine Sprachentwicklung bieten. Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte“ (§ 43) haben bereits für den Lautwandel darauf hingewiesen, daß innerhalb der nämlichen Generation nur sehr geringfügige Verschiebungen zustandezukommen pflegen. „Merklichere Verschiebungen erfolgen erst, wenn eine ältere Generation durch eine neu heranwachsende verdrängt ist. Zunächst, wenn eine Verschiebung schon bei der Majorität durchgedrungen ist, während ihr eine Minorität noch widersteht, so wird sich das heranwachsende Geschlecht naturgemäß nach der Majorität richten, zumal wenn die Aussprache derselben die bequemere ist. Mag nun die Minorität auch bei der älteren Gewohnheit verharren, sie stirbt allmählich aus. Weiterhin aber kann es sein, daß sich das Bewegungsgefühl der jüngeren Generation von Anfang an nach einer bestimmten Richtung hin abweichend von dem der älteren gestaltet. Dieselben Gründe, welche bei der älteren Generation zu einer bestimmten Art der Abweichung von dem schon ausgebildeten Bewegungsgefühl treiben, müssen bei der jüngeren auf die anfängliche Gestaltung desselben wirken. Man wird also wohl sagen können, daß die Hauptveranlassung zum Lautwandel in der Übertragung der Laute auf neue Individuen liegt.“ Karl Voßler hat sich vom Standpunkte idealistischer Sprachforschung gegen den Mechanismus der Hypothese, daß Lautwandel durch die „Ablösung der Geschlechter“ verursacht sei, erklärt und die unendliche Variabilität des Lautwandels auf die geistigen Vorgänge des Bedeutungswandels zurückgeführt. Die Entwicklungsgeschichte der Sprache ist damit als ein stilgeschichtliches Problem zu betrachten gelehrt. Aber Sprachstil ist nicht nur individueller Brauch, durch den sich der Personalstil des Einzelnen von dem der Altersgenossen unterscheidet, sondern diese individuelle Gestaltung hat zur Basis den generellen Sprachgebrauch einer Gemeinschaft, die sich von der älteren Generation abhebt, und wenn diese Basis nicht da ist, so muß der Resonanzboden geschaffen werden, damit der neue Ton nicht verhallt. Bedeutungswandel kann sich nicht durch Einzelschöpfung |#f0599 : 575|

durchsetzen, sondern nur dadurch, daß eine Gemeinschaft ihn aufnimmt. Max Kirschstein hat in seinem Buch über „Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik“ (Berlin 1928) an dem Beispiel des Begriffes „Darstellung“ gezeigt, wie die von Klopstock geschaffene Bedeutung zum Schlagwort einer neuen Kunstauffassung wird. In diesem Sinne wird jede Sprachgeschichte, die die Bedeutungsentwicklung in den Vordergrund stellt, Generationsgeschichte sein müssen. h) E r s t a r r e n d e r ä l t e r e n G e n e r a t i o n . Die als Einheit kenntliche Altersgruppe behält nicht immer die Geschlossenheit ihres ersten Auftretens. Große Einzelne werden kraft ihrer individuellen Entelechie über den Generationsstand hinausgetragen; Mitläufer fallen in ihre angeborene Art zurück oder lassen sich von einer neuen Welle aufnehmen; der Durchschnitt aber bleibt in seiner Generationslage verharren und leistet neuem Ansturm Gegenwehr. Ja, er fordert diesen Ansturm geradezu heraus, indem er sich der neuen Jugend verschließt und ihr die Straße verlegt; die Generationseinheit wird zur Festung. Selbst Goethe, nachdem er in Weimar und Italien sich von den Altersgenossen des Sturmes und Dranges gelöst hatte, wollte den nach ihm Kommenden kaum mehr das Recht zugestehen, sich gleichfalls auszutoben. Der Rückblick auf seine erste Bekanntschaft mit Schiller bekennt, wie sehr ihn bei der Heimkehr aus Italien Erscheinungen in der Art von Heinses „Ardinghello“ und Schillers „Räubern“ abgestoßen hätten, weil sie in ethischen und theatralischen Paradoxen eine Gärung erneuerten, die er für seinen Teil eben überwunden hatte. Mit mildem Generationsverstehen fügt er dann allerdings hinzu: „Der Mensch kann sich nicht versagen, nach seiner Art wirken zu wollen, er versucht es erst unbewußt, ungebildet, dann auf jeder Stufe der Bildung immer bewußter; daher denn soviel Treffliches und Albernes sich über die Welt verbreitet, und Verwirrung aus Verwirrung sich entwickelt.“ Dieses Verstehen finden nachmals bei ihm die Brüder Schlegel und Zacharias Werner, während es Kleist gegenüber versagt. Schiller wiederum hat durch seine schroffe Zurückweisung Friedrich Schlegels die Jenaer Romantiker erst genötigt, im „Athenäum“ als eigene Gruppe hervorzutreten. Deutlicher kann das sich abschließende Selbstbewußtsein des Reifealters nicht charakterisiert werden, als in den Versen, die die Überschrift „Sonntagskinder“ tragen: Jahrelang bildet der Meister und kann sich nimmer genugtun; Dem genialen Geschlecht wird es im Traume beschert. Was sie gestern gelernt, das wollen sie heute schon lehren Ach, was haben die Herrn doch für ein kurzes Gedärm. |#f0600 : 576|

Klarer als in den anderen gegen Friedrich Schlegel gerichteten Xenien kann es nicht in Erscheinung treten, wie unverständlich dem Älteren die paradoxe Sprache der Jugend vorkommt. Rätselhaft bleibt es, wie Herder, der in „Tithon und Aurora“ dem hoffnungsvollen Gedanken der stetigen Verjüngung Spielraum gegeben hatte, in der „Adrastea“ auf die Dichtung der Uz, Gleim und Götz als goldenes Zeitalter zurückblickt und nach Goethes Urteil die „alte abgelebte Literatur emsig aufsucht, um die Gegenwart zu verleumden oder hämische Vergleichungen anzustellen“. Bemerkenswert ist Paul Heyses hartes Wort über Ibsens „Gespenster“ als Hospitalpoesie, da Ibsen selbst im „Baumeister Solneß“ die Angst vor der Jugend als kritisches Symptom des Alterns dargestellt hat. Und daß dem alten Fontane sein verständnisvolles Eingehen auf Gerhart Hauptmanns Anfänge so hoch angerechnet wird, beweist nur, daß dieses Mitgehen beinahe als ein Wunder, zum mindesten als eine seltene Ausnahme von der Regel empfunden wird. Beispiele der entmutigenden Verkennung durch die Kritik der älteren Generation weist die Lebensgeschichte jedes großen Mannes auf. Von der Seite des Alters gesehen, entsteht die Frage, ob dieses Nicht-mehr-verstehen-können über das individuelle Unvermögen hinaus ein gesetzmäßiges Versagen darstellt und wann dieser von dem Grade der eigenen Vitalität und Beweglichkeit, von den persönlichen Erfahrungen und Zielen abhängige Zustand eintritt, den Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit durch die Antithese charakterisiert haben: „Ist der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück, so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück.“ Von der Seite der Jugend gesehen zeigt sich, daß die Erfahrung einer vermeinten oder erwiesenen Verständnislosigkeit des Alters zu den wesentlichen generationsbildenden Faktoren gehört. Der Ansturm gegen das Alter ist zunächst gar nicht das Primäre der Jugendbewegung; vielmehr hat der treuherzige Wille, gerade das Alter zur Anerkennung der eigenen Leistung und des eigenen Andersseins zu gewinnen, den stärksten Anreiz in sich. Glückt die Überwindung des Altersgegensatzes, so kann sich eine engere und festere Lebensfügung herstellen, als es die der Jugendgemeinschaft ist. Im Falle Goethe-Schiller überwand das Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins jene antipodische Scheidung, die nach Goethes Wort mehr als einen Erddiameter auszumachen schien, um so leichter, als beide ihren Jugendgemeinschaften entwachsen waren. Wenn aber diese Überbrückung des Gegensatzes, die als Anerkennung objektiver Leistung innerhalb einer Arbeitsgemeinschaft sich herstellen muß, |#f0601 : 577|

mißglückt, so wird durch gegenseitige Verbitterung die Kluft vergrößert. Dem Älteren wie dem Jüngeren bleibt dann nichts anderes übrig, als in Rückkehr zu den Altersgenossen das Verständnis zu suchen, das durch gleichartige Generationslagerung, gleiche Erfahrungen, gleichgerichtete Einstellung und Schicksalsgemeinschaft gewährleistet ist. 5. D i e R e i c h w e i t e d e s G e n e r a t i o n s g e b i l d e s Aus dem dargestellten Vorgang der Generationsbildung ergibt sich, daß das Generationsgebilde weder als ein regelmäßiges Zeitmaß, das in durchschnittlicher Wirkungsdauer des Einzelnen gegeben ist, gelten kann, noch als eine durch Geburt bestimmte Gleichheit, sondern als ein Einssein durch Schicksalsgemeinschaft, die eine Gleichheit der Erfahrungen und Ziele in sich schließt. Erst durch diese Gemeinschaft wird überhaupt der Begriff des Schicksals als einer durch Geburt und Tod begrenzten, durch Wachstum und Entwicklung gehobenen, durch Mit- und Gegeneinanderwirken ausgefüllten Lebensstrecke in seiner Notwendigkeit deutlich. Die Generationsfolge bedeutet den Taktschlag des Schicksals, durch den unzählige Einzelexistenzen in einen Rhythmus der Arbeit gezwungen werden. Der stoßweise Takt entspricht, wenn ein technischer Vergleich erlaubt ist, der rhythmischen Arbeit eines Motors. Verdichtung und Zusammenballung des Brennstoffes muß der Entladung vorausgehen; dieselbe Welle, die den einen Zylinder füllt, entleert im gleichen Takt den andern; Frühzündung beschleunigt, Spätzündung verlangsamt das Tempo. Das Bild ist auch insofern berechtigt, als einseitige generationsmäßige Betrachtung dazu verleiten könnte, die Menschheit als Maschine zu betrachten. Und hier liegt die Gefahr der methodischen Überspannung. Der Rhythmus als Arbeitserleichterung beherrscht freilich nicht nur die Tätigkeit des Einzelnen, sondern erst recht die Leistung der Gruppe und das Wollen der Gesamtheit. Generationsmäßige Willenseinheit potenziert die angewandte Kraft und ist das stärkste Mittel der Produktionssteigerung. Aber Taktschlag ist nicht Melodie, und es ist unmöglich, aus diesem Ordnungsprinzip die Fülle der Einzelleistungen in ihren Farben und Lichtern zwingend zu erschließen. Es kann nur als lineare Grundierung des Gemäldes gelten, als Disposition des Ganzen und Grundriß des Aufbaues. Niemals kann aber die Leistung des Einzelnen restlos aus seiner Generation, so abhängig er von ihr sein mag, erklärt werden, ebensowenig wie sie durch den |#f0602 : 578|

Stamm, dem er angehört, oder die Landschaft, in der er aufgewachsen ist, endgültig und ausschließlich bestimmt ist. Das Generationsprinzip ist für die Literaturgeschichte das Korrelat zu dem Stamm- und Landschaftssystem; die Kategorie der zeitlichen Einordnung ergänzt die der räumlichen. Alles was in der räumlichen Betrachtung fest ist, wie Heimat, Stammescharakter, Sprache und an die Sprache gebundener Stil, wird hier in Bewegung aufgelöst; alles was in der räumlichen Betrachtungsweise fließend ist, als Veränderung und Entwicklung, wird hier befestigt. Die generationsmäßige Betrachtungsweise vermittelt die Anknüpfung des literarischen Werdens an das Geschehen der Zeit, an die großen politischen Ereignisse, die geistigen Strömungen, die seelischen Erschütterungen, durch die die Beschaffenheit des Menschen sich wandelt. Aber gerade diese universalistische Betrachtungsweise stellt vor die Frage, ob eine Beschränkung auf literarische Generationen überhaupt berechtigt ist und ob nicht vielmehr die literarische Generation sich in dem Maße mit der politischen, der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen deckt, daß das Problem überhaupt nur als ein kulturgeschichtliches oder soziologisches betrachtet werden kann. Wenn Schopenhauer zweierlei Geschichten, die politische und die der Literatur und Kunst unterscheidet, die eine als die des Willens mit beängstigender und schrecklicher Wirkung, die andere als die des Intellekts mit erfreulichem und heiterem Eindruck, so sind zwei Lebenssphären nach ihren Polen getrennt, die in ihren Handlungen immer ineinander übergreifen und sich gegenseitig bedingen, selbst wenn die Kunst den Weg vom Zeitlichen zum Ewigen, die Politik den Weg vom Ewigen zum Zeitlichen geht. Ein soziologisches Problem ist die Generationsfolge auf jener ersten Stufe einheitlicher Lagerung, die die Voraussetzung des Generationszusammenhanges bildet. Ein geistesgeschichtliches Problem wird sie in dem Generationszusammenhang, der die wurzelhafte Verbindung und Wechselwirkung zwischen politischen und religiösen Bewegungen, Weltanschauungen und Parteiprogrammen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen begründet. Aber eine Sonderbetrachtung verdient jede der Generationseinheiten, die innerhalb des großen Zusammenhanges sich auf den Gebieten der Politik, der Wissenschaft und der einzelnen Künste bilden, parallel in ihren Richtungen, verbunden durch Wechselwirkung, aber vereinzelt in der Besonderheit ihrer Mittel und Ziele. Also gibt es auch ein eigenes literarisches Generationsproblem. Für die Künste mag jene Verschiedenheit des Entwicklungsstandes, |#f0603 : 579|

den jede von ihnen in einem bestimmten Zeitpunkt erreicht hat, wie Pinder zeigen will, eine gegenseitige Abhängigkeit bedingen; die Generationseinheit, bei der jedesmal der stärkste Wille vorhanden ist, erringt eine Führung innerhalb des Generationszusammenhanges. So hat die Barockmalerei das künstlerische Wollen der Barockdichter, die geistliche Musik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das künstlerische Wollen der Dichtung, etwa des Klopstockschen „Messias“, beeinflußt, und die Höhe der klassischen Dichtung um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts ist führend sowohl für Bildkunst als Musik der Zeit geworden, so daß für die folgenden Generationen der Kunstgeschichte wie der Musikgeschichte das Sichlosringen von literarischer Bevormundung ein Programm werden mußte. Die Dichtung hat sich zumeist in einer Mittelstellung zwischen Bildkunst und Musik gefühlt und bald nach der einen, bald nach der anderen Seite hin sich lenken lassen. Aber nicht immer ist diese Abhängigkeit die Folge einer gleichzeitigen Überlegenheit der Nachbarkunst. Wenn die deutsche Klassik unter Goethes Führung ihr Maß von der Bildkunst nimmt, so steht sie nicht unter dem Eindruck großer künstlerischer Leistungen der gleichen Generation, sondern greift, so wie es Winckelmann und Lessing getan hatten, auf die Kunst vergangener Zeiten, auf Antike und Renaissance zurück. Es war, nachdem die musikalische Gefühlsrichtung der vorausgehenden Periode eine Tendenz zur Maßlosigkeit und Formlosigkeit mit sich gebracht hatte, ein inneres Gebot des Ausgleichs, bei dem strengen Formbegriff der bildenden Kunst Halt zu suchen, und wenn die eigene Generation bei gleicher Richtung die Potenz, die solchen Anhalt gewährt, nicht aufbrachte, so bot sich das Zurückgreifen auf die Leistung vergangener Generationen zur Stärkung der immanenten Entwicklungstendenz. In gleicher Weise aber waren es innere Gründe, wenn die Romantik sodann den Weg beging, den die Klassik offen gelassen hatte, und es liegt durchaus nicht nur an der musikalischen Leistung der Generationen von Mozart und Beethoven, daß eine musikalische Richtung die Romantik als Ganzes bestimmte, und daß selbst die romantische Malerei, in Runge und Friedrich, der Generationseinheit der romantischen Dichter angeschlossen, über die Vermittlung der romantischen Literatur den Anschluß an die Musik suchte. In gleicher Weise haben Realismus und Naturalismus in der europäischen Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts einen ungefähr gleichschreitenden generationsmäßigen Gang innegehalten und am Ende des Jahrhunderts auch die Programmusik der musikalischen Generationseinheit in dem Maße bestimmt, daß jene Befreiung der Musik aus der literarischen |#f0604 : 580|

Gebundenheit durchaus nicht als ein so einheitlicher und stetiger Entwicklungsgang sich darstellt, wie es vom Standpunkt der absoluten Musik der Gegenwart, die wiederum Generationsgruppen der lebenden Dichter und Maler in Bann gezwungen hat, erscheinen möchte. Es zeigt sich vielmehr ein durchgehender rhythmischer Wechsel, der aber nicht in der regelmäßigen Ablösung der beiden von Pinder mit „Form als Hingabe“ und „Form als Auferlegung“ bezeichneten polaren Tendenzen und mit der Wiederkehr des Großvaters im Enkel sich erschöpft. Das „Sowohl als auch“ der Klassik ist nicht nur ein traumhaft-flüchtiges Durchgangsstadium, sondern bleibt im Ziel der Zusammenfassung aller Kräfte und im Ideal der organischen Harmonie die immanente Tendenz eines Menschentypus, der auch gelegentlich eine ganze Generation beherrschen kann. Außer der metronomischen Pendelbewegung der Antithese bleibt die zusammenfassende Einheitstendenz der Synthese und darüber hinaus die Kraftprobe einseitiger Steigerung möglich, und diese Möglichkeit der Richtungen, deren Nachhaltigkeit von der Stärke der Leistung und des Erfolges abhängt, gibt dem Generationsrhythmus eine unberechenbare Mannigfaltigkeit. Ebenso unberechenbar ist die räumliche Tragweite einer Generationsbewegung und ihr gesellschaftlicher Tiefgang. Die Gleichzeitigkeit des Geburtsalters ist bedeutungslos, wenn die Reichweite der generationsbildenden Erlebnisse nicht weit genug ist, um die Gleichaltrigen zu erfassen. Richard Alewyn hat in seinem Aufsatz über „das Problem der Generation in der Geschichte“ beiläufig darauf hingewiesen, daß es irgendwo in Australien noch in der Steinzeit lebende Naturvölker geben mag, die außerhalb der Geschichte stehen und mit uns nicht den mindesten Generationszusammenhang haben, ja, daß selbst geschichtliche Kulturen eine voneinander getrennte Existenz führen, die keinen realen Zusammenhang der Generationsbildung zuläßt. Gewisse generationsbildende Erlebnisse bleiben auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis beschränkt, und ob man etwa das Eindringen des weltlichen italienischen Liedes um 1580, das nur die deutschen weltlichen Liederdichter und Komponisten, aber nicht die Mystiker, Theologen, Dramatiker, Prosaschriftsteller, Satiriker der gleichen Zeit berührte, überhaupt als entscheidendes Generationserlebnis bezeichnen darf, erscheint mir zweifelhaft, zumal es sich ja nur um eine Reflexbewegung und um Übernahme einer in anderem Lande und von einer anderen Generation geformten Art handelt. Dagegen sind die weitreichendsten Generationserlebnisse die, die sich nicht auf literarische Formen beziehen, sondern die Grundstruktur |#f0605 : 581|

des ganzen Menschen einer Zeit in ihren Wurzeln erschüttern. Europäische Bewegungen und Weltereignisse, die, wie der letzte Krieg, den ganzen Erdball durcheinanderwarfen, haben eine unendlich viel größere Wellenlänge und einen alle Gesellschaftsschichten durchmessenden Tiefgang und sind daher imstande, weit über alle Grenzen der Stände und der Länder Generationsgemeinschaft entstehen zu lassen. Solche Ereignisse bringen auch einen Ausgleich zwischen dem verschiedenartigen Kulturstand der voneinander getrennten Länder hervor, und ihre weite Wirkung vollbringt es, daß der innerhalb verschiedener Kulturzusammenhänge andersartig verlaufende Rhythmus der Entwicklung schließlich an den Grenzen von Zeitaltern zusammenklingt, so daß die große Symphonie aller Instrumente in Pausen, Sätzen und Einsätzen einheitlich gegliedert ist. Die Vereinheitlichung des Weltverkehrs und die Verkürzung der Entfernungen durch Luftschiff, Flugzeug, drahtlose Telegraphie und Bildfunk, die Verallgemeinerung der Bildungsmittel, die Verbreitung des Übersetzungswesens, der Welthandel, die Börse, der Nachrichtendienst der Presse, alle diese modernen Erscheinungen, über deren Kulturwert man sehr geteilter Ansicht sein kann, verstärken mit Unterdrückung der regionalen Besonderheiten, die als Kräfte des Verharrens einer allgemeinen Generationsbildung im Wege standen, immer mehr die Schicksalsgemeinschaft und den Gleichschritt der Entwicklung, so daß man mit Recht sagen kann, daß das Generationsbewußtsein in räumlicher Ausdehnung und gesellschaftlicher Vertiefung immer mehr zunimmt, so wie die Aufeinanderfolge der Generationen sich beschleunigt. Vom eigenen Zeiterleben aus mußte deshalb das Generationsproblem auch für die heutige wissenschaftliche Erkenntnis wieder aktuell werden. Der zeitliche Abstand zwischen den Generationsbildungen ist ebenso unerrechenbar wie der der beiden andern Dimensionen, nämlich der räumlichen und gesellschaftlichen Schichtung. Je kürzer die Intervalle sind, desto schneller ist die Gesamtbewegung, und je rapider die Entwicklung fortschreitet, desto rascher jagt sich die Folge der Generationen, die ihre Träger sind. Aber wenn auch mit der Beschleunigung mehr Staub aufgewirbelt wird, so verflacht sich wiederum im Ausgleich die Stoßkraft der Gegensätzlichkeit. Das Schicksal fährt uns heute in rasender Fahrt. „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch.“ Aber aufblickend zu den ewigen Gestirnen sollen wir uns im jagenden Flug entrinnender Gegenwart auch des anderen Goethischen Ausspruchs erinnern, daß |#f0606 : 582|

jeder Augenblick ein Repräsentant der Ewigkeit ist. Und wenn uns Beängstigung beschleicht, mögen wir des Weitblicks gedenken, mit dem der Alte von Weimar am Ende seines Lebens das Recht der Jugend anerkannte und in herumlaufenden Kindern wie in straßenkehrenden Besen die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer verjüngenden Welt vor Augen hatte: Johannisfeuer sei unverwehrt, Die Freude nie verloren! Besen werden immer stumpfgekehrt Und Jungens immer geboren. |#f0607 : E583|

GESAMTPLAN DES UNAUSGEFÜHRTEN 2. BANDES: DICHTUNG IN RAUM UND ZEIT |#f0608 : E584|

DIE WISSENSCHAFT VON DER DICHTUNG ZWEITER BAND: DICHTUNG IN RAUM UND ZEIT E in leitu n g : S y n th etisch e L iteratu rw issen sch aft 1. Werke und Gattungen 2. Dichtertypen 3. Dichtung und Dichtkunst 4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes und der Zeit 3. B u c h : O r d n u n g e n Erster Hauptteil: Raum a) Rasse, Volk und Stamm b) Sprachraum c) Landschaft d) Geistiger Raum Zweiter Hauptteil: Zeit a) Geschichte b) Perioden und Epochen c) Generationen d) Bewegungen Dritter Hauptteil: Gesellschaft a) Umwelt b) Berufe und Stände c) Schichten des Publikums d) Geschmack Vierter Hauptteil: Geist und Stil a) Problemgeschichte b) Ideengeschichte c) Stilgeschichte d) Existenz |#f0609 : 585|

4. B u c h : V ö l k e r u n d Z e i t e n Erster Hauptteil: Nationalliteratur a) Aufbau und Gliederung b) Beharrlichkeit und Fortschritt c) Volkwerdung d) Nationalcharakter Zweiter Hauptteil: Geistesgeschichte a) Philosophie b) Politik c) Religion d) Verhältnis zu den Nachbarkünsten Dritter Hauptteil: Literaturvergleichung a) Sprachvergleichung b) Gleichzeitigkeit c) Strukturvergleichung d) Völkerpsychologie Vierter Hauptteil: Weltliteratur a) Übersetzungen b) Weltwirkung c) Humanitas d) Weltwert 5. B u c h : D a r s t e l l u n g Erster Hauptteil: Standort Zweiter Hauptteil: Einfühlung und Intuition Dritter Hauptteil: Aufbau und Gesetze Vierter Hauptteil: Der Sinn der Literaturwissenschaft |#f0610 : E586|

ANMERKUNGEN E INLE ITUNG 1. Literaturwissenschaft als Methodenlehre S. 1: Motto: Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Säk.-Ausg. Bd. 13, S. 8. Über die Möglichkeiten einer Universalgeschichte vgl. Kurt Breysig, Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte. Berlin 1905. Ders., Die Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Breslau 1936. S. 2: Literaturgeschichtsphilosophie: Das von Emil Ermatinger herausgegebene Sammelwerk, das verschiedene methodische Fragen in Einzelaufsätzen behandelt, trägt den Titel „Philosophie der Literaturwissenschaft“. Berlin 1930. S. 3: Josef Schick, Corpus Hamleticum. Hamlet in Sage und Dichtung, Kunst und Musik. Abt. I, Bd. 1 und 2: Europäische Sagen des Mittelalters und ihr Verhältnis zum Orient. Das Glückskind mit dem Todesbrief. Berlin 1912/32. Bd. 4 und 5: Die Scharfsinnsproben. Berlin 1934. Leipzig 1938. Arturo Farinelli, Aufsätze, Reden und Charakteristiken zur Weltliteratur. Bonn und Leipzig 1925. S. 383. Ders., Weltliteratur und Innenleben. Neue Reden und Aufsätze. Pisa und Stuttgart 1937. S. 33552. S. 4: Herder im Bruchstück eines älteren „Critischen Wäldchen“. Suphans Ausg. 4, S. 211. S. 5: Rassische Urverwandtschaft: Hans Heyse, Idee und Existenz. Hamburg 1935. S. 323 ff. Werner Jaeger, Paideia. 2. Aufl. Berlin 1935. S. 4 ff. S. 6: Schiller: Der Schlüssel. Säk.-Ausg. Bd. 1, S. 148. S. 7: Goethe, Maximen und Reflexionen. Nach d. Hs. d. Goethe- und Schiller- Archivs hrsg. von Max Hecker. Schr. d. Goethe-Ges. 21. S. 211. In den von Walter Otto (Dt. Lit. Ztg. 58, Sp. 1167 f.) zugunsten der Universalgeschichte herangezogenen Tatsachen, daß die Mohammedaner bisher nichts Rechtes für die Erforschung der islamischen Kunst beigetragen haben und daß allein die europäische Wissenschaft die altägyptische Kunstwelt mit arteigenem Maßstab zu messen gelernt hat, liegt nur eine Bestätigung dafür, daß das Verständnis fremder Kulturen von einer eigenen Kulturhöhe und einer in ihr ausgebildeten wissenschaftlichen Methode abhängig ist. Littérature comparée und Völkerbund: J. M. Carré, Rev. de la litt. comp. 2, S. 137. Adolf Bartels, Einführung in die Weltliteratur im Anschluß an das Leben und Schaffen Goethes. 3 Bde. 1913. 2. Aufl. 1927. S. 8: H. Munro and N. Kershaw Chadwick, The growth of literature. Vol. 1. 2. Cambridge 1932/36. S. 9: Eduard Sievers, Der Heliand und die angelsächsische Genesis. Halle 1875. Andreas Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied. Dortmund 1921. |#f0611 : 587|

Joseph Bédier, Le roman de Tristan par Thomas. Paris 1902 (Société des anciens textes français. 46.) F. Piquet, L'originalité de Gottfried de Strasbourg. Lille 1905. S. 10: Schleiermacher, Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens. Berliner Akademievortrag 1813. W. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens. Die Antike 3 (1937), S. 287 ff. Flora Roß Amos, Early theories of translations. Studies in comparative literature. New York 1920. Paul Herbert Larwill, La théorie de la traduction au début de la renaissance. München 1934. Cervantes, Don Quichote. 11. Buch, Kap. 10. S. 11: Wilhelm von Humboldt an A. W. Schlegel. 23. Juli 1796. Klettes Verzeichnis. Bonn 1868, S. VI. Das Wort „Literaturwissenschaft“ kommt zuerst vor bei Theodor Mundt in seiner „Gesch. d. Lit. d. Gegenwart“, Berlin 1842. Vgl. Sachwörterbuch der Deutschkunde. Bd. 2. 1930. S. 746. S. 12: Osk. Katann, Vom Wesen der Literaturwissenschaft. Über den Wassern 1914. Wiederholt: Ästhetisch-literarische Arbeiten. Wien, Innsbruck, München 1918. S. 177 ff. Ders., Zur Methode der Literaturgesch. Gral 1929; wiederholt in: Gesetz und Wandel. Innsbruck 1932. S. 188210. A. N. Wosnessensky, Aufbau d. Literaturwiss. (Ideal. Philos. III), 1938, S. 337 ff. Wolfg. v. Einsiedel, Gibt es eine Literaturwissenschaft. Die schöne Literatur 1926, Heft 1, 3 und 4. Rob. Petsch, Was heißt Allgemeine Literaturwissenschaft? Einführende Bemerkungen. Ztschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 28 (1934), S. 254 ff. S. 13: Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933. S. 28. S. 14: G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. 2. Teil, 3. Abschn., 3. Kap. Sämtl. Werke V, S. 330. Agnes v. Zahn-Harnack, Adolf von Harnack. Berlin 1936. S. 71 f. Friedr. Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 1911. S. VIII. S. 15: Jean Paul, Quintus Fixlein. 2. Zettelkasten. Akademie-Ausg. I, 5, S. 77. Daß ursprünglich die jüdischen Masorethen gemeint waren, beweist der Brief an Emanuel vom 15. April 1795: Eduard Berend, Briefe Jean Pauls. Bd. 2, S. 71. S. 16: Wilh. Wundt, Logik. 3 Bde. Stuttgart 1893. 3. Aufl. 1906. Wilh. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften 1883. Ges. Schr. Bd. 1. 2. Aufl. Leipzig und Berlin 1923. Wilh. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburger Rektoratsrede 1894. 3. Aufl. Straßb. 1904. Heinr. Rickert, Die Grenzen der naturwiss. Begriffsbildung. Tübingen 1902. 2. Aufl. 1913. Dazu Erich Becher, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Realwissenschaften. München u. Leipzig 1921. S. 125 ff. S. 17: Das Zusammenstreben von Wissenschaft und Leben ist als geisteswissenschaftliche Lage der Nachkriegszeit durch Theod. Litt (Erkenntnis und Leben. Leipzig 1923, S. 26 ff.) besprochen. S. 19: Fr. Th. Vischer, Faust der Tragödie dritter Teil. Nachspiel. 2. Aufl. 1882; 3. Aufl. 1886. S. 157 ff. Ders., Die Faustliteratur. Hallesche Jahrbücher. 1839, Nr. 9 ff.; wiederholt: Kritische Gänge. Tübingen 1844, Bd. 2, S. 49 ff. 2. Aufl. München 1924, Bd. 2, S. 213. Vgl. auch meine Besprechung neuerer Faustliteratur in der Deutschen Literaturzeitung 55 (1934), Sp. 77891. H. Titze, Die philosophische Periode der deutschen Faustforschung. Diss. Greifswald 1911. Ada M. Klett, Der Streit um Faust II seit 1900. Jena 1939. = Jenaer Germanist. Forsch., 33. |#f0612 : 588|

2. Geschichtliche Entwicklung der Aufgaben S. 20: Motto: A. H. L. Heeren, Geschichte des Studiums der classischen Literatur seit dem Wiederaufleben der Wissenschaften. Bd. 1, Göttingen 1797, S. VII. Er. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920, S. 151. S. 21: S. v. Lempicki, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1920. Voraus ging eine kurze Skizze Erich Schmidts in der Wiener Antrittsvorlesung (Charakteristiken 1, 480 ff.). Als Ersatz für die noch fehlende Fortsetzung Lempickis dienen desselben Verfassers Artikel „Literarhistoriker“, „Literaturgeschichtsschreibung“, „Literaturwissenschaft“ im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte von Merker und Stammler. Bd. 2. Berlin 192628. Zur Geschichte der englischen Literaturgeschichtsschreibung: J. H. O'Leary, English Literary History and Bibliography. London 1928. Dazu: M. Ertle, Englische Literaturgeschichtsschreibung, Ästhetik und Psychologie in ihren Beziehungen. Diss. Berlin 1936. Eine Geschichte der französischen Literaturgeschichtsschreibung ist in der essayistischen Methodenlehre von Gust. Lanson „Histoire littéraire“ (E. Borel, De la Méthode dans les Sciences. 2me série Paris 1911, S. 22164) eingeschlossen. Mittelalter: H. H. Glunz, Die Literarästhetik des europäischen Mittelalters. Bochum-Langendreer 1937. Dazu: E. R. Curtius, Z. f. roman. Philol. 58 (1938). S. 22: J. v. Watt: E. Jenal, Wissen und Leben 16 (1922), S. 93 ff. J. Nadler, Euphorion 25 (1924), S. 114 ff. Herm. Menhardt, Altdt. Dichtung i. d. Wiener Vorlesungen d. Vadianus 151213. Ztschr. f. dt. Altertum 75 (1938), S. 3948. Mit dem Buchdruck entstand erst die Aufgabe, einen endgültigen Text, der vielfältiger Verbreitung zu genügen hatte, herzustellen, und damit die Anfänge der Textkritik. Vgl.: A. Meißinger, Roman des Abendlands. Leipzig 1939. S. 56. S. 23: Jul. Schwering, Die Idee der drei heiligen Sprachen im Mittelalter. Festschr. für Aug. Sauer. Stuttgart 1920. S. 311. S. 24: Über die kulturpatriotischen Tendenzen der Barockpoetik sowie Morhofs und seines Nachfolgers Rotth vgl. Br. Marckwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Berlin 1937. Bd. 1. S. 26 ff., 227 ff., 240. Histoire Litéraire de la France. Ouvrage commencé par des religieux Bénédictins de la congrégation de Saint-Maur et continué par des Membres de l'Institut. 36 Bde. 17331927. Theoph. Cibber, The lives of the poets of Great Britain and Ireland from the time of Dean Swift. 5 Bde. London 1753. Sam. Johnson, The lives of the most eminent English poets. London 177981. In Deutschland erschien ein ähnliches Werk mit Ch. H. Schmids Biographie d. Dichter. 2 Teile. Leipzig 176970. Jos. Körner, Nibelungenforschungen der deutschen Romantik. Leipzig 1911. M. Wehrli: J. J. Bodmer und die Geschichte der Literatur. Wege zur Dichtg. 27. Frauenfeld und Leipzig 1937. S. 25: Fr. Gedike, Über das Studium der Literarhistorie nebst einem Beitrag zu dem Kapitel von gelehrten Schustern. Berlinische Monatsschr. I (1783), S. 280 f. S. 27: Franz Schultz, Die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Herder bis Wilhelm Scherer. In: Ermatinger: Philosophie d. Litwiss. Berlin 1930. S. 142. Martin Schütze, Academic Illusions. A survey, a criticism. a new approach and a comprehensive plan for reorganizing the study of letters and arts. Chicago 1933. |#f0613 : 589|

S. 28: Joh. Gottfr. Eichhorn, Allgemeine Geschichte der Kultur und Literatur des neueren Europa. 2 Bde. Göttingen 179699. Ders., Geschichte der Literatur von ihren Anfängen bis auf die neuesten Zeiten. 6 Bde. Göttingen 180511. Friedr. Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredtsamkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts. 12 Bde. Göttingen 180119. Karl J. Bouginé, Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte nach Heumanns Grundriß. 7 Bde. Zürich 1789 bis 1802. Ludw. Wachler, Handbuch der allgemeinen Geschichte der literärischen Kultur. 2 Bde. Marburg 1804 f. Ein Verzeichnis der allgemeinen Literaturgeschichten bei R. F. Arnold: Allgemeine Bücherkunde zur neueren deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Berlin, Straßburg 1919. S. 3951. S. 29: Friedr. Schlegel, Geschichte der Poesie der Griechen und Römer. Prosaische Jugendschriften, hrsg. v. J. Minor. Wien 1882. Bd. 1, S. 231 ff. Sämtliche Werke. Wien 1822. Bd. 3. S. 267 ff. S. 30: Otto Koischwitz, Über die Literaturgeschichte des Dichters Eichendorff. Dichtg. u. Forschg. Festschr. f. Ermatinger. Frauenfeld u. Leipzig 1933. S. 12837. S. 31: Wilh. Scherer, Jakob Grimm. Berlin 1865. Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Bd. II, S. 354. S. 32: M. Rychner, G. G. Gervinus. Ein Kapitel über Literaturgesch. Bern 1922. Rud. Unger, Gervinus und die Anfänge der politischen Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland. Nachr. d. Götting. Ges. d. Wiss. N. F. Bd. I, Nr. 5. Berlin 1935. S. 33: Jul. Petersen, Literaturwissenschaft und Deutschkunde, Zs. f. Deutschkde. 38 (1924), S. 40315. S. 35: Hettner: E. A. Boucke: Aufklärung, Klassik und Romantik. Sonderdr. a. d. 7. Aufl. d. Litgesch. d. 18. Jh. Braunschweig 1925. Rud. Unger, Schles. Lebensbilder. Bd. 3 (1928); wiederh.: Ges. Studien. Bd. 2 (1929), S. 16373. S. 36: Scherer: W. Dilthey. Dt. Rundschau XIII (1886). Ges. Schr. Bd. II, S. 23653. Edw. Schröder, ADB. Bd. 31, S. 10414. Er. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen 1920, S. 207 ff. Briefwechsel zw. Müllenhoff und Scherer, hg v. A. Leitzmann. Berlin u. Leipzig 1937, S. 476 ff. Er. Schmidt, Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte (1880). Charakteristiken. Bd. 1. Berlin 1886, S. 48098. v. Basch, Wilh. Scherer et la philologie allemande. Paris, Nancy, 1889. J. Petersen, Zum Gedächtnis W. Scherers. Deutsche Rundschau, 1941. S. 38: Wolfg. Goetz, Fünfzig Jahre Goethe-Gesellschaft. Schr. d. G. G. (Weimar 1936), S. 19 ff. S. 39: Anton Bettelheim, Die Unmöglichkeit einer Goethe-Biographie. Allg. Zeitg. 1891. Beilage Nr. 212. Hipp. Taine, Sa vie et sa correspondance. Paris 1902 bis 1907. II, 360; III, 307. S. 40: Dilthey: Rothacker a. a. O. S. 253 ff. Briefwechsel mit Graf Paul Yorck v. Wartenburg hg. v. Sigrid v. d. Schulenburg. Halle 1923. S. 41: Rud. Unger, Kierkegaard, der religiöse Prophet des Nordens. Der Wächter. Jg. 7 (1924); wiederholt: Ges. Studien II (1929), S. 122162. Joh. Pfeiffer, K.s Kampf gegen d. Dichter. Das Innere Reich, Juli 1936. S. 42: Stefan Georges Einfluß: W. Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930. H. Rößner, Georgekreis und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1938. R. M. Meyer, Prinzipien wissenschaftlicher Periodenbildung. Euphorion 8 (1901), 142. |#f0614 : 590|

S. 43: Friedr. Kummer, Deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, dargestellt nach Generationen. Dresden 1909. Aug. Sauer, Literaturgeschichte und Volkskunde. Prag 1907. Jos. Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 1: Die Altstämme (8001600); Bd. 2: Die Neustämme von 1300, die Altstämme von 1600 bis 1780; Bd. 3: Hochblüte der Altstämme bis 1805 und der Neustämme bis 1800; Bd. 4: Der deutsche Staat (18141914). Regensburg 191228. Neubearbeitung unter dem Titel „Literaturgesch. des dt. Volkes“ als 4. Aufl., Berlin 193841. Rud. Unger, Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft. München 1908. Ders., Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Berlin 1924. Beides wiederholt in den Gesammelten Studien Bd. 1 (1929), 1 ff.; 137 ff. O. Walzel, Analytische und synthetische Literaturforschung. Germ. Rom. Mschr. 2 (1910), 257 ff.; 321 ff. Wiederholt: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926, S. 335. Kuno Francke, Die Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 2 Bde. Berlin 1910/23. Ernst Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Halle 1897. Bd. 2 (Stilistik) 1911. S. 44: Emile Faguet, La crise du français. Revue des deux mondes Sept. 1910. Jul. Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1924. Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. München 1922. 2. verm. Aufl. 1924. S. 45: H. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. 1. Leipzig 1923. Bd. 2 ebd. 1930. Harry Maync, Geschiche d. deutschen Goethe-Biographie. 2. Aufl. Leipzig 1914. José Ortega y Gasset, Um einen Goethe von innen bittend. Brief an einen Deutschen. Neue Rundschau Bd. 1 (1932), S. 551 ff. Wiederholt: Buch des Betrachtens. Stuttgart-Berlin o. J., S. 20650. Karl Voßler, Deutsche Literaturzeitung 57 (1936), Sp. 1265. S. 46: Historische Belletristik. Ein kritischer Literaturbericht. Hrsg. von der Schriftleitung der Hist. Zs. München u. Berlin 1928. H. Bourdeau, L'histoire et les historiens. Essai critique sur l'histoire considérée comme science positive. 1888. Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. 5. u. 6. Aufl. Leipzig 1908. S. 125 f. Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918. Paul Kluckhohn, Das Kleist-Bild der Gegenwart. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 798830. R. Ayrault, La légende de Heinrich von Kleist. Un poète devant la critique. Paris 1934. Herb. Cysarz, Literaturgeschichte als Geisteswissenschaft. Halle 1926. Dazu: Henri Lichtenberger, Une méthode nouvelle d'histoire littéraire. Mélanges offerts à F. Baldensperger. T. 2. Paris 1930. S. 5059. Auseinandersetzungen über die neuen Richtungen: Paul Merker, Der Ausbau der deutschen Literaturgeschichte. Neue Jbb. 45 (1920), S. 6383. Ders., Neue Aufgaben d. dt. Literaturgeschichte, Leipzig und Berlin 1921. Wern. Mahrholz, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. Berlin 1923. 2. Aufl. bearb. von Fr. Schultz. Leipzig 1932. Em. Ermatinger, Die deutsche Literaturwissenschaft in der geistigen Bewegung der Gegenwart. Zs. f. Deutschkde. 39 (1925), S. 24161. Wiederholt: Krisen und Probleme der neueren deutschen Dichtung. Zürich 1928. S. 1 ff. Er. Everth, Individualität und Geistesgeschichte. |#f0615 : 591|

Jb. d. Charakterologie 4 (1927), S. 142. H. Maync, Die Entwicklung d. dt. Literaturwissenschaft, Bern 1927. O. Benda, Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturwissenschaft. Wien-Leipzig 1928. Franz Schultz, Das Schicksal der deutschen Literaturgeschichte. Ein Gespräch. Frankfurt a. M. 1929. K. J. Obenauer, Der Wandel in der deutschen Literaturwissenschaft. Ständisches Leben 1932, Heft 7. Paul Böckmann, Von den Aufgaben einer geisteswissenschaftlichen Literaturbetrachtung. Dt. Vjs. 9 (1931), S. 44871. S. 48: Heinz Kindermann, Dichtung und Volkheit. Berlin 1937. K. J. Obenauer, Volkhafte und politische Dichtung. Frankfurt a. M. 1936. Paul Krannhals, Das organische Weltbild. Grundlagen einer neuentstehenden deutschen Kultur. München 1928. Bd. 2, S. 389. S. 49: Franz Koch, Blick in die Zukunft. In: Festschr. z. 50jährigen Bestehen d. German. Seminars der Universität Berlin. Berlin 1937. S. 59. Hans F. K. Günther, Rasse und Stil. München 1926. Ludwig Ferdinand Clauß, Rasse und Seele. München 1926. Ders., Die nordische Seele. München 1932. Vorgeschichte: Fr. Kern, Weltgeschichte der schriftlosen Kulturen. Arch. f. Kulturgesch. 22 (1931), 23 (1932). Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1934. Rob. Stumpfl, Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas. Berlin 1936. Rich. Wolfram, Schwerttanz und Schwerttanzspiel. Wiener Zs. d. Ver. f. Volkskunde 1912, Heft 1/2. Ders., Schwerttanz und Männerbund. Kassel 1935 ff. S. 50: Weltkrieg: Herb. Cysarz, Zur Geistesgeschichte des Weltkriegs. Halle 1931. Herm. Pongs, Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum. Stuttgart 1934. Heinz Schlötermann, Das dt. Weltkriegsdrama. = D. Nationaltheater, hrsg. von O. zur Nedden. Würzburg-Aumühle. 1939. Herm. Grimrath, D. Weltkrieg im franz. Roman. N. dt. Forsch., 19. Berlin 1935. Marg. Günther, D. engl. Kriegsroman u. d. engl. Kriegsdrama. N. dt. Forsch. 59. Berlin 1936. H. Weigand, D. engl. Kriegsroman. 1933. H. Langenbucher, Literaturwiss. und Gegenwartsdichtung. In: Einsamkeit u. Gemeinschaft, Stuttgart 1939. Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. Dichtg. u. Volkstum 38 (1937), S. 117; 273324. Vgl. auch: Horst Oppel, Kierkegaard und die existenzielle Literaturwissenschaft. Ebd. S. 1829; Fritz Dehn, Existenzielle Literaturwissenschaft als Entscheidung. Ebd. S. 2943. Kritische Stellungnahme v. W. Schmiele, Existenzielle Literaturwissenschaft? Frankf. Ztg., 6. März 1938. E R S T E S B U C H : D A S WE R K E R S T E R H A U P T T E IL : Ü B E R L IE F E R U N G U N D A U S WA H L S. 55: Über philosophische Dichtung: M. Dessoir, Die Kunstformen der Philosophie. Universitätsrede Berlin 1928. Herm. Glockner, Philosophie und Dichtung. Typen ihrer Wechselwirkung von den Griechen bis auf Hegel. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 15 (1921), S. 187204. Paul Schaaf, Das philosophische Gedicht. Dt. Vierteljahresschr. 6 (1928). S. 270292. Schiller an Körner 9. März 1789. Jonas II, 247. George, Tage und Taten. S. 85. S. 56: Roman Ingarden, Das Literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft. Halle a. S. 1931. |#f0616 : 592|

Klagen Goethes: Petersen, Goethe und die deutsche Sprache. Jb. d. Goethe- Ges. 17, S. 1 ff. Wiederholt: Aus der Goethezeit. Leipzig 1932, S. 70 ff., 77 f. Selbst ein Dichter wie Theoph. Gautier läßt in seinem Roman „Mademoiselle de Maupin“ sagen, das beste Gedicht sei, was der Dichter nicht geschrieben habe (Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 58). S. 57: Kleists „Peter, der Einsiedler“: Petersen, H. v. Kleist und Torquato Tasso. Eine Studie über literar. Einfluß. Zeitschr. f. d. dt. Unterricht 1917, S. 27389, 33759. Weidmanns und Lessings Faust: Engel, Johann Faust. Ein allegor. Drama. Mutmaßlich nach Lessings verlorener Handschrift. 1877. Dazu Payr v. Thurn, Grillparzer-Jb. 13, S. 1 ff. Ludw. Fränkel, Die drei Wiener Weidmanns u. d. W.sche Faust. Ber. d. Fr. Dt. Hochstifts. N. F. 16 (1900), S. 1222. Kleists Roman: E. Schering, Berl. Tgbl. 7. Aug. 1926. Nr. 369. Dagegen G. Witkowski Leipz. N. N. 15. Aug. 1926. O. Walzel, Berner Bund 1926, Nr. 412. K. Viëtor, Jb. d. Kleistges. Bd. 7/8 (1927), S. 13847. Paul Piper, „Joseph“, Goethes erste große Jugenddichtung wiederaufgefunden und zum ersten Male hg. Hamburg 1920. Gesamte Literatur darüber bei Fritz Tschirch, Der Altonaer Josef, Goethes angebliche Jugenddichtung. Berlin 1929. Vgl. auch S. 79. S. 60: Häring und W. Scott: H. A. Korff, Scott und Alexis. Diss. Heidelb. 1907. R. Fischer, Schloß Avalon. Diss. Leipzig 1911. H. F. Kohler, Walladmor. Diss. Marburg 1917. Michel Dragomirescu, La science de la littérature. Paris 1928/29. S. 61: Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft, Bd. I (1897), S. 17. S. 62: Heinzels Kritik: Singer, Zs. f. österr. Gymn. 1909, S. 337. Dichtungsgeschichte: Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin-Neubabelsberg 1923. S. 2. Unger, Literaturgeschichte und Geistesgeschichte. Ges. Stud. Bd. 1 (Berlin 1928), S. 215. Herb. Cysarz, Zwischen Dichtung und Philosophie. Festschr. f. Ermatinger. Frauenfeld 1933. S. 1. J. J. Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. 2. Aufl. Berlin, Stettin 1789. S. 335 ff. Mart. Sommerfeld, Romantheorie und Romantypus d. dt. Aufklärung. Dt. Vjschr. f. Litwiss. und Geistesgesch. 4 (1926), S. 45990. Schleiermacher, Ästhetik. Hrsg. von Odebrecht. Berlin, Leipzig 1913. S. 263. S. 63: Bernhardi, Sprachlehre. Bd. 2 (Berlin 1803), S. 186 f. Hegel (Ästhetik, Bd. 3, S. 395) läßt den Roman das verlorene Recht der Poesie auf dem Boden der Prosa zurückerobern. E. G. Kolbenheyer, Wie wurde der deutsche Roman Dichtung? München 1938. S. 10 f. Genau gleichzeitig behauptet Wilh. Schäfer das Umgekehrte, daß die Zustands- und Alltagsschilderung den modernen Roman auf ein anderes Brett als das der Dichtung abschiebe (Wendekreis neuer Anekdoten. München 1937. S. 9). Dafür hat Paul Ernst wiederum die von Schäfer meisterlich gepflegte Anekdote nicht mehr zur Dichtung rechnen wollen (Der Weg zur Form. 3. Aufl. S. 429) und den Roman Halbkunst genannt (Vgl. P. Fechter, Gesch. d. dt. Lit. vom Naturalismus bis zur Lit. des Unwirklichen, Leipzig 1938, S. 311). Oswald Spengler über den Roman: Aquädukt. Jahrbuch des Verlags Beck. 1938. |#f0617 : 593|

Ben. Croce, La Poesia. Introduccione alle Critica e Storia della Poesia e della Letteratura. Bari 1936. p. 2. Ders., Poesie und Nichtpoesie. Übers. von Schlosser. Zürich, Wien, Leipzig 1925. S. 497. Walzel, Grenzen von Poesie und Unpoesie. Frankfurt a. M. 1937, S. 6 f. S. 64: Ingarden, D. literar. Kunstwerk, S. 1. Für die Interpretation des Einzelwerks als Dichtung kann die phänomenologische Betrachtungsweise fruchtbar gemacht werden, wie die Diss. von Lucie Elbracht-Hülseweh, J. Bidermanns „Belisarius“, Berlin 1935 (= N. dt. Forsch., Abt. Dt. Litgesch., 4) zeigt, aber für die Heraushebung des Wesentlichen aus der Gesamtheit des Stoffes kommt ihre Anwendbarkeit nicht in Betracht. Vgl. auch: Günther Müller, Über die Seinsweise von Dichtung. Dt. Vierteljahresschr. 17, 1939, S. 137 ff. S. 65: B. Croce, La Poesia. p. 146. S. 66: Th. Mann, Ricarda Huch. Frankf. Ztg. 18. Juli 1924, Nr. 530. Jos. Ponten, Offener Brief von Th. Mann. Dt. Rundschau 51 (Okt. 1924), S. 6483. W. Schneider, Schriftstellersprache und Dichterwort. Die Literatur 26 (1923/24), S. 25670. Einen Unterschied zwischen dem Schriftsteller, der auf sein Volk wirken will, und dem Literaten, der nur auf Erfolg ausgeht, macht Wilh. Schäfer, Der Dichter u. s. Zeit in Kindermanns Sammlung „Des deutschen Dichters Sendung i. d. Gegenwart“. Leipzig 1933, S. 45. S. 68: G. Baesecke, Der deutsche Abrogans. Halle 1937. Älteste Überlieferung des Alten Testaments: C. H. Roberts, Biblica XVII (1936), S. 501 ff. S. 70: Internationale Inkunabelverzeichnisse: Ludwig Hain, Repertorium bibliographicum. Vol. 1. 2. Stuttgart u. Paris 182638. Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hrsg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 1 ff. Leipzig 1925 ff. Nationale Verzeichnisse: Catalogue of books printed in the XVth century now in the British Museum. T. 1 ff. London 1908 ff. Marie Pellechet [et M.-Louis Polain], Catalogue général des incunables des bibliothèques publiques de France. T. 13: Abano-Gregorius Magnus. Paris 18971909. M.- Louis Polain, Catalogue des livres imprimés au quinzième siècle des bibliothèques de Belgique. T. 14. Bruxelles 1932. Allgemeines über Inkunabeln: Konrad Haebler, Typenrepertorium der Wiegendrucke. Halle 190524. Ders., Handbuch der Inkunabelkunde. Leipzig 1925. Gust. Roethe, Die Deutsche Kommission der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, ihre Vorgeschichte, ihre Arbeiten und Ziele. Neue Jbb. f. klass. Altertum, Gesch. u. dt. Lit. I, 31 (1913), S. 3774. Bibliographie: Georg Schneider, Handbuch d. Bibliographie, 4. Aufl. Leipzig 1930. Hans W. Eppelsheimer, Handbuch d. Weltliteratur. Frankfurt a. M. 1937. S. 71: Wilh. Dilthey, Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Philosophie. Archiv II (1889), S. 343367. Ges. Schr. IV, 35575. Ders., Dt. Rdsch. 2 (1888/9), S. 94257. Jak. Minor, Centralanstalten für die literaturgeschichtlichen Hilfsarbeiten. Euphorion 1 (1894), S. 1726. Ernst Beutler, Die literarhistorischen Museen und Archive, ihre Voraussetzung, Geschichte und Bedeutung. Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, hrsg. von L. Brauer, A. Mendelssohn-Bartholdy und Adolf Meyer. Bd. 1. Hamburg 1930. S. 22759. Katalog der Sammlung Kippenberg. 2. Ausg. 3 Bde. Leipzig 1928. Jb. d. Sammlung Kippenberg. Bd. 110. Leipzig 192135. |#f0618 : 594|

S. 72: Wilh. Frels, Deutsche Dichterhandschriften von 14001900. Gesamtkatalog der eigenhändigen Hss. deutscher Dichter in den Bibliotheken und Archiven Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und der CSR. Bibliographical Publications. Vol. II. Leipzig 1934. Dazu Wiel. Schmidt, Dt. Lit. Ztg. 59 (1938), Sp. 793802. Vgl. auch E. C. Richardson, The world's Collections of manuscript books. A preliminary survey. New York 1933. H. Schreiber, Bibliothekarische Aufgaben zur Handschriftenerschließung. Dresden 1934 (* aus Hist. Zeitschr. 29 Heft 1/2). A. Bömer, Der Plan eines Handschriftenweltkatalogs. Zentralbl. f. Bibliothekswesen 52 (1935), S. 2659. Ein Verzeichnis der deutschen Dichtergedenkstätten in Kürschners Dt. Lit.-Kalender 49 (Bln. 1939), S. 255282. Freiburger Volksliedarchiv: W. Heiske, Wege und Aufgaben der Volksliedforschung. Neues Musikbl. 16 (1937). Nr. 26/27. Über den Fortgang des Unternehmens unterrichtet seit 1923 alljährlich von Freiburg i. Br. aus ein „Bericht über die Sammlung deutscher Volkslieder, erstattet vom Volksliedausschuß des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde“. Der Ertrag wird in dem Werk „Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien“ (1. Bd., Berlin 1935) und in dem seit 1928 in Berlin erscheinenden „Jahrbuch für Volksliedforschung“, hrsg. v. John Meier, verarbeitet. Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte d. dt. Dichtung aus den Quellen 1. Aufl. 3 Bde. Dresden 18591881. 2. Aufl. 13 Bde. Dresden 18841938. 3. Aufl. Bd. 4, 14. Dresden 191016. Während die Beendigung der 2. Aufl. mit Bd. 11 und 14 noch aussteht, beginnt bereits die von der Preuß. Akad. d. Wissenschaften unternommene Weiterführung für die Zeit von 18301880, die an die Stelle der historischen die alphabetische Anordnung setzen soll. Vorläufig müssen als Ersatz der Grundriß der neueren dt. Lg. von R. M. Meyer (2. Aufl. Berlin 1907) und das Handbuch zur Geschichte d. dt. Lit. von Ad. Bartels (2. Aufl. 09) dienen. Die französische Literaturgeschichte besitzt ein ähnliches, handlicheres Repertorium in Gust. Lansons „Manuel bibliographique de la littérature française moderne. 2. Aufl. Paris 1921. Z WE IT E R H A U P T T E IL : T E X T U N D V E R F A S S E R S. 74: Motto: Friedr. Schlegel, Prosaische Jugendschriften. Hrsg. v. J. Minor. Bd. 2 (1882), S. 302. S. 75: Goethes Spruch: Maximen und Reflexionen 509. Heckers Ausgabe Schr. G. G. 21, 109. Literarische Fälschungen: I. A. Farrer, Literary forgeries. London 1907. Dt. Übers. v. F. L. Kleemeier. Leipzig 1907. Dazu: R. F. Arnold, DLZ. 1908, Nr. 20. Quérard, Les Supercheries littéraires dévoilées. 3 Bde. Paris 1869/70. A. Barbier, Les supercheries littéraires dévoilées. 2. ed. 3 voll. Paris 1869/70. Augustin Thierry, Grandes mystifications littéraires. 2 voll. Plon-Nourrit 1911/13. C. G. v. Maaßen, Süddt. Monatshefte 33 (1936), Heft 11. S. 76: Max Herrmann, Ein' feste Burg ist unser Gott. Berlin 1905. A. Vollert, Der Prozeß wegen betrüglicher Anfertigung Schillerscher Handschriften. Jena 1856. Geschichtsfälschungen: E. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode. 5. u. 6. Aufl. Leipzig 1908. S. 33176. |#f0619 : 595|

S. 77: Jos. Aschbach, Roswitha und Conr. Celtes. Wien 1867. Dagegen Rud. Köpke, Hrotsw. v. Gandersh. Berlin 1869. Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt nach der Goetheschen Abschrift, hrsg. von Er. Schmidt. Weimar 1887. 7. Abdr. 1909. Wilhelm Meisters theatralische Sendung: Ausgabe von Harry Maync. Stuttgart u. Berlin 1911. Weimarer Ausgabe Bd. 51 und 52. Weimar 1911. S. 78: Jul. Petersen, Schiller als Redaktor eigener Werke. Euphorion 12 (1905), S. 64. Ders., Die Entstehung der Eckermannschen Gespräche und ihre Glaubwürdigkeit. Dt. Forschgn. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1925. Edw. Schröder, Die Sesenheimer Lieder von Goethe und Lenz nebst einem Exkurs über Lenzens lyrischen Nachlaß. Nachr. d. Ges. d. Wiss. z. Göttingen. 1905. H. 1. Th. Maurer, Die Sesenheimer Lieder. Beitr. z. Landes- und Volkskunde v. Elsaß-Lothringen. H. 32. Straßburg 1907. Edw. Schröder, Sesenheimer Studien. Jb. d. Goethe-Ges. 6 (1919), S. 82107. Th. Maurer, Goethes Michaelserlebnis im Elsaß. Das Sesenheimer Liederbuch. Leipzig. Straßburg. Zürich 1932. S. 79: Goethes Joseph: vgl. Anm. zu S. 57. S. 80: E. Dupuy, Le paradoxe sur le comédien. Edition crit. Paris 1902. Jos. Bédier, Études critiques. Paris 1903, pp. 83112. Als methodisches Muster herangezogen von André Morize (Problems and methods of literary history. Boston 1922, S. 158 ff.) und von Gust. Rudler (Les techniques de la critique et de l'histoire littéraire en littérature française moderne. Oxford 1923. S. 43 ff.). Das Reh: A. Hauffen, Archiv f. Litgesch. 15 (1887), S. 31622 E. A. Regener, Tieck-Studien. Diss. Rostock 1903. E. H. Zeydel, Euph. 29 (1928), S. 93108. Zorade: Lachmann-Munckers Lessing-Ausgabe. Bd. 22, I, S. 12030. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. E. handschriftl. Fund, mitget. von Franz Rosenzweig. Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss. Phil.- hist. Kl. 1917. Wilh. Böhm, Hölderlin als Verfasser des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 339426. Dagegen: Ludw. Strauß, Dt. Vjs. 5 (1927), S. 679734. Weitere Erörterungen: Dt. Vjs. 5, S. 73447; W. Böhm, Hölderlin. Bd. 1. Halle 1928. S. 172 ff.; Joh. Hoffmeister, Dokumente zu Hegels Entwicklung. Stuttgart 1936. S. 455. S. 81: Hölderlin-Klopstock: K. Bode, Euph. 13 (1906), S. 133 f. Seebaß, Hellingraths Ausgabe VI, S. 501. Graf Loeben: Minor, Germ. Rom. Mschr. 3 (1911), S. 185. Novalis: W. Vesper, Euph. 15 (1908), S. 568 ff. Walzel, Euph. 9 (1902), S. 474 ff. Gutkind, Novalis als Übersetzer. Frankf. Ztg. 18. Juni 1925, Nr. 446. S. 82: Karl Schultze-Jahde, Zur Gegenstandsbestimmung von Philologie und Litwiss. Ein methodolog. Versuch. Berlin 1928. Eduard Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte. 1902. S. 83: Jakob Grimm, Kl. Schr. I, 150. S. 84: Friedr. Schlegel, Prosaische Jugendschr. Hrsg. v. Minor. Bd. II, S. 276. H. J. Pos: Kritische Studien über philologische Methode. Beitr. z. Philos. 10. Heidelberg 1923. S. 85: Theod. Birt: Kritik und Hermeneutik. Handb. d. klass. Altertumswiss. Bd. I, 3. 3. Aufl. (1913), S. 208. Eine eigenartige Überlieferung liegt vor bei Goethes Versen an Gotter (Schicke dir hier den alten Götzen), die Creizenach 1837 aus dem Gedächtnis nach einer |#f0620 : 596|

verschollenen Handschrift veröffentlichte, wobei er mit zwei selbstgedichteten Zeilen, die er nicht verraten hat, eine Lücke ausfüllen mußte. Nun würde man das Flickwerk wohl in V. 15 f. erkennen, aber keine philologische Kritik würde imstande sein, Goethes eigenen Wortlaut herzustellen, wenn nicht die bei Creizenach fehlenden Verse 19 f. in einer anderen Abschrift erhalten wären (W. A. I 4, 193 und 5, 2 S. 122). S. 86: Textkritik: Herm. Kantorowicz: Einführung in die Textkritik. Leipzig 1921. G. Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. E. methodolog. Versuch. Leipzig 1924. Sorgfältige Darlegung der Grundsätze unter Heranziehung französischer Beispiele bei André Morize, Problems and methods of literary history. Boston 1922, Chapter III, p. 3769. Verschlechterung: Ungewarnt durch Ramler, der im 18. Jh. als „Krebs von Berlin“ berüchtigt war, oder durch Voß, der Höltys Gedichte verballhornte, hat noch im Anfang des 20. Jhs. Rudolf Pannwitz das Experiment der „Umdichtung“ Goethescher Lieder gewagt, das er später freilich zurücknahm. (Kultur, Kraft, Kunst. Leipzig 1906. S. 41 ff., 53, 55 ff.) S. 88: W. Braune, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes. Paul und Braunes Beitr. z. Gesch. d. dt. Spr. u. Lit. 25 (1900), S. 2222. Goethe, Über literarischen Sansculottismus. W. A. I., 40, S. 196203. Vgl. auch H. Keipert: Die Wandlungen Goethescher Gedichte zum klassischen Stil. Die Umarbeitg. für die Gesamtausg. 1789. Jenaer Germ. Forschgn., 21. Jena 1932. Auswertung stilistischer Änderungen in der französ. Literatur bei Albalat: Le travail du style enseigné par les corrections manuscrites des grands écrivains. Paris 1903. S. 89: Zitate: M. Bernays, Zur Lehre von den Zitaten und Noten. Schr. z. Kritik und Litgesch. Bd. 4. Berlin 1899. S. 253347. Doppeldrucke: B. Seuffert; Goethe-Jb. 15 (1894), S. 167 ff. O. Rauscher, Chronik d. Wiener Goethe-Vereins 42 (1937), S. 3740. W. Kurrelmeyer, Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken. Abhandlgn. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1913. Herb. Stubenrauch, Betrug an Schiller, Imprimatur 5 (1934), S. 7696. S. 90: Jakob Grimm, Schiller-Rede. Kl. Schr. I, S. 396 ff. Joach. Meyer, Beiträge zur Feststellung, Verbesserung und Vermehrung des Schillerschen Textes. Nürnberg 1858. Ders., Neue Beiträge. Nürnberg 1860. Alb. Köster, Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Theodor Storms. Abhandlgn. d. Sächs. Ges. d. Wiss. Bd. 70 (1918). Ähnliche Rechenschaftsberichte über die Anlage großer Ausgaben: Bernh. Seuffert, Prolegomena zu e. Wieland- Ausg. IVII. Abhandlgn. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1904, 1905, 1909, 1921. Jak. Minor: Studien zu Novalis. Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. Bd. 169. 1911. S. 1 ff. Reinh. Backmann, Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter. (Mit bes. Berücksichtigung d. Grillparzer-Ausg.) Euph. 25 (1924), S. 62962. Ed. Berend, Prolegomena zur historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken. Abhandlgn. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1927. Jos. Nadler, Die Hamann-Ausgabe. Schr. d. Königsb. Gelehrten Ges. Geisteswiss. Kl. 7, Heft 6. Halle 1930. Grundsätzliches bei Kritik unzulänglicher Ausgaben: Alb. Köster, Anz. f. dt. Altertum 26 (1900), S. 286319. Jak. Minor, ebd. 28 (1902), S. 82122. Oskar Walzel, Euph. 9 (1902), S. 45686. Jon. Fränkel, Die Gottfried-Keller- Ausgaben. Ein Kapitel neuester Philologie. Euph. 29 (1928), S. 13874. |#f0621 : 597|

Werther: Mich. Bernays, Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866. Dazu B. Seuffert, Philologische Betrachtungen im Anschluß an Goethes Werther. Euph. 7 (1900), S. 147. Simplizissimus: J. H. Scholte, Probleme der Grimmelshausen-Forschung. Groningen 1912. Ders., Die sogenannte A-Ausgabe des Simplizissimus. Imprimatur 7 (1938), S. 22529. H. H. Borcherdt, Die ersten Ausgaben von Grimmelshausens Simplizissimus. München 1921. S. 91: G. Schmid, Schicksal einer Goethe-Schrift. Druckgeschichtl. Funde zur Farbenlehre. Halle 1937. Mit der Feststellung ist bereits O. Rauscher (vgl. Anm. zu S. 89) zuvorgekommen. S. 92: I. Stoll, Zur Psychologie des Schreibfehlers. Fortschritte d. Psychologie und ihrer Anwendungen. Hrsg. von Marbe. Bd. 2. 1914. S. 1 ff. Rud. Meringer, Versprechen und Verlesen. Stuttg. 1895. Ders., Aus dem Leben der Sprache. Grazer Festschr. Berlin 1905. Ders., Tägliche Fehler in Sprechen, Lesen und Handeln. Wörter und Sachen 8 (1923), S. 12241. Eine Blütenlese komischer „Hör-, Schreib- und Druckfehler“, die sich beim Diktat einzustellen pflegen, teilt Goethe in „Kunst und Altertum“ mit (W. A. 41, I, S. 1838); vgl. auch L. Martens, Goethe-Jb. 32 (1911), S. 195 f. „Vom Dom umzingelt.“ Eine textkritische Erörterung. Zs. f. Bücherfreunde 7 (1915), H. 1, 2, 3. Zsgefaßt als Sonderdr. Friedr. Kauffmann, Zs. f. dt. Phil. 47 (1918), S. 1022. Familie Ghonorez: H. Conrad, Pr. Jbb. 90 (1897), S. 242 ff. Eug. Wolff, Zs. f. Bücherfreunde 2 (1897), S. 232 ff.; 3 (1898), S. 193 ff.; 4 (1899), S. 180 ff. Herm. Schneider, Ghonorez oder Schroffenstein, Studien zu Heinrich von Kleist. Berlin 1915. S. 2480. S. 93: Elckerlijk and Everyman. Hrsg. von Logemann. Gent. 1892. Ders., Elckerlyc-Everyman. De Vraag naar de Prioriteit opnieuw onderzocht. Gent 1902. S. 94: Kritik des Shakespeareschen Textes: J. M. Robertson, The Shakespeare Canon. London 192232. John Dover Wilson, The manuscript of Shakespeare's Hamlet and the problems of its transmission. An essay in critical bibliography. 2 voll. Cambridge 1934. The Works. Ed. for the syndics of the Cambridge University Press by Sir Arthur Quiller Couch and John Dover Wilson. Cambridge 1921 ff. S. 95: Sprachstatistik bei Platon: Const. Ritter, Untersuchungen über Plato. Stuttgart 1888. Ders., Neue Untersuchungen über Platon. Cap. V.: Die Sprachstatistik in Anwendung auf Platon und Goethe. München 1910. S. 183227. Hans von Arnim, Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros. Leipzig und Berlin 1914. S. 96: Walther und Reinmar: Carl v. Kraus, Die Lieder Reimars des Alten. III. Teil. Reimar und Walther. = Abhandl. d. Bayr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., 30. Bd., 7. Abh. München 1919. Meßkataloge: Gust. Schwetschke, Codex nundinarius Germaniae literatae. Halle 1850. Ernst Kuhnert, Gesch. d. Buchhandels in Milkaus Handbuch d. Bibliothekswissenschaft Bd. 1 (Leipzig 1931), S. 75059. Max Spirgatis, Die literar. Produktion Deutschlands im 17. Jh. u. d. Leipziger Meßkataloge, Leipzig 1901. Vgl. auch Wern. Kienitz, Formen literar. Ankündigung im 15. und 16. Jh. Diss. Köln 1930. G. Wolfram, Ein' feste Burg ist unser Gott. Berlin und Leipzig 1936. |#f0622 : 598|

S. 97: J. Petersen: Goethes Mondlied. Aus der Goethezeit. Leipzig 1933, S. 49 bis 68. Jos. Körner: G.s Mondlied. Ein Deutungsversuch. Berlin 1936. Brentanos Ausgewählte Schriften, hrsg. von Diel. Freiburg i. Br. 1872. Bd. 1, S. 226 f. Reinh. Steig, Euph. 3 (1896), S. 478 ff. W. Fraenger, Cl. B.s Alhambra. Eine Nachprüfung. Berlin 1935. S. 98: Anonymen-Lexika: V. Placcius, Theatrum anonymorum et pseudonymorum. 2 voll. Hamburg 1708. Peter Dahlmann: Schauplatz der masquirten und desmasquirten Gelehrten bei ihren verdeckten und nunmehro entdeckten Schriften. Leipzig 1710. Johann Chr. Mylius, Bibliotheca anonymorum et pseudonymorum ad supplendum Placci Theatrum, ed. G. Stollius. Hamburg 1740. Holtzmann- Bohatta, Deutsches Anonymen-Lexikon. 7 Bde. Weimar 190228. William Cushing Initials and pseudonyms. A Dictionary of Literary Disguises. London 1886. Halkett und Laing: Dictionary of Anonymous and Pseudonymous English Literature ed. Kennedy, Smith, Johnson. 7 Bde. Edinburgh, London 1926 bis 34. Stonehill, Black Stonehill, Anonyma and Pseudonyma. 4 Bde. London 1927. A. A. Barbier, Dictionnaire des ouvrages anonymes. 3. éd. 4 voll. Paris 187279. Dazu Suppl. par G. Brunet. Paris 1889, ferner H. Celani, Additions et corrections. 1902. G. Melzi, Dizionario di opere anonime e pseudonime di scrittori italiani. 3 voll. Milano 184859. Suppl. ed. Passano. Ancona 1882. J. van Doorninck, Vermomde en naamlooze schrijvers opgespoord op het gebied der Nederlandsche en Vlaamsche Letteren. 2 Bde. Leiden 1883/85. A. de Kempenaer, Vermomde nederlandsche en vlaamsche schrijvers. Leiden 1928. Bygden, Svenskt Anonym- og Pseudonym-Lexikon. 2 Bde. Uppsala 18981915. Hjalmar Pettersen: Norsk Anonym- og Pseudonym-Lexikon. Kristiania 1924. Pseudonymen-Lexika: E. Weller, Die falschen und fingierten Druckorte. 2. Aufl. 2 Bde. Leipzig 1864. Ders., Lexicon Pseudonymorum. 2. Aufl. Regensburg 1886. Holtzmann-Bohatta: Deutsches Pseudonymen-Lexikon. Wien u. Leipzig 1906. Nützlich für den Gebrauch ist weiter: Namenschlüssel. Die Verweisungen der Berliner Titeldrucke zu Pseudonymen, Doppelnamen und Namensabwandlungen. 18921935. Berlin 1936. Fr. Koch, Schlagwort-Katalog über die Bestände d. Nationalbibliothek aus d. Gebiet d. Dt. Sprach- u. Literaturgeschichte. Wien 1928. Wolfg. Stammler, Die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Verfasserlexikon. Bisher 2 Bde. Berlin und Leipzig 1933/36. Hayn-Gotendorf, Bibliotheca Germanorum Erotica et Curiosa. 3. Aufl. 8 Bde. München 191214. Max Schneider, Deutsches Titelbuch. Berlin 1927. G. Schneider, Theorie und Geschichte d. Bibliographie. In: Handbuch d. Bibliothekswiss. Bd. 1. Leipzig 1931. S. 82849. Über die Mitarbeiter von Almanachen und Zeitschriften wird Aufschluß gegeben bei C. Chr. Redlich, Versuch eines Chiffernlexikons zu d. Göttinger, Vossischen, Schillerschen und Schlegel-Tieckschen Musenalmanachen. Hamburg 1875; ferner in H. H. Houbens Bibliographischem Repertorium, Berlin 1904 ff.: Bd. 1: Zeitschriften der Romantik; Bd. 4: Zeitschriften des jungen Deutschlands; Bd. 5: Almanache der Romantik. S. 99: Deutsches Decameron: H. Drescher, Arigo, der Übersetzer des Decamerone und des Fiore di virtù. Straßburg 1900. Dazu: Anz. f. dt. Altertum 28, S. 241; 35, S. 106. H. Wunderlich, Herrigs Archiv 83 (1889), S. 167210; 84 (1890), S. 241 |#f0623 : 599|

bis 290. Georg Baeseke, Zs. f. dt. Altertum 47, S. 191 f. H. Kars, Arigo. Diss. Halle 1932. Ackermann aus Böhmen: Karl Beer, Neue Forschungen über den Schöpfer des Dialogs „D. A. a. B.“ Jb. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen 3. Jahrg., 1930 bis 33, Prag 1934 K. J. Heilig, die lateinische Widmung des Ackermanns aus B. Mitteil. d. Österr. Instituts f. Geschichtsforschg. 47, S. 41426. A. Blaschka, Ackermann-Epilog. Mitteil. d. Ver. f. Gesch. d. Deutschen in Böhmen 73, S. 73 bis 86. Arth. Hübner, Das Deutsche im Ackermann aus B. Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 1935, Heft 18. Grimmelshausen oder Venator: A. Bechtold, J. Chr. Grimmelshausen und seine Zeit. München 1919. S. 101 ff. Julie Cellarius, Zur seltsamen Traumgeschicht. Euph. 17. Ergh. (1924), S. 97 ff. Er. Volkmann, Balthasar Venator. Diss. Berlin 1936. S. 100: Bonaventura: Fr. Schultz, Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Berlin 1909. Der Kettenträger: Hanna Hellmann, Euph. 24 (1922), S. 570 ff,; Germ. Roman. Monatsschr. 13, S. 350 ff. S. 101: Schwieger oder Stieler: Alb. Köster, Der Dichter der Geharnischten Venus. Marburg 1897. Bedenken gegen willkürliche Auflösung von Anagrammen: A. E. Berger, Zschr. f. Deutschkunde 40 (1926), S. 700. S. 102: Friedr. Zarncke, Christian Reutter. Abh. d. Sächs. Ges. d. Wiss. 9 (1884). Ad. Stern, Der Dichter der Insel Felsenburg. Beitr. z. Litgesch. d. 17. u. 18. Jh. Leipzig 1893. Rich. Alewyn, Johann Beer. Palaestra 181. Leipzig 1932. Paul Merker, Der Verfasser des Eccius Dedolatus und anderer Reformationsdialoge. Halle a. d. S. 1923. Der Nachweis ist wieder bestritten worden durch Hans Rupprich (Der Eckius dedolatus und sein Verfasser, Wien 1931). R. kehrt zum Kreise Pirckheimers zurück und nimmt den auch sonst als Pamphletist hervorgetretenen Chirurgen Fabian Gorteler (Zonarius) aus Goldberg in Schlesien, der auch zu den Verfassern der Dunkelmännerbriefe in Beziehung stand, als Urheber an. Walter Brecht, Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum. Quellen und Forschgn. 93. Straßburg 1904. S. 103: Die Versuche und Hindernisse Carls. Neudr. von H. Rogge, Der Doppelroman der Berliner Romantiker. 2 Bde. Leipzig 1926. Auch Emanuel Geibel und Marcus Niebuhr wollten einen romantisch-satirischen Roman „Heringssalat“, zu dem Bonner Anekdoten über einen Makler Hering den Anlaß gaben, gemeinsam schreiben. (Litzmann, Emanuel Geibel. 1887. S. 28). Joh. Schlaf, Zur Frage der dichterischen Zusammenarbeit. Shakespeare-Jb. 69 (1933), S. 10211. S. 104: Hebbel, Tagebücher. Ausg. v. Werner 4, 112. Andreas Heusler, Nibelungenlied und Nibelungensage. 1921. 2. Aufl. 1922. Romantisches Vorurteil gegen spätere Redaktion: Werner Jaeger, Paideia. 2. Aufl. Bd. 1, S. 41. Wieland-Ausg. d. Preuß. Akad. 1. Abt. Bd. 18, S. 80 A. Widersprüche in Kunstdichtungen: v. Kraus und Jellinek, Zs. f. österr. Gymn. 44 (1893), S. 673716. Euphorion 3, S. 653 ff.; 4, S. 691 ff.; 5. S. 433 ff. Ed. Stemplinger, Literarische Widersprüche. Stud. z. vgl. Litgesch. 7 (1907), S. 197203. |#f0624 : 600|

Rob. F. Arnold, Widersprüche in Dichtungen. Festschr. d. Nationalbibl. in Wien. 1926. S. 16. Mich. Bernays, Schriften z. Kritik u. Literaturg. Bd. 4, S. 129. Briefwechsel zw. Th. Storm u. Gottfr. Keller, hrsg. v. Köster. 4. Aufl. Berlin 1924, S. 189 f. H. Schmidt-Rimpler, Wie Dichter u. Schriftsteller das Auge sehen. Dt. Revue 37 (1912), I, 152 ff. Fr. Harder, Dichter u. Kopfrechnen. Germ. Rom. Mschr. 10 (1922), 243 ff., 318. Dazu ebda. 11, 313 ff. und 12, 306 ff. Weitere Literatur bei O. Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen. Gießener Rektoratsrede 1906, Anm. 135. S. 105: Don Carlos: A. Gercke, Die Analyse als Grundlage der höheren Kritik. N. Jbb. 1901, S. 83 ff. Einen besonderen Fall stellt die Unstimmigkeit des Textes von Goethes Ehrfurcht-Lehre in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ dar. Der Versuch von Paul Wernle (Christl. Welt 1902), die widersprechenden Äußerungen verschiedenen Entwicklungsstufen Goethes zuzuweisen, ist methodisch unhaltbar; vgl. Er. Franz, Goethe als religiöser Denker. Tübingen 1932, S. 271. Die Erziehung des Menschengeschlechts: Gust. Krüger, Albrecht Thaer u. d. Erziehung d. Menschengeschlechts. Tübingen 1913. Ernst Krieck, Lessing u. d. Erziehung des Menschengeschlechts. Heidelberg 1913. Gottfr. Fittbogen, Preuß. Jbb. 1913, S. 218 ff. v. Olshausen, Bongsche Lessing-Ausgabe, Teil 24, S. 5460. S. 106: Ed. Sievers, Rhythmisch-melodische Studien. Vorträge und Aufsätze. Heidelberg 1912. K. Luick, Über Sprachmelodisches in dt. und engl. Dichtung. Germ. Rom. Mschr. 2 (1910), 14 ff. G. Ipsen u. F. Karg, Schallanalyt. Versuche. Germ. Bibl. II, 24. Heidelberg 1928. F. Karg, Stand u. Aufgaben d. Sprachwiss. Festschr. f. Streitberg. Heidelbg. 1924, S. 112 ff. Ders., Die Schallanalyse, Idg. Jb. 10 (1926), S. 1 ff. Experimentelle Prüfung der Sievers'schen Methoden durch E. W. Peters, Psycholog. Studien X (1917), S. 387 ff. Bisher haben die experimentalphonetischen Untersuchungen sich nur auf kleine Satzteile beschränken können, vgl. E. W. Scripture, Experimentelle Untersuchungen über die Betonung im deutschen Satz. Die neueren Sprachen 33 (1925), S. 28084. Ein umständliches Experiment, durch tonfilmische Aufnahmen in den musikalischen Gehalt der Sprache H. v. Kleists einzudringen, ist in der ungedruckt gebliebenen Dissertation von Alb. Mittringer, Heinr. v. Kleist. Ein Beitrag zum Problem der musikal. Dichtung (Wien 1932) gemacht worden. Die Versuche, die in einer psycho-physiologischen Philologie die Lösung der Stilprobleme suchen, scheinen wenigstens zu dem keineswegs überraschenden Ergebnis geführt zu haben, daß auch bei verschiedenen Personen, die dieselbe Stelle zum Vortrag bringen, eine gewisse rhythmisch-melodische Gleichheit festzustellen ist. S. 107: Agnes v. Lilien: Schiller an Goethe 6. Dez. 1796 und 16. Mai 1797. Die bereits von Hebbel 1838 ausgesprochenen Zweifel begründete M. Sommerfeld, Euphorion 23 (1921), S. 584 ff. Fragment „Natur“: Rob. Hering, Der Prosahymnus „Die Natur“ und sein Verfasser. Jb. d. Goethe-Ges. 13 (1927), S. 138 ff. Fr. Schultz, D. pseudogoethische Hymnus an die Natur. Festschr. f. Petersen. Leipzig 1938, S. 79100. Ossian: H. Hecht, Germ. Roman. Mschr. 10 (1922), S. 22037. A. Gillies, Herder und Ossian. Neue Forschgn. 19. Berlin 1933. P. Th. Falck, Friederike Brion von Sesenheim. Leipzig 1884. Edw. Schröder, Die Sesenheimer Lieder, vgl. Anm. zu S. 79. Später war Goethe vorsichtiger als in seiner Jugend bei |#f0625 : 601|

Ossian. Er gab durch seine Zweifel den Anstoß, Prosper Mérimées Mystifikation „Guzla“ (1827) aufzudecken. Goethe, Weim. Ausg. 41, 2. Teil, S. 313. Vgl. Matič, P. Mérimées Mystifikation kroatischer Volkslieder. Archiv f. slav. Philologie, Bd. 40 (1926), S. 197222. K. G. Herwig, Neues von Heinrich von Kleist. Unveröffentlichte Dokumente von seiner Gefangenschaft im Fort des Joux. Unterhaltungsbeil. d. Tägl. Rundschau Nr. 193, 20. Aug. 1921. Vgl. Jb. d. Kleist-Ges. 1 (1922). S. 105 f. Aufdeckung einer anderen leichtfertigen Kleist-Fälschung bei Rich. Alewyn, Klassiker in Pfaffendorf. Voss. Ztg. 1929, Nr. 178. S. 108: Der Roman „The little chronicle of Magdalena Bach“ erschien zuerst anonym in London 1925 und wurde danach ins Deutsche, Französische, Italienische, Schwedische, Finnische und Holländische übersetzt. Erst die Neuausgabe von 1934 bringt den Namen der Verfasserin: Esther Meynell. D R IT T E R H A U P T T E IL : D IE A N A L Y S E 1. Grundbegriffe S. 109: Motto: Ed. Spranger, Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie. Festschr. f. Johannes Volkelt, München 1918, S. 376. Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung. Deutsche Ausg. Jena 1912. S. 213 f. S. 111: Friso Melzer, Im Ringen um den Geist. Berlin 1931. S. 174. 2. Erste Stufe: Grundriß S. 112: Wolfg. Baumgart, Der Wald in d. dt. Dichtung. Stoff- u. Motivgeschichte d. dt. Lit., hrsg. von Merker u. Lüdtke, Heft 15. Berlin u. Leipzig 1936. Begriff des Stoffes: O. Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin-Neubabelsberg 1923. S. 144, 165 ff. Rob. Petsch, Die Analyse des Dichtwerks. In: Philosophie der Literaturwissenschaft, hrsg. von Ermatinger. Berlin 1930. S. 252. Herm. Hefele, Das Wesen der Dichtung. Stuttgart 1923. S. 106. Karl Schultze-Jahde, Erlebnis und Ausdruck, Vorfragen zur Literaturästhetik, Berlin 1929. S. 143. Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Leipzig 1921. S. 51 f., 125 ff. Ders., Krisen und Probleme der neueren deutschen Dichtung. Zürich 1928. S. 35. S. 113: André Jolles, Einfache Formen, Halle 1930. S. 200217. O. Görner, Vom Memorabile zur Schicksalstragödie. Berlin 1931. Über Wanderungen und Abwandlungen eines Stoffes spricht lehrreich Paul Ernst, Der Weg zur Form. 3. Aufl. München 1928. S. 278 ff. S. 115: Quellen: Gute Beispiele der „Investigation of sources“ bei A. Morize, S. 82131. Vgl. Anm. zu S. 86. S. 116: Cl. Lugowski, Die Form d. Individualität im Roman. Berlin 1932, S. 12. S. 117: Goethe an Charlotte von Stein, 14. Dez. 1786. S. 118: Begriff der Form: Aug. Wilh. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Sämtl. Werke hrsg. von E. Böcking. Bd. 6. Leipzig 1846. S. 157 f. Herm. Friedemann, Die Welt der Formen. System eines morphologischen Idealismus. Berlin 1925. 2. Aufl. München 1935. Herm. Lüer, Form und Wirklichkeit im Geschichtsablauf. Kampen a. Sylt 1937. O. Walzel, Gehalt und Gestalt. S. 145 ff. und Zs. f. Ästhetik und Kunstwiss. 10 (1915), S. 435 ff. Th. |#f0626 : 602|

Spoerri, D. Formwerdung d. Menschen. Berlin 1938. Die jüngste Untersuchung, die ich im Text nicht mehr verwerten konnte, ist die von Roman Ingarden, Das Form-Inhalt-Problem im literar. Kunstwerk. Helicon 1 (1938), S. 5167. Joh. Volkelt, System der Ästhetik. München 1905 ff. Bd. 1, S. 392. Margarete Susmann, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910. S. 91 ff. M. Hamburger, Das Formproblem in der neueren deutschen Ästhetik. Heidelberg 1915. Theophil Spoerri, Präludium zur Poesie. Eine Einführung in die Deutung des dichterischen Kunstwerks. 2. Aufl. Berlin 1929. S. 101. S. 119: Kyds Hamlet: Evans, Der bestrafte Brudermord, sein Verhältnis zu Shakespeares Hamlet. Theatergeschichtl. Forschg. XIX. Hamburg und Leipzig 1910. S. 120: Schiller, Über die Iphigenie auf Tauris. Säk.-Ausg. 16, S. 195 ff. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Stück 3650, 5468. Grimmelshausen und Zesen: Marta Julie Deuschle, Die Verarbeitung biblischer Stoffe im deutschen Roman des Barock. Amsterdam 1927. Cl. Stucki, Grimmelshausens und Zesens Josephromane. Wege zur Dichtung 15. Zürich 1933. 3. Zweite Stufe: Innere Form S. 121: Gattungen: F. Brunetière, L'évolution des genres dans l'histoire de la littérature. Paris 1890. Dazu Ernst Rob. Curtius, Ferd. Brunetière. Straßburg 1914, S. 123 ff. Wolf Dohrn, Die künstlerische Darstellung als Problem der Ästhetik. Beitr. z. Ästhetik 10. Hamburg u. Leipzig 1907. Ernest Bovet, Lyrisme, épopée, drame. Une loi de l'histoire littéraire expliquée. Paris 1911. Ben. Croce, Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik, übers. von Federn. 1905. S. 35 ff., 109 ff. Ders., Per una poetica moderna. Idealistische Neuphilologie. Festschr. für Voßler. 1922. S. 1 ff. Ders., Poesie und Nichtpoesie. Übers. von Julius Schlosser. Zürich, Wien, Leipzig 1925. S. 13 ff. Ernst Hirt, Das Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung. Leipzig und Berlin 1923. Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Leipzig 1923. S. 168 ff., 306 ff. Ders., Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930. S. 333 ff. Rob. Hartl, Versuch einer psychologischen Grundlegung der Dichtungsgattungen. Wien 1924. Wilh. Flemming, Epik und Dramatik. Versuch ihrer Wesensdeutung. (Wissen und Wirken. Bd. 27) Karlsruhe 1925. Dazu: K. Voßler, Dreierlei Begriffe vom Drama. Logos 15, S. 137 ff. J. Petersen, Zur Lehre von den Dichtungsgattungen. Festschr. f. August Sauer. 1926. S. 72116. G. Müller, Bemerkungen zur Gattungspoetik. Philos. Anzeiger 3 (1929). Rob. Petsch, Zur inneren Form des Dramas. Euphorion 30 (1929), S. 1939. C. Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923. S. 1 ff. Ders., Probleme der literarischen Gattungsgeschichte. Dt. Vjs. 9 (1931), S. 42547. P. van Tieghem, La question des genres littéraires. Helicon 1 (1938), S. 95101. Wesen des Dramas: H. Schlag, Das Drama. 2. Aufl., 1917, S. 170 ff. O. Katann, Das Wesen des Dramas. In: O. Katann, Gesetz im Wandel. München 1932, S. 170 ff. S. 125: Ballade als Urform: Goethe, Naturformen der Dichtung. Noten u. Abhandlungen zum Westöstlichen Diwan. Ferner: Betrachtung und Auslegung zur „Ballade“, Kunst und Altertum III, 1. Jub.-Ausg. 2, S. 336 ff.; 5, S. 223 ff. F. B. Gummere, The beginnings of poetry. New York 1901. H. L. Cohen, The ballade. New York 1915. L. Pound, Poetic origins and the ballad. New York 1922. Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. S. 1 ff. P. L. Kämpchen, Die numinose Ballade. Versuch einer Typologie der Ballade. Bonn 1930. |#f0627 : 603|

André Jolles, vgl. Anm. zu S. 113. Dazu: R. Petsch, Dt. Vjs. 10 (1932), S. 33569. S. 126: Erlebte Rede: E. Lorck, Heidelberg 1921. Dazu: C. Blaß, Die Literatur 27, S. 572. O. Walzel, Zeitschr. f. Bücherfreunde N. F. 16 (1924), S. 17 bis 28. Wiederholt: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926. S. 20730. L. Thon, Die Sprache des deutschen Impressionismus. München 1928, S. 95 ff. Willi Bühler, Die „erlebte Rede“ im engl. Roman. Ihre Vorstufen und ihre Ausbildung im Werke Jane Austens. Schweizer Anglist. Arbeiten 4. Zürich u. Leipzig 1937. S. 128: Innere Form: Aus Goethes Brieftasche. Jub.-Ausg. Bd. 36, S. 115 und Walzels Einleitung S. XXIX. S. 129: Max Wundt, Literaturwissenschaft und Weltanschauungslehre. Ermatingers Philos. d. Litwiss. S. 415 ff. Rudolf Unger, C. F. Meyer als Dichter historischer Tragik. Die Ernte. Festschr. f. Muncker. Halle 1926. S. 20740. Wiederh.: Ges. Stud. Bd. 2 (1929), S. 17497. Hermann Pongs, Die Möglichkeit des Tragischen in der Novelle. Jb. d. Kleist- Ges. 1931/32, S. 38104. S. 130: Friedr. Theodor Vischer, Ästhetik. § 130. 2. Aufl. Bd. 1, S. 321. Jul. Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestaltung des Metaphysischen. Lauenburg 1877. Neu hrsg. v. A. Ruest. Leipzig 1931. Johannes Volkelt, Ästhetik des Tragischen. 2. Aufl. München 1906. Ders., System der Ästhetik. München 1910 Bd. 2, S. 343 ff. von Lukacs: Metaphysik des Tragischen. Logos 2 (1911), S. 7991. M. Scheler, Zum Phänomen des Tragischen. Zum Umsturz der Werte. 3. Aufl. Bd. 1 (1923), S. 273. Dagegen O. Walzel, Vom Wesen des Tragischen. Euph. 34 (1933), S. 137. E. von Ritook, Die Wertsphäre des Tragischen. Zs. f. Ästhetik 29 (1935), S. 228254, 300326. Theodor Lipps, Der Streit um die Tragödie. Leipzig 1891. Leopold Ziegler, Zur Metaphysik des Tragischen. Leipzig 1902. Hubert Klees, Über das Wesen des Tragischen. Stuttgart 1932. Auch in: Ztschr. f. Ästhetik 26, 1932, S. 145. Gerhard Vorholz, Der Begriff des Tragischen und die dt. Kunstphilos. der Gegenwart. Halle 1932. Eine andere Unterscheidung als Volkelt macht Emil Winkler (Das dichterische Kunstwerk. Heidelberg 1924, S. 73), indem er Resignationstragik, heroische Tragik, Schuldtragik, Ideentragik einander gegenüberstellt. Humor: Har. Höffding, Humor als Lebensgefühl. Übers. v. H. Goebel. Leipzig und Berlin 1918. H. Goebel, Vom Weltgefühl des Humors. Hannover 1923. Ed. Berend, Tod und Humor. Abhandlgn. z. dt. Litgesch., Festschr. f. Muncker. München 1916. S. 23648. Ders., Der Typus des Humoristen. Die Ernte. Festschr. f. Muncker. Halle 1926. S. 93115. S. 131: Situation: Wilh. von Scholz, Gedanken zum Drama. München und Leipzig. 1905. S. 3 f. Goethe in Gesprächen mit Eckermann, Soret und Kanzler von Müller: v. Biedermann, Goethes Gespräche. 2. Aufl. Bd. 3, S. 16. Bd. 4, S 9 ff. Georges Polti, Les trente-six situations dramatiques. 2. Aufl. Paris 1912. Dazu Rud. Lothar, Neue Freie Presse. 26. Mai 1897. Aug. C. Mahr, Dramatische Situationsbilder und Bild-Typen. Eine Studie zur Kunstgesch. d. Dramas. Stanford University Publ. 1928. Dazu O. Katann, Euph. 32 (1913), S. 97 ff. R. Petsch, Dt. Vjs. 14 (1936), S. 584 ff. S. 134: Über das Motiv der Verschollenheit in seinen technischen Abwandlungen: W. Sombart, Schr. d. Ges. f. Soziologie. Bd. 1 (1911), S. 72 f. W. Splettstößer, D. heimkehrende Gatte u. s. Weib i. d. Weltliteratur. Berlin 1898. Hedw. |#f0628 : 604|

Röttger, D. heimkehrende Gatte u. s. Weib i. d. dt. Lit. seit 1890. Diss. Bonn. 1934. Walt. Neumann, Grundzüge d. Technik d. Heimkehrerdramas. Ein Beitrag zur Technik d. Dramas d. Gegenwart. Diss. Jena 1936. Zusammenstellungen, für die das Inzestmotiv an den Haaren herbeigezogen ist, bei dem Freudianer O. Rank, „Die Lohengrinsage“ (Wien 1911) und „Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage“. 2. Aufl. Leipzig und Wien 1921, S. 569. S. 135: Ed. Grisebach Die Wanderung der Novelle von der treulosen Witwe durch die Weltliteratur 2. Aufl. Berlin 1889. 4. Dritte Stufe: Plan S. 136. Fabel: Jos. Brock, Hygins Fabeln i. d. dt. Literatur. München 1913, S. V f. W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Ges. Schr. VI, S. 218. S. 137: Paul Ernst, Der Weg zur Form. Berlin 1915. S. 56, 59. Definitionen der Novelle: Arn. Hirsch, Der Gattungsbegriff „Novelle“. Germ. Stud. 64. Berlin 1928, und die dort S. 14854 angegebene Literatur; ferner A. von Grolman in: Merker-Stammlers Reallexikon. Bd. 2, S. 51015. Ders., Die strenge Novellenform und die Problematik ihrer Zertrümmerung. Zs. f. Deutschkde. 43 (1929), S. 60927. Herm. Pongs, Die Novelle. Zs. f. dt. Bildg. 5 (1929), S. 17585. Ders.: Grundlagen der deutschen Novelle im 19. Jh. Jb. d. Freien Dt. Hochstifts. 1930. S. 151231. W. Vark, Die Form in der Novelle. Diss. Jena. 1930. Bernh. Bruch, Üb. d. Dramatische i. d. novellist. Form. Zschr. f. Deutschkunde 46 (1932), S. 568570. Ders., Novelle u. Tragödie. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 22 (1928), S. 292 ff. Wolfg. Kayser, Bürgerlichkeit und Stammestum in Theodor Storms Novellendichtung. Berlin 1938. S. 3942. S. 138: Aristoteles, Poetik cap. 14. Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Stück 3740. S. 139: Stolberg an Voß 17. 4. 1787; vgl. Ad. Beck, Die Aischylos-Übersetzung des Grafen Friedr. Leop. zu Stolberg. Diss. Berlin 1937, S. 68. S. 140: Goethe zu Eckermann 4. Mai 1827. Castles-Ausg. 2, 99 f. S. 141: O. Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen. Gießener Rektoratsrede 1906. O. Ludwig, Studien: hrsg. v. Ad. Stern. Leipzig 1881. Bd. 2. S. 216. S. 142: F. C. Prescott, The poetie mind. New York 1922. S. 103 ff. S. 144: Ferd. Junghans, Zeit im Drama. Theater u. Drama, hrsg. v. H. Knudsen. Bd. 1. Berlin 1931. M. Dessoir, Das Schauspiel im Schauspiel. Die Akademie, Heft 3 (Erlangen 1925), S. 102119. S. 145: Bericht im Drama: K. Ohmann, Der Bericht im deutschen Drama. Gießener Beitr. z. dt. Philol. Bd. 12. Gießen 1925. W. Jahn, Wesen und Formen des Berichts im Drama, veranschaulicht an Beispielen aus Schillers Dramen. Germ. Stud. 103. Berlin 1931. S. 146: Verdeckte Handlung: Ilia Motylew, Verdeckte Handlung in Hebbels Dramen. Hebbelforschungen 16. Berlin 1927. Ungedruckt gebliebene Dissertationen v. H. v. Will für Schiller (Greifswald 1920), L. Weltmann für Kleist (Freiburg 1924), H. Altmann für Lessing (Kiel 1925). S. 147: Gust. Freytag, Die Technik des Dramas. 3. Aufl. Leipzig 1876. S. 148: Bausteine, hrsg. v. Franz Saran, Bd. 6: O. Spieß, Die dramatische Handlung in Lessings „Emilia Galotti“ und „Minna von Barnhelm“. 1911. Bd. 17: |#f0629 : 605|

Ders., Die dramatische Handlung in Goethes „Clavigo“, „Egmont“ und „Iphigenie“. 1918. Bd. 20: W. v. Gordon, Die dramatische Handlung in Sophokles' „König Ödipus“ und Kleists „Der zerbrochene Krug“. 1926. Bd. 25: Hans Rabl, Die dramatische Handlung in G. Hauptmanns „Webern“. 1928. Bd. 29: Herm. Dollinger, Die dramatische Handlung in Klopstocks „Tod Adams“ und Gerstenbergs „Ugolino“. 1930. Bd. 24: Franz Weichenmayr, Dramatische Handlung und Aufbau in Hebbels „Herodes und Mariamne“. 1929. Pepi Engel, Der dramatische Vortrieb in Goethes „Torquato Tasso“. 1933. Gruppierung: R. M. Werner, Die Gruppen im Drama. Forschungen z. neueren Litgesch. Festgabe f. Heinzel. Weimar 1898. S. 727. B. Seuffert, Beobachtungen über dichterische Komposition. Germ. Rom. Monatsschr. 1 (1909), S. 599617; 3 (1911), S. 56984; 61732. Kurt Sommer, Über Gruppierung der Gestalten im Drama. Zs. f. Ästhetik und Kunstwiss. 18 (1925), S. 30530. Arnulf Perger, Einortsdrama und Bewegungsdrama. Ders., Die Handlungstransponierung als dramatisches Kunstprinzip. Schr. d. Philos. Fakultät d. Dt. Univ. Prag. Bd. 3, 11. Brünn, Prag, Leipzig, Wien 1929; 1932. Ders., Die Wandlung der dramatischen Auffassung. Berlin 1936. Rob. Petsch, Zwei Pole des Dramas. Dt. Vjs. 2 (1924), S. 193 ff. Wiederh.: Gehalt und Form. Detmold 1925. S. 2355. Ders., Drei Haupttypen des Dramas. Dt. Vjs. 12 (1934), S. 210 ff. S. 149: Dialog: Rud. Hirzel, 2 Bde. Leipzig 1895. H. Schuchmann, Studien zum Dialog in den Dramen Lessings und Schillers. Diss. Gießen. 1927. W. Mohri, D. Technik d. Dialogs in Lessings Dramen. Diss. Heidelberg. 1929. H. Thielmann, Stil u. Technik d. Dialogs im neueren Drama. Heidelb. Diss. Düsseldorf. 1937. Gottfried Zeißig, H. v. Kleists Dramensprache. Ztschr. f. Deutschkunde 43, 1929, S. 118137. Technik der Lyrik: R. M. Werner, Lyrik und Lyriker. Beitr. z. Ästhetik. 1. Hamburg u. Leipzig 1890. Joh. Pfeiffer, Das lyrische Gedicht als ästhetisches Gebilde. Ein phänomenologischer Versuch. Halle 1931. Ders., Umgang mit Dichtung. Leipzig 1936. Heinr. Lützeler, Gedicht-Aufbau und Welthaltung des Dichters, aufgewiesen am Werk Stefan Georges. Dichtg. u. Volkstum 35 (1934). S. 24762. R. Petsch, Die Aufbauformen des lyrischen Gedichts. Dt. Vjs. 15 (1937), S. 5168. J. Wiegand, Die Technik der gleichlaufenden Strophen in der Lyrik. Zs. f. dt. Altertum 73 (1936), S. 13359. Ders., Der Gegensatz als Mittel des Aufbaus im lyrischen Gedicht. Zs. f. Ästhetik u. Kunstwiss. 31 (1937), S. 15977. Ders., Die Kette. Germ. Rom. Monatsschr. 26 (1938), S. 12235. Friedrich Sieburg, Die Grade der lyrischen Formung. Diss. Münster 1922. S. 150: Anordnung: Wilh. Scherer, Über die Anordnung Goethescher Schriften. Goethe-Jb. 4 (1883), S. 51 ff. Konr. Burdach, Die Anordnung des West-östlichen Divans auf dessen zweiter Entwicklungsstufe. Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1930. S. 277. Hans Heinr. Schaeder, Goethes Erlebnis des Ostens. Leipzig 1938. S. 62104. W. Brecht, C. F. Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung. Wien und Leipzig 1918. Balladentechnik: Börries Frhr. v. Münchhausen, Meister-Balladen. Berlin und Leipzig 1923. Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. Bildgedicht: Helm. Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Palaestra 199. Leipzig 1935. Kurt Oppert, Das Dinggedicht. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 74783. |#f0630 : 606|

S. 152: Elis. Kutzer, Stammbaumroman i. d. neueren Lit. Diss. Leipzig 1929. Erzählungstechnik: Friedr. Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883. Ders., Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik. Leipzig 1898. Rob. Riemann, Goethes Romantechnik. Leipzig 1902. R. Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. Halle 1934. K. Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik. Leipzig 1910. Fr. Leib, Erzählungseingang in der deutschen Literatur. Diss. Gießen 1913. Percy Lubbock, The craft of fiction. London 1921 p. 25164. H. Luedeke, Die Funktionen des Erzählers in Chaucers epischer Dichtung. Stud. engl. Phil. 72, Halle 1928. Ed. Berend, Die Technik der „Darstellung“ in der Erzählung. Germ. Rom. Mschr. 14 (1926), S. 22233. S. 153: Ich-Erzählung: K. Forstreuter, Die deutsche Icherzählung. E. Studie zu ihrer Geschichte und Technik. Berlin 1924. Chronikalische Erzählung: R. Leppla, Wilhelm Meinholds Erzählungen und die Anfänge der chronikalischen Novelle in Deutschland. Diss. Frankfurt a. M. 1923. Ders., Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte von P. Merker und W. Stammler. Bd. 1, S. 17375. S. 155: Archaisierende Erzählweise: Th. Münkel, Die archaisierenden Stilmittel der Erzählkunst d. Enrica v. Handel-Mazzetti. Diss. Frankfurt 1930. S. 156. Psychologischer Perspektivismus im Roman: Ed. Spranger, Jb. d. Freien Dt. Hochstifts 1930, S. 7089. G. Scheele, Diss. Berlin 1933. 5. Vierte Stufe: Menschengestaltung S. 159: Psychologie und Selbstdarstellung: Edith Aulhorn, Zur Gestaltung seelischer Vorgänge in neuerer Erzählung. Festschr. f. Walzel. 1924. S. 7079. Lisb. Wittig, Der junge Fr. Hebbel als Gestalter seiner Selbst. Germ. Stud. 188. Berlin 1937. Das lyrische Ich: Marg. Susmann, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910. S. 16 ff. O. Walzel, Schicksale des lyryischen Ichs. Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926. S. 26076. Anna Köhn, Das weibliche Schönheitsideal in der ritterlichen Dichtung. Form und Geist. Leipzig 1930. Hanns Schukart, Gestaltungen des Frauenbildes in deutscher Lyrik. Mnemosyne 11. Bonn 1933. Dramat. Psychologie: W. Schöttler, Die innere Motivierung in Grabbes Dramen. Neue Forschung 9. Berlin 1931. Joh. Rütsch, D. dramat. Ich im dt. Barock- Theater. Wege z. Dichtg. 12. Zürich-Leipzig 1932. Selbstdarstellung in der Erzählung: W. Muschg, Jeremias Gotthelf. München 1931. S. 165. Curtius, Balzac. Bonn 1923, S. 6 ff. E. A. Greatwood, Die dichterische Selbstdarstellung im Roman des Jungen Deutschland. Neue Forschgn. Heft 27. Berlin 1935. Gerh. Gräfe, Die Gestalt des Literaten im Zeitroman des 19. Jhs. Germ. Stud. 185, Berlin 1937. S. 160: R. Petsch, Der Aufbau der dramatischen Persönlichkeit und ihrer „Welt“. Dt. Vjs. 13 (1935), S. 22859. S. 161: Gottfr. Weber, Der Gottesbegriff des Parzival. Frankfurt a. M. 1935. S. 33 ff. Psychologie der Shakespeare-Zeit: G. A. Bieber, D. Melancholikertypus Shakespeares u. s. Ursprung. Anglist. Arbeiten 3. Heidelberg 1913, S. 11 ff. Schwinger- Nicolai: Innere Form und dichterische Phantasie. München 1935. S. 138. |#f0631 : 607|

Lessings „Emilia Galotti“ und Leibniz: Gust. Kettner, Lessings Dramen im Lichte ihrer und unserer Zeit. Berlin 1904. S. 220 ff. S. 162: Lugowski: vgl. Anm. zu S. 184. Theod. Fontane an H. Hertz, 2. März 1895. Briefe 2. Sammlg. 2, S. 341 f. S. 163: Clemens Lugowski, vgl. Anm. zu S. 116. Schiller an Reinwald, 14. April 1783. Briefe. Hrsg. von Jonas. Bd. 1, S. 113. Petersen, Goethe als Gestalter. Berliner Universitätsrede 1932. Ders., Erlebnis u. Gelegenheit in Goethes Dichtung. Goethe. Vjs. d. Goethe-Ges. 1 (1936), S. 319. S. 164: Namengebung: Walter Muschg, Jeremias Gotthelf. München 1931. 14 (1922), S. 3944. Christ. Wandel, Die typische Menschendarstellung in Fontanes Erzählungen. Diss. Berlin 1938. Auch Ludw. Thoma berichtet am 5. Febr. 1920 an Hofmiller, wie seine Vorstellungskraft durch echte Namen, die er aus Kalendern, Adreßbüchern, Viehausstellungen kennenlernte, Anregung fand. (Ausgewählte Briefe S. 227 f.) Vgl. auch R. M. Meyer, Der Namenwitz. Neue Jbb. f. klass. Altertum 11 (1903), S. 122145. H. Maync, Nomen et omen. Westermanns Monatshefte 62, 1917/18, S. 653 ff. O. Urbach, Eigennamen als Begriffe. Muttersprache 53 (1928), S. 250 ff. F. Dornseiff, Redende Namen. Ztschr. f. Namenforschung 16, 1940, S. 2438 und 215218. Beispiele für Auslösung der Konzeption durch einen Namen bei Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes, S. 53. S. 165: Balzacs Modelle: Ernst Rob. Curtius, Balzac. Bonn 1923. S. 401 ff. Karl Freye, Jean Pauls „Flegeljahre“. Palaestra 61. Leipzig 1907. S. 30, 33, 80. Fontanes Vorbilder: Hans-Friedr. Rosenfeld, Zur Entstehung Fontanescher Romane. Haag 1926. S. 24 ff., 33 ff. Fontane erzählt selbst in dem zu S. 162 zitierten Brief, wie er für Erscheinung und Kleidung der kleinen Effi Briest durch ein englisches Kind, das er zufällig in Thale sah, angeregt wurde: „Das Schicksal schickte mir die kleine Methodistin.“ Der Spruch Fontanes: Ges. Werke. II, Bd. 1, S. 23. S. 166: Th. Reik, Flaubert und seine „Versuchung des heiligen Antonius“. Ein Beitrag zur Künstlerpsychologie. Minden 1912. Psychoanalyse: O. Walzel, Gehalt und Gestalt. S. 10411. C. G. Jung, Psychologie und Dichtung. In: Ermatinger, Philosophie der Literaturwiss. S. 31530. O. Rank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie d. dichterischen Schaffens. Leipzig, Wien 1912. 2. verm. Aufl. 1926. Alb. Thibaudet, Psychoanalyse et critique. Nouv. rev. française 1. April 1921. Ed. Aulhorn, Dichtung und Psychoanalyse. Germ. Rom. Mschr. 10 (1922), S. 279292. S. 167: W. Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Zürich 1930. Herm. Pongs, Psychoanalyse und Dichtung. Euphorion 34 (1933), S. 3872. E. Hitschmann, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten und Motive. Zürich 1919. W. Muschg, Gotthelf. S. 216, 253. H. Pongs, Schillers Urbilder. Stuttgart 1935. Dazu Rud. Unger, Richtungen und Probleme neuerer Schiller-Deutung. Nachr. d. Ges. f. Wiss. zu Göttingen. NF. I, 9 (1937), S. 234 ff. Eug. Kühnemann, Die Kantischen Studien Schillers und die Komposition des „Wallenstein“. Marburg 1889. S. 75 ff. 2. Teil, S. 22 ff. Max Kommerell, Schiller als Gestalter des handelnden Menschen. Frankfurt a. M. 1934. S. 8. Ders., Schiller als Psychologe. Jb. d. Freien Dt. Hochstifts. 1934/35. S. 177219. L. L. Schücking, Die Charakterprobleme bei Shakespeare. 3. Aufl. Leipzig 1932. |#f0632 : 608|

S. 168: Jos. Kohler, Verbrechertypen in Shakespeares Dramen. Berlin 1903. Grillparzer, Zur englischen Literatur (1817). Hocks Ausg. 13, S. 277. Hebbel, Tagebücher (3174 vom 4. Juli 1844). Werners Ausg. 2, S. 419. Kurt Berger, Menschenbild u. Heldenmythos i. d. Dichtung des dt. Idealismus. Berlin 1940. Jul. Schwietering, Der Wandel des Heldenideals in der epischen Dichtung des 12. Jahrhunderts. Zs. f. dt. Altert. 64, 135 ff. Ders., Typologisches in mittelalterlicher Dichtung. Festgabe f. Ehrismann. 1925. S. 40 ff. 6. Fünfte Stufe: Verknüpfung S. 169 ff.: Motive: Teilweise abgedr.: Dichtung und Volkstum 38 (1937), S. 44 bis 65. W. Scherer, Poetik. Berlin 1888. S. 212. W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Festschr. f. Zeller. S. 449 ff. Wiederh. Ges. Schr. 6, S. 216 ff. P. Merker, Reallexikon Bd. 3, S. 305 ff. Jos. Körner, Erlebnis Motiv Stoff. Festschr. f. Walzel. 1924. S. 8091. Ders., Merker-Stammler, Reallexikon Bd. 2, S. 41215. F. Trojan, Wege zu einer vergleichenden Wissenschaft von der dichterischen Komposition. Festschr. f. Walzel. S. 9096. O. Walzel, Gehalt und Gestalt. S. 398. R. Petsch, Motiv, Formel und Stoff. Zs. f. dt. Phil. 54 (1929), S. 378 ff. O. Katann, Euph. 32 (1931), S. 97101. N. Perquin, Wilhelm Raabes Motive als Ausdruck seiner Weltanschauung. Amsterdam 1928. S. 16 ff. Heinrich Spiero, Motivwanderungen und Motivgestaltungen im neuen deutschen Roman. Germ. Roman. Monatsschr. 4 (1912), S. 305 ff. Joh. Klein, Urmotivierung u. Sekundärmotivierung b. Gottfr. Keller u. C. F. Meyer. Zschr. f. Ästh. und Kunstwiss. 28 (1934), S. 113146. S. 171: Helm. Rehder, Das Symbol der Hütte bei Goethe. Dt. Vjs. 15 (1937), S. 40323. Otto Brahm, Das deutsche Ritterdrama. Quellen und Forschungen. 40. Straßburg 1888. S. 145 ff. S. 172: Herm. Reich, Der Mann mit dem Eselskopf. Ein Mimodrama vom klassischen Altertum verfolgt bis auf Shakespeares „Sommernachtstraum“. Jb. d. dt. Shakespeare-Ges. 40 (1904). S. 174: Erfindung: Charlotte Bühler, Erfindung und Entdeckung. Zwei Grundbegriffe der Literaturpsychologie. Zs. f. Ästhetik 15 (1921), S. 4387. Fréd. Paulhan, Psychologie de l'invention. 2. éd. Paris 1911. P. Albrecht, Philologische Untersuchungen. 6 Bde. Hamburg 188891. Bruderzwistdramen: Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1914. S. 53 f. S. 175: Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt. Hrsg. von Er. Schmidt. 5. Abdr. Weimar 1901. S. XXVI. Inzwischen ist durch Morris auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Quelle für Goethe und Daudet hingewiesen worden: Goethe-Jb. 24 (1905), S. 242 f. Goethe, Faust und Urfaust. Erläutert v. E. Beutler. Leipzig 1939 (= Sammlung Dieterich 25), S. 547 ff. Ausführlicher: E. Beutler, Der Frankfurter Faust. Jahrb. d. fr. dt. Hochstifts Frankfurt a. M., 193640. Halle 1940. S. 594 ff. Motive der Lyrik: R. M. Werner, Lyrik und Lyriker. Hamburg u. Leipzig 1890. S. 138, 246, 248. S. 176: H. Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. 1. Marburg 1927. S. 242 ff., 252 ff., 262 ff. |#f0633 : 609|

S. 179: O. Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917. Dazu: K. Voßler, Über wechselseitige Erhellung der Künste. Festschr. f. Heinrich Wölfflin. Dresden 1935. S. 160 bis 67. Max Nußberger Die dichterische Phantasie in d. Formgebung der Dichtkunst, Malerei und Musik. München 1935. Melodik, Rhythmik, Dynamik: Herb. Lewandowski, Die Erfassung von Formeigentümlichkeiten beim lyrischen Dichtwerk. Dargest. auf Grund vergleichender Betrachtg. dt. Abendlyrik seit Gerhard. Diss. Bonn 1923. Ders., Die Literatur 26 (1923/24), S. 38588. Feinfühlige Vergleichung von Abendliedern auch bei: Joh. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Leipzig 1936. S. 20 ff. S. 180: Leitmotive und Wiederholungstechnik: Mart. Schütze, Repetition of a word as a means of suspense in the drama under the influence of romanticism. Chicago 1907. Berth. Schulze, Das Bild als Leitmotiv in den Dramen Kleists und anderer Dichter. Zs. f. dt. Unterr. 27 (1910), S. 30821. Dazu: Fr. Kanter, Der bildliche Ausdruck in Kleists Penthesilea. Diss. Jena 1911. R. Sternfeld, Über das Leitmotiv bei Fontane. Voss. Ztg., 24. Juli 1910. Wilh. Dibelius, Charles Dickens. Leipzig u. Berlin 1916. S. 245 ff., 375 ff. Edith Aulhorn, Der Aufbau der Wahlverwandtschaften. Zs. f. dt. Unterricht 32, S. 337 ff. O. Walzel, Leitmotive in Dichtungen. Zs. f. Bücherfreunde NF. 8, S. 261 ff. Wiederholt in: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926. S. 15281. Ders., Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. S. 358364. J. Petersen, Fontanes Altersroman. Euph. 29, S. 1418. Car. F. Spurgeon, Leading Motives in the Imagery of Shakespeares Tragedies. Oxford 1929. R. Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. Halle 1934. S. 74 f. W. Krogmann: Motivübertragung und ihre Bedeutung für die literarhistorische Forschung. Neophilologus 17 (1937), S. 1732. Ders., Leitmotive im Schaffen des Dichters. Zs. f. dt. Phil. 61 (1937), S. 386 ff. Leander Hotes, Das Leitmotiv in der neueren dt. Romandichtung. Diss. Frankf. a. M., 1931. S. 181: Lessings Hamburgische Dramaturgie. 11. Stück. S. 182: Traumspiel: Stef. Hock, Der Traum ein Leben. Stuttgart und Berlin 1904. Ella Sartorius, D. Traum u. d. Drama. Wortkunst NF. 11, München 1937. S. 183: Märchendrama: Marg. Kober, Das Märchendrama der Romantik. Dt.. Forschgn. 11. Frankfurt a. M. 1925. S. 184: Cl. Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Frankfurt a. M. 1937. Einen anderen Begriff des Anti-Märchen hatte Rud. Kaßner (Narziß oder Mythos und Einbildungskraft. Leipzig 1928, S. 93 f.), indem er Sternes „Tristram Shandy“ als Umkehrung des Märchens bezeichnete, weil in ihm dessen Zeitlosigkeit aufgehoben werde: „Tristram Shandy ist der erste Held oder der erste Mensch, der das moderne Gefühl der fließenden Zeit hat.“ Simplizissimus teutsch. Hrsg. von J. H. Scholte. Braunes Neudr. 30209. II, 18, S. 147. S. 185: Ballade: Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. S. 186: Heinz Flügel, Die Wirklichkeit des Mythus und das Reich der Dichtung. Die Literatur, Dezember 1938, S. 145 ff. S. 190: Naturgefühl: Alfr. Biese, Das Naturgefühl im Wandel der Zeiten (Leipzig 1926) und die dort auf S. 27375 zusammengest. Literatur; ferner Walter Donat, Die Landschaft bei Tieck. Dt. Forschgn. 14. Frankfurt a. M. 1925. Rich. Beitl, Goethes Bild der Landschaft. Berlin u. Leipzig 1929. Helm Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft. (Buchreihe d. Dt. Vjs. 19.) Halle 1932. |#f0634 : 610|

Üb. Stilform d. Landschaftsdarstellung: Walzel, Euph. 32. (1931), S. 44153. Joh. Klein, Das Raumerlebnis i. d. Lyrik Eichendorffs. Zs. f. Ästh. 29 (1935), S. 52 ff. Dietr. Seckel, Hölderlins Raumgestaltung. Dichtung und Volkstum 39 (1938), S. 46986. S. 191: Sprachform: Walt. Brauer, Gesch. d. Prosabegriffs v. Gottsched bis z. Jungen Deutschland. Frankf. Qu. u. F. 18, Frankf. 1938. Merkwürdige Teilung des Dialogs in Vers und Prosa, die nur durch Musik ausgeglichen werden kann, gibt Manfr. Hausmanns dramat. Ballade „Lilofee“ (Berlin 1936). Den Zustand des Atmens im rhythmischen Leidenschaftsausdruck der verschiedenen Versmaße charakterisiert kurz: Emil Lucka: Die Phantasie. Wien und Leipzig 1908. S. 117. S. 193: Kurt May, Faust II. Teil in der Sprachform gedeutet. Neue Forschgn. 30. Berlin 1936. Börries Frhr. v. Münchhausen, Mal anders. Zschr. f. Deutschkunde 46 (1932), S. 8086. Ders., Die dritte Asklepiadeische Strophe. Ebd. 51 (1937), S. 121 bis 125. Sonett: Chr. Morgenstern: Ich und Du. S. 72. S. 194: Rob. Petsch, Z. Tongestaltung i. d. Dichtung. Festschr. f. Petersen. Leipzig 1938, S. 122. F. R. Blaß, Die Rhythmen der attischen Kunstprosa. Leipzig 1901. Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance. Leipzig 1898. S. 195: Dietr. Seckel, Hölderlins Rhythmus. Palaestra 207. Leipzig 1937. Ed. Lachmann, Hölderlins Hymnen in freien Strophen. Frankf. a. M. 1937. de Groot, Neophilologus 17 (1932), S. 81, 177, 241. Wolfg. Kayser, Vom Rhythmus in dt. Gedichten. Dicht. u. Volkst. 39 (1938), S. 487510. 7. Der Stil S. 195: Stil: Ed. Castle, Zur Entwicklungsgeschichte des Wortbegriffes Stil. Germ. Roman. Monatsschr. 6 (1914), S. 15360. Rob. Wolfg. Wallach, Üb. Anwendung und Bedeutung des Wortes Stil. Diss. München 1919. Herm. Pongs, Zur Methode der Stilforschung. GRM. 17 (1929), S. 256 ff. Jos. Nadler, Das Problem der Stilgeschichte. In Ermatingers Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930. S. 37697. Jos. Gramm, Formbau und Stilgesetz. Frankfurt a. M. 1931. H. Brinkmann, Grundfragen d. Stilgeschichte. Zs. f. Dk. 46 (1932), S. 689697. Friedrich Kainz, Stil u. Form. Ztschr. f. Deutschkunde 41, 1927, S. 114 ff. Der zitierte Satz: Anselm Feuerbach, Ein Vermächtnis. Wien 1882. (1. Auflage), S. 81. S. 198: Stilperioden der griechischen Poesie bei Friedrich Schlegel. Jugendschriften, hrsg. v. Minor. I, 1 ff. Kurt Gerstenberg, Deutsche Sondergotik. München 1913. Herm. Gumbel, Deutsche Sonderrenaissance in deutscher Prosa. Dt. Forschn. 23. Frankfurt a. M. 1930. R. Müller-Freienfels, Got. Formgebung i. d. dt. Lit. Germ. Rom. Mschr. 8 (1920), S. 2129 Georg Weise, Das Schlagwort vom gotischen Menschen. N. Jb. f. Wissensch. u. Jugendbildung VII (1931), S. 104 ff. Ders., Das „gotische“ oder „barocke“ Stilprinzip der deutschen und der nordischen Kunst. Dt. Vjschr. 10 (1932), S. 206243. Von epischem, lyrischem, dramatischem Stil spricht A. W. Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen, hrsg. v. Minor D. L. D. 17, S. 108; vom Materialstil C. Utitz, Was ist Stil? Stuttgart 1911. |#f0635 : 611|

S. 199: Altersstufenstil: Max Deutschbein. Neuere Sprachen 23 (1916), S. 921. Ulr. Leo, Fogazzaros Stil u. d. symbol. Lebensroman. Heidelberg 1928; dazu H. Pougs Dt. Lit. Ztg. 1930, Sp. 258 ff. K. Viëtor, D. alte Brentano. Dt. Vjschr. 2 (1924), S. 556 ff. Ders., Goethes Altersgedichte. Euphorion 33 (1932), S. 105 bis 152. A. E. Brinkmann, Die Spätwerke großer Meister. Frankfurt a. M. 1925. J. Petersen, Goethe und die deutsche Sprache. Aus der Goethezeit. S. 79 ff. Ders., Fontanes Altersroman, Euph. 29 (1928), S. 6874. Vgl. auch S. 209 und Anm. W. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Berlin 1926. S. 11 f. Goethe, Maximen und Reflexionen 806. Schr. d. Goethe-Ges. 21. Weimar 1907. S. 178. Rilke, Briefe aus den Jahren 19071914. Leipzig 1933. S. 144. S. 200: Jos. Nadler: vgl. Anm. zu S. 195. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933. S. 203. S. 203: Erich Schmidt erwähnt in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Urfaust (7. Abdr., S. XXVI), daß der Kunsthistoriker Lermontoff-Morelli dem Literarhistoriker jede Fähigkeit, Verfasserschaft und Alter aus Stilgründen darzutun, abgesprochen habe. S. 204: Paul Krannhals, Das organische Weltbild. München 1928. Bd. 2, S. 623. Pinder, a. a. O. S. 71. Max Dvořak, Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. München 1924. S. 227 ff. Phil. Witkop, Heinrich von Kleist. Leipzig 1922. S. 10 ff. Zeitstile: Daß sie in Tendenzen bestehen, die sich im Medium bestimmter Kulturen, Nationalitäten, Landschaften, sozialen Schichten und Persönlichkeiten brechen, betont Er. Rothacker, Geschichtsphilosophie. S. 61. S. 205: Staatsstil: A. Moeller van den Bruck, Der preußische Stil. München 1916. Neue Fassung. 3. Aufl. Breslau 1931. Paul v. Winterfeld, Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters. Hrsg. von Reich. 3. u. 4. Aufl. München 1922. S. 454 f. Wilh. Kellermann, Altdeutsche und altfranzösische Literatur. Germ. Roman. Monatsschr. 26 (1928), S. 128. Rich. Alewyn, Vorbarocker Klassizismus. Neue Heidelb. Jbb. N. F. 1926, S. 363. Zeitalterstil: Friedr. Schürr, Das altfranzösische Epos. Zur Stilgeschichte u. inneren Form der Gotik. München 1926. Ders., Barock, Klassizismus u. Rokoko in der französischen Literatur. E. prinzipielle Stilbetrachtg. Leipzig u. Berlin 1928. Literarische Hochgotik bei Gottfried Weber, Wolfram von Eschenbach. Dt. Forschgn. 18. Frankfurt a. M. 1928. S. 155 ff. Literaturbarock: Fritz Strich, Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts. Abhandlgn. z. dt. Litgesch. Festschr. für F. Muncker, München 1916. S. 2153. Ad. Hatzfeld, D. Barockstil d. sog. klass. Lyrik i. Frankreich. Lit. Jb. d. Görres-Ges. 4 (1929), S. 31 ff. Rich. Müller, Dichtung und bildende Kunst im Zeitalter des deutschen Barock. Wege z. Dichtg. 28. Frauenfeld 1937. Bildgedicht: Helm. Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Palaestra 199. Leipzig 1935. Nationalstil: Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. I, 1, 2; II. 4. Taschenausgabe Bd. 2, S. 7, 138. Karl Voßler: Die Nationalsprachen als Stile. Jb. f. Philologie, hrsg. v. Klemperer u. Lerch. München 1925. S. 123. K. Viëtor, Zum Problem des Nationalstils. Germ. Rom. Mschr. 14 (1926), S. 178184. Ders., |#f0636 : 612|

Probleme d. Barockforschung. Leipzig 1928. S. 73 ff. Konr. Escher: Das Nationale in der abendländischen Stilentwicklung. Zürich 1919. S. 206: Ed. Wechßler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen. Bielefeld und Leipzig 1927. Zum Nationalstil in der Musik: Gust. Becking, D. musikal. Rhythmus als Erkenntnisquelle. Augsburg 1928, S. 82 ff. Eine Verbindung von Nationalstil und Zeitstil läge im Begriff eines „altgermanischen Stils“, gegen dessen Einheitlichkeit allerdings Andr. Heusler schwerwiegende Bedenken äußert in seiner „Altgermanischen Dichtung“ (Handb. d. Litwiss. 1926), S. 192. Dazu Er. Rothacker, Geschichtsphilosophie. S. 59. Rassestil: Hans K. F. Günther, Rasse und Stil. München 1926. S. 86 f. Ders., Rassenkunde des deutschen Volkes. 67.77. Tausend. München 1934. Tafel, 129, Abb. 129. Rich Frydmann, D Erlebnis der Näherung, ein Versuch üb. d. ostasiat. Sehen. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 27 (1933), S. 30519. S. 207: Dandins Poetik. Hrsg. v. Böhtlingk. Leipzig 1890. Anandavardhanas Dhvanyaloka, übers. v. H. Jacobi. Leipzig 1903. Appayadiksita's Kuvalayandakarikas übers. v. R. Schmidt. Berlin 1907. Herm. Jacobi: Über Begriff und Wesen der poetischen Figuren in der indischen Poetik. Nachr. d. Kgl. Ges. d. Wiss. z. Göttingen. Phil.-hist. Kl. 1908. Ders., Die Poetik und Ästhetik der Inder. Internat. Wochenschr., 29. Okt. 1910. Rud. Meißner Skaldenpoesie. Halle 1905. Ders., Die Kenningar der Skalden. Berlin 1920. Wolfg. Krause, Die Kenning als typische Stilfigur d. germ. u. kelt. Dichtersprache. Halle 1930 = Schr. d. Königsb. Gel. Ges., Geisteswiss. Kl., Jg. 7, Heft 1. Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Stilforschung bei Gis. Jahn, Studien zu Eichendorffs Prosastil. Palaestra 206. Leipzig 1937. S. 208: Gust. Gerber: Die Sprache als Kunst. 2. Aufl. 2 Bde. Berlin 1885. R. M. Meyer, Deutsche Stilistik. Handbuch d. dt. Unterrichts. III., 1. 2. Aufl. München 1913. Ernst Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Halle 1897. S. 41388. Bd. 2 (Stilistik). Halle 1911. Emil Winkler: Grundlegung der Stilistik. Bielefeld u. Leipzig 1929. Leo Spitzer: Stilstudien. 2 Bde. München 1928. Max Deutschbein, Neuenglische Stilistik. Leipzig 1932. S. 209: Alb. Fries, Stilistische Untersuchungen zu Schiller. Euphorion 12 1905, S. 485504. Ders., Beobachtungen zu Schillers Stil und Metrik in der Zeit seiner dichterischen Reife. Studien z. vergl. Litgesch. 5 (1905) Erg.-Heft, S. 30330. Ders., Zu Kleists Stil. Stud. z. vgl. Litgesch. 4 (1904), S. 44065. Ders., Untersuchungen und Beobachtungen zu Heinrich von Kleist. Berlin 1904, S. 124. Ders., Stilistische und vergleichende Forschungen zu H. v. Kleist. Eberings Berliner Beiträge. 30. Berlin 1906. Gust. Roethe, Brentanos „Ponce de Leon“, eine Säkularstudie. Abhandlg. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. N. F. V., 1. Berlin 1901. Goethes Campagne in Frankreich. Berlin 1919. Herm. Petrich, Drei Kapitel vom romantischen Stil. Leipzig 1878. Paul Knauth, Goethes Sprache und Stil im Alter. Leipzig 1898. Dazu: Konr. Burdach: Vorspiel. Bd. 2. Halle 1926. S. 6172. Jak. Minor und Aug. Sauer: Studien zur Goethe-Philologie. Wien 1880. Rich. Weißenfels, Über französische und antike Elemente im Stil Heinrich von Kleists. Braunschweig 1888. Ders., Goethe im Sturm und Drang. Bd. 1. Halle 1894. |#f0637 : 613|

Georg Minde-Pouet, Heinrich von Kleist. Seine Sprache und sein Stil. Weimar 1897. Er. Schmidt, Lessing. 4. Aufl. Bd. 2. S. 488539. Jos. Nadler, S. 379; vgl. Anm. z. S. 195. S. 210: Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Elementarlehre. 2. Tl. 2. Buch. 2. Hauptst. 2. Abschn. Antithetik der reinen Vernunft. Dritter Widerstreit der transzendentalen Ideen. Vgl. W. Plümacher, Versuch einer metaphysischen Grundlegung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe aus Kants Antinomienlehre mit einer Anwendung auf das Kunstwerk Herm. Hesses. Bonner Dt. Studien, hrsg. von Enders. Heft 1. Würzburg 1936. Joh. Volkelt, Der Begriff des Stils. Zs. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss. 8, (1913), S. 20946. Heinr. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1915. Fritz Strich, Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. München 1922. Wilh Schneider, Ausdruckswerte der deutschen Sprache. Eine Stilkunde. Leipzig und Berlin 1931. Dazu Friedr. Kainz, Höhere Wirklichkeitsgestalten d. sprachl. Ausdrucks in Dt. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 28 (1934), S. 305357. S. 211: Genovefa-Dramen: In der stoffgeschichtlichen Untersuchung von Bruno Golz über die Pfalzgräfin Genovefa in der deutschen Dichtung (Leipzig 1897) wird das Problem der Stilvergleichung noch nicht gesehen. Wilh. Worringer, Abstraktion und Einfühlung. 3. Aufl. München 1911. S. 212: E. Hoffmann-Krayer, Geschichte des deutschen Stils in Einzelbildern. Berlin 1925. Emil Ermatinger, Zeitstil und Persönlichkeit. Grundlinien einer Stilgeschichte der neueren dt. Dicht. Dt. Vjs. 4 (1926), S. 61558. Wiederholt: Krisen und Probleme der neueren dt. Dichtg. Zürich, Leipzig, Wien 1928. S. 352 bis 97. Herm. Nohl, Typische Kunststile in Dichtung und Musik. Jena 1915. Ed. Spranger: Lebensformen. 2. Aufl. Halle 1921. O. Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. S. 391 ff. J. van Dam, Literaturgesch. als Stilgesch. Neophilologus 23 (1938), S. 7983. S. 216: Stefan Georges Schrift: W. Wolters, George und die Blätter für die Kunst. Berlin 1930. S. 143 ff. Über Interpunktion und typographische Hilfsmittel als Stileigentümlichkeiten: R. M. Meyer, Deutsche Stilistik. 2. Aufl. München 1913, S. 90 f. Ders., Zschr. f. dt. Unter. 24, 99. Schweigen: Wilh. v. Scholz (Gedanken zum Drama 1905) spricht von einem „unterirdischen Dialog der Seelen“. Vgl. auch Gottfr. Zeißig, Die Überwindung der Rede im Drama. Diss. Leipzig 1930. Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche. Das Innere Reich. Sept. 1937, S. 654 ff. S. 217: Der Sprache verfallen: W. Muschg, Gotthelf. München 1931. S. 447 f Nadler schreibt die Lust am Wort insbesondere dem alemannischen Stamme zu (Litg. 1. 320). Vgl. aber Hans Jacob, Knut Hamsun und Thomas Mann. Philos. Anzeiger 3 (1928), S. 218 ff. Wortmagie: Rud. Otto, Das Heilige. 23.25. Aufl. München 1936. S. 86. Lieblingswörter: der Anakreontik: Minor und Sauer, Studien zur Goethe-Philologie. Wien 1880. ... der Romantik: Friedrich Kainz, Zum Wortschatz der deutschen Romantik. Geistige Arbeit 4 (1937), Nr. 20, S. 1 f. K. Voßler, Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung. Heidelberg 1913. O. Weise, Unsere Muttersprache, ihr Werden und Wesen. Leipzig 1895. Ders., Ästhetik der deutschen Sprache. Leipzig 1903. |#f0638 : 614|

S. 218: Wörterbücher der Dichtersprache: Die neuere deutsche Literaturgeschichte hat nur den unzulänglichen Goethe-Wortschatz von P. Fischer (Leipzig 1929), das als Register zur Lessing-Ausgabe von Petersen und v. Olshausen durch letzteren bearbeitete Lessing-Wörterbuch und die Ansätze zu einem Schiller-Wörterbuch in Goedekes Ausgabe, Bd. 1 und 5, 1 (Stuttgart 1867/69). Lessing war schon 1759 mit seinem Wörterbuch zu Logau vorangegangen. Die englische Literaturgeschichte hat verschiedene Glossare zu Shakespeare (Cunliffe 1910; Onions 1911), dazu die deutschen Shakespeare-Wörterbücher von Al. Schmidt (4. Aufl. Leipzig, Berlin 1923) und L. Kellner (Leipzig 1922). Frankreich besitzt Wörterbücher zu Corneille u. Racine in den Klassiker-Ausgaben von Marty-Laveaux (1862) und Mesnard (1873); in Italien gibt es mehrere Wörterbücher zu Dantes Göttlicher Komödie, darunter das 7bändige von Polatto (Siena 188587). Über seine Benutzung des Grimmschen Wörterbuchs spricht Rilke in Briefen vom 10. 8. 1903, 12. 5. 1904 und 3. 2. 1913. Briefe aus den Jahren 19021906. Leipzig 1930. S. 120, 157. Briefe an seinen Verleger. Leipzig 1934. S. 215 f., 466. Wilh. Schneider, Nomen und Verbum als Ausdruckswerte. Zs. f. Deutschkde. 39 (1925), S. 705 ff., 771 ff. Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. 1910. Bd. 1, S. 12 ff.; Bd. 2, S. 464 ff., 526 f. S. 219: Herm. Ammann, Die menschliche Rede. 1. Teil. Lahr 1925. S. 132 ff. Gust. Herbig, Aktionsart und Zeitstufe. Idg. Forschgn. 6 (1896), S. 157 ff. Friedr. Maurer, Untersuchungen über die Verbstellung in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Heidelberg 1926. Heinr. Rickert, D. Logik d. Prädikates u. d. Problem d. Ontologie. Sitzungsber. d. Heidelberger Ak. d. Wiss. Phil. Hist. Kl. Jg. 1930/1. Max Deutschbein, Neuenglische Stilistik. Leipzig 1932. S. 8 f., 139 ff. O. Hachtmann, Die Vorherrschaft substantivischer Konstruktionen im modernen französischen Prosastil. Roman. Stud. 12. Berlin 1912. Sprachschöpfungen der Mystiker: O. Zirker: Die Bereicherung des deutschen Wortschatzes durch die spätmittelalterliche Mystik. Jena 1923. S. 220: Fritz Strich, Klassik und Romantik. 2. Aufl. 1924. S. 218 ff. Neubildung als Ausdruck seelischer Erregung: H. Spitzer, Neue Jbb. f. Wiss. und Jugendbildg. 1930. S. 632. Wern. Rittich, Kunsttheorie, Wortkunsttheorie und lyr. Wortkunst im Sturm. Greifswald 1933. S. 221: H. Laures, Les synesthésies. Paris 1908. Ott. Fischer, Üb. Verbindung v. Farbe und Klang. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 2 (1907), 509. L. I. Martin, Üb. ästhet. Synästhesie. Zschr. f. Psychol. 53 (1909). A. Wellek, Das Doppelempfinden in der Geistesgeschichte. Zs. f. Ästhetik 23 (1929), S. 1442. Ders., Renaissance- und Barock-Synästhesie. Dt. Vjs. 9 (1931), S. 53484. Ders., Das Doppelempfinden im 18. Jahrhundert, Dt. Vjs. 14 (1936), S. 75102. Braune Nacht: Herb. Cysarz, Deutsche Barockdichtung. Leipzig 1924, S. 151 Anm. 2. Karl Viëtor, Die Barockformel „Braune Nacht“. Zs. f. dt. Philol. 63. 1938, S. 284 ff. Ders., Die Lyrik Hölderlins. Frankf. a. M., 1921, S. 168. Hans Reichmann, Zur Metapher „grüne Nacht“. Euphorion 19, 1912, S. 3614 und 20, 1913, S. 74851. Dichterische Geheimsprachen: Harry Maync, Eduard Mörike, 3. und 4. Aufl. Stuttgart 1927. S. 94, 171 f. Wilh. Altwegg, J. P. Hebel. Frauenfeld, Leipzig 1935. S. 46 ff. R. M. Meyer, Künstliche Sprachen. Idg. Forsch. 12 (1901), S. 3392, 242318. |#f0639 : 615|

S. 222: Wortspiel: Jul. Schultz, Zs. f. Ästhetik 21 (1927), S. 1637. Fr. H. Mautner, Dt. Vjs. 9 (1931), S. 679. Ders., Zs. f. Ästh. 27 (1933), S. 13275. Jul. Kleufer, Z. f. Ästh. und Kunstw. 30 (1936), S. 20934. Doppelsinn: Fritz Kaufmann, Sprache als Schöpfung. Z. f. Ästhetik 28 (1934), S. 154. Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung. Bd. 1. Marburg 1927. S. 241 ff. Max Hof, Wort und Bild bei Hölderlin. Geistige Arbeit 3 (1936), Nr. 12. S. 223: Impressionismus: Luise Thon, Die Sprache des deutschen Impressionismus. München 1928. Alf Lombard, Les constructions nominales dans le français moderne. Uppsala, Stockholm 1930. Dazu: E. Lerch, Neuere Sprachen 40, S. 56 f. Max Deutschbein, Neuenglische Stilistik. S. 240. S. 224: Jean Paul, Über die deutschen Doppelwörter. Hempelsche Ausgabe. 54. Teil. S. 58. Dazu: Jak. Grimm, Kl. Schr. I, 403 ff. Worthäufungen im Barock: K. Viëtor, Germ. Rom. Mschr. 14 (1926), S. 148. Hans Pliester: Mnemosyne 7. Bonn 1930. S. 225: Edm. Husserl: Logische Untersuchungen. 2. Teil. Halle 1901. S. 286 ff. K. Bühler: Vom Wesen der Syntax. Idealistische Neuphilologie. Festschr. f. Voßler. Heidelberg 1922. S. 5484. Ders., Krit. Musterung d. neueren Theorien d. Satzes. Idg. Jb. 6 (1920), S. 120. Ders., Über den Begriff der sprachlichen Darstellung. Psychol. Forschgn. 3, S. 288 ff. Herm. Wunderlich und Hans Reis: Der deutsche Satzbau. 3. Aufl. 2 Bde. Stuttgart und Berlin 1924/25. H. Brugmann, Verschiedenheit in der Satzgestaltung nach Maßgabe der seelischen Grundfunktionen in den idg. Sprachen. Ber. d. Sächs. Ges. d. Wiss. Phil.-hist., Kl. 70 (1918). Eine Vereinigung der vier Betrachtungsweisen bei Wilh. Havers, Handbuch d. erklärenden Syntax. Heidelberg 1931. Wortstellung: K. Voßler, Frankreichs Kultur, S. 64 ff., 270 ff. El. Richter: Grundlinien der Wortstellungslehre. Zs. f. roman. Phil. 40 (1918), S. 10 ff. Eug. Lerch, Typen der Wortstellung. Idealist. Neuphilologie. Festschr. f. Voßler. Heidelberg 1922. S. 85106. Karl Schultze-Jahde, Zur Gegenstandsbestimmung von Philologie und Literaturwissenschaft. Berlin 1928. S. 58 ff. Kleist, Käthchen von Heilbronn. I, 1. S. 226: Arno Holz, Revolution der Lyrik. Berlin 1899, S. 45 f. Herm. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte. § 86. 4. Aufl. S. 123 f. Klopstock, Von der Darstellung. 1771. Ausg. v. Spindler u. Back. Leipzig 1830. Bd. 16, S. 11. Bühler; vgl. Anm. zu S. 225. S. 227: Friedr. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Werke 5, 123. Ähnlich nennt Stefan George (I, 5) die Beschäftigung mit dem Vers die beste Erziehung für höhere Prosa. R. M. Meyer, Deutsche Stilistik. 2. Aufl. München 1913. S. 73 ff. Ewald A. Boucke, Associative and apperceptive types of sentence structure. Journal of Germanic Philology 4 (1902) 389420. Daß Kunst für den, der das „dritte Ohr“ hat, in jedem guten Satze steckt, sagt Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“. 8. Hauptstück 246. Werke VII, 214 f. Theodor Fontane am 3. März 1881. Briefe, 2. Sammlg. Bd. 2, S. 33. Die Partie mit den vielen „und“ in „Irrungen Wirrungen“ (Werke 5, S. 131 f.) ist deshalb doch nicht als impressionistisches Stilgebilde anzusehen, wie Luise Thon (S. 152) |#f0640 : 616|

annimmt, sondern naturalistische Wiedergabe der Redeweise eines Kindes aus dem Volke. So heißt es in dem erwähnten Brief: „Je schlichter, je mehr sancta simplicitas, desto mehr ‚und‘.“ S. 228: Georg Gloege, Novalis' „Heinrich von Ofterdingen“ als Ausdruck seiner Persönlichkeit. Teutonia 20. Rob. Bräuer: Der Stilwille Mérimées. Genf 1930. Einen Schritt weiter gelangt die inzwischen erschienene Groninger Dissertation von J. Elema (Stil und poetischer Charakter bei Detlev v. Liliencron. Amsterdam 1937), in der die einzelnen lyrischen Sammlungen stilistisch analysiert und zum Schluß das Bild des Menschen und Dichters zusammengeführt wird. Dürftige Beobachtungen über den Aufbau verschiedener Essais bei W. T. Brewster, Studies in structure and style. New York 1907. S. 229: H. Leisegang, Denkformen. Berlin und Leipzig 1928. Shakespeare als Barockdichter: O. Walzel, Shakespeares dramatische Baukunst. Jb. d. Shakespeare-Ges. 52 (1916), S. 335. Wiederholt: Das Wortkunstwerk. Leipzig 1926. Dazu: Glunz, Anglia Beibl. 42 (1931), S. 99 ff. Max Deutschbein, Shakespeares „Macbeth“ als Drama des Barock. Leipzig 1936. Michels, Barockstil bei Shakespeare und Calderon. Diss. Frankfurt. 1929. Dazu H. Glunz a. a. O. Osk. Boerner, Shakespeare und der Barock. GRM. 25 (1937), S. 36381. S. 231: Die von Heinz Werner (Grundfragen der Sprachphysiognomik. Leipzig 1932) begründete experimental-psychologische Untersuchungsweise baut auf Protokollen des Sprachempfindens auf und berücksichtigt an dichterischem Stil nur die Sprachphilosophie der Romantik (S. 203). Der Begriff einer physiognomischen Stilanalyse findet sich auch in der Dissertation von H. Gaitanides über Georg Rudolf Weckherlin (München 1936). 8. Sechste Stufe: Das Persönliche S. 233: Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. S. 38 ff. Ganymedische und prometheische Haltung: Helm. Sudheimer, Der Geniebegriff des jungen Goethe. Berlin 1935, S. 58 ff. S. 234: Hofmannswaldau, Die Welt. Kürschners Dt. Nationallit. Bd. 37, S. 86 f. S. 235: Detlev von Liliencron, Betrunken. Ges. Werke (Berlin 1922), 3, 84. Fontane, Werke. II, Bd. 7, S. 176. Rud. Unger, Weltanschauung und Dichtung. Zürich 1917. S. 63. Wiederholt: Gesammelte Studien. Berlin 1929. Bd. 1, S. 79. S. 236: Testament Friedr. d. Gr.: G. Kettner. Zschr. f. dt. Phil. 20 (1888), 344 f. Heinr. Rickert, Goethes Faust. Tübingen 1932. S. 57 ff. H. Wöhlert, Das Weltbild in Klopstocks Messias. Bausteine 14. Halle 1915. Chr. Junker, Das Weltraumbild in d. dt. Lyrik von Opitz bis Klopstock. Germ. Std. 111. Berlin 1932. S. 237: P. Niemeyer: Die Sentenz als poetische Ausdrucksform vorzüglich im dramatischen Stil. Germ. Stud. 146. Berlin 1934. M. E. Gilbert: Das Gespräch in Fontanes Gesellschaftsromanen, Palaestra 174. Berlin 1930. Paul Tack, Überrollenmäßige Sprachgestaltung in d. Tragödie. Wortkunst 6. München 1932. Wilh. Gemoll, Das Apophthegma. Wien 1924. Fr. H. Mautner, D. Aphorismus als literar. Gattung. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 27 (1933), S. 132175. K. Besser, D. Problematik d. aphorist. Form. Berlin 1935. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Kröners Taschenausg. Bd. 1, S. 130. |#f0641 : 617|

Männling, Arminius Enucleatus. Das ist: Des unvergleichlichen Dan. Casp. v. Lohenstein herrliche Realia, köstliche Similia, Historische Merkwürdigkeiten, Sententien etc. aus dessen deutschen Taciti oder Arminii 1. u. 2. Th. zusammengetragen. Stargard 1708. Ders., Lohensteinius sentensiosus. Breslau 1710. S. 238: H. Dünnebier, Gottfried Keller und Ludwig Feuerbach. Zürich 1913. Julius Petersen, Grimmelshausens Teutscher Held. Euphorion Erg. Heft 17 (1924), S. 130. Ders., Gr. als Politiker, Eckart-Jb. 1938. Gertr. Reitz, D. Gestalt d. Mittlers in Goethes Dichtung. Frankf. Qu. u. F. 3 (1932). Zum Schluß der „Emilia Galotti“: E. Ermatinger, Weltanschauung und Dichtung. Neue Jbb. 31 (1913), S. 202. Dagegen: Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1914. S. 16 Anm. 2. Franz Zinkernagel, Die Katastrophe in Lessings „Emilia“. Germ. Rom. Mschr. 6 (1914), S. 20612. S. 239: Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. S. 204, 226. Rousseaus „Denkwürdigkeiten“. Schriften von Helfrich Peter Sturz. 1. Sammlg. Leipzig 1779. S. 129. Anm. u. S. 14546. S. 240: Storm an Keller, 9. Dez. 1887. Briefwechsel, hrsg. v. A. Köster. 4. Aufl. (Berlin 1924), S. 162. Das gleiche Problem, ob man einem Unheilbaren zum Tode helfen dürfe, hatte vorher Paul Heyse in der Novelle „Auf Tod und Leben“ behandelt; vgl. Briefwechsel zwischen Heyse u. Storm, hrsg. v. Plotke. München 1918. Bd. 2. S. 152, 188. Rudolf Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Ges. Studien. Bd. 1, S. 155 ff. S. 241: Vererbung: Wolfg. Kirchbach, Das Problem der Vererbung in Religion, Literatur und Wissenschaft. Der Freidenker XI., XII. 190304. Paul Friedrich: Das Problem der Vererbung in der deutschen Literatur der Gegenwart. Deutsche Renaissance 1913, S. 2532. Harold G. Carlson, The heredity Motif. Germ. Review XI, 3 (1936). XII, 3 (1937). S. 242: Todesproblem: Rud. Unger, Herder, Novalis, Kleist. Studien über die Entwicklung des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik. Frankfurt a. M. 1922. Ders., Jean Paul und Novalis. Ges. Studien. Bd. 2, S. 10421. Ph. Leibrecht, Z. Todesproblem in d. jüngsten Dichtung. Lit. Echo 27 (1925), S. 64144. Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle 1928. Ernst Benz, Das Todesproblem in d. stoischen Philosophie. Stuttgart 1929. Fr. Wilh. Wentzlaff- Eggebert: Das Problem des Todes in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Palaestra 171. Leipzig 1931. Käte Hamburger, Das Todesproblem bei Jean Paul. Dt. Vjschr. 7 (1929), S. 44674. Dieselbe: Th. Mann und die Romantik. Eine problemgeschichtl. Studie. Neue Forschung 15. Berlin 1932, S. 43 ff. Fr. Koch, Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit. Schr. d. G. G. 45. Weimar 1932. Joach. Wach, D. Problem d. Todes in d. Philosophie unserer Zeit. Tübingen 1934. F. Nolte: Der Todesbegriff bei Rilke, H. von Hofmannsthal und Th. Mann. Diss. Heidelberg 1934. Jürgen Petersen: Das Todesproblem bei R. M. Rilke. Diss. Würzburg 1935. Erna Küllmer, Auffassung und Bedeutung des Todes im Werke Rilkes. Bochum 1936. J. Betz: Der Tod in der deutschen Dichtung des Impressionismus. Diss. Tübingen. Würzburg 1937. Fr. Werner, D. Todesproblem i. d. Werken Th. G. v. Hippels. Hermaea 33. Halle 1938. A. v. Grolmann, Das Problem von Leben und Tod in der zeitgenöss. Literatur. Zs. f. Deutschkunde 1930, S. 449460. |#f0642 : 618|

Paul Kluckbohn, Die Auffassung der Liebe in d. Lit. d. 18. Jh. und in der dt. Romantik. Halle 1922. G. W. Stern: Die Liebe im deutschen Roman des 17. Jahrhunderts. Germ. Stud. 120. Berlin 1932. W. Jost, Von Ludwig Tieck zu E. Th. A. Hoffmann. Stud. z. Entwicklungsgesch. d. romant. Subjektivismus. Dt. Forsch. 4. Frankfurt a. M. 1921. S. 243: H. Simon, Der magische Idealismus. Heidelberg 1906. R. Unger, Ges. Studien. Bd. 1, S. 154 f. 9. Siebente Stufe: Geist und Idee S. 244: P. Panofsky, Idea. Ein Beitr. zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie. Leipzig und Berlin 1924. Ferd. Weinhandl, Die Metaphysik Goethes. Berlin 1932. S. 217 ff. Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in Goethes Kunstanschauung. Palaestra 211. Leipzig 1937. S. 154. Wilh. Scherer: Poetik. Berlin 1888. S. 212. Wilh. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. Ges. Schr. VI, S. 206 ff. S. 245: Emil Ermatinger, Die Idee im Dichtwerk, Bll. f. dt. Philos. Bd. 2. (1928), S. 126. Pierre Audiat, La biographie de l'oeuvre littéraire. Paris 1924. S. 246: Herm. Aug. Korff, Zur Iphigenie. Zs. f. Deutschkde. 1921, S. 31116. 10. Synthesen S. 248: Petersen, Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1914. S. 38. Stoffgeschichte: Eb. Sauer, Bemerkungen zum Versuch einer Stoffgeschichte. Euph. 26 (1925), S. 19. Ders., Die Verwertung stoffgeschichtlicher Methoden in der Literaturforschung. Euphorion 29 (1928), S. 22229. Kurt Bauerhorst, Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte d. dt. Lit. Berlin 1931. Formgeschichte: Wilh. Wackernagel, Geschichte des deutschen Hexameters und Pentameters bis auf Klopstock. 1931. Andr. Heusler, Deutscher und antiker Vers. Straßburg 1917. K. Voßler, Das deutsche Madrigal. Lit. Forsch. 6. Weimar 1898. E. Brocks, Die sapphische Strophe und ihr Fortleben im lateinischen Kirchenlied des Mittelalters und in der neueren deutschen Dichtung. Progr. Marienwerder 1890. Heinr. Welti, Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung. Leipzig 1884. Hub. Tschersig, Das Gasel in der deutschen Dichtung. Bresl. Beitr. 11. Leipzig 1907. S. 249: Gattungsgeschichte: Jul. Klein: Geschichte des Dramas. 13 Bde. Leipzig 186576. Wilh. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. 5 Bde. 2. Aufl. Halle 191116. Rob. Fr. Arnold, Das deutsche Drama. München 1925. H. H. Borcherdt, Geschichte des Romans und der Novelle in Deutschland. Bd. 1. Leipzig 1926. H. Mielke, Der deutsche Roman. 4. Aufl. Dresden 1912. I. Dresch, Le roman social en Allemagne. Paris 1913. I. Dunlop, The history of fiction. 3 Bde. 1814. Dt. Bearb. von F. Liebrecht. 1851. E. Ermatinger, Die deutsche Lyrik in ihrer geschichtlichen Entwicklung von Herder bis zur Gegenwart. 2 Bde. Leipzig 1921. Phil. Witkop, Die neuere deutsche Lyrik. 2 Bde. Leipzig und Berlin. 1910/13. Günther Müller, Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. München 1925. Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode. München 1923. (Gesch. d. dt. Lit. nach Gattungen, hrsg. von Viëtor. Bd. 1 und 3.) Wolfg. Kayser, Geschichte der deutschen Ballade, Berlin 1936. |#f0643 : 619|

Technik: Gust. Freytag, Technik des Dramas. 3. Aufl. Leipzig 1876. Rob. Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst. Halle 1934. Wilh. Dibelius, Englische Romankunst. Die Technik des engl. Romans im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Palaestra 92/98. 2. Aufl. Berlin u. Leipzig 1922. Vgl. auch die zu S. 131 ff. zitierte Literatur. Menschendarstellung: W. Dilthey, Ges. Schr. VI, 305. Rud. Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Ges. Studien Bd. I, S. 158 f. W. Flemming, D. Auffass. d. Menschen im 17. Jhdt. Dt. Vjschr. 6 (1928), S. 40346. Joach. Müller, Vergleich. Studien z. Menschenauffassung und Menschendarstellung Gottfr. Kellers u. Ad. Stifters. Diss. Leipzig 1930. H. Kindermann, Goethes Menschengestaltung mit einer Einführung in die Aufgaben d. literarhistor. Anthropologie. Berlin 1932. Problemgeschichte: vgl. Anm. zu S. 43. Ideengeschichte: Hettner und Korff: vgl. Anm. zu S. 43 und 45. V IE R T E R H A U P T T E IL : D E U T U N G U N D WE R T U N G 1. Das Verstehen S. 250: Motto: Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Berlin 1923. S. 77. Theod. Birt, Kritik und Hermeneutik. Handb. d. klass. Altertumswiss. I, 33 (1913), S. 9 ff. Goethe, Dichtung und Wahrheit. 12. Buch. Weimarer Ausg. I, 28, S. 101 f. „Erkennen von innen“ war W. Sombarts Definition des Verstehens bei der methodologischen Debatte auf dem Züricher Soziologenkongreß 1928. Schr. d. dt. Ges. f. Soziologie 6, S. 208 ff. Herm. Paul, Methodenlehre. § 14. Grundriß d. germ. Phil. 2. Aufl. (Straßburg 1901), Bd. 1, S. 178 f. S. 251: Raabe, Sämtl. Werke. II, 6, S. 90. S. 252: Pierre Audiat (vgl. Anm. zu S. 245), S. 43. E. G. Kolbenheyer, Die Bauhütte, S. 11. S. 253: Paul Th. Hoffmann, Der mittelalterliche Mensch. Gotha 1922. Wilh. Worringer, Formprobleme der Gotik. München 1911. Karl Scheffler, Der Geist der Gotik. Leipzig 1917. Max Wieser, Der sentimentale Mensch. Gotha 1924. Vgl. auch Anm. zu S. 198. S. 254: Wilh. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik. Festschr. für Sigwart. Tübingen 1900. Ges. Schr. V, S. 317 ff. Ders., Ausdruck und Verstehen. Ges. Schr. VII, S. 191 ff. Er. Rothacker, Mitteil. d. Verbandes d. dt. Hochschulen 5, 2, S. 22 ff. W. Blumenfeld, Verstehen und Deuten. Jb. f. Philologie 3, S. 18 ff.; 101 ff.; 145 ff. O. Kraus, Geisteswissenschaft und Psychologie. Euph. 28 (1927), S. 511 ff. Wolfg. Erxleben, Erlebnis, Verstehen und geschichtliche Wahrheit. Berlin 1937. Ed. Spranger, Zur Theorie des Verstehens. Festschr. für Volkelt. 1918. S. 283. Mart. Heidegger, Sein und Zeit. 2. Aufl. Halle 1929. S. 148. 160. L. F. Clauß, D. Verstehen d. sprachl. Kunstwerke. Festschr. f. Husserl. Halle 1929, S. 5369. Joach. Wach, Das Verstehen. Grundzüge e. Gesch. d. hermeneutischen Theorie im 19. Jh. 3 Bde. Tübingen 1926/29/31. Emil Ermatinger, Erklärung von Gedichten. Zs. f. Deutschkunde 44, 1930, S. 748762. S. 256: Fr. Schlegel, Prosaische Jugendschriften. Hrsg. von Minor. II, S. 306. S. 257: Hans R. G. Günther: Das Problem des Sichselbstverstehens. Berlin 1934. S. 39. |#f0644 : 620|

2. Die Wertung S. 258: M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 148. H. Gomperz: Über Sinn und Sinngebilde. Verstehen und Erklären. Tübingen 1929. S. 29 f., 36. Fr. Glaeser, Der pädagogische Aufbau des Verstehens. Neue Jbb. f. Wiss. und Jugendbildg. 6 (1930). S. 259: Stefan George zu Cyrill Scott: Neue Schweizer Rundschau. Dez. 1931. Herm. Ammann: Die menschliche Rede. Bd. 1, S. 51. Goethe zu Eckermann, 6. Mai 1827. S. 260: Fr. Schlegel, Prosaische Jugendschr.; hrsg. v. Minor. Bd. 2, S. 393. Über Rilkes Duineser Elegien: Heinrich Cämmerer. Stuttgart 1937. Arn. Trapp. Gießen 1933. Werner Wolf. Heidelberg 1937. H. Klein, Dichtg. u. Volkstum 40 (1938), S. 298314. Goethe an Heinrich Meyer: Otto Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse u. Excurse zu seiner Entstehungsgeschichte. Berlin 1899. S. 267, Nr. 900. S. 261: Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 16. Brief. Säk.- Ausg. 12, 60 ff. S. 263: Nic. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Berlin 1933. S. 425, 436. 3. Wandel der Werte S. 264: Imm. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Elementarlehre. 2. T. 1. Buch. 1. Abschn. Von den Ideen überhaupt. J. Petersen, Grimmelshausens „Teutscher Held“. Euph. Erg.-H. 17. (1924), S. 130. Ders., Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung. Stuttgart 1934. S. 207. S. 267: M. Heidegger, Sein und Zeit. S. 126 f. Sterne: Lessing an Nicolai, 5. Juli 1768. Ausg. von Lachmann-Muncker, Bd. 17, S. 255. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Akademie-Ausg. I, 11, S. 113. Goethes Maximen und Reflexionen. Schr. d. G. G. 21, S. 170. S. 268: Kolbenheyer, Die Bauhütte. München 1925, S. 296. Dagegen hat Rud. Kaßner (Narziß oder Mythus u. Einbildungskraft. Leipzig 1928, S. 99) noch den Tristram Shandy als ein wahrhaft ewiges Buch bezeichnet und erzählt, daß Houston Stewart Chamberlain das Buch jedes Jahr einmal gelesen habe. (Buch der Erinnerung, 1938, S. 153). S. 269: Mor. Enzinger, Grillparzers Gedichte und das bayrische Erbe. Euph. 23, S. 27187; 389407. Wilh. Pinder, Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas. Berlin 1926. S. 119. 4. Wertmaßstäbe S. 270: Erst nach Druck des Textes erschien das Buch von Leonh. Beriger, Die literarische Wertung (Halle 1938), das außer jenen ästhetischen Gesichtspunkten, die bei mir schon im dritten Hauptteil vorweggenommen sind, vier außerästhetische Kategorien der Wertung nebeneinanderstellt, nämlich die weltanschauliche, ethische, religiöse und nationale. Auf der anderen Seite sind entsprechend der Lehre Ermatingers, auf der B.s Buch beruht, Idee und Symbol als Hauptbegriffe der Literaturwissenschaft betrachtet. Ihnen entspricht in meiner Aufstellung Echtheit und |#f0645 : 621|

Sinnbildhaftigkeit, während die Weltanschauung sowohl unter den Gesichtspunkt der Echtheit als der Größe fällt. Es sind also in etwas anderer Anordnung dieselben Kategorien der Wertung beidemal vertreten. Eine wesentlich andere Aufstellung der „Normen der Poesie“ brachte Elster (Prinzipien d. Literaturwissenschaft Bd. 1. Halle 1897, S. 55 ff.). Die Normen der „Neuheit des Gefühlsgehaltes“ (Nr. 2), der „Abwechslung und der Kontraststeigerung“ (Nr. 3), der „Harmonie des Gefühlsgehaltes“ (Nr. 4) und der „poetischen Abtönung des Gefühls“ (Nr. 5) sind in unserem Schema unter der ästhetischen Echtheit zu suchen. Auch die drei Forderungen, die Rud. Lehmanns „Poetik“ (2. Aufl., München 1919, S. 71 ff.) aus der Intention des Dichters und ihrer Erfüllung herleitet, nämlich: 1. Stimmung, 2. innere Übereinstimmung und Widerspruchslosigkeit, 3. anschaulich bildende Kraft fallen unter den Gesichtspunkt der ästhetischen Echtheit, wenn man nicht die erste der Sinnbildhaftigkeit, die dritte der Größe zusprechen will. S. 271: Echtheit: deckt sich ungefähr mit dem Begriff des „Wirklichen“, den René König in die Wertmaßstäbe einer Künstlerästhetik, für die er normative Geltung beansprucht, einführen möchte. Ztschr. f. Ästh. u. allg. Kunstwiss. 27 (1933), S. 24. S. 274: Auch Kolbenheyer, der zu den Überwindern des Expressionismus zählen darf, gibt zu, daß „etliche seiner Vertreter ein Pathos zur Schau tragen konnten, das nicht unehrlich gewesen zu sein braucht“. (Bauhütte, S. 18.) S. 275: Hebbels Tagebücher, 29. März 1837. Bd. 1, S. 163. Ferd. Weinhandl, Üb. d. aufschließende Symbol. Berlin 1929. S. 276: Caroline, hrsg. v. Er. Schmidt, Leipzig, 1913, Bd. 2, S. 55. Z WE IT E S B U C H : D E R D IC H T E R E R S T E R H A U P T T E IL : D A S L E B E N 1. Grundsätzliches S. 277: Motto: Westöstlicher Divan. Buch des Sängers. Jub.-Ausg. Bd. 5. S. 13. Antinomie: E. Platzhoff-Lejeune, Werk und Persönlichkeit. Zu e. Theorie d. Biographie. Minden 1903. Dazu H. Leisegang, Die philosophische Biographie, Euph. 31 (1930), S. 32962. Th. Thienemann, Entscheidungen. Helicon 1 (1938), S. 83 ff. Mann und Werk: Harry Maync, Immermann. Der Mann und sein Werk im Rahmen der Zeit- und Literaturgeschichte. München 1920. Ders., D. v. Liliencron. Eine Charakteristik des Dichters und seiner Dichtungen. Berlin 1920. J. Huizinga, Wege der Kulturgeschichte. München 1930, S. 16. S. 278: Jos. Nadler: Die Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte. Euph. 21 (1914), S. 40 ff. Ben. Croce, Ariost, Shakespeare, Corneille. Dt. Übers. Leipzig 1922. S. 111. S. 279: Hebbel und Uhland: R. M. Werner, Hebbel. 2. Aufl. Berlin 1918. S. 97 f. Heinr. v. Kleist an Fouqué, 25. April 1811. Werke, hrsg. v. G. Minde-Pouet. Bd. 2, S. 259 f. Fr. Schlegel über Lessing: Prosaische Jugendschr. Hrsg. v. Minor. Bd. 2, S. 151. |#f0646 : 622|

S. 280: Dilthey, Ges. Schr. Bd. I, S. 33 f.; Bd. 7, S. 246. Pierre Audiat, La biographie de l'oeuvre littéraire. Paris 1924. E. Hennequin, La critique scientifique. Paris 1888. P. Lacombe, Introduction à l'histoire littéraire. Paris 1898. Paulhan, Psychologie de l'invention. 2. éd. Paris 1911. L. Paschal, Esthétique nouvelle fondée sur la psychologie du génie. 1910. S. 281: Wilh. Scherer: Erich Schmidt, Die literarische Persönlichkeit. Berliner Rektoratsrede 1909. S. 20. S. 282: E. G. Kolbenheyer: Die Bauhütte. S. 28. Rilke an Lou Andreas-Salomé 11. 8. 1903. Briefe aus den Jahren 190306. Leipzig 1930. S. 120. Kurt K. T. Wais: Das Motiv des Vergangenen in der neueren Literatur. Dt. Vjs. 10 (1932), S. 270334. 2. Ererbtes S. 284: W. Hellpach: Das fränkische Gesicht. Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss. Math.-naturwiss. Kl. Abt. B. 1921. Nr. 2. Ders., Zur Physiognomik der deutschen Volksstämme. Ebda. 1925. Ders., Dritte Mitteil. z. Statik u. Dynamik d. dt. Stammesphysiognomien. Ebda. 1931, Nr. 7. Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter. Berlin 1921. Rassisch geschaute Landschaften: H. F. K. Günther: Rasse und Stil. München 1926. S. 41. S. 286: Herm. Rollett: Die Goethe-Bildnisse biographisch-kunstgeschichtlich dargestellt. Wien 1883. Dazu Friedr. Zarncke, Abhandl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. 11. Leipzig 1888. Ders., Goethe-Schriften. Leipzig 1897. Ernst Schulte- Strathaus: Die Bildnisse Goethes. 1. Suppl. d. Propyläen-Ausg. München 1910. Otto v. Güntter: Friedr. Schiller. Sein Leben und seine Dichtungen. Mit 701 Abb. Leipzig 1925. Gust. Koennecke: Schiller. Eine Biographie in Bildern. Marburg 1905. Ders., Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. 2. Aufl. Marburg 1895. Dazu Gust. Roethe, Anz. f. dt. Altert. 26 (1908), S. 129. S. 287: H. Welcker: Schillers Schädel und Totenmaske. Nebst Mitteilungen über Schädel und Totenmaske Kants. Braunschweig 1883. Ders., Zur Kritik des Schiller-Schädels. Beitrag zur kraniologischen Diagnostik. Archiv f. Anthropologie 17, 19. Aug. v. Froriep: Der Schädel Friedrich von Schillers und des Dichters Begräbnisstätte. Leipzig 1913. A. v. Bradish, Schillers Schädel (Veröff. d. Verbandes dt. Schriftst. und Literaturfreunde in New York 2), Leipzig 1932. O. Hauser, Rasse und Kultur. Braunschweig 1924. S. 195. Günther: Rasse und Stil. S. 85. Kleists Maske: Jb. d. Kleist-Ges. 1 (1922), S. 67, 2 (1923), S. 9197, 9/10 (1928), S. 14961. Inzwischen sind zwei ausdrucksvollere Gemälde zum Vorschein gekommen, über deren Echtheit noch die Untersuchung schwebt. Das eine wird von Paul Hoffmann ohne Beglaubigung Gerh. v. Kügelgen zugeschrieben, während Hellm. Meyer an der Signatur eines unbekannten Malers Walbner festhält (D. A. Z. 19. Juni 1938, Nr. 281); Jb. d. Kleist-Ges. 1938/39. S. 288: W. Scheidt u. H. Wriede: Die Elbinsel Finkenwärder. München 1927. Wilh. Fehse: Wilhelm Raabe. Sein Leben und seine Werke. Braunschweig 1937. S. 3236. |#f0647 : 623|

S. 289: Siegfr. Kadner, Rasse und Humor. München 1936, S. 37, 59. A. Reibmayr: Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies. 2 Bde. München 1908. Ernst Kretschmer: Geniale Menschen. 2. Aufl. Berlin 1931, S. 71 f., 98 ff., 102 ff. Gust. Egli, E. T. A. Hoffmann. Ewigkeit und Endlichkeit in s. Werk. Wege z. Dichtung 2. Zürich und Leipzig 1927. Herm. Hoffmann, Charakterforschung und Vererbungslehre. Jb. d. Charakterologie 4 (1927), S. 345. S. 290: Bernh. Fehr, Die engl. Lit. d. 19. u. 20. Jh. Berlin-Neubabelsberg 1923, S. 171, 216 ff. Jos. Nadler, Rassenkunde, Volkskunde, Stammeskunde. Dichtung u. Volkstum 35 (1934), S. 14. Ders.: Die Berliner Romantik 18101814. Berlin 1921. Der gleiche Gedanke schon vorher bei Gust. Roethe, Romantiker des deutschen Nordostens. Jb. d. Freien Dt. Hochstifts. 1910. S. 14786. Jul. Petersen: Wesensbestimmung der deutschen Romantik. 1926. S. 18 ff. Kretschmer: vgl. Anm. zu S. 289. H. O. Burger, Die rassischen Kräfte im dt. Schrifttum. Zs. f. Deutschkunde 48, 1934, S. 462476. Edwin H. Zeydel: Ludwig Tieck. The German Romanticist. Princeton 1935, S. 3 f. H. Lüdeke, Dt. Lit. Ztg. 1938, Sp. 440. S. 291: H. St. Chamberlain, Goethe. München 1912, S. 691. O. v. Brentano di Tremezzo, Frankf. Bll. f. Familiengeschichte, Jb. 6 (1913). P. A. v. Brentano di Tremezzo, Stammreihen d. Br. mit Abriß d. Familiengeschichte. Bad Reichenhall 1933. Aug. Sauer, Epitymbion f. Heinr. Swoboda, Reichenberg 1927, S. 115. Fernand Baldensperger, La littérature, Création, succés, durée. Paris 1919. S. 150. Ludw. Finckh, Ahnenbüchlein. Stuttg. 1921. Ders., Der Ahnengarten. Stuttgart und Berlin 1922. Paul Ammann, Th. Fontane u. s. französ. Erbe. Euph. 21 (1914), S. 27087; 62353; 790815. Ursula Wiscott, Französische Wesenszüge in Th. Fontanes Persönlichkeit und Werk. Palaestra 213. Leipzig 1938. S. 292: Rob. Sommer: Goethe im Lichte der Vererbungslehre. Leipzig 1908. Nils Hansen: Ein Tropfen Türkenblut in Goethes Adern. Jb. d. Sammlg. Kippenberg 7 (1927/28), S. 30311. Walt. Rauschenberger: Goethes Charakter und Abstammung. Die Sonne 3 (1926), S. 41021. Ders., Goethes Abstammung und Rassenmerkmale. Leipzig o. J. (1932). J. A. v. Bradish, Goethe als Erbe seiner Ahnen, New York 1933. Ernst Lewy, Zur Sprache des alten Goethe. Berlin 1932. Ders., Die Sprache des alten Goethe und die Möglichkeit ihrer biologischen Fundamentierung. Zs. f. Sexualwiss. 17 (1939), S. 3642. Wenn wirklich an Zusammenhängen mit türkischer Sprachstruktur etwas wäre, so käme fast noch eher in Betracht, daß einer der Sprachlehrer des Knaben Goethe, Johann Gottlieb Scherbius, einen Türken zum Vater hatte. (El. Mentzel, Wolfg. u. Cornelia Goethes Lehrer, Leipzig 1909, S. 118 ff.) Karl Knetsch, Goethes Ahnen. Leipzig 1908. S. 38. Ders., Ahnentafel Johann Wolfgang Goethes. Leipzig 1932. Th. A. Schröder, Karl der Große Widukind Goethe. Goethe. Vierteljahresschr. d. Goethe-Ges. 1 (1936), S. 320. W. Tröge, Goethes Ahnentafel in landschaftlicher und ständischer Gliederung. Ebda. 2 (1937), S. 24459. |#f0648 : 624|

S. 293: Nadlers Litgesch. s. Anm. zu S. 43. Dazu die Kritiken von Lusser (Hochland 21, Heft 8), Korff (Zs. f. Deutschkde. 1920, S. 40108), J. Körner (Dt. Rundschau 180, S. 46668), O. Walzel (Zs. f. Bücherfreunde 1922, N. F. 14, S. 820) und die grundsätzlichen Erörterungen von Herm. Gumbel, Das Elsaß als „geistige“ Landschaft im Zeitraum vor der Reformation. Elsaß. Lothring. Jb. 7 (1928), S. 9 bis 35. Ders., Dichtung und Volkstum. In Ermatingers Philos. d. Litwiss. Berlin 1930. S. 4391. Franz Koch, Zur Begründung stammesgeschichtlicher Literaturgeschichte. Preuß. Jb. Nov. 1926. Ders., Stammeskundliche Literaturgeschichte. Dt. Vjs. 8 (1930), S. 14297. Walt. Muschg, Jos. Nadlers deutsche Literaturgeschichte. Sonderabdr. aus d. Basler Nachr. Nr. 359 vom 31. 12. 1937. Gis. v. Busse: Auch eine Geschichte des deutschen Volkes. Betrachtungen zu Nadlers Litgesch. Dt. Vjs. 16 (1938), S. 25892. Jos. Nadler: Die literarhistorischen Erkenntnismittel des Stammesproblems. Schr. d. Ges. f. Soziologie. Bd. 7 (1931), S. 24257. Ders., Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. München 1927. Ders.: Stamm und Landschaft in der deutschen Dichtung. Neophilologus 21 (1936), S. 8192. Ders., Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes. München 1934. S. 295: P. P. Albert: Die Schiller von Herdern. Freiburg 1905. Gottfr. Maier, Württemberg. Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. Jg. 1905. Rich. Weltrich, Friedrich Schiller. Stuttgart 1899. S. 16. Ders., Schillers Ahnen. E. familiengeschichtliche Untersuchung. Weimar 1907. Da sich die mütterliche Familie Kodweiß (Kottwitz) auf polnischen Ursprung zurückgeführt haben soll, wollte Rob. Sommer (Die Familie von Schillers Mutter, Bericht über den 2. Kurs mit Kongreß der Familienforschung, Vererbungs- und Regenerationslehre in Gießen 1912) einen slawischen Blutsanteil auch in der Physiognomie Schillers erkennen. Neuerdings hat Herm. Gumbel (Dt. Vjschr. 9, S. 514 ff.) das typisch Schwäbische herausgearbeitet. Er. Schmidt, Lessing. 4. Aufl. (Berlin 1923), Bd. 1, S. 4. A. Buchholtz, Die Geschichte der Familie Lessing. Bd. 1. Berlin 1909, S. 3 ff. J. Nadler, Litg. d. dt. Stämme u. Landsch. Bd. 2 (1913), S. 314. In der Neubarbeitung (Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Berlin 1938), Bd. 2, S. 66. S. 296: A. Sauer, Genealog. Studien (Anm. zu S. 291), S. 6. Kurt Gerlach, Begabung und Stammesherkunft im deutschen Volke. München 1929. Wilh. Karl Prinz von Isenburg, Genie und Landschaft im europäischen Raum. Berlin 1936. Willy Hellpach, Geopsyche. Leipzig 1935. (Die drei vorausgehenden Auflagen trugen den Titel: Die geopsychischen Erscheinungen. Wetter, Klima und Landschaft in ihrem Einfluß auf das Seelenleben.) S. 297: Paul Kammerer, Neuvererbung oder Vererbung erworbener Eigenschaften. Erbliche Belastung und Entlastung. Stuttgart 1924. Friedr. Gundolf, George. Berlin 1920. S. 38, 45. S. 298: Carus, Psyche. Kröners Taschenausgabe Bd. 98, S. 48, 161. Ewald Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. 2. Aufl. Wien 1876. Rich. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig 1904. Emil Lucka, Die Phantasie. Wien und Leipzig 1908. S. 46. Ludw. Klages, Grundlagen der Charakterkunde. 7. und 8. Aufl. Leipzig 1936. S. 64. Wilhelm Jordan, Andachten. Frankfurt a. M. 1877. S. 40. |#f0649 : 625|

W. Muschg, Gotthelf. S. 20. Konr. Eilers, Hermann Löns als Mensch und als Dichter. Jb. f. Charakterologie. Bd. 4 (1927). S. 387. Léon Paschal, Esthétique nouvelle fondée sur la psychologie du génie. Paris 1910. S. 110 f. Einen ähnlichen Ausspruch wie den Flauberts berichtet Sulp. Boissérée von Goethe: er habe gewiß schon einmal unter Kaiser Hadrian gelebt; alles Römische ziehe ihn unwillkürlich an. (11. Aug. 1815; v. Biedermann, Goethes Gespräche. 2. Aufl. Bd. 2, S. 325.) Fritz Lenz, Die Erblichkeit der geistigen Begabung. In: Menschliche Erblehre. Hrsg. von Baur, Fischer, Lenz. 3. Aufl. München 1927. S. 473, 477. Vgl. auch F. Galton, Hereditary Genius. London 1869. Dt. Ausg.: Genie und Vererbung. Leipzig 1910. Fr. Reinöhl, D. Vererbung d. geist. Begabung. München-Berlin 1937. Ludw. Schemann, Die Rasse in den Geisteswissenschaften. 3 Bde. München 192831. S. 299: Hermann Claudius, Matthias Claudius. Stuttgart 1938. Lulu v. Strauß und Torney, Vom Biedermeier zur Bismarckzeit. Jena 1933. Dies., Ihres Vaters Tochter, Berlin 1905. Viktor v. Strauß, Bilder und Töne aus der Zeit. I. Das Erbe der Väter. Bielefeld 1850. Zacharias Werner, Martin Luther oder die Weihe der Kraft. II, 1. Sämtl. Werke Bd. 6, S. 60. S. 300: Über Hebbels Herkunft: Erwin Freitag in der Zeitschr. „Dithmarschen“, Heide 1933, und in der „Ztschr. f. niedersächs. Familienkunde“, Hamburg 1939. Lessings Selbstbetrachtung. Werke, hrsg. von Petersen u. v. Olshausen. Bd. 25, S. 155. Jakob Grimm, Kl. Schriften I, S. 163. Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter. 4. Aufl. Berlin 1925. S. 185 ff. Ders., Geniale Menschen. 2. Aufl. S. 60. Dazu G. Ewald, Temperament und Charakter. Berlin 1924. S. 59 ff. Osw. Kroh, Experimentelle Beiträge zur Typenkunde. 14. Ergh. d. Zs. f. Psychologie. 1928. S. 301: E. R. Jaensch, Studien zur Psychologie menschl. Typen. Leipzig 1930, S. VIII. S. 302: W. Peters, Die Vererbung geistiger Eigenschaften und die psychische Konstitution. Leipzig 1915. Herm. Hoffmann, Vererbung und Seelenleben. Einführung in d. psychiatr. Konstitutions- und Vererbungslehre, Berlin 1922. Ders., Über Temperamentsvererbung. München 1923. Ders., Das Problem des Charakteraufbaus. Seine Gestaltung durch die erbbiolog. Persönlichkeitsanalyse. Berlin 1926. Gerh. Pfahler, System der Typenlehren. Leipzig 1929. Ders., Vererbung als Schicksal. Eine Charakterkunde. Leipzig 1932. Ders., Erbcharakterologie und Jaenschsche Integrationstypologie. Zs. f. Psychol. 128 (1933), S. 355390. O. Kroh, Psycholog. Vererbungsfragen. Psychologie d. Gemeinschaftslebens. Bericht über den 14. Kongreß d. Dt. Ges. für Psychologie. Jena 1935, S. 6591. S. 303: O. Feis, Studien üb. d. Genealogie u. Psychologie d. Musiker. Wiesbaden 1910. V. Haecker u. Th. Ziehen, Zur Vererbung u. Entwickl. d. musikal. Begabung. Leipzig 1923. J. A. Mjöen, Zur Erbanlage d. musikal. Begabung. Hereditas 7 (1925). H. Koch u. H. Mjöen, D. Erblichkeit d. Musikalität. Zschr. f. Psychol. 99 (1926), S. 1673; 121 (1931), S. 104306; 128 (1933), S. 241256. S. 304: Sab. Lepsius, Stefan George. Berlin 1935, S. 86. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille u. Vorstellung. Bd. 2. Kap. 43. Frauenstedts Ausgabe 2. Aufl. Bd. 3, S. 597 ff. Dazu Lenz a. a. O. S. 497. Sainte-Beuve: André Morize, Problems and methods of liteary history. Boston 1922, S. 217. |#f0650 : 626|

Hanns Wolfg. Rath, Regina, die schwäbische Geistesmutter. Ludwigsburg und Leipzig 1927. Dazu einschränkend Fr. Reinöhl, Die Vererbung d. geistigen Begabung. München und Berlin 1937, S. 80. Goethes Ahnen: vgl. Anm. z. S. 292. Untersuchung der Ahnentafel schweizerischer Dichter bei C. v. Behr-Pinnow, D. Vererbung bei d. Dichtern A. Bitzius, C. F. Meyer, G. Keller, Arch. d. Jul.- Klaus-Stiftung 10. Zürich 1935. Ina Seidel, Dichter, Volkstum und Sprache. Stuttgart und Berlin 1934, S. 83. Helm. v. Chézy, Unvergessenes. 2 Bde. Leipzig 1858. Wilh. v. Chézy, Helmina und ihre Söhne. Schaffhausen 1863. Familie Brentano: vgl. Anm. zu S. 291. S. 305: Goethe, Anm. zu Rameaus Neffe. Jub.-Ausg. 34, S. 195. Eckermann, 27. Jan. 1824. Christ. Morgenstern, Stufen. München 1918, S. 49. Genie und Krankheit: H. Baisch, Wahrsinn od. Wahnsinn des Genius? Sinn und Grenzen der pathograph. u. psychograph. Methodik i. d. Anthropologie des Genius. (Zschr. f. angewandte Psychol. u. Charakterkunde, Beiheft 85.) Diss. Bonn 1939. A. E. Hoche, Die Geisteskranken in der Dichtung. München 1919. 3. Lebensgang und Schicksal S. 306: W. Muschg in Ermatingers „Philosophie der Literaturwissesnchaft“, S. 305. S. 307: Zur Methodenlehre der Biographik vgl. Ludw. Stein, Biograph. Blätter, hrsg. v. A. Bettelheim I (1895), S. 2239. Rich. Weltrich, Schiller, Bd. 1 (Stuttgart 1899), S. 913. Sidney Lee, Principles of Biography. Cambridge 1911. Gust. Lansons Vorrede zu Hommes et livres, Paris 1895. Sainte-Beuve, Nouveaux lundis. Vol. III. Paris 1865. S. 15 ff. Wilh. Bode. Goethes Leben. Fortgeführt von Valerian Tornius. Berlin 1919 ff. Bode selbst war bei seinem 1923 erfolgten Tode bis zum 7. Bande gelangt. Der 1926 erschienene Band 9 reicht erst bis zum „Bund mit Schiller“. Chr. M. Wieland. Akademie-Ausg. I 21, S. 203. Flod. Frhr. von Biedermann, Goethes Gespräche. 2. Aufl. 5 Bde. Leipzig 1909. Ders., Chronik von Goethes Leben. Leipzig 1931. Ernst Müller, Regesten zu Friedrich Schillers Leben und Werken. Leipzig 1900. Schillers Persönlichkeit, hsg. von Max Hecker und Julius Petersen. 3 Bände. Weimar 19051910. S. 308: Benedetto Croce, Putignano in terra di Bari e il maestro d'Italiano di Volfango Goethe (Domenico Giovinazzi). Abdr. aus La Critica 35. Bari 1938. S. 309: E. Elster, Zu Heines Biographie. Vjschr. f. Litg. 3 (1891). S. 465508. K. Em. Franzos, Heines Geburtstag. Berlin 1900. Konr. Burdach, Walther v. d. Vogelweide. Bd. 1 (1900), S. 39, 55 ff. Edw. Schröder, Walthers Pelzrock. Nachr. d. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, Phil.-Hist. Kl. 1932, S. 260270. Gust. Könnecke, Quellen u. Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. 2 Bde., hsg. v. J. H. Scholte, Weimar 1926. Jul. Petersen, H. Jak. Chr. v. Grimmelshausen. In: Die großen Deutschen, hsg. v. W. Andreas und W. v. Scholz, Berlin 1935, S. 579605. Ders., Grimmelshausens Eltern. Mein Heimatland 25 (1938), S. 170 ff. |#f0651 : 627|

S. 311: Posthume Gesamtausgabe: J. H. Scholte, Probleme der Grimmelshausenforschung, Groningen 1912, S. 96 ff. Arth. Hübner, Wahrheit und Dichtung im Mittelalter. Sitzungsb. d. Preuß. Ak. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1933, S. 1026. Friedr. Neumann, Hohe Minne. Zs. f. Deutschk. 39 (1925), S. 8191. R. M. Meyer, Goethes Leben aus seinen Gedichten. Goethe-Jb. 28 (1907), S. 13438. S. 312: Breidenbach, Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers. Frankfurt und Leipzig 1775. Briefe an Merck: Alb. Köster, Goethe-Jb. 29 (1908), S. 58. F. Hunziker, Glattfelden und Gottfr. Kellers Grüner Heinrich. Zürich 1911. Muschg, Gotthelf. S. 28 ff. Ders., Dichterporträt (Ermatingers Philos. d. Litwiss.), S. 307. S. 313: Mor. Hartmann, Eine Vermutung. Freya. Stuttgart 1861, S. 105. Norb. v. Hellingrath, Hölderlin-Vermächtnis. München 1936, S. 176 ff. Wilh. Böhm, Hölderlin. Bd. 2 (Halle 1930). S. 651 f. Gust. Roethe, „Dichtung und Wahrheit“. Berichte des Freien Deutschen Hochstifts N. F. 17 (1901), S. 125. Karl Alt, Studien zur Entstehungsgeschichte von Goethes Dichtung und Wahrheit. München 1898; dazu A. Köster, Anz. f. dt. Altertum 1899, S. 68 f. Kurt Jahn, Goethes Dichtung u. Wahrheit. Vorgeschichte Entstehung Kritik Analyse. Halle 1908. Ders., Schemata zur Fortsetzung von Dichtung und Wahrheit. Goethe-Jb. 28 (1907), S. 619. S. 314: Jos. Bédier, Chateaubriand en Amérique. Revue de l'histoire litteraire de la France 1899/1900. S. 315: Wolfg. C. Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken. Berlin 1931, S. 18. Ruppiner Kreiskalender XI (1920), S. 46 f. Al. Brandl, Die Lehre vom dichterischen Erlebnis, angewendet auf die englische Literaturgeschichte. Sitzungsb. d. Preuß. Ak. d. Wiss. 1930, S. 286. V. Koskenniemi, Gaben des Glücks, S. 13. Gust. Flaubert, Oeuvres complètes. Bd. 9, S. 161. S. 316: Goethe, Ital. Reise, 19. Sept. 1786. Jub.-Ausg. 26, 55. Westöstl. Diwan, W. A. I, S. 218. Goethe, Wiederholte Spiegelungen, Jub.-Ausg. 25, 221 f. Maximen und Reflexionen, 391. Schr. d. G. Ges. 21, S. 76. S. 318: Novalis, Schriften, hrsg. v. P. Kluckhohn, Bd. 2, S. 299. Rilke, Stundenbuch. Ges. Werke, Bd. 2, S. 273. Ed. Berend, Jean Pauls Persönlichkeit. München 1913, S. 162. P. J. Moebius, Goethe. 1. Teil. Ausgew. Werke Bd. 2, Leipzig 1903, S. 209 bis 227. Herm. Swoboda, Das Siebenjahr. Untersuchungen ü. d. zeitl. Gesetzmäßigkeit des Menschenlebens. Bd. 1, Wien 1917, S. 317 ff. Wilh. Fließ, Zur Periodenlehre. Jena 1925. Ernst Kretschmer, Geniale Menschen. 2. Aufl. Berlin 1931, S. 113126. W. Hellpach, Geopsyche. 4. Aufl. Leipzig 1935, S. 18082. S. 319: Wiederholte Pubertät: Goethe zu Eckermann, 11. März 1828. Houbens Ausg., S. 538. Jean Paul, Titan, 20. und 23. Zykel. Ak. Ausg. I 8, S. 93. S. 320: Ludw. Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde. 7. und 8. Aufl. Leipzig 1936, S. 85. S. 322: Goethe, Allg. Betrachtungen zur Farbenlehre. Hist. Teil 5. Abt. W. A. II, 3, S. 244. |#f0652 : 628|

4. Anpassung und Beeinflussung S. 323: E. Dutoit, Die Theorie des Milieu. Bern 1899. Jul. Zeitler, Die Kunstphilosophie des H. Taine. Leipzig 1901. J. Wurm, Die Kunstanschauungen von Henri Beyle-Stendhal. Diss. Berlin 1918. Jakob Baron v. Uexküll, Bausteine zu einer biolog. Weltanschauung, hsg. v. Fel. Groß. München 1913. H. Petersen, D. Eigenwelt d. Menschen. Leipzig 1937. S. 324: Gerh. Pfahler, Warum Erziehung trotz Vererbung? Leipzig und Berlin 1935. G. Just, Vererbung, Umwelt, Erziehung. Berlin 1930. S. 326: Wilh. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906, S. 286. Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, Ak.-Ausg. II, 4, S. 82. Rud. G. Binding, Erlebtes Leben, S. 7. Karl Spitteler, Meine frühesten Erlebnisse. Jena 1914, S. 98 f. V. A. Koskenniemi, Gaben des Glücks. München 1938, S. 7. S. 327: Wilh. Fehse, Wilh. Raabe, S. 39 f. Ina Seidel, Dichter, Volkstum und Sprache, Stuttgart 1934, S. 192. Rud. Haym, Herder. Bd. 1 (Berlin 1877), S. 4. Rich. Weltrich, Schiller. Bd. 1 (Stuttgart 1899), S. 64. Theodor Fontane, Meine Kinderjahre, Ges. Werke II 2, S. 35, 113 f. E. R. und W. Jaensch, Üb. d. Verbreitung d. eidet. Anlage im Jugendalter. Zschr. f. Psychologie 87 (1921), S. 9196. E. R. Jaensch, Das Wesen der Kindheit und der eidetische Tatsachenkreis. Leipzig 1935. Al. Brandl, Walter Scott über sein dichterisches Schaffen. Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1925, S. 358. S. 328: Ed. Aug. Diller, Erinnerungen an G. E. Lessing, Meißen 1841. Danzel- Guhrauer, Lessing. 2. Aufl. Bd. 1, Berlin 1880, S. 108 f. Nach der Selbstbiographie von Rochlitz. Kretschmer, Geniale Menschen, S. 50 f. S. 329: Jak. Minor, Zwei Schulhefte Schillers. Zschr. f. östr. Gymn. 39 (1889), S. 105772. Reinh. Buchwald, Schiller. Bd. 1. Leipzig 1937. S. 330: Hebbel, Tagebücher. 1323. Werners Ausgabe I, 279 f. Über die Theorie der Einflüsse und Abhängigkeiten gibt es ein polnisches Buch, das ich nur im Auszug kenne: Waclaw Borowy, O wplywach i zaleznosiach w literaturze. Krakow 1921. Grundsätzliches über die Frage der Einflüsse bei Walzel, Gehalt und Gestalt, S. 46 ff. und Rothacker, Geschichtsphilosophie (München 1934), S. 31 f. Vgl. auch Jul. Petersen, Heinr. v. Kleist und Torquato Tasso. Eine Studie über literar. Einfluß. Zschr. f. dt. Unterricht 31 (1917), S. 27389; 33759. S. 332: Ludw. Tieck, Briefe über Shakespeare. Poet. Journal 1800. Wiederh.: Krit. Schriften. Leipzig 1848. Bd. 1, S. 141. S. 333: An Ulrike v. Kleist 5. Okt. 1803. Werke, hrsg. von Minde-Pouet 2, S. 110. Goethe, Westöstl. Diwan. W. A. I 6, S. 31. Grillparzer, Libussa. V. 1680 f. S. 334: Entlehnung und Plagiat: Emil Lucka, Die Phantasie. S. 49. Elise v. Keudell, Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Hrsg. von W. Deetjen. Weimar 1931. Karl Bulling, Goethe als Erneuerer und Benutzer der Jenaischen Bibliotheken. Jena 1932. |#f0653 : 629|

S. 335: Rob. Boxberger, Schillers Lektüre. Schnorrs Arch. f. Litgesch. Bd. 2 (1871), S. 198216. Wilh. Brandes, Mitteil. d. Raabe-Ges. 1913, S. 33 ff.; 1924, S. 89 ff. K. Goedeke, Die Büchersamml. d. Hans Sachs. Schnorrs Arch. f. Litgesch. Bd. 7 (1877), S. 16. Danach: Hans Sachs, Werke. Hrsg. von Keller-Götze. Bd. 26, S. 15256. Schillers Bibliothek. Mit einem Faksimile aus seinen eigenen Bücherverzeichnissen. Berlin 1859. Alfr. Meißner, Die Bibliothek Fr. v. Schillers. Bll. f. lit. Unterhaltung 1870, Nr. 41. Alb. Köster, Schillers Handbibliothek. Zs. f. Bücherfreunde 9 (1905), S. 6267. N. Immendörfer, J. G. Hamann u. s. Bücherei. Königsberg 1938. Romantikerbibliotheken: Bücherliste Friedrich v. Hardenbergs: Novalis Schriften, hrsg. v. Paul Kluckhohn, Bd. 4. Leipzig o. J., S. 471 ff. Über die Auktionskataloge verdanke ich folgende Auskünfte der Freundlichkeit von Bibliothekar Dr. Wieland Schmidt: Verzeichniß einer sehr reichen Sammlung von Handschriften und alten Drucken zur Geschichte der deutschen, französischen, spanischen, holländischen und englischen romantischen Dichtkunst gehörig ... Berlin 1819. Ein Exemplar der Preußischen Staatsbibliothek (8° Ap 2701a) enthält die Eintragung: „BrentanoPreiscatalog. Die aus dieser Bibliothek in die Naglersche übergegangenen Exemplare befinden sich nunmehr zum Theil in der Königlichen Bibliothek. 1. Apr. 1837. Fr.“ Tabulae librorum e bibliotheca defuncti Schleiermacher derelictorum qui a. d. XII. Calend. April, a. MDCCCXXXVI ... per D. Rauch, Berolini in vico Sagittario n. X ... sub hasta vendendi prostant. Berolini MDCCCXXXV. Katalog der von Aug. Wilh. von Schlegel nachgelaßenen Büchersammlung, welche Montag den 1ten Dezember 1845 und an den folgenden Tagen Abends 5 Uhr präcise bei J. M. Heberle in Bonn öffentlich versteigert und dem Letztbietenden gegen gleich baare Zahlung verabfolgt wird. Nebst einem chronologischen Verzeichnisse sämmtlicher von dem verstorbenen Prof. Aug. Wilh. von Schlegel verfaßten und herausgegebenen Druckschriften. XXX, 107 S. Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck qui sera vendue à Berlin le 10 décembre 1849 et jours suivants par MM. A. Asher & Comp. Berlin 1849. 362 S. (Sign. 8° Ap 25761.) Verzeichnisse von Büchern aller Fächer, Kupferstichen und Musicalien aus dem Nachlasse von Geheimen Rath von Schelling ... [u. a.] Berlin 1855. 110 S. (Sign. 8° Ap. 6 vol. 6 no. 2.) H. R. D. Anders, Shakespeare's Books. Schr. d. dt. Shakespeare-Ges. Bd. 1, Berlin 1904. J. H. Scholte, Zonagri Discurs von Waarsagern. Verh. d. Kkl. Akad. van Wetenschappen te Amsterdam. 1921. Z WE IT E R H A U P T T E IL : S E E L E N L E B E N 1. Eindrucksfähigkeit S. 337: Motto: Hebbel, Der Diamant. Prolog V. 6370. Werners Ausg. I, S. 303. Schiller an Goethe 17. Jan. 1795; ähnlich am 27. März 1801: „der vollkommene Dichter spricht das Ganze der Menschheit aus“. Hebbel, Tagebücher Nr. 5321 vom 30. Juli. Werners Ausg. IV, S. 35. |#f0654 : 630|

S. 338: Christ. Morgenstern, Stufen. S. 31. Marcel Proust: E. R. Curtius, Die Literatur, 27 (1924), S. 8. S. 339: Sören Kierkegaard, Entweder-Oder. Diederichs'sche Ausgabe Bd. 1 (Jena 1911), S. 3. Al. Brandl, Zur Psychologie des Dichtens bei Burns. Sitzungsber. d. Preuß. Ak. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1923, S. 144. Wolfg. Kayser, Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Palaestra 179. Leipzig 1932. Käthe Harnisch, Deutsche Malererzählungen. Die Art des Sehens bei Heinse, Tieck, Hoffmann, Stifter und Keller. Berlin 1938. S. 340: Kleist an Wilhelmine v. Zenge 19. Sept. 1800; an Adolfine v. Werdeck 28. u. 29. Juli 1801, Werke, hrsg. v. Minde-Pouet 2. Aufl. Bd. 1, S. 140; Bd. 2, S. 38. S. 341: Kleist an Wilhelmine v. Zenge 29. Nov. 1800, Werke Bd. 1, S. 185. Rich. Müller-Freienfels, Persönlichkeit u. Weltanschauung. Leipzig 1919, S. 191 ff. Ludwig Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, 7. u. 8. Aufl. Leipzig 1936, S. 219 f. Melch. Palagyi, Naturphilosophische Vorlesungen über die Grundprobleme des Bewußtseins und des Lebens. Charlottenburg 1908, S. 130 ff., bes. S. 171. Raymond Dodge, Die motorischen Wortvorstellungen. Abh. z. Philos. u. Geschichte 8. Halle 1896. Th. Ribot, La vie inconsciente et les mouvements. Paris 1914. Nuel, La Vision. Paris 1904. E. W. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit u. d. Vorstellungsverlaufes. Zschr. f. Psychologie. Ergbd. 5 (Leipzig 1911), S. 9 ff. S. 342: Schillers Persönlichkeit (vgl. Anm. zu S. 351). Kleists Gespräche, hrsg. v. Biedermann. Leipzig 1912, S. 12226. Kleist an Wieland 17. Dez. 1807. Werke, hrsg. v. Minde-Pouet Bd. 2, S. 192. Herb. A. Frenzel, Eberhard Wolfgang Möller. München 1938, S. 22 f. Walter v. Molo, Dichterische Konzeption. Jb. d. Sektion f. Dichtkunst bei d. Preuß. Ak. d. Künste, Berlin 1929, S. 194 ff. Wiederh.: Zwischen Tag und Traum. Ges. Reden und Aufsätze 1930, S. 108 ff. S. 343: Ottmar Rutz, Sprache, Gesang und Körperhaltung. 2. Aufl. München 1922. Gust. Becking, D. musikal. Rhythmus als Erkenntnisquelle. Augsburg 1928, S. 82 ff. Ed. Sievers, Über ein neues Hilfsmittel philolog. Kritik. Rhythm.-melod. Studien. Heidelberg 1912, S. 78111. Ludw. Ferd. Clauß, Rasse und Charakter. Teil 1. Das lebendige Antlitz. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1938. Ders., Rasse und Seele. E. Einführung in d. Sinn d. leibl. Gestalt. 3. Aufl. München 1934. S. 344: Psychographisches Schema: Zs. f. angewandte Psychologie 3 (1909), S. 163215. Danach Paul Margis, Das Problem u. d. Methoden d. Psychographie. Ebda. 5 (1911), S. 409 ff. Ders., E. T. A. Hoffmann. Eine psychographische Individualanalyse. Leipzig 1911. Ludw. Lewin, Beitrag z. e. Hebbel-Psychogramm. Würzb. Diss. Naumburg 1913. K. Groos, D. ästhet. Miterleben u. d. Empfindungen aus d. Körperinnern. Zs. f. Ästh. u. allg. Kunstwiss. 4 (1909), S. 161182. K. u. M. Groos, D. akust. Phänomene i. d. Lyrik Schillers, ebda. 5 (1910), S. 545570. L. Franck, Statist. Unters. üb. d. Verwend. d. Farben i. d. Dichtungen Goethes. Diss. Gießen 1909. W. Moog, D. Verhältn. v. Natur u. Ich in Goethes Lyrik. Diss. Gießen 1909. M. Katz, D. Schilderung d. musikal. Eindrucks bei Schumann, Hoffmann u. Tieck. |#f0655 : 631|

Diss. Gießen 1910. W. Steinert, L. Tieck u. d. Farbenempfinden d. romant. Dichtung. Dortmund 1910. E. Elster, Prinzipien d. Literaturwiss. Bd. 2 (Halle 1911), S. 63 ff. S. 345: Osw. Külpe, Versuche üb. Abstraktion. Bericht üb. d. ersten Kongreß f. experimentelle Psychologie. Leipzig 1904, S. 5668. Rob. Scholl, Untersuchung. üb. teilinhaltl. Beachtung von Farben und Formen bei Erwachsenen und Kindern. Zschr. f. Psychologie 101 (1926), S. 225320. Gerhard Pfahler, System der Typenlehren. Leipzig 2. Aufl. 1936, S. 110126. Ders., Erbcharakterkunde, Gestaltpsychologie und Integrationstypologie, Beiheft 73 zur Zschr. f. angew. Psychol. u. Charakterkunde. Leipzig 1937. Darin zwei Schülerarbeiten: Gerda Ostermeyer, Gestaltpsychologie und Erbcharakterkunde, S. 1148. Franz Lotz, Integrationstypologie u. Erbcharakterkunde, S. 149253. K. Rau, Untersuchungen zur Rassenpsychologie nach typologischer Methode. Marb. Diss. 1935. E. R. Jaensch, Die Eidetik u. d. typolog. Forschungsmethode. Leipzig 1925. Vgl. auch Anm. zu S. 327. S. 346: Oswald Kroh, Eidetiker unter deutschen Dichtern. Zschr. f. Psychologie Bd. 85 (1920), S. 118162. Goethe, Das Sehen in subjektiver Hinsicht. Naturwiss. Schr., hrsg. v. R. Steiner, IV, 2, S. 317. Al. Brandl. Zum dichterischen Vorstellungsleben bei Wordsworth. Sitzungsberichte d. Berl. Ak. d. Wiss. 1922, S. 154 f. G. Hensel, D. Optische b. Wordsworth. Arch. f. d. ges. Psychologie 1930. E. R. Jaensch, Studien zur Psychologie menschl. Typen. Leipzig 1930, S. 451 ff., 489 ff. S. 347: A. v. Behr, Der Typenkonflikt in den Romanen Th. Hardys. Diss. Marburg 1936. Berth. Leineweber, Empirisch-psychologische Beiträge zur Typologie d. dichterischen Schaffens. Langensalza 1929. Eva Langner, Form- und Farbbeachtung und psychologische Konstitution bei zeitgenössischen Dichtern. Diss. Greifswald 1936. Zeitschr. f. menschl. Vererbungs- und Konstitutionslehre Bd. 20, S. 93147. S. 349: Carl Gust. Jung, Psychologische Typen. 7. Tausend. Zürich und Leipzig 1937, S. 98 ff., 670 ff. J. Corrie, Jungs Psychologie. Zürich 1929. Heinr. Meng, Naive und sentimentale Dichtung. Prolegomena zu e. Typologie d. Dichterischen. Wege z. Dichtung 25. Frauenfeld u. Leipzig 1936. Er. Rothacker, Geschichtsphilosophie. München und Berlin 1934, S. 140. E. R. Jaensch, Vorfragen zur Philosophie d. Wirklichen. Leipzig 1931, S. 82. Schiller an Goethe 31. Aug. 1794. Goethe an Schiller 6. Jan. 1798. Briefwechsel, hrsg. v. Gräf und Leitzmann, Leipzig 1912, Bd. 1, S. 11 Bd. 2, S. 7. S. 350: Goethe, Noch ein Wort für junge Dichter. Jub.-Ausg. 38, 325. Eckermanns Gespräche, 26. Febr. 1824. Houbens Ausgabe S. 76 f. Antizipation: Jul. Petersen, Goethe als Gestalter. Berlin 1932. S. 26 ff. Wiederholt: Erlebnis und Gelegenheit in Goethes Dichtung. Goethe. Vjschr. d. Goethe-Ges. 1 (1936), S. 12 ff. Goethe, Tag- und Jahreshefte, Jub.-Ausg. 30, 3. Friedrich Nietzsche, Morgenröte, 254, Werke 4, 231. Taschenausgabe 5, 231. S. 351: E. Ermatinger, Gottfried Kellers Leben. Stuttgart u. Berlin 1915, S. 23. |#f0656 : 632|

S. 352: O. F. Walzel, Leben, Erleben und Dichten. Leipzig 1912. Ad. Koelsch, Das Erleben. Berlin 1919. S. 353: Wilh. Dilthey, Über die Einbildungskraft der Dichter. Zschr. f. Völkerpsychologie 10 (1877), S. 42 ff. Übergegangen in den Aufsatz „Goethe und die dichterische Phantasie“. Erlebnis und Dichtung. 5. Aufl. Leipzig 1916, S. 75158 ff. Ders., Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik. Festschr. f. Zeller. Leipzig 1887, S. 304482. Wiederholt Ges. Schr. 6 (1924), S. 103241. S. 354: Otto Ludwig, Studien, hrsg. v. Adolf Stern. Bd. 1, Leipzig 1891, S. 320. S. 355: Trendelenburg, Über den letzten Unterschied der philosoph. Systeme. Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1847, wiederh. Hist. Beiträge zur Philosophie II (1855), S. 130. Vgl. Joach. Wach, Die Typenlehre Trendelenburgs und ihr Einfluß auf Dilthey. Philosophie und Geschichte, Heft 11. Tübingen 1926. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern, zusgest. v. Clara Misch. Leipzig 1933, S. 3 ff. Überblick über die Typenlehren bei O. Selz. Über Persönlichkeitstypen und die Methode ihrer Bestimmung. Jena 1924. Gerh. Pfahler, System der Typenlehren. Leipzig 1929. Wilh. Dilthey, Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Arch. f. Gesch. d. Philos. Bd. 11 (1898), S. 557 ff.; wiederh. Ges. Schr. Bd. 4, S. 528 ff. Ders., D. entwicklungsgesch. Pantheismus nach seinen Zusammenhängen mit den älteren pantheist. Systemen. Ges. Schr. Bd. 2, S. 312 ff. Ders., Das Wesen der Philosophie. Ges. Schr. Bd. 5, S. 402 ff. Ders., Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. Weltanschauung, Philosophie und Religion, hrsg. v. Max Frischeisen-Köhler. Berlin 1911, S. 351; wiederh. u. durch Vorarbeiten ergänzt: Ges. Schr. 8 (1931), S. 75 bis 170, 243255. S. 356: Hans Leisegang, Denkformen, Berlin 1928: S. 293 ff., 336. Herm. Nohl, Die ästhetische Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1935. S. 126. Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. München und Berlin 1926. S. 36 ff. S. 357: Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919. S. 124. Rich. Müller-Freienfels, Persönlichkeit u. Weltanschauung. Berlin 1919. S. 100 ff. Ed. Spranger, Lebensformen, Geisteswissenschaftl. Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. 2. Aufl. Halle 1921. S. 149 ff. Ed. Wechssler, Üb. d. Beziehung v. Weltanschauung u. Kunstschaffen. Marburg 1911. Dagegen R. Buchwald, Die Weltanschauung im Kunstwerk. Germ. Rom. Monatsschr. 5 (1913). S. 41725. S. 358: Friedr. Gundolf, Goethe. 3. Aufl. Berlin 1917. S. 20 f., 27 ff. S. 361: Emil Ermatinger, Das dichterische Kunstwerk. Leipzig und Berlin 1921. S. 7097. S. 362: Rich. Müller-Freienfels, Charakter u. Erlebnis. Jb. d. Charakterologie 2/3 (1926). S. 2143. S. 364: Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie, München u. Berlin 1934, S. 140. S. 365: Fausse reconnaissance: O. Fischer, Eine psychologische Grundlage des Wiederkunftsgedankens, Zschr. f. angewandte Psychologie 5 (1911). E. Bernard- Leroy, L'illusion de la fausse reconnaissance, 1898, S. 417. S. 366: Antizipation, vgl. Anm. z. S. 350. |#f0657 : 633|

S. 367: Jean Paul, Selbsterlebensbeschreibung. Ak.-Ausg. II, 4, S. 92. Vgl. auch das Kap. „Ichfindung“ bei Rob. Heiß, Die Lehre vom Charakter. Berlin 1936. S. 146 ff. Arthur Kutscher, Das Naturgefühl in Goethes Lyrik. Leipzig 1906. S. 48 f. Hugo Bieber, Goethe im 20. Jahrhundert, 1932. S. 75 f. S. 368: Hamann, Gedanken über meinen Lebenslauf. Schriften, hrsg. v. Roth I, 213. E. T. A. Hoffmanns Tagebücher u. literar. Entwürfe, hrsg. v. H. v. Müller, Berlin 1915. Bd. 1, S. 149. Walter Harich, E. T. A. Hoffmann, Berlin 1920. Bd. 1, S. 164. S. 369: Rud. Schlösser, August Graf v. Platen. München 1910. Bd. 1, S. 585. Th. Schultz, Platens Venedig-Erlebnis. Berlin 1940. = German. Stud., 227. Rud. G. Binding, Erlebtes Leben. Frankfurt/Main 1928. S. 163 ff. Anton Mayer, Der Göttergleiche. Potsdam 1939. S. 370: Goethe an Katharina Fabricius (?) 27. Juni 1770. W. A. IV, 1, S. 235 f. S. 371: Conr. Ferd. Meyers „Schlacht der Bäume“: Max Nußberger, Die künstlerische Phantasie in der Formgebung der Dichtkunst, Malerei und Musik. München 1935, S. 365 ff. Goethe, Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort (1823). Jub.-Ausg. 40, 49 f. S. 373: Er. Rothacker. Geschichtsphilosophie, S. 37 ff., 84 ff. Ders., Kulturen als Lebensstile. Zschr. f. dt. Bildung 10 (1934), S. 177 ff. S. 374: Ludw. Ferd. Clauß, Rasse und Seele. Eine Einführung in den Sinn der leiblichen Gestalt 14.19. Tausend. München 1934. S. 13 ff., 129. Ders., Die nordische Seele. Eine Einführung in die Rassenseelenkunde. München 1933. S. 44 ff. 60, 129. Ders., Die germanische Seele. Ein psycho-anthropologischer Streifzug. Bericht d. 13. Psychol. Kongresses. Leipzig 1933. Ders., Rassenseelenforschung im tägl. Leben. Berlin 1934. Ders., Rasse u. Charakter, Frankfurt am Main 1938. W. Prinz zu Lippe, Angewandte Rassenseelenkunde. Leipzig 1931. J. Brake, Der Forschungsstand der Rassenpsychologie. Die Erziehung 10 (1935). S. 136. Ed. Ortner, Biologische Typen des Menschen und ihr Verhältnis zu Rasse und Wert. Leipzig 1937. S. 375: H. F. K. Günther, Rassenkunde d. dt. Volkes, 17. Aufl. München 1933. Ders., Der nordische Gedanke unter d. Deutschen. 2. Aufl. München 1927. Ders., Rassenkunde d. jüdischen Volkes. 2. Aufl. München 1930. S. 376: Egon Frh. v. Eickstedt, Rassenkunde u. Rassengeschichte d. Menschheit. Stuttgart 1933. Ders., Grundlagen d. Rassenpsychologie. Stuttgart 1936. Ders., D. rassischen Grundlagen d. dt. Volkstums. Köln 1934. Fr. Lenz, Die seelischen Unterschiede d. großen Rassen in Baur-Fischer-Lenz, Menschl. Erblichkeitslehre. Bd. 1 (München 1930/33), S. 519 ff. Rud. Kaßner, Das physiognomische Weltbild, München 1930. S. 43, 173. Ders., Physiognomik. München 1912. Gautypen: v. Eickstedt, Rassenkunde u. Rassengeschichte d. Menschheit, Stuttgart 1933, S. 23 ff. A. Haberlandt, Volkscharakter u. Rassenpsychologie. Wiener Zschr. f. Volkskunde 36 (1931), S. 5765. Wilh. Wundt, Die Nationen und ihre Philosophie. Leipzig 1915. |#f0658 : 634|

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Beschwörungen und Hocus pocus, um die Gestalten gleichzeitiger Helden und Lumpen in Nachahmung der Hexe zu Endor wenigstens bis an den Gürtel aus dem Grabe zu nöthigen.“ W. A. IV, 4. S. 229. S. 392: Balzac: Dilthey, Ges. Schr. 6, 133. Flaubert an Taine. L'intelligence II, 1. Daudets und Goncourts Zweifel bei A. Binet und J. Passy, Auteurs dramatiques. L'année psychologique I (1895), S. 96, 110, 115. S. 393: Otto Ludwigs Werke, hrsg. v. Er. Schmidt und Ad. Stern, Bd. 6, S. 215 bis 221. Zweifel an der Zuverlässigkeit der Selbstbeobachtung bei Rud. Lehmann, Poetik. 2. Aufl. München 1929. S. 27 ff. Gust. Freytag, Ges. Aufsätze. Bd. 2. S. 59. S. 394: Emil Kuh, Biographie Friedr. Hebbels. Bd. 2. S. 654. Erfindung: Goethe, Sprüche in Prosa 903. Schr. d. G. G. 21. S. 122. Goethe zu Eckermann 11. März 1828; in einem früheren Gespräch vom 18. Sept. 1823 warnte Goethe die jungen Dichter vor eigenen großen Erfindungen, weil ihre Ansicht der Dinge dazu nicht reif sei. S. 395: Herder bei Besprechung von Klopstocks Oden i. d. Allg. Dt. Bibl., 1773. Suphan V, 359. Goethe zu Eckermann 18. Febr. 1825, 19. Febr. 1829. S. 396: Heinr. v. Kleist, Werke, hrsg. v. Minde-Pouet, Bd. 2, S. 170. Nik. Lenau an Anton Schurz 4. Juni 1844. Werke, hrsg. v. Castle, Bd. 5, S. 189. Gottfr. Keller, Der grüne Heinrich. Bd. 1, S. 215. S. 397: Novalis Schriften, hrsg. v. Kluckhohn. Bd. 1, S. 184. F. Paulhan, vgl. Anm. zu S. 318. S. 398: Frederick Clarke Prescott, The poetic mind, New York 1922. Charl. Bühler, Erfindung und Entdeckung. Zschr. f. Ästh. u. Kunstwiss. 15, 43 ff. Fr. Th. Vischer, Ästhetik § 390. 2. Aufl. Bd. 2, S. 393 ff. Wilh. Dilthey, Ges. Schr. 6. S. 179. S. 399: Arth. Schopenhauer, Parerga Bd. 1. Frauenstädts Ausgabe 5, 244 ff. C. A. Scherner, Das Leben des Traumes. Berlin 1861. Joh. Volkelt, Die Traum-Phantasie. Stuttgart 1875. Ders., System d. Ästhetik. Bd. 3 (München 1914). S. 83 ff., 151 ff. S. 400: Fr. Deutecke, Traum und Mythus. Leipzig und Wien 1908. Otto Rank, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Leipzig und Wien 1912. 2. Aufl. 1926. Ders., Der Künstler und andere Beiträge zur Psychologie des dichterischen Schaffens. 4. Aufl. Leipzig, Wien, Zürich 1925. Wilh. Stekel, Dichtung und Neurose. Bausteine zur Psychologie des Künstlers und des Kunstwerkes. Wiesbaden 1909. Ders., Die Sprache des Traumes. Wiesbaden 1911. Ders., Die Träume der Dichter. Wiesbaden 1913. Ders., Fortschritte der Technik der Traumdeutung. Wien 1935. Olga Brand, Traum und Wirklichkeit bei Hugo v. Hofmannsthal. Diss. Münster 1932. Ilse Weidekampf, Traum und Wirklichkeit in der Romantik und bei Heine. Leipzig 1932. = Palaestra 182. M. Vold, Über den Traum, hrsg. v. Klemm. 2 Bde. 1910/12. P. Köhler, Beiträge z. systemat. Traumbeobachtungen, Arch. f. d. Ges. Psychologie 23 (1912). S. 41583. |#f0661 : 637|

Havelock Ellis, The world of dreams. London 1911. F. C. Prescott, Poetry and dreams. New York 1912. Rud. Unger, „Traumland“ u. Dichtung bei Isolde Kurz. Festschr. f. Petersen. Leipzig 1938. S. 194218. Wilh. Raabe, Das Odfeld. Kap. 10. Friedr. Hebbel, Tagebücher, hrsg. v. Werner I, 238. 360. III, 241. IV, 65, 295, 300, 347. VI, 2023. S. 401: Bernh. Fehr, D. engl. Lit. d. 19. und 20. Jh., S. 28. Charl. Bühler, Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Zschr. f angewandte Psychol. 1918. Beiheft 17. Georg Jacob, Märchen und Traum. Hannover 1923. S. 402: Petrarca: Goethes Dichtung und Wahrheit 16. Buch. Jub.-Ausg. 25, S. 16. Voltaire: Jean Paul, Nachlaß 2 (1837), S. 92. Ähnliches erzählte Goethe von Basedow, D. u. W., 14. Buch. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten 4, 167 f. Mörike, Schön Rothraut: Auf der Urschrift steht: „am frühen Morgen des 31. März 1838 zwischen Schlafen und Wachen entstanden.“ In Widerspruch dazu steht Mörikes briefliche Darstellung (II, 330): „ich stieß einmal es war in Cleversulzbach zufällig in einem Fremdwörterbuch auf den mir bis dahin ganz unbekannten Frauennamen. Er leuchtete mich an wie in einer Rosenglut, und schon war auch die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt, trat ich aus dem Zimmer zu ebener Erde in den Garten hinaus, ging einmal den Weg bis zur hintersten Laube hinunter und hatte das Gedicht erfunden, fast gleichzeitig damit das Versmaß und die ersten Zeilen, worauf die Ausführung auch wie von selbst erfolgte.“ Vgl. K. Fischer, Mörike. Berlin 1901. S. 140, 237. S. 403: W. Dilthey, Ges. Schr. 6, 147 ff. E. Elster, Prinzipien d. Literaturwissenschaft, Bd. 1. S. 161 ff. D R IT T E R H A U P T T E IL : D E R S C H A F F E N S V OR GA N G 1. Lösung von der Wirklichkeit S. 407: Motto: Ed. Spranger, W. v. Humboldt u. d. Humanitätsidee, S. 388. Wilh. Dilthey, Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn. Ges. Schr. 6, 90 ff. Al. Brandl, Die Lehre vom dichterischen Erlebnis, angewendet auf die englische Literaturgeschichte. Sitz.-Ber. d. Preuß. Ak. d. Wiss. 1930. S. 281. Samuel Johnson, Life of Savage, London 1744. Vgl. auch Anm. zu S. 24. S. 408: Schiller, Kritik von Bürgers Gedichten. Säk.-Ausg. 16, 239. S. 409: Al. Riehl, Bemerkungen über das Problem der Form in der Dichtkunst. Vjschr. f. wiss. Philosophie. Bd. 21 (1897). S. 283/306. Bd. 22 (1898). S. 96/114. Jean Paul: Ak. Ausg. I, 11, S. 48. Novalis: Kluckhohns Ausgabe Bd. 1. S. 184. Annette v. Droste-Hülshoff, Biogr. v. Kreiten I, 326. Rilke: Kath. Kippenberg, R. M. Rilke. Ein Beitrag. Leipzig 1935. S. 139. Rilkes Brief vom 5. Sept. 1902 an Clara Rilke: Briefe 190206. S. 36. Neue Ausgabe: Briefe 18921904. S. 261. Hugo v. Hofmannsthal, Über Charaktere im Roman und im Drama. Ges. Pros. Schriften. Berlin 1914. Bd. 2. S. 173 ff. S. 411: Fr. Hebbel. Tagebücher II, 133. |#f0662 : 638|

2. Produktive Stimmung und Konzeption Journal des Goncourt II, 35. Schiller an Körner 25. Mai 1792, an Goethe 18. März 1796. Fr. Leop. Graf zu Stolberg, Vom Dichten und Darstellen. Deutsches Museum 1780. Ges. Werke 10, 375. S. 412: Th. Ribot, Essai sur l'imagination créatrice. Paris 1908. S. 281 f. S. 413: Heinr. Gelzer, Zum Problem „Erlebnis und Dichtung“. Arch f. d. Stud. d. neueren Sprachen und Literaturen. Bd. 143 (1922), S. 7986. Produktive Stimmung: Ed. v. Hartmann, System d. Philos. im Grundriß. VIII (1909). S. 174 ff. R. Müller-Freienfels, Psychologie d. Kunst II. 2. Aufl. (1923). S. 134 ff., 215. J. Körner in Merker-Stammler, Reallex. II. 130 f. Artikel „Konzeption“. W. Wickberg, Die künstlerische Konzeption. In: Wissen und Denken. Feststr. z. J. Rehmkes 75. Geburtstag. 1923. S. 160 ff. Hebbel, Tagebücher IV, 87. Annette v. Droste-Hülshoff an Levin Schücking 4. Mai 1842. Briefwechsel, hrsg. v. Muschler. 3. Aufl. (Leipzig 1928). S. 50. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Taschenausg. Bd. 11. S. 348. 350. S. 414: R. Hennig, Das Wesen der Inspiration (Schr. d. Ges. f. psycholog. Forschung) 1912. S. 416: Rilke, Brief an Fürstin Marie v. Thurn und Taxis-Hohenlohe vom 11. 2. 1922 und an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 14. 7. 1922. S. 417: Hebbels Gyges: Werners Ausgabe Bd. 3, S. XLI ff. S. 418: Conrad Ferd. Meyer bei K. E. Franzos, Die Geschichte d. Erstlingswerks. Leipzig 1894. S. 25. S. 419: Ed. Toulouse, Emile Zola. Paris 1896. Henri Massis, Comment Emile Zola composait ses romans. Paris 1906. S. 420: Kleist an Collin, 8. Dez. 1808. Werke, hrsg. v. Minde-Pouet. Bd. 2. S. 214. S. 421: Schillers Persönlichkeit III, 386. 3. Plan und Gestaltung S. 423: Gust. Roethe, D. Entstehung d. Urfaust. Sitzungsber. d. Preuß. Ak. d. Wiss. 1920. S. 64278. G. Schuchard, D. ältesten Teile d. Urfaust. Z. f. dt. Philol. 51 (1926). 465 ff. 52 (1927). 346 ff. Goethe an Wilh. v. Humboldt 17. März 1832. W. A. IV 49. S. 282. S. 424: W. Hertz, Zu Goethes römischem Faustplan, Euphorion. 31 (1930). 383 bis 427. Daß damals noch ein tragisches Ende geplant wurde, verficht H. A. Korff: Die Lebensidee Goethes. Leipzig 1925. S. 30. Ernst Beutler, Der Frankfurter Faust. Jahrb. d. Fr. dt. Hochstifts Frankfurt a. M. 193640. Halle 1940. S. 594 ff. S. 425: Goethes 1. Faust-Paralipomenon: K. A. Meißinger, Helena. Frankfurt a. M. 1935. S. 68. Bauerbacher Entwurf: Goedekes Hist.-Krit. Schiller-Ausgabe III, 180 ff. Ernst Elster, Zur Entstehungsgeschichte des Don Carlos. Halle 1889. J. A. Haid, Schillers Arbeitsweise. Diss. Gießen 1908. Paul Böckmann, Schillers Geisteshaltung als Grundlage seines dramat. Schaffens. Dortmund 1925. Wilh. Spengler, D. Drama Schillers, Seine Genesis. Leipzig 1932. Dazu Anz. f. dt. Altertum 1934. S. 21114. |#f0663 : 639|

S. 426: Schiller an Körner 28. Juli 1800. S. 427: Sardou: Binet et Passy, Auteurs dramatiques. L'année psychologique I. Paris 1894. 67. Scheffel: A. v. Freydorf, Scheffels Mutter. Deutsche Monatsschrift 1902. Hebbel und Gutzkow: Hebbels Tagebücher IV, 43. S. 428: Jul. Petersen, Fontanes Altersroman. Euphorion 29 (1928). S. 174. Ders., Fontanes erster Berliner Gesellschaftsroman. Sitzungsber. d. Preuß. Ak. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1929. Fontane, Gesammelte Werke. Jubiläumsausgabe. 2. Reihe in 5 Bänden. Bd. 2. Berlin 1920. Von Zwanzig bis Dreißig. S. 434. Fontane, Brief aus dem Jahre 1896, veröff. von R. M. Werner in „Die Nation“. 1898. Nr. 15. S. 71 f. Petersen, Goethes Mondlied. Aus der Goethe-Zeit. Leipzig 1932. S. 4968. S. 429: Schiller an Körner 25. 5. 1792. S. 430: Heinrich v. Kleist an Marie v. Kleist. Mai 1811. Werke, hrsg. v. Minde- Pouet. Bd. 2. S. 261. Grillparzers Werke, Ausgabe der Stadt Wien. Bd. 1. S. LXX ff. Ed. Scheidemantel, Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Tasso. Progr. Weimar 1896. Ders., Goethe-Jb. 18 (1897), S. 16373. S. 431: Heinr. Meyer-Benfey, Die innere Geschichte des Michael Kohlhaas, Euphorion 15 (1914). S. 99140. Max Wundt, Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen Lebensideals. 2. Aufl. Berlin und Leipzig 1932. S. 432: Emil Ermatinger, Gottfr. Kellers Leben. Stuttgart und Berlin 1920. S. 282 ff. Wilh. v. Humboldt an Caroline 7. April 1797. Briefwechsel, hrsg. v. A. v. Sydow. Bd. 2. S. 37 f. K. Ehlers, Die Bühnenbearbeitungen von Schillers Don Carlos in Prosa, German. Stud. 26. Berlin 1923. Jak. Bächtold, Goethes Iphigenie auf Tauris in vierfacher Gestalt. Freiburg i. Br. 1888. Die Weimarer Ausgabe (Bd. 39, S. 449 ff.) hat die Zahl der Prosahandschriften noch vermehrt. S. 433: Schillers Fragment Deutsche Größe, Facs.-Ausg. v. Bernh. Suphan. Schr. d. Goethe-Ges. 1902. Wieland an Zimmermann 1758. Ausgew. Briefe. Zürich 1815. Bd. 1. S. 264. E. A. Poe, The philosophy of composition. Dt. Übers. in d. Gesamtausgabe von Moeller van den Bruck. Bd. 2 (Minden 1902). S. 83 ff. Ebda. die Zusätze Baudelaires zur französischen Übersetzung. William Michael Rossetti, Rossetti Papers 1903. S. 434: Christ. Wandel, Th. Fontanes Arbeitsweise am Roman. Brandenburg. Jb. 9 (1938). S. 6977. Vgl. dazu die Mitteilungen von Herm. Fricke, Fontanes letzter Romanentwurf, Die Likedeeler. Rathenow 1938. S. 8892: Einteilung der Kapitel in Szenen. O. J. Bierbaum, Stilpe. Ges. Werke. Bd. 2. S. 431 f. Die Probe einer Balzacschen Korrekturfahne bei Curtius, Balzac. S. 430 f. Probe einer Hilleschen Handschrift in J. Nadler, Litgesch. d. dt. Volkes. Bd. 3. S. 663. |#f0664 : 640|

4. Arbeitsweise S. 435: Arbeitsweise Uhlands: W. Haag, Ludw. Uhland, Die Entwicklung des Lyrikers u. d. Genesis d. Gedichts. Stuttgart 1907. Harry Maync, Uhlands Dichterwerkstatt. Euphorion Bd. 7 (1906). S. 529. Wilh. Fehse, Wilh. Raabe. S. 60 f., 171. Goethe und Schiller: W. Hellpach, Geopsyche. S. 285. S. 437: Reinh. Steig, Achim v. Arnim und die ihm nahe standen. Bd. 1 (Stuttgart 1894). S. 128. Albrecht, Lessings Plagiate. Bd. 3. S. 1275. Wolfg. Rost, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken. Berlin 1931. S. 438: Goethes Arbeitsraum: Eckermann 23. März 1829 und 25. März 1831. Castles Ausgabe 1, 261, 389. Goethe an Charl. v. Stein 5. und 6. Juni 1780. S. 439: Marienbader Elegie: Goethe zu Eckermann 16. November 1823. Castles Ausg. I, 57. S. 440: Heinr. Klenz, Gelehrten-Kuriositäten. Zschr. f. Bücherfreunde. N. F. 6, 2 (1915). S. 232236, 30614. 7, 1 (1916). S. 6171, 127136. V IE R T E R H A U P T T E IL : D IE E X IS T E N Z D E S D IC H T E R S 1. Spektrum S. 441: Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre II. 2. Jub.-Ausg. 17, 96. Werner Jäger, Paideia. S. 63. S. 442: Koskenniemi, Gaben des Glücks. S. 65. Die Legende, daß Lykurg die Homerischen Gesänge nach Griechenland gebracht habe, geht auf Aristoteles zurück und ist von Plutarch und Aelian übernommen. Nach freundl. Mitteilung meines Kollegen L. Deubner, der auf v. Wilamowitz, Aristoteles u. Athen I, 292 f., Müllers Fragmente histor. Graec. 2, S. 210 Frg. 2, 3 und Fragmenta Aristotelis coll. Val. Rose Nr. 611, 11 verweist. Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung. Das Innere Reich. 3. Dez. 1936. S. 1072. S. 443: Hölderlin, Wie wenn am Feiertage. Hellingraths Ausg. IV. S. 153. 2. Sprache S. 444: G. Bertoni, Lingua et pensiero. Firenze 1932. Ders., Lingua e poesia. Firenze 1937. Schillers Kalliasbrief vom 28. Febr. 1793, Jonas III, 299. S. 445: Middleton Murry, The problem of Style. London 1923, p. 13. S. 446: Wolfg. Clemen, Shakespeares Bilder, ihre Entwicklung und ihre Funktionen im dramat. Werk. Bonn 1936. Gerh. Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung d. Andr. Gryphius. Materialien und Stud. z. Formproblem d. dt. Literaturbarock. Neue Forsch. 17. Berlin 1930. Dazu die Stellungnahme von Herm. Pongs, Zum Problem der voraussetzungslosen Wissenschaft. Dicht. und Volkst. 35 (1934). S. 113123. |#f0665 : 641|

Berth. Schulze, Kleists „Penthesilea“ oder von der lebendigen Form der Dichtung. Leipzig 1912. Ders., Das Bild als Leitmotiv in d. Dramen Kleists und anderer Dichter, Zschr. f. dt. Unterricht 1927 (1910). S. 30821. Vgl. auch S. 180 und Anm. Goethe an Fr. Schulz, 10. Jan. 1829. E. Beutler, Ursprung und Gestalt von Goethes „Novelle“. Dt. Vierteljahresschr. 16. 1938. S. 324 ff. S. 447: Hans Carossa, Führung und Geleit. S. 91. Karl G. Schmid, Schillers Gestaltungsweise, Eigenart und Klassik. Wege zur Dichtung 22. Frauenfeld und Leipzig 1936. S. 17. Carolin F. Spurgeon, Shakespeares Imagery and what it tells us. Cambridge 1935. Wilson Knight, The Shakespearian Tempest. Oxford 1932. Wolfgang Clemen, Shakespeares Bilder. Bonner Stud. z. engl. Philol., 27. Bonn 1936. S. 448: Ulr. Leo, Historie u. Stilmonographie, Grundsätzliches zur Stilforschung. Dt. Vjschr. f. Litwiss. und Geistesgesch. 9 (1931). S. 472503. 3. Gesetz Ed. Spranger, Goethe u. d. Metamorphose d. Menschen. Jb. d. Goethe-Ges. 10 (1924). S. 219238. Schiller, Über Bürgers Gedichte. Säk.-Ausg. 16, 229. S. 449: Paul Häberlin, Der Charakter. Basel 1925. S. 131. S. 450: Conrad Ferdinand Meyer: Rob. Faesi, Einführung zu C. F. Meyers Werken. S. 328. Goethe, Versuch einer Witterungslehre. W. A. II, 12. S. 74. Emile Boutroux, Revue politique internationale I (1914). S. 193 ff. Curtius, Balzac, S. 389. S. 451: Herm. Pongs, Neue Aufgaben der Literaturwissenschaft. Dichtg. und Volkstum 38 (1937). S. 12 ff. Goethe an Charlotte v. Stein 10. Dez. 1777. 4. Glaube S. 452: Paul Ernst, Ein Credo. München 1912. Ed. Spranger, Lebensformen. 2. Aufl. Halle 1921. S. 211 ff. Max Wieser, Deutsche und romanische Religiosität. Berlin 1919. Liesel Etscheid, D. Gotteserlebnis d. german. Menschen. Weltanschauliches i. d. Dichtg. von Hans Fr. Blunck. Mnemosyne 9. Bonn 1932. Johannes Willems, D. Kampf um Gott i. d. zeitgenöss. Dichtg. Die Furche 1928. H. Eibl, Religion, Weltanschauung, Kunst. Zs. f. Ästhetik 29 (1935). S. 97115. Clemens Möllenbrock, Die religiöse Lyrik d. Droste u. d. Theologie d. Zeit. Versuch e. theolog. Gesamtinterpretation u. theologiegeschichtl. Einordnung d. „Geistlichen Jahres“. Berlin 1935. Ders., D. religiöse Existenz Annettens v. Droste. Dt. Vjs. f. Litwiss. und Geistesgesch. 14 (1936). S. 41341. S. 453: K. J. Obenauer, Goethe in s. Verhältnis zur Religion. Jena 1921. S. 18 f. Erich Franz, Goethe als religiöser Denker. Tübingen 1932. S. 454: R. Bridges, The testament of beauty. London 1932. S. 455: Paul Böckmann, Hölderlin und seine Götter. Berlin 1936. Theophil Spoerri, Die Götter des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung mit dem Heidentum der Kultur unserer Zeit. 3. Aufl. Zürich 1932. |#f0666 : 642|

5. Sendung S. 457: Paul Kluckhohn, Berufungsbewußtsein u. Gemeinschaftsdienst d. deutschen Dichters im Wandel der Zeiten. Dt. Vjs. f. Litwiss. und Geistesgesch. 14 (1936), S. 130. Paul Meißner, D. Gedanke der dichterischen Sendung i. d. engl. Literaturkritik. Ebda. S. 3159. Walter Hof, D. Gedanke d. dt. Sendung i. d. dt. Lit. Gießen 1937. Walter Lich, Klopstocks Dichterbegriff. Diss. Frankfurt a. M. 1934. Heinz Kindermann, Klopstocks Entdeckung der Nation. Gedanken und Gestalten. H. 6. Danzig 1935. Ders., Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart. Leipzig 1933. P. Binswanger, D. dt. Klassik u. d. Staatsgedanke. Berlin 1933. Jul. Petersen, D. Sehnsucht nach dem Dritten Reich. Stuttgart 1934. S. 60 f. 6. Widerhall S. 463: Thaddäus Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte. 3. Aufl. Leipzig/Berlin 1912. Albert Ludwig, Schiller und die deutsche Nachwelt. Berlin 1909. Viktor Hehn, Goethe und das Publikum. Gedanken über Goethe. Berlin 1887. S. 49185. Jul. Petersen, Goethe-Verehrung in 5 Jahrzehnten. Jb. der Goethe- Ges. 21 (1935). S. 125. EINLEITUNG ZUM III. UND IV. BUCH: S Y N T H E T IS C H E L IT E R A T U R WIS S E N S C H A F T 1. Werke und Gattungen S. 465: Motto: Goethe in dem Aufsatz „Analyse und Synthese“. Werke, Weimarer Ausgabe, II. Bd. 11. S. 79. Dasselbe in: Werke, ed. Heinemann (Bibl. Inst.). Bd. 30. S. 404 ff. S. 468: Julius Leopold Klein, Geschichte des Dramas. 13 Bde. Leipzig 186576. A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramat. Kunst und Literatur. Hrsg. v. G. V. Amoretti. 2. Aufl. Bonn 1923. Wilh. Scherer, Gesch. d. dt. Literatur. Neudruck der Erstausgabe. Berlin. Th. Knaur, o. J. S. 339 ff. August Sauer, Literaturgeschichte und Volkskunde. Prag 1907. 2. Aufl. Stuttgart 1925. Josef Nadler, Literaturgesch. d. dt. Stämme und Landschaften. 4 Bde. 1. Aufl. Regensburg 1912 bis 1928. Hans Naumann, Die dt. Dichtung der Gegenwart. Stuttgart 1923. 6. Aufl. 1933. = Epochen der dt. Lit. Bd. 6. S. 469: Robert Stumpfl, Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas. Berlin 1936. Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1934. S. 472: James George Frazer, The Golden Bough. 3. edition. 12 vol. London 192023. Aftermath, a Supplement to the Golden Bough. London 1936. Eine „abgekürzte Ausgabe“ ist: The Golden Bough, abridged ed., 1922, von der eine deutsche Übersetzung erschien: Der goldene Zweig. Übers. v. Helen v. Bauer. Leipzig 1928. Axel Olrik, Om Ragnarok. Kopenhagen 1902. Deutsche Ausgabe: Ragnarök. Übertr. v. W. Ranisch. Berlin 1922. A. Olrik, Nordisches Geistesleben in heidnischer und frühchristlicher Zeit. Übertr. v. W. Ranisch. Heidelberg 1908. = |#f0667 : 643|

Germanist. Bibl. 5. Reihe. Bd. 1. Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung. Potsdam 1923. = Handbuch der Literaturwiss. A. Heusler, Nibelungenlied und Nibelungensage. 2. Ausg. Dortmund 1922. A. Heusler, Germanentum. Heidelberg 1934. S. 475: Gustav Freytag, Die Technik des Dramas. Leipzig 1863. Neudr. in: Gesammelte Werke. 1. Serie. Leipzig und Berlin, o. J. Bd. 2. Wilh. v. Humboldt, Über Goethes Hermann und Dorothea. In: Ästhetische Versuche. Bd. 1. Braunschweig 1799. Neudr. in: Sämtl. Werke, Hist.-krit. Ausg. Bd. 2. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung. Sämtl. Werke, hrsg. von O. Güntter und G. Witkowski. Bd. 17. S. 527. Friedrich Beißner, Gesch. d. dt. Elegie. Berlin 1941. = Grundriß d. germ. Philol., 14. Die angeführte Stelle: Einleitung, S. XII. S. 476: Moritz Enzinger, Grillparzers Gedichte und das bayrische Erbe. Euphorion 23. S. 271 ff., 389 ff. Kurt Wais, Henrik Ibsen und das Problem des Vergangenen im Zusammenhang der gleichzeitigen Geistesgesch. Stuttgart 1931. = Tübinger Germanist. Arbeiten. Bd. 14. S. 477: Friedrich Schlegel, Gesch. d. Poesie d. Griechen und Römer. Prosaische Jugendschr., hrsg. v. J. Minor. Wien 1882. Bd. 1. S. 231 ff. Sämtl. Werke. Wien 1822. Bd. 3. S. 267 ff. Ernest Bovet, Lyrisme, épopée, drame. Une loie de l'histoire littéraire expliquée. Paris 1911. Ferdinand Brunetière, L'évolution des genres dans l'histoire de la littérature. Paris 1890. Dazu: E. R. Curtius, F. Brunetière. Straßburg 1914. S. 63 ff. S. 478: Eugen Kühnemann, Goethe. 2 Bde. Leipzig 1930. Günther Müller, Geschichte der dt. Seele. Vom Faustbuch zu Goethes Faust. Freiburg i. Br. 1939. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. München 1918. Insbes. S. 525 ff. Benedetto Croce: Vgl. die zu S. 121 angeführten Schriften. 2. Dichtertypen S. 481: Chr. Martin Wieland, Ob man begründet sey, aus einigen Stellen der Ilias zu vermuthen, daß Homer ein Bastard gewesen sey? gegen A. Pope. Teutscher Merkur 1782. Akad.-Ausg. 22. S. 319 ff. S. 482: Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich und Leipzig 1939. Strophen Christian Günthers, hrsg. v. W. v. Scholz. Leipzig 1902; ähnlich; W. v. Scholz, J. Chr. Günther. In: Die Großen Deutschen. Bd. 2. 1935. S. 321. S. 483: Clemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung. Unters. zur Wirklichkeitsauffassung H. v. Kleists. Frankfurt a. M. 1936. J. Petersen, Kleists dramatische Kunst. Jahrb. d. Kleist-Ges. 1 (1922). S. 18 ff. S. 490: Hermann Nohl, Die ästhetische Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1935. S. 126. W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. Leipzig 1906. S. 299 f. Kurt Wendt, Hölderlin und Schiller. Eine vergleichende Stilbetrachtung. German. Stud. 70. Berlin 1929. Herbert Lewandowski, Die Erfassung von Formeigentümlichkeiten beim lyr. Dichtwerk. Diss. Bonn 1923. Joh. Pfeiffer, Umgang mit Dichtung. Leipzig 1936. S. 20 ff. |#f0668 : 644|

S. 499: E. G. Kolbenheyer, Die Bauhütte. Neue Auflage 1940. S. 302, 328, 333, 344, 355, 371, 482, 484. Kolbenheyer, Wie wurde der dt. Roman Dichtung? München 1937. Und in: Ges. Werke. Bd. 8, 114. S. 500: Bernhard Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie. 6. Aufl. Leipzig 1940. S. 549. S. 503: Willy Hellpach, Berlinertum. Versuch einer Wesenskunde des Menschenschlags. Ztschr. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins 58 (1941). S. 4563. S. 504: Seifert, Erbgeschichte des Menschen. Stuttgart 1936. v. Eickstedt, Grundlagen der Rassenpsychologie. Stuttgart 1936. Arno Dreher, Das Fragmentarische bei Kleist und Hölderlin als rassenseelischer Ausdruck. Diss. Münster 1938. Wilh. Müller, Studien über die rassischen Grundlagen des Sturm und Drang. N. dt. Forsch. 207. Berlin 1938. S. 2032. S. 505: H. H. Borcherdt, Schiller. Seine geistige und künstlerische Entwicklung. Leipzig 1929. S. 9 f. S. 506: J. Petersen, Die Wesensbestimmung der dt. Romantik. Leipzig 1926. S, 146. Ferner das im vorliegenden Werk abgedruckte Kap. „Die literarischen Generationen“ S. 534. S. 507: Max Wieser, Der sentimentale Mensch. Gesehen aus der Welt holländischer und deutscher Mystiker im 18. Jahrh. Gotha und Stuttgart 1924. Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Bd. 1. 2. Halle 192730. Otto Mann, Der moderne Dandy. Ein Kulturprogramm des 19. Jahrh. Berlin 1925. Gerhard Thrum, Der Typus des Zerrissenen. Leipzig 1931. S. 508: Paul Hoffmann, Der mittelalterliche Mensch. Gesehen aus der Welt und Umwelt Notkers des Deutschen. Gotha 1922. 3. Dichtung und Dichtkunst S. 517: A. E. Brinckmann, Kunst des Rokoko. (Propyläenkunstgesch.). Berlin 1940. Briefwechsel zwischen W. Dilthey und dem Grafen P. York v. Wartenburg. Halle 1923. S. 183. 4. Die Dichtkunst zwischen den Künsten des Raumes und der Zeit S. 519: Benedetto Croce: Vgl. die zu S. 121 angegebene Lit. S. 520: Wilh. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgesch. Europas. Berlin 1927. W. Pinder, Vom Werden und Wesen deutscher Formen. Leipzig 1935 ff. Bd. 1: Die Kunst der dt. Kaiserzeit. Bd. 2: Die Kunst der ersten Bürgerzeit. Bd. 3: Die dt. Kunst der Dürerzeit. S. 521: Kant, Kritik der Urteilskraft. § 51 „Von der Eintheilung der schönen Künste“. Fr. Th. Vischer, Ästhetik. 184658. Neue Ausg. Berlin 1912. Johannes Volkelt, System d. Ästhetik. 3 Bde. 190514. S. 522: Herder, Kritische Wälder, 1769. Plastik, 1778. Dazu: K. May, Lessings und Herders kunsttheoret. Gedanken. = Germ. Stud., Bd. 25. S. 523: Rilke an Lou Andreas-Salomé, 8. August 1903. Briefe aus den Jahren 190206. S. 111 f. An Dr. Faust, 17. Januar 1923. Briefe aus Muzot. S. 172 f. |#f0669 : 645|

D IE L IT E R A R IS C H E N GE N E R A T ION E N S. 534: Karl Mannheim, Die Lage des Generationsproblems. Kölner Vierteljahreshefte f. Soziologie, VII. S. 538: Ibsen: Euphorion 8, S. 19. S. 540: Hans v. Müller, Die namhafteren dt. Dichter und Denker seit Reimarus und Günther, in Altersgruppen geordnet. Ein Vorschlag zur Ordnung von Privatbibliotheken. 1917. S. 543: W. Dilthey, Das Leben Schleiermachers. Bd. 1. Berlin 1870. 2. Aufl. ed. Mulert. 1922. Dilthey, Schriften. Bd. V. S. 31 ff. und Bd. VII. S. 177. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung. 1. Aufl. Leipzig 1905. S. 202 ff.: Novalis. S. 546: José Ortega y Gasset, „Der Begriff der Generation“ in der Aufsatzsammlung „Die Aufgabe unserer Zeit“, übers. v. Helene Weyl, mit Vorwort v. E. R. Curtius, Zürich 1928. S. 28. S. 552: Über Vererbung von Begabung findet man eine ausführliche Darstellung mit Literaturangaben in dem Sammelwerk Bauer-Fischer-Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre. Vgl. die zu S. 298 genannte Lit. S. 574: Karl Voßler, Sprache als Schöpfung und Entwicklung. Heidelberg 1905. S. 49 ff. Literaturblatt f. German. und roman. Philol. 27 (1906). Sp. 17. S. 580: Antithese, Synthese, einseitige Steigerung: Vgl. J. Petersen. Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Leipzig 1926. S. 159 ff. Richard Alewyn, Das Problem d. Generation in der Geschichte. Ztschr. f. dt. Bildung. 1929. S. 524 ff. |#f0670 : E646|

PERSONENREGISTER VON E L L A P E T E R S E N [Beginn Spaltensatz]

Abel, Prof. 329 Agricola, Rudolf 557 Aischylos 136, 139, 146, 268, 436 Albert, Archivar 295 Alberti, Leon Battista 519 Albrecht, Paul 174 Aleman, Mateo 483 Alewyn, Richard 102, 205, 580 Alexis, Willibald (Häring), 60, 291, 503, 561 Alfieri 340 Alt, Karl 313 Amadis-Romane 420 Ambrunn 393 Ammann, Hermann 219, 259 Anakreon 436 d'Annunzio 312 Antichrist, Tegernseer 58 Anzengruber, Ludwig 173, 541 Apulejus 172 Archipoeta 58 Arigo 98 Aristophanes 103 Aristoteles 8, 138, 143, 147, 168, 244, 407 Arnauld, Antoine 549 Arndt, Ernst Moritz 461, 550, 562 Arnim, Achim von 30, 287, 315, 324, 437, 561 Arnim, Bettina von 304, 364, 553, 561 Arnim, Hans von 95 Arnim, Henriette von 321 Arnold, Matthew 39 Aschbach 77 Atterbom 318 Audiat, Pierre 245, 252, 280 Aufseß, von 31 Augustinus 367 Augustus 530 Avenarius 355 Ayrenhoff, Hermann v. 542 [Spaltenumbruch]

Baader, Franz 547 Bach, Joh. Seb. 108, 299, 303, 541, 552, 554 Bacon, Francis, Lord 23, 26, 95, 481 Baesecke 68 Baggesen 542, 573 Bahnsen 130 Bahr, Hermann 531 Baldensperger, Fernand 41, 291 Balzac, Honoré de 60, 120, 152, 162, 165, 291, 326, 355, 392, 410, 418, 434, 450 Balzac, J. L. G. de 549 Bandello 173 Barbier 98 Bardili, Regina 304 Barlach, Ernst 204, 532 Bartels, Adolf 7, 544 Baudelaire 436, 533 Bauer 222 Baumgardt, David 547 Bautain 162 Bayle, Pierre 549 Beaumarchais 114 Beaumont 103 Bebel, Heinrich 557 Beck, Karl 561, 566 Becker, Nikolaus 262 Becking, Gustav 106, 194, 212, 343 Beecher-Stowe, Harriet 414 Beer, Johann 102, 311, 479 Beer-Hoffmann, Richard 532 Beethoven 204, 419, 539 f., 549, 579 Bédier, Joseph 9, 80, 314 Behaghel, Otto 141 Beißner, Friedrich 475 Benediktiner von St. Maur 24 Beneke 31 Béranger 127 Bergerac, Cyrano de 549 Bergson, Henri 42, 45, 109, 570 Berkley 538 [Ende Spaltensatz]

|#f0671 : 647| [Beginn Spaltensatz]

Berlioz 205 Bernays, Michael 37, 90, 463 Bernhardi 63, 103 Bernoulli 299, 552 Bertholet, Alfred XVII Bertoni, G. 444 Bertram, Ernst 46 Bessarion 557 Besser 531 Bethge, Friedr. 115 f., 416 Bettelheim, Anton 39 Bettina vgl. Arnim Beutler, Ernst 175 Beyle, Henri vgl. Stendhal Bidermann 295 Biedermann, Flodoard, Freiherr von 307 Bierbaum 434 Binding, Rudolf G. 326, 348, 369, 532 Björnson 476 Birch-Pfeiffer, Charlotte 553 Birken, Sigmund von 23, 564 Birt, Theodor 85 Bismarck 165, 263, 566 Bitzius, siehe Gotthelf Blake 339 Bleibtreu, Karl 531 Bligger von Steinach 276 Blüthgen, Clara 414 Blunck 348 Boccaccio 98, 387, 557 Boccalini, Trajano 265 Bode, Wilhelm 307 Bodenstedt, Friedrich 562 Bodmer 24, 139, 181, 332, 542, 569, 572 Boeckh, August 29 Böckmann, Paul 190, 382 Böhlau, Helene 531 Böhme, Jakob 256, 260, 338 f., 356, 378, 413, 558 Bölsche, Wilhelm 531 Börne 546 Bohatta 98 Boileau 549 Borcherdt, H. H. 530 Bossuet 549 Boucher 417 Boucke, Ewald A. 383 Bouginé 28 Bouhours, Dominique 24 [Spaltenumbruch]

Bourdeau, H. 46 Boutroux, Emile 450 Bouterwek, Friedrich 28 Bovet, Ernest 121, 477 Bracciolini, Poggio 557 Bräuer, Robert 228 Braig 46 Braitmaier, Friedrich 39 Brahm, Otto 171 f. Brahms, Johannes 179 Brandl 407 Brecht, Bert 135 Brecht, Walter 102, 150 Brentano, Achim Ariel 305 Brentano, Bettina siehe Arnim Brentano, Clemens 30, 97, 100, 167, 209, 221, 284, 291, 299, 303, 305, 321, 324, 328, 335, 339, 383, 389, 434, 437, 453, 491, 548, 563 Brentano, Maximiliane 304 f. Breughel, Pieter 204, 299, 417 Breysig 550 Bridge 454 „Briefe an Theophron“ 27 Bright 161 Brinckmann, A. E. 517 Brion, Friederike 78 f., 114, 319, 364 Brockes, Barthold Hinrich 220 Brockhaus 98 Bröger 300 Bronnen, Arnold 144 Bruckner, Ferdinand 145 Brück 292 Brüggemann 41 Brugmann, H. 225 Brunetière, Ferdinand 121, 477 Bruni, Lionardo 557 Bruno, Giordano 265, 559 Brust, Alfred 503 Buchner, August 23 Buchwald, Reinhard 329 Buckle 36 Büchner, Georg 240, 484, 529, 555 Büchmann 98 Bühler, Karl 225 f. Bürger 191, 259, 449, 559, 573 Buff, Charlotte 96, 319 Buffon 196 Burckhardt, Jakob 557 [Ende Spaltensatz]

|#f0672 : 648| [Beginn Spaltensatz]

Burdach, Konrad 150 Buri 165 Burns, Robert 339 Burte, Hermann 153, 348 Busch 531 Busoni 205 Byron, Lord 163, 290, 315, 325, 332, 354, 395, 406, 411, 436, 568

Calderon 134, 315 Calvin 378, 567 Canitz 531 Carossa, Hans 348, 447 Carlyle, Thomas 35, 39, 355 Carrière, Moritz 34 Carus 298, 399 Casanova, Silvio di 58 Catull 311 Cellini, Benevenuto 65, 410 Celtis, Conrad 22, 77, 557 Cervantes 10, 104, 185, 273, 354, 420, 518, 539 Cézanne 539 Chadwick, Ehepaar 8 Chamberlain, H. St. 45, 58, 291, 377 Chamisso, Adalbert von 58, 103, 282, 315, 366, 503, 561 Chateaubriand 314 Chatterton, Thomas 401 Chézy, Helmina v. 304 Chézy, Wilhelm v. 304 Chrestien von Troyes 135, 205, 483 Christ 330 Chrysoloras 557 Cibbers 24 Cicero 213, 463, 557 Claudius, Hermann 299 Claudius, Matthias 302, 559 Clauer 79 Clauren 196, 484, 573 Clauß, Ludw. Ferd. 49, 343, 374376, 500 Clemen, Wolfgang 446 f. Coleridge 366, 552 Comte, Auguste 35 f., 355 Conrad, Joseph 290, 419 Conradi, Hermann 531 Conrart 549 Conz 542 [Spaltenumbruch]

Correggio 539 Corneille, Pierre 355, 458, 549 Cornelius, Peter 205 Coster, de 275 Cotta 90, 98 Courbet 539 Courthope 41 Cramer, Karl Friedrich 407 Cranach, Lucas 292 Creizenach 249 Croce, Benedetto 42, 63, 65, 121, 278, 308, 359, 478, 519 Cromwell 6, 264 Crotus Rubeanus 102 Curtius, Ernst Robert 450 Cushing 98 Cuvier 564 Cysarz, Herbert XVIII, 45 f., 50, 62, 244

Däubler, Theodor 532 Dahlmann 31, 98 Dahn, Felix 531, 569 Dante 59, 120, 127, 153, 233, 251, 273, 311, 403, 406, 442, 463, 477, 480, 486, 513, 518, 557 Danton 549 Danzel 34 Dares Phrygius 335 Daudet, A. 175, 275, 299, 392, 436 Dauthendey, Max 220, 532 Debucourt 132 Dehmel, Richard 225, 413, 531 Delacroix 205 Demokrit 355, 407 Descartes 499, 549 Desiderio 353 Deubner, Ludwig XXII Deutschbein, Max 208, 219 Dickens 354, 436, 555 Diderot 80, 174 Diede, Charlotte 565 Diel 97 Dilthey, Wilhelm 16, 38, 40, 42 f., 71, 137, 142, 148, 170, 212, 214, 235, 240, 244, 249, 254, 280 f., 326, 346, 352 bis 358, 363, 378, 388, 398, 403 f., 489 bis 492, 517, 542544, 546, 549, 551 f., 570 Dingelstedt, Franz 561 [Ende Spaltensatz]

|#f0673 : 649| [Beginn Spaltensatz]

Dionys von Halicarnaß 213 Dix 356 Doorninck 98 Dostojewski 157, 161, 291 Dowson 433 Dragomirescu, Michel 60, 64 Dromel, Justin 535 Droste-Hülshoff, Annette von 217, 409, 413, 452 Du Bois-Reymond 535 Düntzer, Heinrich 313 Dürer 102, 338 Dumas, Alexandre 291, 299, 436, 552 Dunkelmänner Briefe 103 Duun, Olaaf 152, 170 Dvořak, Max 204 Dwinger 348

Eckart, Meister 377, 570 Eckermann 78, 132, 140, 340, 350 f., 394, 406, 408, 424, 449 f., 458 Edda 375 Eichendorff, Jos. von 30, 177179, 217, 303, 339, 490, 539, 565 Eichhorn, Joh. Gottfried 28 Eickstedt, von 376 Eleonore von Vorderösterreich 516 Elisabeth von England 530 Elisabeth von Nassau-Zweibrücken 516 Elliot, George 414 Elster, Ernst XXI, 43, 61, 208, 389 f., 404 Empedocles 255 Enea Silvio 557 Epikur 355 Erasmus 567 Ermatinger, Emil XXI, 47, 112, 114, 128, 212, 235, 239, 244 f., 247, 361, 418, 530 Ernesti 330 Ernst, Paul 42, 63, 137, 139, 242, 300, 452, 461, 486, 532 Eschenburg, Joh. Joachim 62 Eulenberg, Herbert 135, 532 Eupolis 103 Euripides 120, 134, 268, 331 Evremond, St. 549 Eyb, Albrecht von 557 [Spaltenumbruch]

Faguet, Émile 44 Falk 107 Falkenheim, Hugo 39 Farinelli, Arturo 3 Farquhar 174 Fehr, Bernhard 290, 401 Fehse, Wilhelm 288 Fénelon 549 Ferrera 430 Feuerbach, Anselm (Jurist) 553 Feuerbach, Anselm (Maler) 197, 553 Feuerbach, Ludwig (Philosoph) 35, 361, 553, 569 Fichte 41, 295, 330, 355 f., 361, 546, 549, 562 f., 569 Ficino, Marsiglio 557 Fielding 420 Filidor der Dorfferer, siehe Stieler, Caspar Finck 292 Finckh, Ludwig 291 Firdusi 441 Fischart 224, 294, 541 Fischer, Eugen XXII Fischer, Kuno 39 Fischer, Rektor 328 Flacius Illyricus 22 f. Flaischlen, Cäsar 439 Flaubert 162, 165167, 217, 291, 298, 315, 365, 392, 394, 408, 410, 417, 433, 438, 533 Fleming 563 Fletcher 103 Fließ 318 Florian 291 Fock, Gorch (Kinau) 288 Follen 562 Folz 469 Fontane, Theodor XV, 59, 113, 160, 162, 164 f., 180, 217, 227, 235, 237 f., 291, 315, 322, 324, 327, 331, 389, 427 f., 434, 437, 481, 486, 503, 529, 545, 576 Fontenelle 549 Forbes-Mosse, Irene 304, 553 Fouqué, Friedrich de la Motte 59, 103, 279, 291, 503 Fraenger, Wilhelm 97 France, Anatole 160 François, Luise von 291, 408 [Ende Spaltensatz]

|#f0674 : 650| [Beginn Spaltensatz]

Francke, Kuno 41, 43 Frank, Leonhard 135 Frank, Sebastian 558 Frazer 472 Freiligrath, Ferdinand 292, 561 f., 566 Frels, Wilhelm 72 Freyer, Hans 250 Freytag, Gustav 107, 140, 147, 152, 204, 394, 475 Fricke, Gerhard 46, 249, 388, 446448 Friedrich, Caspar David 579 Friedrich der Große 58, 115, 236, 332, 503, 530, 549 Fries, Albert 209 Frischlin, Nikodemus 295, 484 Frobenius, Leo 377 Frommel, Hofprediger 165 Füessli 559

Gärtner, Karl Christian 531 Galsworthy 52, 437 Galton 552 Ganghofer, Ludwig 531 Garzoni, Thomas 336 Gassendi 549 Gasset, José Ortega y 45, 534, 546 Gaza 557 Gedike 25 Geibel 562 Geißlerlieder 262 Geistinger 91 Gellert 135, 267, 295, 549, 558 Gelzer, Heinrich 413, 419 Geoffroy de St. Hilaire 564 Georg II., Herzog von Meiningen 566 George, Stefan 39, 42, 55, 58, 118, 190, 216, 221, 223, 259, 297, 302, 304 f., 321, 331, 347, 369, 458, 524, 532, 569 Gerbel, Nikolaus 102 Gerber, Gustav 208 Gerlach, Kurt 296 Gerok 304 Gerstenberg 559 Gerstenbergk 76 Gervinus, Georg Gottfried 3133, 35 f., 39 Gesner, Conrad 22 Geßner, Salomon 127, 204, 549 Gildemeister 60 [Spaltenumbruch]

Giorgione 539 Giovinazzi, Domenico 308 Gisander vgl. Joh. G. Schnabel Gleim 563, 569, 576 Gloege, Georg 228 Gluck 182, 549 Göchhausen, Luise von 77, 423 Goedeke, Karl 37, 72, 540 Görner, Otto 113 Görres, Guido 553 Görres, Joseph 30, 339, 553 Goethe, Cornelia 115, 325 Goethe, Joh. Kaspar 335

Go e th e : Herkunft, Veranlagung, Leben: 292 bis 295, 301, 304306, 308, 319, 324, 328330, 339, 346, 349350, 354 bis 356, 363, 389, 391, 496499, 504506 Lebenswirklichkeit und Dichtung: 159. 163, 165 f., 311313, 315316, 319320, 324, 350352, 359361, 365367, 370372 Arbeitsweise: 56, 75, 104, 113117, 139, 159, 370, 383, 391 f., 401 f., 414 f., 423 f., 432, 435, 438 f. Gedichte: 96 f., 103, 127, 150, 177, 189 f., 233 f., 242, 311, 365, 370, 422, 428, 439 Romane, Novellen, Epen: 77 f., 104, 126, 140, 153 f., 160, 164167, 237 f., 257, 312, 431 f., 446 f., 487 f. Dramen: 56, 120, 129, 145, 159, 182, 192, 430 Faust (vgl. auch: Faust-Forschung): 18 f., 113, 139, 163, 175, 187189, 192 f., 233, 236, 246, 257, 260, 262, 266, 273, 350, 423 f., 437, 454 f., 461, 478, 486 Autobiographie: 29, 65, 313 f., 325, 408 Motive: 132, 171, 242 Stil und Sprache: 192 f., 199, 209, 213, 218, 219, 221, 223 f., 344 f., 445, 487489 Weltanschauung: 130, 233, 236 f., 322, 381, 384 f., 448, 451, 453455 Literarische Beziehungen: 331332, 334335, 463, 475 [Ende Spaltensatz]

|#f0675 : 651| [Beginn Spaltensatz]

Goethe über Sprache, Dichtung und Wissenschaft: 9, 56, 88, 111, 118, 122, 124 f., 128, 132 f., 140, 151, 244, 250, 254, 259, 266, 305, 333. 394, 406, 411, 441, 449 f., 458, 465, 530 über einzelne Dichter: 95, 267, 340, 395, 423, 435, 458, 469, 576 Wirkung, Ruhm, Geltung: 7, 18, 268, 397, 420, 461463, 529 Goethe und seine Zeit: 482, 491, 549, 554, 559, 562, 564, 569, 575 f., 579 Echtheitsfragen: 57, 75, 7779, 90 bis 92, 107 Goethe-Forschung (vgl. auch: Faust- Forschung): 33, 37, 38 f. 45, 57, 71, 148, 150, 209, 227, 286, 292295, 301, 313, 319, 346 f., 352, 354, 358 bis 360, 384 f., 389, 405, 480 f. Faust-Forschung: 1820, 77, 91 f., 96 f., 175, 359 f., 423 Zitierte Goethe-Worte: 7, 18, 75, 111, 118, 128, 132, 199, 203, 250, 254, 255, 259, 277, 284, 316 f., 320, 338, 346, 349 f., 353, 355, 371372, 391 f., 394, 401 f., 406, 423, 424, 438 f., 441, 446, 449451, 457, 465 518, 575, 576, 581, 582 Götz 563, 576 Gogh, van 539 Gogol 115 Goldoni 174 Goltz, von der 348 Gomperz 258 Goncourt, Brüder 103, 220, 408, 411, 415, 137 Gontscharof 392 Gotendorf, Alfred N. 98 Gotter 559 Gotthelf, Jeremias 153, 160, 167, 217, 220, 288, 301 f., 312, 476, 546 Gottlieb, August 553 Gottschall, Rudolf 33, 561 Gottsched 24, 136, 181, 191, 313, 470, 483, 503, 531, 542, 546, 563, 569, 572 f. Gottschedin 531 [Spaltenumbruch]

Gottfried von Straßburg 9, 21, 86, 96, 378, 506 Goué 559 Gounod 205 Goya 204, 356, 539 Gozzi, Graf 132 f. Grabbe 159, 263, 268, 273, 301 Graff 103, 135 Greco 539 Greif, Martin 562 Gresset 291 Griese 348 Gries 563 Grillparzer 71, 86, 167, 205, 236, 238, 241, 243, 269, 295, 301, 320, 327, 333, 351, 383, 402 f., 411, 416 f., 429 f., 476, 486, 504 f., 547 Grimm, Gisela 304, 353 Grimm, Hans 348 Grimm, Jacob XVI, XIX, 30, 36, 83, 90, 185, 218, 300, 303, 503, 514 Grimm, Wilhelm 30 f., 185, 218, 300, 303, 503 Grimmelshausen, Joh. Jakob Christ. von XV, 90, 99 f., 120, 156, 160, 184, 224, 238, 264266, 294, 309 f., 326, 336, 431, 463, 483, 506, 558 Groethuysen, Bernhard 378, 507 Groos, Karl 344 Groß 356 Grosse, Julius 562 Grün, Anastasius 566 Grünewald, Matthias (Nithard) 206 Gryphius, Andreas 144, 235, 446448, 553, 558 Gryphius, Christian 553 Günderode, Caroline von 97 Günther, Hans F. K. 49, 206, 287, 290 f., 295, 375 f. Günther, Hans R. G. 257 Günther, Joh. Christian 482, 529 Güntter, O. von 286 Guez 291 Guhrauer 34 Gumppenberg, Hans von 573 Gundolf, Friedrich 14, 43, 45 f., 358 bis 360 Gutenberg 523 Gutzkow, Karl 152, 241, 427, 561, 565 [Ende Spaltensatz]

|#f0676 : 652| [Beginn Spaltensatz]

Häberlin, Paul 449, 454 Haeckel, Ernst 569 Händel 205, 414, 541, 554 Häring, Wilh. vgl. Willibald Alexis Hafis 332, 363 Hagedorn 506, 549 Halbe, Max 484, 503, 532 Hallam, Henry 31 Haller, Albrecht von 220, 506, 519, 549 572 Hamann 26, 44, 260, 368, 503 f., 519, 540542, 549, 559, 570 f. Hardenberg, Friedr. von 81, 161, 228, 242 f., 257, 301, 303, 318, 324, 331, 349, 354, 362, 364, 366, 368, 397, 399, 409, 420, 452, 484, 502, 529, 544, 548, 553, 569 Hardt, Ernst 532 Hardy, Alexander 554 Hardy, Thomas 347 Harenc 503 Harnack, Adolf von 14 Harring, Harro 561 Harsdörfer 23, 220, 564 Hart, Julius 531 Hartl 128 Hartmann, Moritz 313 Hartmann, Nicolai 13, 200, 263 f., 270 Hartmann von Aue 135, 205 Hasenclever 134 Hauff, Wilhelm 156, 196, 304, 484, 529, 546, 573 Haug 542 Haupt, Moritz 31, 295 Hauptmann, Gerhart 126, 145, 148, 155, 180, 183, 191, 241 f., 403, 421, 438, 484, 531, 569, 576 Hauptmann, Karl 531 Hauser, Otto 287 Haushofer, Max 562 Hawthorne 299 Haydn 401, 414, 549 Haym 34, 544 Hayn, Hugo 98 Hebbel, Friedrich 33, 104, 130, 134, 141 f., 167, 245, 273, 275, 279, 285, 300302, 330, 337, 344, 351, 394, 400402, 408, 411, 413, 417, 420, 427, 435, 486, 504, 506, 555, 566, 569 [Spaltenumbruch]

Hebel, Joh. Peter 221 Heeren, A. H. L. 20 Heidegger, Martin 249, 258, 267, 442, 491 Heine, Heinrich 32, 272, 309, 546 Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig 554 Heinrich VI. 292 Heinrich der Vogler 292 Heinroth 371 Heinse, Wilh. 204, 221, 339, 539, 559, 575 Heinzel, Richard 62 Hefele, Hermann 62, 112, 118 Hegel 14, 19, 34, 36, 41, 80, 204, 244, 304, 330, 355 f., 520, 549, 559, 563, 570 f. Heliand 252, 472, 530 Hellingrath, Norbert von 213 Hellmann, Hanna 100 Hellpach, Willy 284, 296, 318 Hennequin, Émile 39 Hensel, Luise 97, 453 Heraklit 355 Herder, Joh. Gottfried 4, 23, 2530, 3234, 36, 55, 66, 95, 105, 107, 165, 218, 242, 244, 317, 326, 330 f., 363, 378, 383, 395, 445, 454, 500, 503 f., 513, 519523, 530, 559, 562, 569, 573, 576 Hering, Ewald 298 Herodot 335, 528 Herrmann, Max 76 Hertz, Wilhelm 562 Herwegh, Georg 561 f., 568 Herwig, K. G. 107 Herzlieb, Minchen 319 Hesekiel, George 561 Hesse, Hermann 162, 242, 369 Hettner, Hermann 35, 61, 249 Heusler, Andreas 9, 137, 192, 375, 472 Heyking, Elisabeth von 304, 553 Heyse, Paul 269, 291, 403, 433, 486, 531, 541, 555, 562 f., 576 Hildebrand, Adolf 409 Hildebrandlied 530 Hille, Peter 434 Himburg 90 f. Hinrichs, H. F. W. 31, 96 Hintze 103 [Ende Spaltensatz]

|#f0677 : 653| [Beginn Spaltensatz]

Hobbes 355 Hodler 539 Höfler, Otto 49, 469 Hölderlin 80 f., 86, 93, 177, 190, 195, 204, 213, 219, 221, 223, 228, 257, 261, 301 f., 304, 313, 321, 325 f., 330332, 356, 361, 428, 432, 442 f., 455, 459, 487490, 504, 539 f., 549, 559, 563, 569 f. Hofbauer, Clemens Maria 330 Hoffmann, E. Th. A. 60, 100, 154, 156, 160 f., 164, 180, 186, 204, 241, 243, 253, 289, 324, 340, 344, 346, 349, 362, 368, 390, 403, 436 Hoffmann, Hermann 302 Hoffmann, Paul 508 Hoffmann v. Fallersleben 561 Hoffmann-Krayer, E. 212 Hofmannsthal, Hugo von 127, 200, 305, 352, 409, 449, 524, 532 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 23, 206, 234, 558 Hofmeister 34 Hogarth 356 Holbach 503 Holbein 299, 418 Holz, Arno 103, 126, 191, 196, 220, 226, 503, 531 Holzmann 98 Homer 59, 104 f., 137, 145, 151, 153, 180, 183, 187, 226, 267, 276, 332, 391, 441, 446, 463, 475, 480 f., 497, 559 Hooft 476 Horaz 27, 81, 127, 407 Houwald 135 Hrotswith v. Gandersheim 22, 77, 205, 516 Huarte 26 Huber, Johann 102 Huch, Ricarda 42, 153, 299, 327, 456, 532, 546 Hübner, Arthur 311 Hugo, Victor 6, 129, 326, 390, 503 Hugo v. Trimberg 21 Huizinga, J. 277 Humboldt, Alexander v. 550 Humboldt, Wilh. v. 10, 29, 205, 303, 407, 432, 475, 507, 565, 571 Hume, David 26, 528 [Spaltenumbruch]

Hunziker 312 Husserl, Edmund 41, 225, 570 Hutten, Ulrich v. 58, 102, 558, 567 Huysman 420 Hyginns 136

Ibsen 113, 242, 273, 275, 406, 411, 420, 430, 438, 476, 538, 576 Iffland XV, 126, 257 Immermann 154, 160, 565 Ingarden, Roman 56, 64 Ireland, William Henry 76

Jacobi, Eckart 386 Jacobi, Fr. Heinr. 107, 559 Jacobsen, Jens Peter 275, 318, 436 Jaeger, Werner 104 Jaensch, E. R. 301 f., 326, 345347, 349 f., 492, 500 Jahn, Friedr. Ludw. 562 Jahn, Kurt 313 James 349 Janitschek, Maria 531 Jaspers, Karl 233, 239, 357, 372 f., 379 f. Jean Paul siehe Richter Jellinek 104 Jensen 403 Jerzembsky 107 Joachim von Watt 22 Johanna, Päpstin 170 Johann von Saaz 99 (auch Johannes de Sytbor oder Johann v. Tepel) Johnson, Samuel 407 Johst 348 Jolles, André 113, 115 Jordan, Wilhelm 298 Joyce, James 157 Jung, Karl Gustav 302, 349 f., 364 Jung-Stilling 559 Justinus 335

Kadner, Siegfried 289 Kafka 162 Kalb, Charlotte von 321 Kalewala 442 Kant, Immanuel 41, 173, 196, 210, 264, 329331, 349, 355, 361, 363 f., 368, 383, 497, 503, 521, 530, 549, 554, 569 Karl August, Herzog von Sachsen- Weimar 314 Karl Eugen v. Württemberg 559 [Ende Spaltensatz]

|#f0678 : 654| [Beginn Spaltensatz]

Karl der Große 292, 530 Karl Ludwig v. d. Pfalz, Kurfürst 99 Karsch, Anna Luise 304, 553 Kaßner, Rudolf 376 Kaulbach 184, 299, 552 Kayser 97 Keats 433 Keller, Adalbert 98 Keller, Gottfried 71, 153 f., 156, 166, 173, 238, 240, 257, 269, 291, 301 f., 312 f., 321, 331, 338340, 351, 361, 396 f., 408, 418, 432, 439, 476, 486, 491, 555, 569 Kerner, Justinus 161, 347, 399, 545, 563 Kestner 96, 312 Kettner, Gustav 161, 426 Kierkegaard, Sören 41, 339, 456, 555 Kinau, Brüder 288 Kindermann, Heinz 48, 249 Kinkel, Gottfried 561 f. Kippenberg, Anton XVII, 71 Kirschstein, Max 575 Klages, Ludwig 298, 320, 341, 377 Klaiber, Julius 85 f. Klaj 564 Klein, Julius 249, 468 Kleist, Ewald von 299 Kleist, Franz von 299 K l e i s t , Heinrich von: Herkunft, Leben, Charakter: 287, 291, 299, 301 f., 314, 321, 324, 340342, 349, 368, 504. Arbeitsweise: 56, 104, 132, 147, 180, 183, 340342, 417, 431, 445. Dramen: 57, 92 f., 147, 172, 173, 183, 245, 257, 273, 279, 364, 420, 430 Novellen: 104, 240, 431, 486 Echtheitsfragen: 92 f., 100, 107 f. Literarische Beziehungen: 100, 161, 330, 331, 333, 334 f., 361, 569, 575 Weltanschauung (Tragik, Wirklichkeitsauffassung): 130, 173, 185, 241, 243, 318, 364, 388 Stil: 180, 209, 215, 225 f., 229, 396, 446 f., 483 Kleist-Forschung: 46, 92 f., 185, 209, 242, 308, 360, 388, 483 Kleist, Ulrike von 324, 483 Klenke, Karoline 304 [Spaltenumbruch]

Klenz, Heinrich 440 Klinger, Friedr. Maximilian 100, 107, 174, 470, 493496, 504, 529, 559 Klopstock 66, 81, 148, 172, 185, 190, 194, 205, 211, 221, 226, 236, 253, 257, 268, 327, 329332, 339341, 366, 407, 412, 414, 433, 455, 457, 475, 482 f., 506, 531, 549, 554, 558, 563, 569, 572, 575, 579 Kluckhohn, Paul XXII, 242, 457 Kluge, Kurt 204, 340 Knauth 209 Knetsch, Karl 292 Knorr v. Rosenroth 542 Koberstein, August 32 Koch, Erdwin Julius 30 Koch, Franz 49, 385 König 531 Könnecke, Gustav 286, 310 Körner, Josef 97, 169 Köster, Albert XVI, 73, 90, 100 f. Kolbenheyer, Erwin Guido 63, 108, 252, 268, 282, 498 f., 502 Kommerell, Max 167 Konrad von Hirschau 21 Konrad, Pfaffe 205 Konrad v. Würzburg 275 Koreff, Joh. Ferdinand 561 Korff, H. A. 45, 47, 246, 249, 454, 529 Koskenniemi 315 f., 326 Kotzebue 191, 267, 542 Krannhals, Paul 48, 204 Kraus 104 Kretschmann 417 Kretschmer, Ernst 284, 289 f., 300302, 318320, 329, 345, 348, 500 Kroh, Oswald 345 f. Krupp 298 Kruse 79 Kühn, Sophie von 318, 362, 368 Kühne, Gustav 561 Kühnemann, Eugen 478 Külpe, Oswald 345, 388 Kuhlmann, Quirinus 542, 558 Kummer, Friedrich 43, 544 f. Kurz, Heinrich 33, 299 Kurz, Hermann 301 Kyd 119 Labé, Louise 516 [Ende Spaltensatz]

|#f0679 : 655| [Beginn Spaltensatz]

Labes, von 324 Lachmann, Karl 31, 83, 94 Laclos 291 Lacombe, Hennequin 280 Lafayette, Madame de 516 Lafontaine 402, 549 Lagerlöf, Selma 165 Lamprecht 41, 275 Landolt, Sebastian 397 Lange, Fritz 283 Lange, Samuel Gotthold 531 Langner, Eva 347 Laponge, G. de 552 Laroche, Maximiliane von (verehel. Brentano) 304 f. Laroche, Sophie von 304, 553 La Rochefoucauld 549 Laskaris 557 Lasker-Schüler, Else 532 Laßberg, Christel von 97 Laßberg, Joseph Freiherr v. 31 Latzke, Pfarrer 290 Laube, Heinrich 33, 561 Lauff, Joseph 531 Lavater 97, 231, 284, 559 Lawrence 162 Leibniz 26, 58, 61, 161, 181, 264, 295, 316, 520, 541, 570 Leineweber, Berthold 347 Leisegang, Hans 229, 356, 386 f., 489, 551 Leisewitz, Joh. Anton 174, 333 f., 493 bis 496, 530 Lempicki, Sigmund von 21 Lenau, Nikolaus 193, 321, 396, 566 Lenz, Jak. Mich. Reinhold 79, 107, 484, 504, 529, 545, 559 Leopardi, Graf 414 Lepel XV Lepsius, Sabine 304 Lerch, Eugen 225 Lersch 300 Lesage 156 L e s s in g : Herkunft, Charakter u. Leben: 105, 279, 295 f., 300 f., 321, 328, 330, 402, 504 Arbeitsweise: 56, 104, 105 f., 139, 174, 416, 429 f., 433, 439 [Spaltenumbruch]

Dramen: 56 f., 80, 104, 130, 138 f., 161, 174, 238, 257, 273, 416, 420 f., 437, 470, 474 Ästhetische Schriften: 24, 120, 138, 145, 168, 181, 220, 227, 267, 474, 520, 530 Theologisch-weltanschaul. Schriften: 105 f., 227, 233, 385387 Geistesgeschichtliche Stellung: 6, 66, 385387, 482 f., 496, 531, 541 f., 549, 554, 558, 579 Lessing-Forschung: 34, 38, 148, 209, 227, 279, 385388, 389, 408 Lessing, Karl Gotthelf 408, 542 Leubing 99 Leuchsenring 163 Leuthold, Heinrich 562 Levetzow, Ulrike von 319 Lewandowski 490 Lewis 275, 416 Ley, Esther geb. Ritter 304 Lichtenberg 395, 413 Lienhard, Friedrich 532 Liliencron, Detlev von 235, 299, 312, 541 Lillo 416 Linden 47 Linder, Emilie 97 Linné 540 Lingg, Hermann 562 Liszt 205 Locher, Jakob 557 Locke, John 554 Loeben, O. H. Graf von 81, 546 Lönnrot 442 Löns, Hermann 298 Löper, Gustav von 313 Logau, Friedrich von 558 Lohenstein, Daniel Caspar von 237, 558, 572 Lorenz, Alfred 537 Lorenz, Ottokar 36, 535537, 544, 552 Loti, Pierre 436 Louis XIV. von Frankreich 530 Louis XV. von Frankreich 530 Louis XVI. von Frankreich 530 Lucka 334 Ludwig, der Deutsche 530 Ludwig, der Fromme 530 Ludwig III. 530 [Ende Spaltensatz]

|#f0680 : 656| [Beginn Spaltensatz]

Ludwig, Otto 107, 132, 141 f., 162, 204, 340, 346, 354, 393 f., 439, 486, 555 Lugowski, Clemens 116, 162 f., 184 f., 249, 483 Lukrez 55, 355 Luther 15, 23, 76, 185, 200, 227, 257, 367, 378, 452, 456, 513, 558, 567 Lykurg 442

Mach, Ernst 499 Macpherson 107 Mahabharata 137 Mahr, August C. 134 Malebranchc 549 Mallarmé 417, 532 f. Malone 75 Manet 538 Mani 8 Mann, Heinrich 532 Mann, Thomas 66, 532 Mannheim, Karl 560 Manuel, Hans Rudolf 553 Manuel, Niklas 204, 553 Marc, Julia 362, 368 Marées 539 Marlowe 113, 554 Marsiglio, Luigi 557 Massias 162 Massis 419 Masson-Oursel, P. 377 Matthias Nithard vgl. Grünewald Mathisson 542 Mauthner, Fritz 218, 573 Max, König von Bayern 562 Maximilian I., Kaiser 23 May, Kurt 193, 385 Mayer, Anton 369 Mayer, Karl 396, 563 Mazzini 562 Mechow, Karl Benno von 348 Meier, John 72 Meillet 572 Meinhold 108 Meißner, Alfred 553 Meißner, A. G. 126 Melanchton 558 Melzi 98 Melzer, Friso 111 Mendel 504 [Spaltenumbruch]

Mendelssohn 385 Mendoza 98 Menzel, Adolf 204, 356, 539 Menzel, Wolfgang 33, 561 Merck 312 Mereau, Sophie 305 Merimée 228 Merkel, Garlieb 542 Merker, Paul 41, 102, 169 Meusebach, von 31 Meyer, Conrad Ferdinand 150, 153, 225, 269, 302, 371, 408, 418, 450, 476, 486, 540, 566 Meyer, Heinrich 260 Meyer, Joachim 90 Meyer, R. M. 42, 208, 227, 311 Mezzofanti, Guiseppe 3 Michelangelo 204, 553 Middleton, Murry 445 Miegel, Agnes 503 Militarius 170 Mill, John Stuart 16, 36 Miller 559 Milton 181, 424 Minde-Pouet 209 Minor, Jakob 38, 209 Mirabeau 549 Mirandola, Pico von 557 Mnioch 318 Moebius, P. J. 318 Möller, Wolfgang Eberhard 145, 342, 438 Moeller van den Bruck, Arthur 205, 508 Mörike, Eduard 85, 177179, 221 f., 301, 304, 328, 353, 402, 490, 561, 563 Möser, Justus 168, 546, 549, 572 Molière 168, 486, 497, 549 Molo, Walter von XXII, 312, 342, 348 Mombert, Alfred 532 Mommsen, Brüder 563 Moncrif 291 Montesquieu 26, 35, 242 Morhof, Daniel Georg 24 Moritz, Karl Philipp 161 Morgenstern, Christian 193, 221 f., 305, 338, 369, 402 Moscherosch 59, 99, 265, 335, 403 Moser, Friedr. Karl v. 542 Moser, Joh. Jacob 304, 542 [Ende Spaltensatz]

|#f0681 : 657| [Beginn Spaltensatz]

Mozart 205, 401, 414, 529, 549, 579 Mühlpfort, Heinrich 542 Müllenhoff 36 Müller, Ernst 307 Müller, G. E. 341 Müller, Günther 478 Müller, Hans von 540, 543, 545 f. Müller, Maler 127, 211, 529, 559 Müller-Freienfels, Richard 357, 362366 Müllner 240 Münchhausen, Borries von 150, 314 Mundt, Theodor 561 Musäus 542 Muschg, Walter 46, 167, 306, 312 Musset, Alfred de 410, 415 Mylaeus, Christophorus 23 Mylius 98

Nadler, Josef 43, 128, 196, 200, 209, 278, 290, 293296, 377, 468, 500 Nagel, Lotte 116 Naigeons 80 Napoleon 115, 549 f. Nast 329 Naumann 572 Naumann, Hans 468 Neithart v. Reuenthal 476 Nerval, Gérard de 133 Nestroy 145 Neukirch 531 Neumann, Wilhelm 103, 561 Newton 61, 380 Nibelungenlied 137, 151 Nicolai, Friedrich 503, 542, 573 Niebuhr 68 Niethammer 304 Nietzsche, Friedr. 41, 46, 59, 71, 179, 205, 227, 237, 313, 320, 349 f., 362, 364, 368 f., 413 f., 457, 501, 541, 569571 Nohl, Hermann 212, 356, 489 Norden, Eduard 194 Notker 21, 508 Novalis, vgl. Hardenberg, Fr. v. Nußberger, Max 390

Obenauer 48, 170, 453 Obereit 24 Occam, Wilh. v. 556 [Spaltenumbruch]

O'Leary 21 Olrik 472 Oncken, Hermann XXII Opitz, Martin 23, 205, 339, 483, 558, 569 Oppert 192 Orosius 84 Ortlob, Karl 23 Ortner, Eduard 374 Ossian 330, 559 Otfrid v. Weißenburg 22 f., 252, 483, 530 Ovid 311

Palagyi 341 Paracelsus 378, 558 Parmenides 55 Pascal 280, 298, 549 Pasiello 127 Paul, Hermann 226, 250 f., 253, 574 Paulhan, F. 280, 397 Paulus 542 Perger, Arnulf 148 Perikles 530 Pestalozzi 476 Peter Rothirsch 99 Petrarca 311, 402, 557 Petrich 209 Petronius 135 Petsch, Robert 112 f., 148, 150, 170 f. Pfahler, Gerhard 302 f., 345 Pfeiffer, Johannes 149, 490 Pfitzer 334 Pfitzner, Hans 145, 414 Pfizer, Gustav 563 Pfuel, Ernst von 342 Pierre, Abbé St. 549 Pietsch 531 Piloty 566 Pindar 560 Pinder, Wilh. 199, 204, 269, 520, 537 bis 540, 545, 555, 564, 570, 579 f. Piper 79 Pirandello 162 Pirkheimer, Willibald 102 Placcius 98 Planck 298 Platen, Graf von 209, 301, 321, 330, 369, 562, 565 Platner 330 [Ende Spaltensatz]

|#f0682 : 658| [Beginn Spaltensatz]

Platon 78, 237, 242, 244, 355 f., 406 f., 441, 557 Plautus 168 Plethon 557 Plotin 255 Plutarch 239 Poe, Edgar Allan 390, 403, 433 Polenz, Wilh. v. 531 Polti, Georges 133 f. Pongs, Hermann 50, 167, 176, 222 f., 244, 448, 451 Ponten, Josef 66 Pope, Alexander 385, 436, 481 Pos, H. J. 84 Posner, Martin 101 Prescott, F. C. 142, 398 Proust, Marcel 338 Prutz, Robert 33, 561 Pückler-Muskau, Fürst 154 Püterich v. Reichertshausen 21 Pufendorf 295 Puschkin, Alexander 291 Pyra, Immanuel 482

Quevedo 403 Quintilian 213 Quinzy, de 436

Raabe, Wilh. 153, 251, 266, 288 f., 291, 300 f., 322, 327, 334, 400, 435, 461 486, 531, 541 Rabener, Gottfr. Justus 553 Rabener, Gottl. Wilh. 553 Rachel 573 Racine, Jean 120, 134, 503, 549 Raffael 539 Rambouillet, Marquise de 516, 549 Rank, Otto 400 Ranke, Leopold v. 45, 536, 543 f., 549 Rath, Hanns Wolfg. 304 Rauschenberger, Walter 293 Raynal 134 Rebhu, Jan siehe: Beer, Johann Reder, Heinr. v. 562 Rehder, Helmut 171 Rehm, Walter 242, 567 Regis 60 Regnard 174 Reibmayr 289 [Spaltenumbruch]

Reich, Hermann 172 Reimarus 105 f. Reinmar von Hagenau 96 Reinwald 141, 163 Rembrandt 213 Reuchlin, Johann 335, 557 Reuter, Christian 102 Reuter, Fritz 301 f. Reuter, Gabriele 531 Ribot, Théodule 341, 390, 412 f., 415 f., 418, 552 Richardson 126, 267, 416, 421, 568 Richelieu 549 Richter, Jean Paul Friedrich 15, 100, 103, 130, 153 f., 165, 169, 224, 229, 257, 266 f., 273, 301, 315, 318 f., 321, 326, 330 f., 339, 366 f., 392, 397, 402, 409, 435, 439, 483, 486, 549, 571 Richter, Ludwig 295 Rickert, Heinrich 16, 84, 236 Riehl, Alois 409 Riehl, Wilh. Heinr. 562 Riemer 91, 424 Rienzo 557 Rilke, Rainer Maria 58, 71, 190, 199, 218, 220, 223, 229, 243, 260, 283, 291, 302, 304, 318, 321, 347 f., 369, 409, 416, 441, 444, 447, 452, 476, 523, 532, 546 Ritter, Bernhard 95 Ritter 563 Rivarol 291 Robertson, J. M. 94 Rodin 369 Roessle, Robert XXII Roethe, Gustav 70, 209, 313, 423 Rolandlied 205 Rolland, Romain 419 Rollenhagen, Georg und Gabriel 553 Rollet 286, 347 „Roman der Zwölf“ 103 Romano, Giulio 417 Romanow 431 Rorschach 347 Rosegger, Peter 439, 531 Rosenberg 377 Rosenkranz, Karl 34 Rossetti, Dante Gabriel 204, 290, 339, 433 [Ende Spaltensatz]

|#f0683 : 659| [Beginn Spaltensatz]

Rothacker, Erich 20, 357, 364, 373, 382 f. Rothirsch, Peter 99 Rousseau 127, 239, 354, 362, 368, 407, 503, 546, 559, 569 Rowe, El. 242 Rückert, Friedr. 118, 305 Ruederer, Joseph 531 Rümelin, Gustav 528, 544 Ruodlieb 58 Runge 579 Rutford 481 Rutland, Lord 95 Rutz, Josef und Omar 106, 212, 343, 492

Saar, Ferdinand v. 531 Sachs, Hans 335, 398, 463, 557 f. Sailer, Joh. Mich. 330, 453, 547 Sainte-Beuve 39, 304 Salminen, S. 300 Salutati, Coluccio 557 Sand, George 291, 312, 414 Saran, Franz 148, 192 Sarasin 559 Sardou, Victorien 427 Sauer, August VI, 43, 209, 291, 296, 468 Savigny 30 Scaliger, Julius Caesar 22 f., 244 Scarlatti, Domenico 554 Scarron 549 Schack, Graf 562 Schaeder, H. H. 150 Schäfer, Wilh. 108, 153, 532 Schaeffer, Albr. 157, 421 Schaffner, Jakob 298, 312, 546 Schallenberg, Christoph v. 540 Scharten-Antink, C. u. M. 103 Schauenburg, Frh. H. Reinh. v. 310 Schaukal, Rich. v. 532 Schaumann, Ruth 204 Scheffel, Jos. Victor v. 346, 427, 531, 541 566 Scheffler, Joh. 253, 453, 558 Scheffner 542 Scheidt, Walter 542 Scheler 129 Schelling, Caroline siehe: Schlegel, Caroline

Schelling 41, 80, 100, 256, 304, 330, 355 f., 383, 399, 547, 549, 559, 563 [Spaltenumbruch]

Schellmuffsky 314 Schenkendorf, Max v. 561 Scherenberg, Christ. Fried. 561 Scherer, Wilh. VIII, 27, 36 f., 43, 61, 83, 150, 171, 244, 281, 389, 468, 482, 536 f. Scherr, Joh. 33, 546 Schick, Jos. 3 Schi-King 474 Schilcher 295 Sc h ille r Herkunft, Veranlagung, Leben: 284 bis 287, 295, 301 f., 303, 307 f., 314, 320 f., 324, 328 f., 349, 363, 389, 504507 Arbeitsweise: 56, 105, 113 f., 133, 139 bis 141, 163, 315, 340, 342, 411, 419422, 425 f., 428 f., 433, 435 bis 438 Gedichte: 127, 190, 235, 361, 429, 433, 490, 496 f. Dramen (Motive, Probleme, Technik usw.): 117, 136, 147, 164, 167, 172, 182, 191, 192, 229, 235237, 240, 242, 246, 257, 273, 284 f., 315, 324, 334, 395 f., 399, 421422, 425 f., 430433, 438, 495 f. Don Carlos: 105, 113 f., 134, 139141, 144, 163, 333 f., 396, 425, 429, 432, 562 Der Geisterseher: 86, 153, 486 Naive und sentimentalische Dichtung: 29, 33, 167, 302, 349, 354, 497 bis 500, 507 Ästhetische Urteile: 63, 120, 122, 133, 151, 168, 182, 192, 197, 236, 261, 337, 344, 352, 408, 444, 448 f., 458 f., 475, 510, 518, 521. Weltanschauung: 130, 167, 197, 235 f., 240, 261, 273, 301, 337, 355 f., 361, 363, 382, 454, 519 Stil: 191, 209, 227, 229, 236 f., 344, 382, 447, 495 f. Beziehung zu Goethe: 103, 116, 120, 122, 133, 151, 163, 182, 305, 319, 320, 349, 395, 405, 424, 435 f., 458, 498, 506 f., 554, 575, 576 Wirkung, Ruhm, Geltung: 33, 262, 268, 331, 481, 568 [Ende Spaltensatz]

|#f0684 : 660| [Beginn Spaltensatz]

Literarische Beziehungen: 331335, 420, 470, 490, 495 f., 500, 569 Literaturgeschichtliche Einordnung: 530, 543, 549 f., 554, 559, 562 f., 569 Schiller-Forschung: 34, 37 f., 71, 90, 148, 167, 209, 227, 286 f., 295, 307 f., 329, 355, 382, 389, 490 Echtheitsfragen: 76, 78, 90, 92, 329 Zitierte Schiller-Worte: 1, 305, 382, 408, 425 f., 429, 448 f., 454, 458, 459, 475, 507, 519, 521 Schiller v. Herdern 295 Schilling 145 Schlaf, Joh. 103, 126, 380, 531 Schlegel, Aug. Wilh. 29, 31, 60, 107, 118, 120, 303, 335, 468, 502, 547 f., 553, 563, 569, 575 Schlegel, Caroline 100, 276, 299, 563 Schlegel, Friedrich 29, 60, 74, 84, 107, 256, 260, 279, 299, 303, 312, 354, 420, 453, 477, 502, 547 f., 553, 563, 575 f. Schlegel, Joh. Adolf 553 Schlegel, Joh. Elias 482 f., 549, 554, 558 Schleiermacher, Fr. Daniel 29, 38, 40, 71, 254, 335, 354, 452, 543, 562 Schlösser, Rudolf 369 Schlüsselfelder 99 Schmidt, Annemarie XXII Schmidt, Erich XVIII, 38, 175, 209, 295, 544 Schmidt, Julian 33 Schmidt, Wieland XVII, XXII Schmidt v. Werneuchen 542 Schmidtbonn, Wilh. 532 Schmohl 80 Schnabel, Joh. Gottfr. 102 Schneider, Hermann 93 Schneider, Max 98 Schneider, Wilh. 210, 215 Schnitzler, Arthur 126, 156 Schöffler, Herbert 378, 567 Schönaich, Frh. v. 572 f. Schönkopf, Kätchen 319 Scholl, Robert 345 Scholte, J. H. 310 Scholz, Wilh. v. 42, 132, 241, 348, 482, 532, 546 [Spaltenumbruch]

Schopenhauer, Arthur 117, 198, 238, 304, 399, 570 f., 576, 578 Schottelius 288 Schreiber 573 Schreker 164 Schröder, Friedr. Ludw. 174, 269, 559 Schröder, Rud. Alex. 462 Schubart 484, 554, 559 Schubert, Gotthilf Heinr. 161, 399 Schuchardt 423 Schücking, L. 41 Schütze, Martin 27 Schumann 205 Schulte-Strathaus 286 Schultheß, Bäbe 77 Schultz, Franz 27, 100 Schultze-Jahde 112 Schurz, Anton 396 Schwab 545 Schwan 342 Schwieger, Jacob 101 Schwind, Moritz v. 179 Scott, Walter 60, 327, 437, 555 Scudéry, George de 291 Scudéry, Madeleine de 516, 549 Seckel, Dietrich 195 Seckendorf, Sigmund v. 531 Seidel 531 Seidel, Ina 134, 299, 304, 327, 420 Semons, R. 298 Seneca 139, 476 Serassi 430 Seuse 378 Shaftesbury 26, 128, 355, 559 S h a k e s p e a re Artung, Persönlichkeit, Bildung: 167 f., 315, 335, 486, 497, 505 Stil: 191, 204, 211, 215, 229, 345, 445 bis 447 Charaktere: 161, 168 Motive: 134, 135, 136, 146, 173, 174, 181, 241 Technik: 130, 135, 138, 144 f., 146, 182, 191 Weltanschauung, Tragik, Realismus: 130, 146 f., 187, 191, 244, 354, 497 Literaturgesch. Stellung: 119, 204, 211, 229, 354, 445 f., 463, 470, 554 [Ende Spaltensatz]

|#f0685 : 661| [Beginn Spaltensatz]

Shakesp. und die deutsche Literatur: 139, 168, 181, 211, 268, 331, 332, 407, 423, 431, 463, 496, 518, 541, 555, 559 f., 569 Übersetzungen: 59 f., 191 Echtheitsfragen: 75 f., 95 f., 104, 107 Shakesp.-Forschung: 4344, 75 f., 94 f., 244, 347, 391, 445 f., 447, 480 f. Shaw, Bernard 381, 420, 481 Shelley, Percy Bysshe 529 Siemens 298 Sievers, Eduard 3, 9, 106, 212, 226, 343, 492 Silvio, Enea 557 Simmel, G. 45, 213 Simon Magus 170 Skopnik, XXII Snorri 207 Sohnrey, Heinrich 531 Sokrates 78, 498, 560 Soldau 292 Solden 292 Soltau, Sadok Seli 292 Sonnenfels, Joseph von 542 Sophokles 134, 146, 268 Soret 564 Sorge, Reinhard Joh. 159, 369 Spengler, Oswald 63, 360, 426, 478 Spielhagen, Friedr. 152, 437, 545 Spinoza 538, 554, 559 f. Spitteler, Karl 187, 326, 455, 476, 541 Spitzer, Leo 208 Spoerri 128 Spranger, Eduard XVII, XXII, 109, 156, 212, 357, 390, 492, 497 Sprickmann 529 Spurgeon, Carolin F. 447 Staiger, Emil 482, 484, 490 Stammler, Wolfgang 98 Stauffer, Karl 152 Steffens 563 Stehr, Hermann 160, 322, 348, 369, 420 Steig, Reinhold 97 Stein, Charlotte v. 97, 117, 314, 364 f., 428, 438, 451 Steinhövel, Heinrich 98 f., 557 Stekel, Wilhelm 400 [Spaltenumbruch]

Stendhal 162, 165, 355 Stern, Adolf 102, 544 Sterne, Lawrence 267, 483 Stieler, Casparus 101, 531 Stifter, Adalbert 204, 229, 251, 322, 339, 451 f., 459, 486, 506, 561 Stolberg, Graf Christian v. 529, 559 Stolberg, Graf Friedr. Leopold v. 139, 411 f., 529, 559 Storm, Theodor 90, 155, 240, 291, 322, 408, 546, 563 Strachwitz, Graf v. 529 Stramm, August 220, 532, 546 Strauß, David Friedr. 484, 563, 571 Strauß, Emil 348 Strauß u. Torney, Lulu v. 299 Strauß, Victor v. 299 St. Réal 105, 113, 163, 425 Streicher, Andreas 342 Strich, Fritz 44, 210 f., 213, 220 Strindberg, August 147, 159, 299, 380 Strobel 339 Struensee 438 St. Simon 570 Stucken, Eduard 532 Stumpfl 49 Sudermann, Hermann 503, 531, 545 Sue 152 Suetonius 335 Swoboda, Hermann 318, 320

Tacitus 211, 327 Taine, Hippolyte 35 f., 39, 323, 392, 478 Tasso 301, 333 Tegernseer Antichrist 58 Tennyson 135 Terenz 168 Thackeray 555 Thaer, Albrecht 105 f. Theocrit 127 Theophilus 170 Theophrast 213 Thoma, Ludwig 302, 532 Thomas 9 Thomas v. Aquin 556 Thorwaldsen 204 Thümmel 542 Tieck, Joh. Ludwig 290 [Ende Spaltensatz]

|#f0686 : 662| [Beginn Spaltensatz]

Tieck, Ludwig 30, 57, 80, 107, 144, 165, 191, 211, 290, 303, 332, 335, 339, 346, 503, 518, 548, 563 Timmermanns 348 Tischbein 117, 299 Tizian 529, 539, 552 Tobler 107 Törring 134 Tolstoi, Graf 115, 401 Toulouse 419 Trakl 476, 523 Trapezuntios, Georgios 557 Treitschke, Heinr. v. 295 f. Trendelenburg 355 Trithemius, Abt 22, 557 Tröge, Walther 293 Troeltsch, Ernst 7, 378, 537, 567 Trojan, Felix 170 Truchseß, Christian v. 100 Tügel 348 Turgenjeff 392 Twain, Marc 437, 481

Uexküll, von 323 Uhland, Ludwig 31, 228, 279, 304, 402, 435, 545, 563, 569 Ulrich v. Lichtenstein 160 Unger, Rudolf 43 f., 62, 129, 235, 240 bis 244, 249, 356 Unruh 159 Uz 546, 563, 576

Valerius Maximus 335 Varnhagen v. Ense 103, 402, 561 Vega, Lope de 504 Venator, Balthasar 100 Veracini, Francesco Maria 554 Verdi, Guiseppe 555 Verlaine 503, 532 f. Vermeer 538 Vico 26 Viebig, Clara 531 Viëtor, Karl 288, 249 Vilmar 36 Virgil 127, 151, 268, 475, 477 Vischer, Friedr. Theodor 18 f., 38, 129 f., 169, 388, 398, 521, 563 Vittoria Colonna 516 Voigt, Georg 557 [Spaltenumbruch]

Voiture 549 Volkelt, Joh. 130, 210, 215, 399, 521 Voltaire 147, 181, 276, 359, 383, 402, 420, 436, 503 Vondel 262, 476 Voß, Joh. Heinr. 60, 127, 475, 545, 573 Voßler, Karl 42, 45, 179, 205, 225, 574 Vulpius 546

Wach, Joachim 254 Wachler 28 Wackenroder, Wilh. 339, 502 f., 548 Wagner, Albert Malte 386 Wagner, Heinr. Leopold 97, 175, 559 Wagner, Richard 180, 184, 209, 243, 262, 295, 362, 398, 419, 436, 555, 569 Waiblinger 563 Walpole, Horace 403 Waltharius 58 Walther v. d. Vogelweide 96, 132, 309, 311, 476, 530 Walzel, Oskar 43, 47, 111 f., 212, 214, 390 Wang-Kan, Kaiser 436 Warton 26 Waser, Maria 298 Watson 430 Watteau 538 Weber, Karl Maria von 539 Weber, Max 378, 567 Wechßler, Eduard 206, 377, 549551 Wedekind, Frank 129, 159, 546 Weidmann 57 Weigand, Wilh. 531 Weinhandl, Ferdinand 383 f. Weinheber 476 Weise, Christian 191 Weißer 542 Weissenfels 209 Weitbrecht 506 Weltrich, Richard XVI, 38, 287, 295 Wendt, Kurt 490 Wentzlaff-Eggebert, Fr. W. 242 Werner, Abraham 330, 569 Werner, Heinz 231 Werner, Richard Maria 149, 175 Werner, Zacharias 145, 273, 299, 318, 453, 548, 575 Wernicke 573 [Ende Spaltensatz]

|#f0687 : 663| [Beginn Spaltensatz]

Wetzel, J. G. 100 Wickram, Jörg 178 Wiechert, Ernst 134, 348, 503 Wieland, Christ. Martin 88, 104, 154, 165, 191, 237, 307, 321, 330, 333, 342, 370, 433 f., 452, 481, 506, 531, 542, 549, 558, 562 Wieland, Ludwig 92 f. Wienbarg 46, 561 Wiese, Benno v. 386 Wieser, Max 253, 507 Wihl, Ludwig 33 Wilde, Oscar 420 Wildenbruch, Ernst v. 531, 541 Wildermuth, Ottilie 304 Wildgans, Anton 279 Wille, Bruno 531 Willemer, Marianne v. 319, 364 Willenhag, Wolfgang siehe: Beer, Johann Wilson, J. Dover 94 Wimpheling 58, 557 Winckelmann 26 f., 29, 62, 65, 197, 244, 549, 579 Windelband, Wilh. 16 Winkler, Emil 208 Winterfeld, Paul v. 205 Wirnt v. Gravenberg 275 Witkop 46, 204, 539 Witkowski 92 Wölfflin, Heinr. 43 f., 147, 210214, 390, 490 Wolf, Friedr. Aug. 104 [Spaltenumbruch]

Wolf, Hugo 179, 419 Wolff, Eugen 93 Wolfger v. Ellenbrechtskirchen 309 Wolfram, Georg 49, 96 Wolfram v. Eschenbach 86, 96, 161, 185, 187, 205 f., 238, 242, 266, 311, 335, 378, 483, 506 Wolfskehl, Karl 532 Wolzogen, Caroline v. 107 Wordsworth 346, 409 Worringer 211, 213, 253, 349 Wriede, Hinrich 288 Wünsch 330 Wulfila 69 Wunderlich-Reis 225 Wundt, Max 129, 356 Wundt, Wilhelm 16, 43, 208, 376, 389 f., 538 Wyle, Niklas von 557

Xenophon 78

Young, Edward 436

Zarncke, Friedrich 102, 286 Zeitler 47 Zesen, Philipp von 120, 506 Zeydel, Edwin H. 290 Zielinski, Thaddäus 463 Zinzendorf 546 Zola, Émile 152, 162, 165, 291, 419, 428, 433, 437, 532 f. [Ende Spaltensatz]

|#f0688 : E664| |#f0689 : E665| |#f0690 : E666| |#f0691 : E667| |#f0692 : E668|

Smile Life

When life gives you a hundred reasons to cry, show life that you have a thousand reasons to smile

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