Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral- und ... [PDF]

sprache beim Gottesdienst, die Herstellung der Kirchenzucht und die Abschaffung des welt- lichen Besitzes der ..... befruchtet. Manche großen Geister unserer Nation wie Herder, Lessing und Schleiermacher ..... sollte Aufgabe des Vereins sein, mit Unterstützung einiger weniger Sachverständiger und mit. Vertretern aus der ...

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Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins - Zentral- und ... [PDF]
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Idea Transcript


MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865

Jahrgänge 79-83

Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch Günter Wollschlaeger Dr. Christiane Knop Bearbeitet von Ruth Koepke

BERLIN 1983-1987

Veranstaltungen im IV. Quartal 1987 1. Montag, 5. Oktober 1987,19.30 Uhr: Gemeinschaftsveranstaltung mit den Hugenotten zur 750-Jahr-Feier Berlins. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Montag, 19. Oktober 1987,19.30 Uhr, Lichtbildervortrag von Herrn Hans Frost: Berlin und seine Eisenbahnen. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Montag, 9. November 1987,19.30 Uhr, Lichtbildervortrag von Herrn Harry Nehls: Wanderfahrt nach Glienicke - Die Antikensammlung des Prinzen Carl. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Montag, 23. November 1987,19.30 Uhr, Vortrag mit Lichtbildern von Herrn Hans-Werner Klünner: Theodor Fontanes Wohnstätten in Berlin. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 5. Sonnabend, 19. Dezember 1987, 18.00 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein im St.Michaels-Heim, Bismarckallee 23,1000 Berlin 33, Fahrverbindungen: Busse 10, 29,19 bis Hertastraße. Anmeldungen bis zum 20. November unter Telefon 8 54 5816 erforderlich.

Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21,1000 Berlin 20, Telefon 3 332408. Geschäftsstelle: bis 30. April 1987 beim Schriftführer (siehe nachstehend), vom l.Mai 1987 an bei der Schatzmeisterin (siehe zwei Zeilen weiter). Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38,1000 Berlin 22, Telefon 3657605. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. / 592

Inhaltsverzeichnis I. Aufsätze Bannasch, Karl-Heinz Die jüdische Gemeinde in Spandau (4 Abb.)

490

Beck, Konrad Die Ravenes (2 Abb.)

310

Bendt, Veronika Synagogen in Berlin (1 Abb.)

23

Börsch-Supan, Helmut Martin Sperlich zum Abschied von seinem Amt als Direktor der Staatlichen Schlösser und Gärten

192

Bollert, Werner Karl Klingler (1879-1971) und sein Quartett

447

Brass, Arthur Rettung und Rückkehr der Thora-Rollen (1 Abb.)

54

Göpel, Wilfried Begegnungen 1931

264

Goldbach, Renate 500 Jahre Jerusalems-Kirche (2 Abb.)

243

Haertel, Siegfried Paul Zech (1 Abb.)

130

Heidemann. Wilfried M. Der Sandwich-Insulaner Maitey von der Pfaueninsel (3 Abb.) Royal Louise (3 Abb.)

154 406

Hengsbach, Arne 75 Jahre Siemens-Güterbahnhof (1 Abb.) Die Bismarckwarte bei Fürstenbrunn (3 Abb.) Die Abdeckerei in der Jungfernheide (1 Abb.) Neu-Staaken (4 Abb.) Die Moabiter Gondelfahrt

114 234 330 358 478

Hiilsbergen, Henrike Die Tagebücher und Chroniken des Charlottenburger Pfarrers Johann Christian Gottfried Dressel (2 Abb.)

298

Kettig, Konrad Ernst Kaeber zum Gedächtnis

22

Knop. Christiane Die Weinhändler Mitscher und Caspary (2 Abb.) Die Militärkuranstalt zu Frohnau

16 46 V

75 Jahren Gartenstadt Frohnau (2 Abb.) Rechenschaftsbericht aus einer schweren Zeit: „Das Vereinslazarett Frohnau 1914-1919" (2 Abb.)

541

Kollat, Horst Zum Geburtstag von Gerhard Johann David von Scharnhorst

438

Kutzsch, Gerhard Über Karl Wilhelm Saegert (1 Abb.) Kwasigroch, Bernward 75 Jahre griechisch-katholische Seelsorge in Berlin (4 Abb.) Liegl, Otmar 250 Jahre Böhmen in Berlin (6 Abb.)

304

81

218 2

Lowenthal, Ernst Verdienst um Berlin

578

Nehls, Harry Zur Provenienz und Lokalisierung des Festspielzeltes im Gartenhof zu Klein-Glienicke (4 Abb.) Paralipomena - Glienicker Antiquitäten aus dem Kunsthandel (10 Abb.)

434 497

Rothkirch, Malve Gräfin v. Der Glienicker Klosterhof (23 Abb.) Seiler, Michael Blattzierpflanzen und Rankengewächse auf der Pfaueninsel (1 Abb.) Über die Einweihung des Kirchhofes hinter dem „ehemaligen Schul- und Küstergehöft zu Nikolskoe" und seine Beziehung zur Pfaueninsel (3 Abb.) Die Walkieferknochen auf der Pfaueninsel (3 Abb.)

66 172 182 288

Sommer, Klaus Friedrich Wilhelm Kullrich - Königlicher Hof-Medailleur in Berlin (12 Abb.)

34

Sperlich, Martin Zur Anbringung der linken Sockelplatte am Denkmal Friedrichs 1

87

Schachinger, Erika Wilhelminisches Mäzenatentum (2 Abb.)

562

Schaumann, Werner Das Einsturzunglück des S-Bahntunnels zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor vor 50 Jahren

312

Schlenk, Joachim Die Brandenburger Judensau (11 Abb.)

462

Schmidt, Thomas Das Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald (6 Abb.)

211

Schröter, Roland Die Staatliche Bildungsanstalt zu Berlin-Lichterfelde von 1920-1933

441

VI

Schütze, Karl-Robert Ew Hochwolgeboren (2 Abb.) Das Landwehr-Zeughaus an der Communikation (3 Abb.)

194 258

Schulz, Günther Die Vogelperspektive von Broebel (3 Abb.)

378

Schweinin, Friedhelm Johann Eiert Bode - der bedeutende Astronom (2 Abb.)

282

Stamm, Herma Eine wenig bekannte Medaille auf Alexander von Humboldt (3 Abb.)

388

Thietje, Gisela Johann Georg Moser, ein Architekt (4 Abb.)

526

Uhlitz (f), Otto Sechzig Jahre „Märkische Heide" (3 Abb.) Aus den geheimen Registraturen der Berliner politischen Polizei 1878-1899 Zum Bau der Havelchaussee Aus der Geschichte des Berliner Nachtwachdienstes um 1800 (1 Abb.)

98 187 270 572

Voß, Karl Das Französische Gymnasium in Berlin und seine Schüler

511

Wimmer, Clemens Alexander Georg Steiner, Königlich preußischer Hofgärtner (3 Abb.)

322

Wittmack, E. H. Die Blumenzwiebelzucht in Berlin im vorigen Jahrhundert

135

Wollschlaeger, Günter Siedlungsplanung und Architektur der zwanziger Jahre in Berlin (11 Abb.)

342

II. Kleine Beiträge, Notizen, Berichte 75 Jahre Stadtbibliothek Vortragsreihe zur Geschichte Berlins im Pergamon-Museum Zugänge im Märkischen Museum Neue Aufschlüsse zur Berliner Geschichte 120000 Besucher im Märkischen Museum

25 25 25 25 58

Stadtfomm Berlin gegründet 58 Feier des 300. Gründungstages des Friedrichwerderschen Gymnasiums 90 Geschichtsmuseen in der DDR 91 „Fontane-Kreis" in Fulda 91 Heimatgeschichtliche Sammlung in Erkner 91 Zur Phonothek in der Berliner Stadtbibliothek 92 Das Historische Archiv der Technischen Hochschule Berlin 92 Friedrich Neuhaus 109 Berichtsjahr 1984 der Internationalen Bauausstellung 1987 . . . 122

Denkmalschutz für Deutschlands letzten Glaspalast 75. Jahrestag der Eröffnung des Märkischen Museums Vier Millionen Bücher bei den Staatlichen Allgemeinbibliotheken in Ost-Berlin ßayem _ ^ ^ ^ Preußen _ Bayem Die Bauernfänger von Berlin Joha nnisthaler Ensemble unter Denkmalschutz Wiederherstellung des Schloßparks Biesdorf Zur Rückführung der Rehefplatten der Siegessäule Über die Kaisereiche in Friedenau Bibliographie der Veröffentlichungen von Heinz Goerke aus den Jahren 1943 bis 1982 Über den Steglitzer Obus

122 123 123 ,42 210 222 223 223 224 248 249 VII

Ehrenmitglied Dr. Richard von Weizsäcker antwortet Neubauten im alten Stadtkern Bahnhöfe von S-Bahn und U-Bahn in Ost-Berlin werden wiederhergestellt . . . . Um die Kuppel des Reichstages Mehr als 100 historische Museen in der DDR Neue Straßennamen in Berlins Stadtmitte Zunehmendes Interesse an alten Nahverkehrsmitteln und Verkehrsanlagen in Ost-Berlin Die Friedrichstraße wird wiederbelebt . . . . Zunftzeichen in Ost-Berlin 28 000 Bände zur Geschichte Berlins in der Berliner Stadtbibliothek Berliner Bär im Wappen des neuen Fuldaer Oberhirten Ältestes Fachwerkhaus in Potsdam wird wiederhergestellt Preisträger des Deutschen Preises für Denkmalschutz 1984 Um das Knoblauchhaus im Viertel um die Nikolaikirche Kern des ehemaligen märkischen Dorfes Marzahn wird neu gestaltet Dokumentation über alte Schwengelpumpen in Ost-Berlin Der Kreisauer Kreis Neubauten rund um die Nikolaikirche . . . . Um die Bronzeplatten der Siegessäule . . . . Förderungsprogramm „Berlin-Forschung" Erhaltung und Restaurierung des Dorfkerns Marzahn Restaurierung der Friedrichwerderschen Kirche Schlüter-Kanzel in der Marienkirche wird restauriert 15 Millionen Besucher in den Geschichtsund Heimatmuseen in der DDR Gasthaus „Zur Rippe" am Molkenmarkt Friedrichwerdersche Kirche als Schinkel-Museum Erste Zweigstelle für das Märkische Museum Friedrich der Große und die Staatsoper . . . Friedrich der Große und die Kunst im Neuen Palais in Sanssouci Restaurierung des Roten Rathauses Bekrönung des Deutschen Domes am Gendarmenmarkt Zur Situation des Sintflutbrunnens Alle vier Reliefplatten der Siegessäule aufgefunden

VIII

III. Exkursionen 250 250 250 250 274 274 274 314 314

Lemgo Göttingen Eutin Ravensberger Land Lübeck Trier

92, 202, 293, 316, 395, 425, 517,

57 142 248 370 483 551

IV. Hinweise und Informationen Kleine Mitteilungen: 25, 26, 59, 248, 250, 292, 314, 316, 317, 339, 360, 453, 459, 518, 552

315 315

Veranstaltungskalender: 32, 64, 96, 128, 152, 208, 256, 232, 280, 296, 320, 340, 376, 404, 432, 459, 488, 524, 560, 592

315 315 338 339 315 368 369 369 369 393 393 393 394 426 453 453 481 482 482 482 552 584

Literaturhinweise: 15, 81, 108, 168, 179, 187, 199, 216, 263, 272, 287, 302, 308,329,422,436,471,481,494,500,537,549, 568, 577 Nachrufe: Jenny Becker Franz Berndal Karl Bullemer Dietrich Franz Fritz Bunsas Lieselotte Gründahl Walter G. Oschilewski Dr. jur. Otto Uhlitz

203 203 272 273 274 516 549 583

Nachrichten aus dem Mitgliederkreis: 25, 26, 59, 203, 222, 224, 250, 272, 292, 314, 339, 352, 370, 452, 453, 515 Kurzmitteilungen: 58, 202, 222, 292, 317, 370, 371, 394, 403, 452, 482, 516, 550, 552, 558 Neue Mitglieder: 31, 63, 96, 127, 152, 207, 231, 255, 279, 293, 320, 340, 375. 403. 431, 458, 487, 524, 559, 591 Eingegangene Bücher: 30, 62. 63. 254, 279, 295, 337, 374, 430, 431. 523, 537

V. Buchbesprechungen Alt-Berliner Humor (1986, Schultze-Bemdt) Alt-Berliner Photoalbum (1982, Schultze-Berndt)

454 61

Alte Berliner Läden (Schultze-Berndt) . . . Ausflugs-Atlas (1979, Köhler)

26 227

Bauten unter Denkmalschutz (1982, Knop) Behr/Hoffmann: Das Schauspielhaus in Berlin (1984, Schultze-Berndt) Berlin - New York (1982, Schultze-Berndt) Berlin - Bauwerke der Neugotik (Schultze-Berndt) Berlin in alten Ansichtskarten (1981, Schultze-Berndt) Berlin - Landschaften am Wasser (1982, Schultze-Berndt) Berlin Stadtatlas (1984/85, Köhler) Berliner Illustrirte Zeitung (1982, Kutzsch) Berliner Lokale (1979, Schultze-Berndt) . . Berliner Poesiealbum (Köhler) Berliner S-Bahn (1982, Schiller) Berlins heimliche Sehenswürdigkeiten (1981, Schultze-Berndt) Blauenfeldt: Den danske meninhed i Berlin ca. 1905 bis 1.12.43 (1985, Kunzendorf) . . . Boesche-Zacharow: Johannes Lotter (1985, Schultze-Berndt) Borkowski: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen (1980, Schultze-Berndt) Borkowski: Rebellin gegen Preußen (1984, Köhler)

143

Carle: Das hat Berlin schon mal gesehen (1982, Kutzsch) Clemens/Szamatolski: Der historische Friedhof in Berlin (Knop) Cornelsen: Kleine Fische auf Justitias Grill (1984, Elge) Cziffra: Der Kuh im Kaffeehaus (1981, Schultze-Bemdt) Damus/Rogge: Fuchs im Busch und Bronzeflamme (1979, Schultze-Berndt) „Das alte Berlin" (Schultze-Bemdt) Das Brandenburgische Koch-Buch (Schultze-Bemdt) Das Goldene Buch von Berlin (1987, Schultze-Bemdt) Das grüne Buch (1982, Köhler) Das Kochbuch aus Berlin (Schultze-Bemdt) Denk 'mal Berlin (1984, Schultze-Bemdt) Deutscher Bund für Vogelschutz (Schultze-Bemdt)

399 124 454

Die deutschen Heimatmuseen (Schultze-Bemdt) Die Entdeckung Berlins (1984, Schultze-Bemdt) Die große Berliner Straßenbahn und ihre Nebenbahnen 1902-1911 (1982, Schiller) Die Mauer spricht (1985, Schultze-Bemdt) Dorfszenen (Schultze-Bemdt)

251 317 149 373 426

61 59 277 151 60 397 147 29 586 373 27 398 127 484 227 29

253 317 555 553 227 555 294 318

Einblicke, Einsichten - Aussichten (1983, Schultze-Bemdt) Erinnerungen an Berlin (H. H.) Emst/Stümbke: Wo sie ruhen ... (1986, Einholz) Fink: Mich hungert (1980, Kutzsch) Friedrich Gilly 1772-1800 (1984, Uhlitz) . . . Friedrich Nicolai (1983, Knop) 75 Ingenieurausbildung im Beuth-Bereich der Technischen Fachhochschule Berlin 1909-1984 (Schultze-Bemdt) Gehrig: „Bist'ne Jüdische?" (Köhler) . . . . Geisel: Im Scheunenviertel (Köhler) Gellermann: Die Armee Wenck (1984, Schultze-Bemdt) Gemalte Illusionen (Schultze-Bemdt) . . . . Genschorek: Ernst Ludwig Heim (1981, Kutzsch) Gottschalk: Altberliner Kirchen in historischen Ansichten (1985, Schiller) Gronefeld: Kinder nach dem Krieg (Köhler) Gründgens: Gedichte und Prosa (1984, Schultze-Bemdt) Grünert: Die Preußische Bau- und Finanzdirektion (1983, Kutzsch) Günther: Peter Joseph Lenne (Wollschlaeger) Hammacher: Bernhard Heiliger (Schultze-Bemdt) Hecker: Die Luisenstadt (1981, Knop) . . . . Henseleit/Bickel: Berliner Küche gestern und heute (Schultze-Bemdt) Hildebrandt/Knop: Gartenstadt Frohnau (1985, Schultze-Bemdt) Hildebrandt: Christlob Mylius (1981, Kutzsch) Hoffmann: Berlin vor fünfzig Jahren (Schultze-Bemdt) Holmsten: Deutschland Juli 1944 (1982. Schultze-Bemdt)

227 337 455 207 336 588 402 428 126 204 294 60 372 428 318 226 485 253 252 555 521 148 206 95 IX

Holmsten: Die Berlin-Chronik (1984, Schultze-Berndt) Holmsten: Berliner Miniaturen 1945 (1985, Schultze-Berndt) Hürlimann: Berlin (Schultze-Berndt)

400 230

In der Luisenstadt (1983, Knop)

252

Jacoby: Liebe deinen Nächsten (1984, Schultze-Bemdt) Jaene: Berlin lebt (Kutzsch)

396 61

v. Kardoff/Sittel: Berlin (1983, Illigner) . . . Kerber: Berühmt und unverblümt (1985, Schultze-Berndt) Kertbeny: Berlin wie es ist (1981, Knop) . . . Kleberger: Eine Gabe ist eine Aufgabe Käthe Kollwitz (1984, Knop) Klebes: Die Straßenbahnen Berlins in alten Ansichten (1984, Schiller) Knef: So nicht (Köhler) Knobloch: Herr Moses in Berlin (Knop) Knobloch: Berliner Fenster (Schultze-Berndt) Koischwitz: Sechs Dörfer in Sumpf und Sand (1983, Knop) Kramer/Hilkenbach/Jeanmaire: Die Straßenbahnlinien im westlichen Teil Berlins III u. IV (Schiller) Kutzsch/Bohrmann: Berlin zu Kaisers Zeiten (Schultze-Berndt) Kutzsch: Berlin mit Umgebung (1968, Knop) Lange: Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933 (1982, Schultze-Berndt) Lemke: Laß dir nicht verblüffen (1982, Schultze-Berndt) Lowenthal: Die historische Lücke (1987, Wetzel) Märkte in Berlin (Köhler) Maser/Poelchau: Pfarrer am Schaffott der Nazis (Kutzsch) Mendelssohn-Studien (1986, Stolzenberg) Menge: So lebten sie alle Tage (1984, Schultze-Berndt) Merian: Reiseführer Berlin (Knop) Munding: Daß ich nur noch selten schreibe (Köhler) v. Müller: Mit dem Spaten in die Berliner Vergangenheit (1981, Knop)

319

402 454 144 521 276 95 94 205 230 429 294 519 397 228 587 228 251 486 318 148 428 584

'ne Menge Arbeit (1981, Illigner) 149 Niemands Land (1982, Schultze-Berndt) . . . 124 Nothhelfer: Zwischenräume (Schultze-Berndt) 94 X

Oschilewski: Auf den Flügeln der Freiheit (1984, Kutzsch)

275

Peschken/Klünner: Das Berliner Schloß (1982, Kutzsch) 226 Pierson: Dampfzüge auf Berlins Stadt- und Ringbahn (1983, Schiller) 229 Pitz, Hofmann, Tomisch: Berlin W (1984, Grunwald) 397 Potsdamer Schlösser in Geschichte und Kunst (1984, Uhlitz) 278 Pragher: Verkehrsknoten Berlin in den 30er Jahren (Schiller) 373 Reicke: Die großen Frauen der Weimarer Republik (1984, Kutzsch) . . . Reihe „in alten Ansichten" (Schultze-Berndt) Reiseführer Berlin (1982/83, Köhler) Reuther: Die große Zerstörung Berlins (1985, Grunwald) Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (1981, Knop) Rueger: Soli Deo Gloria (1985, Wahren) . . Safft: Haltestellen des Lebens (Schultze-Berndt) Seeger/Bötzel: Musikstadt Berlin (1974, Wilde) Der Senator für Gesundheit und Soziales und Familie: Bericht (1981, Illigner) Sichelschmidt: Berliner Leben (Schultze-Berndt) Sichelschmidt: Die Berliner und ihr Witz (1978, Schultze-Berndt) So schön ist Berlin (Schultze-Berndt) Sombart: Jugend in Berlin 1933-1943 (1984, Illigner) Spohn: Kommen und Gehen (Schultze-Berndt) Schall: Bier is ooch Stulle (Schultze-Berndt) Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch (1984, Schiller) Schmidt: Berlin-Kreuzberg (1984, Schultze-Berndt) Schneider: Der städtische Berliner öffentliche Nahverkehr (Schiller) Schramm: Also nee (1983, Schultze-Berndt) Schulz: Berlin und die Berliner (1977, Schultze-Berndt) Schwipps: Lilienthal (1979, Illigner) Stadtansichten (Schultze-Berndt) Stadtgeographischer Führer Berlin (West) Bd. 7 (1981, Köhler)

227 148 277 426 150 317 294 60 146 61 228 277 400 294 555 275 398 553 205 28 146 28 277

Steckner: Museum Friedhof (1984, Knop) Steglitzer Heimat (Schultze-Berndt) Steinle: Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis (1983, Schiller) Trumpa: Zehlendorf gestern und heute (Kutzsch) Tucholsky: Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung (Grunwald) Uebel: Viel Vergnügen (1985, Schultze-Berndt) 40 Jahre RIAS Berlin (Schultze-Berndt) . . . Vorstehen: Borsig (1983, Illigner) Voß: Auf den Spuren Goethes in Berlin (1982, Knop)

456 337 229

226 396

427 554 401 125

Was nun, Berlin (1982, Schultze-Berndt) . . . Weber: Einladung nach Berlin (1976, Kutzsch) Wedding: Ein Bezirk von Berlin (1983, Schultze-Berndt) Wegener: So lebte Ludwig Fritz Wegener (1970, Uhlitz) So lebten wir 1913/1933 (1971) So lebten wir 1933/38 (1971) So lebten wir 1938/1945 (1972) So lebten wir 1945/1951 (1976) Ahnenliste Wegener (1985) Wirth: Berlin und die Mark Brandenburg (1982, Kutzsch) Wolff: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit (1982, Kutzsch) Wollschlaeger: Chronik Friedenau (1986, Knop)

206 61 205 293

293 27 126 520

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F«dh«bt. der Beniner Stadtbibliothe»

A1015FX

MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 79.Jahrgang

Heftl

Die Böhmische oder Bethlehemskirche in Berlin, 1737 eingeweiht, 1943 im Krieg zerstört

Januar 1983

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2$6 Jahre Böhmen in Berlin Von Otmar Liegl Wie die Geschichte lehrt, ist Schlachtenglück oder Schlachtenunglück allein nicht die Voraussetzung für den Aufstieg oder den Niedergang von Nationen. Politische Entscheidungen vorausschauender Art wie dynastische Verträge, Umstellung von der niederdeutschen auf die hochdeutsche Amtssprache, Einführung der Reformation, Übertritt des Herrscherhauses zum Calvinismus und die Förderung der Einwanderungswellen in das von Kriegen, Hunger und Seuchen entvölkerte Land sind Meilensteine auf dem Weg Brandenburg-Preußens zur Großmacht gewesen. Als evangelische Glaubensflüchtlinge hat das Land Hugenotten, Salzburger und Böhmen aufgenommen und in einem mehr oder weniger langen, z. T. über Generationen hinweg dauernden gegenseitigen Anpassungsprozeß integriert. Zum Verständnis der böhmischen Einwanderung ist eine Betrachtung der Geschichte der evangelischen Kirche böhmischer Konfession unerläßlich. Die Christianisierung der heidnischen Tschechen erfolgte durch die beiden Slawenapostel Cyrillus und Methodius. Die böhmische Kirche hatte also zunächst den griechischen Ritus. Durch die Beziehungen mit und der späteren Abhängigkeit vom Fränkischen bzw. Heiligen Römischen Reich verstärkte sich auch der Einfluß Roms und setzte sich schließlich durch. Böhmen erlebte im 14. Jahrhundert einen großen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwung. Bildung, Handel und Wandel blühten, aber das einfache Volk hatte keinen Zugang dazu. Die 1348 gegründete Universität Prag, mit italienischen und deutschen Lehrern besetzt, führte den römischen Ritus 1350 in der Kirche voll ein, mit lateinischer Sprache und Zeremonien beim Gottesdienst, Ehelosigkeit der Priester und Entzug des Laienkelches. Volksprediger traten dagegen auf. 1391 errichteten fromme Bürger und Ritter die Bethlehemskapelle in Prag, in der nur böhmisch, d. h. tschechisch, gepredigt wurde. Auch Johann Hus, Magister der Universität, predigte dort von 1402 bis 1412. Er war ein Volksredner und Agitator und geißelte die herrschenden Zustände. Er war auch kein Freund der Deutschen, sondern förderte das tschechische Nationalbewußtsein gegen Kaiser und Papst. Seine Verurteilung und Verbrennung am 6. Juli 1415 in Konstanz unter Bruch des kaiserlichen Schutzbriefes setzte ganz Böhmen und seine Nachbarländer in Brand. 16 Jahre dauerten die Hussitenkriege. Der Laienkelch wurde das Symbol eines Volkes, das stürmisch seine Vollberechtigung in der Kirche und in der Gesellschaft forderte. Zwei Richtungen gab es unter den Hussiten: die gemäßigten Utraquisten oder Kalixtiner, die auf vier Forderungen bestanden: den Laienkelch, die Landessprache beim Gottesdienst, die Herstellung der Kirchenzucht und die Abschaffung des weltlichen Besitzes der Geistlichen. Die gehobenen Schichten der Nation gehörten ihnen an. Dann die radikalen Taboriten, die die gänzliche Reformation des Gottesdienstes forderten. In ihrer urchristlichen Gütergemeinschaft zeigten sich republikanische und kommunistische Tendenzen. Sie vertraten breite Kreise des Landvolkes und der unteren Stände in den Städten, die damals schwer zu leiden hatten. Zuerst kämpften die Hussiten gemeinsam gegen die Anhänger Roms, bis die Kirche 1433 auf dem Basler Konzil in den Prager Kompaktaten auf die Forderungen der Utraquisten einging. Nun wurden die Taboriten 1434 von den Utraquisten und vom katholischen böhmischen Adel gemeinsam entscheidend geschlagen. Maßgebend am Zustandekommen der Prager oder Basler Kompaktaten war Johann Rokyzana, Magister und Prediger an der Teynkirche, der vom böhmischen Landtag zum Erzbischof der utraquistischen Kirche gewählt, aber von Rom nie bestätigt worden war, weil man die Bildung einer utraquistischen Landeskirche nicht wollte. Rokyzana stand auf der Schwelle zwischen Katholizismus 2

Die Bethlehemskapelle in Prag, wie sie bis 1786 aussah

und Protestantismus. Der Zusammenhalt zwischen Utraquismus und Rom und damit die Einheit der Kirche gingen ihm über alles. Der Hussitismus war ursprüngliche keine Los-vonRom-Bewegung. Rokyzana gab aber den Anstoß für die Bildung der böhmischen Brüderunität. Ihre Geschichte beginnt mit Gregor dem Schneider, der ein Neffe von Rokyzana und eifriger Zuhörer unter seiner Kanzel war. Man hungerte nach guten Priestern und echter christlicher Gemeinschaft und Lebensgestaltung. Rokyzana erwirkte beim König Podiebrad die Erlaubnis für Gregor und seine Freunde, sich in Kunwald bei Senftenberg niederzulassen. Dort bauten sie 1457 eine Lebensgemeinschaft auf (Bratri Zakona Kristova = Brüder des Gesetzes Christi), um sich nur durch das Vorbild des Evangeliums in Sanftmut, Armut, Demut und Feindesliebe leiten zu lassen. Mit der Wahl und Weihe eigener Priester erfolgte die Loslösung von der utraquistischen und römischen Kirche. 1467 erfolgte die Wahl des ersten Bischofs, der sich jetzt Jednota bratrska (= Unitas fratrum, Brüderunität) nennenden Gemeinschaft. Die Brüder nahmen nicht nur das Abendmahl in beiderlei Gestalt, sondern nach taboritischem Brauch statt der geweihten Hostie gewöhnliches Weißbrot. Mit der Loslösung von Rom wurden die Brüder zu Ketzern. Auch Rokyzana nahm in einem Hirtenbrief gegen sie Stellung. Utraquisten und Brüder wurden Feinde. Damit begann die Verfolgung und die Zeit des Leidens für diese Kirche. Unter dem Schutz des Adels breitete sie sich aber trotzdem in Böhmen und Mähren aus. Der Adel hatte die Brüder als treue Untertanen, fleißige Handwerker und Bauern mit schlichter, sauberer Lebensführung schätzen gelernt. Sie nahmen Beziehung zu Luther auf, der trotz mancher Meinungsverschiedenheiten ihre „Brüder-Konfession" mit einem Vorwort von ihm 1536 in Wittenberg drucken ließ. Auch in der utraquistischen Kirche regten sich wieder reformatorische Bestrebungen, es bildete sich ein lutherischer neu-utraquistischer Flügel.

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Nach dem Verbot der Brüderkirche durch das St.-Jakobs-Mandat, das bereits 1508 vom böhmischen Landtag beschlossen und nach dem Schmalkaldischen Krieg 1548 erneuert worden war, kam es zur ersten großen Auswanderung nach Polen und Altpreußen, das damals noch ein polnisches Lehen war. In Polen entstand eine selbständige Unitätsprovinz mit Zentrum zunächst in Posen, später in Lissa. Aus Altpreußen wanderten die Brüder nach 25 Jahren wieder aus, weil sie dort als unbequeme Eindringlinge empfunden worden waren und auch kein Verständnis bei der lutherischen Landeskirche fanden. Erst 1609 gewährte Kaiser Rudolf II. auf Drängen der Stände mit seinem Majestätsbrief die Religionsfreiheit für alle christlichen Bekenntnisse in Böhmen und Mähren. Eine 12jährige Glanzzeit folgte daraufhin für die Brüderunität. Schon vor 1600 war das große Kralitzer Bibelwerk herausgegeben worden, das eine Grundlage für die tschechische Schriftsprache geworden ist. Die Niederlage der böhmischen Stände 1620 am Weißen Berg zu Beginn des 30jährigen Krieges bedeutete die Vernichtung der evangelischen Kirche böhmischer Konfession, aber auch das Ende einer selbständigen böhmischen Nation. Kaiserliche Patente erzwangen die Rekatholisierung durch die Ausweisung der evangelischen Geistlichen und ihrer Gemeindeglieder, wenn sie nicht binnen sechs Wochen katholisch werden wollten. 1627 wurde der gesamte evangelische Adel ausgewiesen. Das bedeutete den politischen Umsturz vom Ständestaat zur absolutistischen Erbmonarchie. 36000 Adels- und Bürgerfamilien mit mehreren hunderttausend Menschen verließen das Land. Der Hauptstrom der Auswanderung ging nach Sachsen und in die Oberlausitz. Auch der letzte Bischof der verfolgten Brüderkirche in Böhmen, Johann Arnos Comenius, verließ mit seinen Getreuen das Land und wandte sich 1628 über Schlesien nach Lissa in Polen. Er ist nicht nur ein großer Theologe, sondern auch ein bedeutender Pädagoge gewesen. Mit seinen Werken und Schriften hat er das europäische Schul- und Erziehungswesen reformiert. Seine Reisen führten ihn nach Holland, England, quer durch Deutschland, Ungarn und Schweden, Trotzdem ließ der schwedische Kanzler Oxenstierna die Brüderunität im Westfälischen Frieden fallen. Comenius übertrug in Amsterdam, wohin er während des schwedisch-polnischen Krieges fliehen mußte, kurz vor seinem Tod (1670) die Bischofswürde auf seinen Schwiegersohn Peter Figulus, der sie dann weitergab an seinen Sohn Daniel Ernst Jablonski, welcher seinen polnischen Familiennamen wieder angenommen hatte. Jablonski war Senior der polnischen Unität und Oberhofprediger in Berlin geworden. Die eingezogenen Güter in Böhmen und Mähren wurden mit Italienern, Franzosen, Schotten und Deutschen besetzt. Die Bauern bekamen fremde Herren, die ihre Sprache nicht verstanden. In die Städte zogen Deutsche. Heimlich in Böhmen und Mähren verbliebene Evangelische pflegten die hussitische Tradition über Generationen in geheimen Versammlungen und durch die Lektüre der Bibel sowie den Gebrauch des Brüdergesangbuches. Der Protestantismus stärkte die Bildungsantriebe auch bei der einfachen Bevölkerung. Die Ausübung der evangelischen Glaubensform in der Illegalität wäre Analphabeten nur schwer möglich gewesen. Nach dem 30jährigen Krieg erfolgte die Abwanderung nicht mehr in Massen, sondern in kleinen Gruppen, Jetzt waren es vorwiegend Kleinbürger und leibeigene Untertanen, Handwerker und Bauern, die das Land wegen des massiven wirtschaftlichen und religiösen Druckes verließen. Die Frondienstverpflichtungen waren immer wieder erhöht worden, und es wurden sogar Listen über die eingehaltenen Beichtstunden angelegt. Viele hielten diesen körperlichen und seelischen Druck nicht mehr aus. In den Aufnahmeländern waren die Exulanten wegen der durch Kriegsgreuel, Hunger und Seuchen bedingten allgemeinen Entvölkerung gern gesehen. Sachsen und die Lausitz wurden dadurch dicht besiedelt. Man gewährte wirtschaftliche und konfessionelle Privilegien, nicht zuletzt um dem Kaiser tüchtige Menschen wegzunehmen. Sachsen gewährte das Bürgerrecht, das Recht auf böhmischen Buchdruck und die Ausübung 4

von Handwerk und Handel. Allerdings verlangte die orthodoxe lutherische Landeskirche die unbedingte Anpassung an den lutherischen Ritus, was dann den Anstoß zu Auseinandersetzungen gab. Im orthodoxen Luthertum war die Entscheidung zwischen Autoritätsglauben und freier evangelischer Überzeugung noch nicht gesichert. Eine Gefahr bedeutete auch die sogenannte Erbvereinigung zwischen Böhmen und Sachsen, eine Vereinbarung, nach der Erbuntertänigen das Recht auf Auswanderung verweigert war, wenn sie nicht als Knechte und Mägde im Gefolge ihrer selbst flüchtigen Grundherrschaft gekommen waren. Anders war die Situation in Preußen. Die Hohenzollern hatten sich 1613 dem reformierten Bekenntnis angeschlossen. König Friedrich Wilhelm I. erließ im Interesse seiner „Peuplierungspolitik" von 1718 an jährlich ein Patent, daß Kolonisten in Preußen unter günstigen Bedingungen aufgenommen würden. Gefördert wurden die Auswanderungsbewegungen im 18. Jahrhundert in Böhmen und Mähren durch die Erweckungspredigten der Hallenser Pietisten in den schlesischen Gnadenkirchen, die Kaiser Josef I. aufgrund der Altranstädter Konvention von 1707 zulassen mußte. Eine wichtige Rolle spielte die Kirche in Teschen, in der die Oberschlesier Johann Liberda und Andreas Macher tschechische Predigten hielten. Die beiden begegnen uns später wieder in Berlin als Prediger der dort aufgenommenen Böhmen. 1722 entstand bei Berthelsdorf in der Lausitz eine Kolonie mährischer Exulanten deutscher Sprache, aus der Nikolaus Graf von Zinzendorf eine innerkirchliche Gemeinschaft formte mit einer Gemeinderegel, die derjenigen der alten Brüderunität ähnelte. Wegen Schwierigkeiten mit dem Staat und der Landeskirche errichtete er daraus ein selbständiges Kirchentum. Mit der Weihe des mährischen Exulanten David Nitschmann im Jahre 1735 und zwei Jahre später von Graf Zinzendorf zu Brüderbischöfen durch den Berliner Oberhofprediger und Senior der polnischen Unität Jablonski war die Herrnhuter Brüdergemeine als erneuerte Unität entstanden. Ebenfalls in der Lausitz, in Großhennersdorf, war eine tschechische Exulantenkolonie mit 600 Seelen entstanden, der die Gutsherrin Katharina von Gersdorf, eine Großmutter von Graf Zinzendorf, den vorher schon erwähnten Liberda als Prediger gegeben hatte. Schwierigkeiten mit der Gutsherrschaft und schlechtere Erwerbsmöglichkeiten als Folge der Zuwanderungen veranlaßten Liberda, mit einigen Delegierten der Exulanten im Herbst 1732 Friedrich Wilhelm I., der ein halbes Jahr zuvor die emigrierten Salzburger so großzügig aufgenommen hatte, für die Böhmen um Asyl zu bitten. Zunächst abweisend, gestattete er ihnen schließlich den Einzug in Berlin in kleinen Gruppen, als sie unter den schlimmsten Bedingungen des Winters in verzweifelter Lage an der Grenze der Mark standen und auch nach Sachsen nicht mehr hatten umkehren können. 500 Menschen waren gekommen, zerlumpt und ermattet und ohne ihren geistlichen Leiter, denn Liberda war in Sachsen verhaftet und als Aufwiegler, der sächsische Untertanen wegführe, ins Zuchthaus Waldheim gebracht worden. Sein anfängliches Mißtrauen überwand der König bald, nachdem er die Böhmen als ehrliche und fleißige Leute kennengelernt hatte. Um sie in Berlin zu halten, ließ er ihnen in der Friedrichstadt 39 Häuser bauen zwischen Kochstraße und Halleschem Tor und gewährte ihnen noch eine Reihe von Vergünstigungen: freies Bürger- und Meisterrecht, 5jährige Steuerfreiheit, 2jährigen Mietzinszuschuß, mehrere 100 Taler zur Beschaffung von Arbeitsmaterial, vorwiegend Garn und Flachs, denn es handelte sich bei den Exulanten hauptsächlich um Leineweber und Flachsspinner, und die Befreiung vom Militärdienst. Die Gemeinde wurde zunächst von ihren Ältesten geleitet, die täglich eine Morgen- und Abendandacht hielten. Die ersten Trauungen und Taufen vollzog der Oberhofprediger Jablonski in polnischer Sprache. 1735 berief der König als Prediger den in Cottbus wirkenden Macher, weil er Liberda nicht freibekommen konnte. Außerdem ließ er ihnen eine Kirche in der Mauer-, Ecke Krausenstraße bauen, die den Namen Bethlehemskirche 5

in Anlehnung an die Predigtstätte von Hus, die Bethlehemskapelle in Prag, bekam. Auch ein eigenes Pfarr- und Schulhaus wurde in der Wilhelmstraße errichtet. Die Gemeinde bekam ein eigenes Abteil im Friedrichstädtischen Friedhof vor dem Halleschen Tor, „weil sie sich nicht mit dem deutschen Totengräber verständigen konnten". Im Volksmund hieß das Viertel bald die Böhmische Walachei. Kurz nach der Kirchweihe 1737 ist Liberda mitsamt seinem Gefangenenwärter aus Waldheim eingetroffen, aus dem ihnen gemeinsam die Flucht geglückt war. Liberda wurde nun vom König als Prediger eingesetzt und Macher nach Teltow versetzt. Mittlerweile war auch im sächsischen Gerlachsheim bei Marklissa eine tschechische Kolonie entstanden, die Augustin Schultz als Prediger bekam. Diese Menschen, fast 500 an der Zahl, stammten aus der Gegend von Landskron, Leitomischl, Rotwasser und Hermanitz, also aus Nordostböhmen und Nordmähren. Fürst von Lichtenstein, der Grundherr von Rotwasser, beschwerte sich über den Wiener Hof in Dresden über die Aufnahme seiner Erbuntertänigen in Sachsen und forderte ihre Rückführung. Die sächsische Regierung gab ihm recht und ließ die Leute suchen. Augustin Schultz sah nun keine andere Möglichkeit als die Flucht für diesen Personenkreis nach dem preußischen Cottbus. Dies geschah im Winter 1736/37. Darüber empörte sich der Grundherr in Gerlachsheim und forderte von den Zurückgebliebenen Schadenersatz. Da sie ihn nicht befriedigen konnten, konfiszierte er ihre Habe. Nur mit dem Allernötigsten flohen nun auch diese Böhmen im Februar 1737 nach Cottbus. Mit 200 weiteren Böhmen warteten in Cottbus 700 Tschechen auf die Erlaubnis, nach Berlin gehen zu dürfen. Sie wurde erteilt. Um sie alle unterzubringen, ließ der König das Lehnschulzengut in Rixdorf in Erbpacht geben. Es wurden neun Doppelhäuser mit Scheunen für je zwei Familien mit je 12 bis 14 Morgen Acker- und Gartenland gebaut. Die Häuser standen alle firstständig. Sie wurden an 18 geeignete Gerlachsheimer Familien erb- und eigentümlich übergeben. Dafür sollten sie nach zwei Freijahren jährlich Zins zahlen und dem Pächter des Schulzenhofes einige Hand- und Spanndienste leisten. Je Haus und Hof bekamen sie das notwendige Ackergerät, und jeder Wirt erhielt zwei Pferde und zwei Kühe. In jeder Scheune wurden zwei Kammern ausgebaut für je eine Einliegerfamilie. Die Einlieger mußten jedes Jahr vier Taler Miete zahlen und gegen Lohn bei der Ernte helfen. Auch die Rixdorfer blieben vom Kriegsdienst befreit. So war neben der Arbeiterkolonie in Berlin eine bäuerliche Kolonie in Rixdorf entstanden. Augustin Schultz hatte die Rixdorfer zu betreuen und hatte auch die Hilfspredigerstelle in Berlin. Die Rixdorfer versammelten sich zu ihren Gottesdiensten entweder in der deutschen Dorfkirche oder in Kupkas Scheune in der Richardstraße. Die neue Siedlung wurde ein selbständiges Dorf und bekam den Namen Böhmisch-Rixdorf zum Unterschied von Deutsch-Rixdorf. 1748 bekamen weitere 20 Kolonisten die Erlaubnis, auf Rixdorfer Ackerstellen kleine Häuser zu bauen. Zu dieser Zeit zählte Böhmisch-Rixdorf 300 Einwohner. 1751 wurde der Böhmische Gottesacker am heutigen Karl-Marx-Platz eingeweiht. Das Dorfschulzenamt blieb in den Händen von Kolonistenfamilien bis zur Vereinigung von Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf im Jahre 1874. Die Einwohner hatten kein leichtes Brot, auch die Bauern mußten für ihren Unterhalt nebenbei weben und spinnen. Erst in der Gründerzeit kamen etliche ihrer Nachfahren durch den Verkauf von Ackerland als Bauplätze zu Wohlstand. Mit tschechischem Schrifttum wurden die Kolonien in Berlin und Rixdorf für Kirche und Schule zunächst aus Halle versorgt, das neben Zittau, Dresden und Lauban ein wichtiger Mittelpunkt des tschechischen Buchdrucks war. Von 1749 an gab es dann in Berlin selbst zwei böhmische Druckereien. In Berlin wurde ein böhmisches Seminar für begabte Tschechenkinder eingerichtet, aus dem eine Reihe späterer böhmisch-lutherischer Prediger hervorging. Auch ein eigener Chirurg wurde den Böhmen zugestanden, und zwei Ehefrauen wurden in die königliche Anatomie delegiert, um den Hebammenberuf zu erlernen. Später wurden noch zwei Freistellen im 6

Evangelisch-reformiertes Gemeindehaus mit Betsaal in der Richardstraße; bis 1874 auch Schule für die böhmisch-reformierten und lutherischen Kinder in Rixdorf Alumnat des königlichen Joachimsthalschen Gymnasiums für den böhmisch-reformierten Predigernachwuchs in Preußen bewilligt. Das amtliche Berlin hat sich damals zwei-, wenn nicht gar mehrsprachig gegeben. Es gibt Bürgerbriefe vom Rat der königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin, die in deutscher und tschechischer Sprache abgefaßt sind. Im 19. und 20. Jahrhundert wäre das nicht mehr denkbar gewesen. Fast 60000 Taler hat Friedrich Wilhelm I. für die Berliner Böhmen ausgegeben, und er stellte 1739 weitere 6000 Taler für die Entwicklung seiner böhmischen Kolonien zur Verfügung. 1740 bestieg Friedrich II. den Thron. Er brauchte Geld für die sogleich begonnenen Schlesischen Kriege. Friedrich II. lud nun zur Einwanderung nach Preußen in Böhmen und Mähren in großem Stil ein, um Maria Theresia möglichst viele Untertanen wegzulocken. Dies unternahm er zunächst wieder mit Hilfe der Hallenser Pietisten und der Prediger Liberda und Macher, die nacheinander zu Inspektoren für die böhmischen Gemeinden in Preußen ernannt wurden. Den Einwanderungsstrom lenkte er vorwiegend in die katholischen Gegenden des neu gewonnenen Schlesiens, die habsburgfreundlich waren. Da die den Böhmen gemachten Versprechungen trotz königlicher Anordnung von den schlesischen Grundherren oft nicht eingehalten wurden - sie versuchten alsbald die Exulanten wieder in die Erbuntertänigkeit zu bringen -, gab es Rückschläge. „Wir sind Böhmen, sollen wir keine Freiheit haben, so hätten wir in Böhmen bleiben können", so heißt es einmal in einer Eingabe der Rixdorfer. Bevor die Böhmen aus Schlesien wieder zurückwanderten, wollte der König das „eigensinnige Volk" lieber in Berlin 7

haben. Erst durch das Wirken böhmischer Prediger reformierter Konfession, die auf große Spendenbeträge aus der Schweiz, Holland und Preußen zurückgreifen konnten, entstanden zahlreiche Gemeinden in Schlesien, besonders um Münsterberg. Dem von Jablonski ordinierten Blanitzky zahlte der König 5 Taler pro angeworbene Familie und den Exulanten erstattete er die Reisekosten, z. B. nach Berlin 2 Groschen pro Kopf und Meile. Schon bald nach der Ansiedlung in Berlin ist es bei den Böhmen zu konfessionellen Streitigkeiten gekommen. Ihr erster Prediger Liberda, obwohl Lutheraner, nahm Rücksicht auf ihre alte böhmische Tradition. Oblaten bei der Kommunion, Exorzismus bei der Taufe, Altar mit Kruzifix und Kerzen erschienen ihnen als katholische Relikte. Liberda reichte ihnen beim Abendmahl Weißbrot und keine Oblaten. Die Böhmen sagten schon in Sachsen, daß sie sich des lutherischen Gottesdienstes nur insoweit bedienen wollten, als ihre böhmische Bruderordnung dabei bestehen könnte. Man unterschied zwischen Hussiten, welche sich zur lutherischen Krichenverfassung jederzeit gehalten, und den Brüdern, die sich der alten Bruderverfassung bedient hatten. Macher, der 1745 wieder an die böhmische Gemeinde in Berlin berufen worden war, bestand darauf, Oblaten auszuteilen. Eine sich reformiert nennende Gruppe bat deshalb 1747 in einer Eingabe an den König, eine eigene Gemeinde bilden zu dürfen. Nachdem auch die Lutheraner den König um eine Entscheidung gebeten hatten, wurde eine Kommission eingesetzt, vor der sich die Böhmen erklären sollten. Die Abstimmung ergab 108 Lutheraner, 133 Reformierte (4 in Rixdorf) und 179 Neutrale (davon 65 Rixdorfer), die sich dann als böhmisch-mährische Brüdergemeine konstituierten. Für die Reformierten wurde der von Böhmen abstammende Theophil Eisner von der polnischen Brüderunität in Lissa berufen, der seine ersten Predigten in polnischer Sprache hielt, bis er des Tschechischen ganz mächtig war. Die Berliner und Rixdorfer Brüdergemeine hat offiziell 1756 den Anschluß an die Herrnhuter Unität vollzogen. Im übrigen wurden die Reformierten von Ältesten (Presbytern) geleitet. Geplant war sogar, Presbytissen („Ältestinnen") zu wählen, für die damalige Zeit ein Novum. Die Bethlehemskirche in Berlin wurde zur Simultankirche erklärt, auch in das Pfarr- und Schulhaus mußten sich Lutheraner und Reformierte teilen, was viele Streitigkeiten verursachte. Je nach der Gottesdienst haltenden Konfession mußten Kruzifix und Kerzen in die Kirche hinein-oder herausgebracht werden. Die Herrnhuter erwarben eigene Gebäude in der Wilhelmstraße für ihre Versammlungen. Das reformierte Schulgebäude in Rixdorf entstand 1750. Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts (1835) durch ein neues Gebäude, das heute noch als Betsaal benutzt wird, ersetzt. Die Herrnhuter bauten auch in Rixdorf eine Schule (1754), das älteste profane Gebäude, das heute noch steht, und ein Gemeinhaus (1761), das nach einem Ausbau im 19. Jahrhundert (1833), 1944 durch Fliegerangriff zerstört wurde, wobei der Prediger mit zehn Gemeindegliedern umkam. 1884 erwarb die böhmisch-lutherische Gemeinde in Rixdorf durch Kauf die deutsche Dorfkirche, die 1912 auch den Namen Bethlehemskirche bekam. Nach hussitischem Brauch waren Bänke, Brüstung der Empore, Orgel, Kanzel, säulenartige Einfassung des Altarbildes sowie beide Türen zur Sakristei weiß gestrichen, entsprechend dem Weiß in den Betsälen der Reformierten und der Brüdergemeine. Bei ihrer Renovierung 1939/1941 wurde durch den Landeskonservator diese hussitische Tradition unterdrückt. Das Gestühl mußte im Stil der Berliner Dorfkirchen braun gestrichen werden. In einer anderen Berliner Dorfkirche (Schöneberg) war es dagegen der Landeskonservator, der einen hellen Anstrich für das Gestühl empfahl. Die konfessionelle Spaltung griff auch auf die anderen im Berliner Raum und in Schlesien entstandenen böhmischen Gemeinden über. Zur Entwicklung der Industrie und Kultivierung wüster Sandschollen entschloß sich der König, einen Kranz weiterer Kolonien um Berlin zu bilden. Dabei griff er vorwiegend auf 8

Das 1944 im Krieg zerstörte Gemeindehaus der Brüdergemeine Neukölln mit dem charakteristischen Dachreiter Böhmen zurück wegen ihrer Bedürfnislosigkeit und ihres Fleißes. So entstand 1750 NeuSchöneberg (Krasna Hora) als eigene politische Gemeinde am „Böhmerberg" zwischen dem heutigen Kleistpark und dem Kaiser-Wilhelm-Platz. Die 20 Kolonistenstellen waren mit Berliner Böhmen besetzt worden, die sich verpflichten mußten, jewels zwei weitere neue Familien herbeizuschaffen, von denen eine ihre aufgegebene Einliegerstelle in Berlin einnehmen, die andere mit ihr in ihrem neuen Haus wohnen sollte. Hier entstanden später die Wirtshäuser, Tanzcafes und Tabagien, die Schöneberg sogar im Lied bekannt machten. Und bald danach folgte Böhmisch-Neuendorf, das später in der tschechischen Übersetzung auch amtlich Nowawes hieß. Dieser Name wurde erst 1938 im Dritten Reich in Babelsberg geändert. Hier wurden 100 Häuser gebaut, bis auf das Pfarr- und Schulhaus lauter Doppelhäuser. 1751 wohnten dort schon 60 böhmische Familien. Schönerlinde (Krasna Lipa) bei Köpenick, gegründet 1752, war nur eine kleine Siedlung mit neun Feuerstellen. Von Neu-Zittau (1752) weiß man nicht einmal, ob dort überhaupt Böhmen gewohnt haben. Bedeutender war dann wieder Friedrichshagen am Müggelsee, gegründet 1753. Hier waren 50 Doppelhäuser für 100 Familien gebaut worden, von denen 1765 33 böhmische waren. In Schönholz (1767/68) lebten zwölf böhmische Siedler, in Boxhagen bei Rummelsburg (1771) sieben. In Grünau (1768) waren vier böhmische Kolonistenfamilien angesiedelt. In Neu-Zehlendorf (Hubertushäuser), 1768 gegründet, ist unter den zehn Kolonistenstellen nur ein Böhme gesichert. Die Kolonistenhäuser, meistens Doppelhäuser, wurden in der Regel auf Staatskosten erbaut, erb- und eigentümlich mit Garten oder Wiesenland von einem oder mehreren Morgen übergeben. Meistens war die Bedingung daran geknüpft, keine Schulden aufzunehmen, die Besitztümer über mehrere Generationen weg nicht ohne Genehmigung der kurmärkischen Domänenkammer zu verkaufen, und wenn, dann nur wieder an einen Ausländer oder wie in Nowawes auch an einen Soldaten. Aus wirtschaftlichen Gründen konnten die Bestimmungen oft nicht 9

eingehalten werden. In Notzeiten wie im 7jährigen Krieg verkauften in Nowawes einige Kolonisten heimlich ihr Besitztum und flohen. Auch Zuschüsse zur Einrichtung wurden gegeben und die Befreiung von Steuerlasten und vom Militärdienst zugesichert. Der König legte Maulbeerplantagen an zur Seidenraupenzucht, um den Verdienst der Kolonisten zu verbessern. Alle aber erlebten bitterste Notzeiten, weil der Boden zu karg war und das zugeteilte Land oft nicht ausreichte, um zur Selbstversorgung eine Kuh zu halten. Die Entlöhnung für die Textilarbeiter war so kümmerlich, daß die ganze Familie mit den Kindern arbeiten mußte. In Nowawes hatten die Kolonisten Zwangsverträge, sie durften nur für einen Kattunfabrikanten arbeiten. Hier brach der erste Weberaufstand in Preußen im Jahre 1785 aus. Berlin war damals die größte Textilstadt auf dem Kontinent. Außer Neu-Schöneberg, das zunächst als reine Böhmenkolonie angelegt worden war, hatten alle anderen von Friedrich II. angelegten Siedlungen von Anfang an einen mehr oder weniger großen Anteil von Siedlern deutscher Sprache. In Nowawes waren es vorwiegend Schweizer und Württemberger. Kirchlich gehörten die Siedlungen zur Bethlehemsgemeinde in Berlin oder nach Rixdorf, wenn sie nicht von vornherein in eine deutsche Gemeinde eingepfarrt waren. Sie hatten aber, wenn die Kopfzahl der Böhmen nicht wie in Schönholz, Neu-Zehlendorf, Grünau zu klein war, einen böhmischen Lehrer bewilligt bekommen. Nur das rasch größer gewordene Nowawes bekam einen lutherischen Pfarrer, den zu wählen bis 1797 das Vorrecht der Böhmen war. Er mußte aber Böhmen und Deutsche gleichermaßen betreuen. So wurde im Gottesdienst zuerst tschechisch, dann deutsch gepredigt. Die Lieder sang man gemeinsam, jeder in seiner Sprache. Später trennten sich die Gemeinden. Der gemeinsame Pastor hatte es schwer. Die Böhmen behaupteten, er kümmere sich zuwenig um ihre Gemeinde, die Deutschen beklagten sich, daß er bohemisiere. Die Einwohner in den neuen Kolonien zogen oft von Berlin her zu, weil sie in der neuen Siedlung z. B. keinen Zins zu zahlen brauchten. Die Kolonisten in Boxhagen kamen direkt aus Böhmen bzw. Mähren. Der König stellte 1762 einen böhmischen Colonie-Commissarius ein, der die Privilegien und Freiheiten der Böhmen zu vertreten hatte und zugleich vereidigter Dolmetscher und Vermittler bei der preußischen Obrigkeit war. Die Böhmen lebten die ersten Jahrzehnte sehr zurückgezogen und abgeschlossen von der deutschen Bevölkerung, heirateten nur untereinander. Spannungen mit den Einheimischen waren nicht selten. Der Zuzug aus der Heimat stärkte das böhmische Element in Berlin. Sehr aktiv waren die drei Berliner kirchlichen Gemeinden auch in der Herausgabe tschechischer Literatur. Der lutherische Pfarrer Servus verfaßte eine Geschichte der böhmisch-lutherischen Gemeinde, die heute in Prag aufbewahrt wird. Das mit einer Widmung an die preußische Königin versehene böhmische Kancyonal des reformierten Pfarrers Eisner ist bis in die jüngste Zeit bei den Exulantengemeinden in Osteuropa in Gebrauch gewesen. Auch er gab eine Verfolgungsgeschichte und einen Abdruck des Bruderkatechismus von 1608 heraus. Während der Napoleonischen Kriege wurden auch die Böhmen zum Heeresdienst eingezogen. Als Freiwillige ist sogar ein als Soldat verkleidetes böhmisches Mädchen aus Friedrichshagen, Eleonora Prohaska, im Lützowschen Korps gefallen. 1813 bewährten sich die Böhmen als Dolmetscher zwischen Deutschen und Russen. Mit dem Erlaß des Toleranzpatentes und der Aufhebung der Leibeigenschaft in Böhmen und Mähren 1781 durch Kaiser Josef II. hörte die Abwanderung aus den böhmischen Ländern auf. Es kam sogar zu Rückwanderungen aus dem preußischen Schlesien und aus Berlin. Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft und im Gefolge davon der Befreiung von der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit und anderer drückender Lasten ist Josef IL seinen Nachbarländern weit vorausgeeilt. Dadurch und dank dem Reformkatholizismus der Josefinischen Zeit blieben Böhmen und Mähren katholisch. Nur 2 % der Bevölkerung, 45 000 Menschen, erklärten sich 10

Der zweisprachige Grabstein der Katerina Gelinkowa (gesprochen: Jelinkowa) geb. Aplowa (Catharina Hirschel geb. Appelin), gest. 1796, an der Wand des Böhmischen Gottesackers in Neukölln

für evangelisch. Die in der Heimat seit fast 200 Jahren so sehr vernachlässigte tschechische Nationalkultur konnte an die Werke der Emigration anknüpfen. Darin liegt das Wunder der tschechischen Wiedergeburt in Böhmen und Mähren. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte man die Germanisierung der böhmischen Länder auch in tschechischen Kreisen für unvermeidlich gehalten. Dafür begann jetzt in der Emigration die Sorge um die Erhaltung der nationalen Identität. Das vorhandene Nationalgefühl verhinderte zwar eine schnelle Eindeutschung. Aber „die Alten sterben weg, und die Jungen entwöhnen sich der Muttersprache und schließen sich deutschen Gemeinden an", heißt es einmal. Besonders in den Kolonien mit von vornherein gemischter Bevölkerung starb die böhmische Sprache bald aus. Die Familiennamen wurden der deutschen Schreibweise angepaßt, z. T. direkt ins Deutsche übersetzt: aus Sagiz wurde Hase, aus Lischka Fuchs. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden die böhmischen Lehrerstellen in den gemischten Kolonien gestrichen. 1809 wurde die böhmisch-lutherische Gemeinde in Nowawes mit der deutsch-lutherischen zusammengelegt. 1822 wurde ein böhmischer ColonieCommissarius nicht mehr bewilligt. In den meisten ehemaligen Kolonien erinnert heute nichts mehr an die böhmische Vergangenheit. Vielfach sind sogar ihre Ortsnamen von der Landkarte verschwunden durch Eingemeindung oder Zusammenschluß und leben nur noch in Straßennamen weiter. Nur in Rixdorf hat sich das böhmische Element, die tschechische Sprache bis ins 20. Jahrhundert erhalten, obwohl der preußische Staat mindestens seit den 20er Jahren des vorletzten Jahrhunderts und noch schlimmer seit 1871 eine forcierte Eindeutschungspolitik gegenüber seinen Minderheiten betrieben hat. 1835 klagt ein Lehrer aus Hussinetz in Schlesien: „Was wir von den höheren Ämtern erlitten, das weiß nur Gott und wir allein." Als in Berlin 1827 bei der 11

lutherischen Bethlehemsgemeinde die Pfarrstelle ihres letzten und größten böhmisch predigenden Geistlichen durch Tod und 1829 auch bei der reformierten Bethlehemsgemeinde durch Amtsniederlegung die Pfarrstelle frei wurde, verweigerte das Konsistorium die Bestätigung des böhmisch predigenden Magisters Johann Wilhelm Rückert und oktroyierte den Gemeinden unter Übergehung auch anderer zweisprachiger Bewerber jeweils einen Geistlichen, der die tschechische Sprache nicht verstand. Allein in Rixdorf konnte Rückert noch bis 1840 jährlich einige böhmische Gottesdienste abhalten. Auf ihren Protest hin wurden zwei Älteste der Reformierten wegen Beleidigung des Konsistoriums zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. Die Strafe wurde später auf 14 Tage Arrest herabgesetzt und den Gemeinden das Recht auf Wahl des Geistlichen wieder bestätigt. Die Kirchenleitung vertrat die Eindeutschungsbestrebungen noch härter als die staatlichen Ämter. Sie erwog sogar den Plan, die böhmischen Gemeinden überhaupt aufzulösen. Mit dem Ende der böhmischen Sprache im Gottesdienst hörte auch die tschechische bzw. zweisprachige Beschriftung der Grabsteine auf. Wie lange der böhmische Gottesdienst bei den Herrnhutern angehalten hat, geht aus keinen Aufzeichnungen hervor. In der Brüdergemeine wurde bis 1875 aber noch die große Kirchenlitanei in tschechischer Sprache verlesen. Und das böhmische Gesangbuch wurde erst 1893 endgültig durch das deutsche ersetzt. Die Schulen der beiden Bethlehemsgemeinden in Berlin wurden 1871 geschlossen, und in Rixdorf erfolgte die Zusammenlegung mit der deutschen Schule 1874 bei der Vereinigung von Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf. Die Schule der Rixdorfer Brüdergemeine wurde erst 1909 aufgehoben. Ein Treffpunkt derjenigen, die die böhmische Sprache noch pflegten, waren um die Jahrhundertwende die Räume der Mutter Noack im Keller gegenüber der Einmündung des heutigen Hermhuter Weges in die Richardstraße, gegenüber dem alten Sandkrug, der Ceska Hospoda. In Neukölln, wie Rixdorf seit 1912 heißt, starb 1925 der letzte Böhme, der kaum ein Wort Deutsch verstand, und 1940 verschieden die beiden letzten Böhminnen, die die tschechische Sprache noch beherrschten. Im letzten Krieg wurde die Friedrichstadt, die sich schon lange aus einem Wohn- in ein Geschäftsviertel verwandelt hatte, zerstört und damit auch die böhmische Kirche und das Gemeinhaus der Hermhuter. Während die Böhmisch-Reformierten in Berlin und Rixdorf schon immer eine Gemeinde (mit zwei Predigtstätten) bildeten, sind die beiden anderen böhmischen Gemeinden in Berlin nach dem Krieg mit ihren Schwestergemeinden in Neukölln verschmolzen worden. Der alte Böhmische Kirchhof in Berlin ist bis auf einen kleinen Rest 1971 der Straßenerweiterung am Blücherplatz zum Opfer gefallen. Für das in Neukölln durch eine Fliegerbombe vernichtete Gemeinhaus hat die Brüdergemeine 1961 ein modernes Gemeindezentrum bekommen, das leider architektonisch aus dem Rahmen des Böhmischen Dorfes fällt. Die alten Brüderhäuser haben nämlich einen eigenen Baustil mit Dachtürmchen. Stadtbaurat Kiehl hat sich offenbar bei der Anlage des Neuköllner Krankenhauses in den Jahren 1906 bis 1909 davon inspirieren lassen. Der Mitteltrakt im Hauptgebäude mit dem großen Versammlungssaal im 1. Stock ist architektonisch einem brüderischen Gemeinhaus ähnlich. Die reformierte Gemeinde hat 1938 die Bezeichnung „böhmisch" aus ihrem Namen gestrichen, weil sie zu einer Sammelgemeinde geworden war. 1940 stellte sie aber noch fest, daß die Gemeindezugehörigkeit erblich sei und am Namen hänge. Manches hat sich noch an altem böhmischem Brauchtum in den Gemeinden erhalten: bei den Reformierten das Lichterbrett bei der Christvesper und bei der Brüdergemeine der Ostergang mit dem Bläserchor am frühen Sonntagmorgen auf den Böhmischen Gottesacker, um der Heimgegangenen zu gedenken. Zu Weihnachten wird von einem Teil der Brüdergemeine noch das alte böhmische Weihnachtslied Cas radosti (Zeit der Freuden) gesungen. 1912 haben die drei Gemeinden ein Denkmal für König Friedrich Wilhelm I. am Eingang in das Böhmische Dorf errichtet. Im letzten Krieg 12

WL5 imtmD^T D "ijTsc'nass radosti, 2)To jssme wschichni 3)Sspassiteli,

1iNeb buch wjetschny 2)Zo andjele 3iS tschisste panny

1)W mjesstetschku 2)A protosch 3)Krali na3ch,

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wesselosti lide hrschichni kwitku mili,

sswjetu nastal radostnje tschek= Fane nasch Je=

nynji, kali, sohischi,

nekonetschny dness wessele naroseny,

narodil sse s nam Jssou swjessto= poklade nej=

panny. wall. draschschi!

Betlemnje plassejme Pane nasch,

w jesslitschkach wschichni sse ssklonj sse k nam

pacholatko nealuwnjatku tw« radosti

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na aslamnje radujm5, jako Pan,

entging es der Einschmelzung nur, weil es Privatbesitz der Gemeinden ist, und nach dem Krieg hat es die sowjetische Besatzungsmacht verschont, weil es von Slawen erbaut worden war. Das Böhmische Dorf hat sein Aussehen nach dem großen Brand von 1849 verändert. Nur ein einziges Haus ist wieder so firstständig aufgebaut worden, wie einst alle anderen auch standen. Noch acht Anwesen werden von Nachfahren der eingewanderten Böhmen bewohnt. Sie pflegen die überkommene Tradition und haben mittels einer Bürgerinitiative im Jahre 1981 die Zerstörung der immer noch von ihnen geprägten Dorfstruktur durch ein geplantes großes schulisches Oberstufenzentrum mitten im Ortskern verhindern können. 250 Jahre sind Böhmen in Berlin. Die Geschichte spricht nicht nur aus den Straßennamen, sondern auch aus dem Wappen Neuköllns mit dem Hussitenkelch. Die böhmische Einwanderung ist nie so spektakulär betrachtet worden wie die hugenottische oder salzburgische, wahrscheinlich aus einem antislawischen Vorurteil heraus. Es hat sogar Zeiten gegeben, in denen versucht worden ist, die tschechische Herkunft der Einwanderer zu verschleiern. Neben schon vorher erwähnten Ereignissen wurden 1938 in Neukölln die Johann-Hus-Straße (heute Zwiestädter Straße) und vermutlich auch die Taboritenstraße (heute ein Teil der Kirchhofstraße) umbenannt, wie überhaupt viele Bezeichnungen, die an slawische Besiedlung oder Einflüsse erinnerten, damals in der Mark und andernorts ausgelöscht worden sind. Gerüchteküche und Mundpropaganda hatten im Dritten Reich das zu besorgen, was niederzuschreiben noch nicht möglich war. Die Böhmen waren auf einmal zu Deutschstämmigen, quasi Sudentendeutschen von Anbeginn, ernannt worden. Im Arrangement mit dem Regime blieb es nicht aus, daß vereinzelt auch einer von ihnen einen deutschen Herrenstandpunkt gegenüber den „minderwertigen Slawen" eingenommen hat. Dieser Versuch einer Geschichtsklitterung dürfte überwunden sein. Die böhmische Einwanderung hat nicht nur in Berlin Bleibendes für uns hinterlassen. Der große böhmisch-lutherische Prediger Janik bzw. Jänicke hat im Jahre 1800 die erste Berliner Missionsgesellschaft und 1805 eine biblische Gesellschaft gegründet, aus der die Preußische Hauptbibelgesellschaft hervorgegangen ist. Sein Nachfolger in der Leitung der Gemeinde, Johannes Goßner, bayerischer Herkunft, gründete die große Missionsgesellschaft, die seinen Namen trägt, und das älteste in West-Berlin stehende Krankenhaus, das Elisabethkrankenhaus in der Lützowstraße. Daniel Ernst Jablonski, der Enkel des Brüderbischofs Comenius, hat als Oberhofprediger in Berlin die Berliner Akademische Gesellschaft gegründet. Der in Berlin geborene archäologische Schriftsteller Ceram (u. a. Verfasser von „Götter, Gräber und Gelehrte") benutzte dieses Wort als Pseudonym, es ist sein umgekehrt gelesener böhmischer Familienname Marek. Die Masse der im Deutschtum aufgegangenen bäuerlichen und handwerklichen Exulanten bildete einen Grundstock der Berliner Arbeiterschaft. Nach den ersten adelig-bürgerlichen Einwanderungswellen nach Sachsen haben Gelehrte böhmischer Abkunft wie der Philosoph und Naturforscher Tschirnhaus das deutsche Geistesleben beeinflußt und befruchtet. Manche großen Geister unserer Nation wie Herder, Lessing und Schleiermacher sind von böhmischen Schulen geprägt worden, durch die sie gegangen waren. Die Einwanderungsbewegungen brachten eine Auflockerung der Gewerbebeschränkungen in der Stadt und des Flurzwanges auf dem Lande mit sich. Sie beschleunigten dadurch die Befreiung des Bauernstandes und die Emanzipation des Bürgertums. Auf den Souverän gemünzt, der sie in seinem Land aufgenommen hat, haben die Böhmen in Rixdorf den Leitsatz: Lev ostrihä holubicku (Der Löwe beschützt das Täubchen). An die Stelle des Monarchen ist als Souverän das Volk, die Gesellschaft getreten. Der Rang dieser Gesellschaft ist so hoch wie die Achtung, die sie ihren Minderheiten und deren Rechten entgegenbringt. 14

Böhmische Kolonien in und um Berlin 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Südliche Friedrichstadt, die „böhmische Walachei" (1732) Böhmisch-Rixdorf(1737) Neu-Schöneberg (Krasna Hora), am „Böhmerberg" (1750) Nowawes (Böhmisch-Neuendorf) (1751) Schönerrinde bzw. Grünerlinde (Krasna Lipa) (1752) Neuzittau (1752) (für Sachsen und Böhmen gegründet) Friedrichshagen am Müggelsee (1753) Schönholz (1767/1768) Neu-Zehlendorf (Hubertushäuser) (1768) Grünau (1768) Boxhagen bei Rummelsburg (1771)

Literatur Akten der böhmischen Gemeinden beim Archiv der Evangelischen Kirche in Berlin (West). Brode, Eugen: Geschichte Rixdorfs. Verlag Mier & Glasemann, Rixdorf 1899. Die Bethlehems- oder Böhmische Kirche. Evangelisches Gemeindeblatt Berlin, Jg. 23, Nr. 8-10, August-Oktober 1972. Die Brüderunität in Bildern 1457-1957. Prag 1957. Herausgegeben von der Brüderunität in Prag. Geschichte der Brüdergemeine Rixdorf zum 150jährigen Jubiläum der Gemeine am 4. März 1906 (Rixdorf 1906). Hort, Irmgard: Die böhmischen Ansiedelungen in und um Berlin. Aus Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für Deutsche Kirchengeschichte 1959. Koehler & Amelang (VOB), Leipzig. Huettchen, Bruno: Ein Böhme schuf Berlins „Carlsbad". Berliner Börsenzeitung, 28.3.1939. Kafka, Otto F.: Reminiszenzen an Familie Serno. Mitteilungsblatt des Neuköllner Heimatvereins, Nr. 10, S. 151, August 1957. Knak, G.: Johann Jänicke, der evangelisch-lutherische Prediger an der böhmischen oder Bethlehemskirche zu Berlin nach seinem Leben und Wirken dargestellt von Karl Friedrich Ledderhose, evangel. Pfarrer u. Dekan zu Neckarau bei Mannheim, und zum Besten der Mission für China. Im Selbstverlag Berlin 1863. Knak, Johannes: Festbüchlein der böhmisch-lutherischen Gemeinde der Bethlehems-Kirche. Selbstverlag Berlin 1887. Möller, Georg: Von Richardsdorf bis Neukölln. Neukölln 1926. Motel, M.: Böhmisches Dorf - Böhmische Dörfer? Geschichte und Entwicklung eines Neuköllner Phänomens. Bezirksamt Neukölln von Berlin, Pressestelle, Paul Kistmacher Druckerei 1982. Müller, Joseph Th.: Geschichte der böhmischen Brüder. Herrnhut 1925 und 1931. Lic. Nordmann, Walter: Der Böhmenzug. Aus „Der Heliand". Verlag des Evangelischen Bundes, Berlin 1937. Petranek, Adolf: Festschrift zur hundertundfünfzigjährigen Gedenkfeier der Einweihung der Bethlehemskirche zu Berlin. Verfaßt im Auftrage der Ältesten der evangelisch-reformierten böhmischen Gemeinde. Friedrich Luckardt, Berlin 1887. Petranek, Adolf: Die Bethlehemskirche zu Berlin. Der Bär, 14. Jg., Nr. 13 (24.7.1887). Schmidt, Hans: Die böhmischen Brüder. Burckhardtshaus-Verlag, Berlin-Dahlem 1938. Schneider: Zur Erinnerung an die Jubelfeier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Brüdergemeine in Berlin am 29. September 1901. J. Windolff. Berlin SW12. Prof. Dr. Schultze, Johannes: Rixdorf- Neukölln. Herausgegeben vom Bezirksamt Neukölln. Mier& Glasemann KG, Berlin-Neukölln 1960. Winter, E.: Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Akademie-Verlag, Berlin 1955. Winz, Helmut: Es war in Schöneberg. Haupt & Puttkammer OHG, Berlin 1964. Anschrift des Verfassers: Priv.-Doz. Dr. med. Otmar Liegl, Grünlingweg 6, 1000 Berlin 47 15

„Die Weihhändler Mitscher und Caspary, gelegen an der Königs- und Klosterstraßen-Ecke ..." Vor Christiane Knop Diese Ecke gibt es in Ost-Berlin noch. Zwar ist sie wie seit dem 18. Jahrhundert noch immer ein Punkt im geschäftigen Stadtverkehr; die einstige Königsstraße heißt heute Rathausstraße und zieht sich durch Hochhauszeilen dahin. In friderizianischer Zeit standen hier und in der Klosterstraße barocke Stadtpaläste, wovon heute einzig das Podewilssche Palais zeugt. Die Weinstube Mitscher und Caspary war ihm einst benachbart - eine „gute Adresse" in der Gesellschaft -, und ihr Haus wiederum grenzte an die schöne frühgotische FranziskanerKlosterkirche aus der Zeit der askanischen Markgrafen. Doch ihre heutige Ruine mit der kristallinisch reinen Form der durchbrochenen Maßfenster im Chor ist nun ein abseitiger Ort. Das Verkehrsgebrause verschallt hinter Mühlendamm und Jüdenstraße. In der Klosterstraße herrscht gespenstische Stille. Erst wenn Abendnebel vom Westen, vom Dom her aufziehen, steigt das Vergangene auf. Da verbindet sich im Geiste des Betrachters auch Aufstieg und Ausprägung der beiden Weinhändlerfamilien Mitscher und Caspary und deren Handlung im Dunstkreis des preußischen Königshofes. Familientradition und Geschäft werden heute in West-Berlin von der letzten Caspary-Erbin fortgeführt, und sie bewahrt, wie durch Wunder und sonderbare Launen der Geschichte erhalten, eine ganze Kiste mit handschriftlichen Urkunden, alten Frachtbriefen, Rechnungen und Kontobüchern auf. Sie bezeugen vom Reisepaß des ersten Mitscher bis zur Ernennung des letzten Caspary zum Handelsrichter in der Weimarer Republik, wie sieben Generationen Berliner Bürger, fünf davon im Zusammenhang mit dem Hohenzollernhaus, in der Residenzstadt eine Wein- und Gesellschaftskultur formten. „Es war immer ein schweres Gewerbe", betont die letzte Erbin und meint damit die Arbeit im Weinberg; es gilt aber auch für das Stehen in preußischen Zeitläuften. Denn es hielt die Familientradition auch fest, was es hieß, preußischer Untertan und Berliner Bürger zugleich zu sein. Und sie kann dartun, was es, besonders in Napoleonischer Zeit, an Leistung erforderte. Die Casparys standen dank ihrer moselländischen Herkunft der gelegentlichen berlinischen Selbstgefälligkeit kritisch gegenüber, trugen dessen ungeachtet aber die Lasten eines residenzstädtischen Gemeinwesens, als wären sie sie sich selber schuldig. Zwar hatten sie nie den literarischen Nimbus wie Lutter und Wegener; kein E. T. A. Hoffmann und kein Ludwig Devrient nahmen bei ihnen Zuflucht vor dämonischem Selbstverzehren. Auch hatten sie nicht den Vorzug, sich „Königliche Hoflieferanten" zu nennen wie die Habeis Unter den Linden. Es mochte bei ihnen wohl eher ausgesehen haben wie in Sala Tarones Etablissement, das Fontane im „Schach von Wuthenow" beschreibt: ein schlichtes Stadthaus, eine schaukelnde Laterne in der Hausdurchfahrt für die Rollwagen, sonst alles „duster", und der Küfer warnt die späten Gäste: „Aliens voll Pinnens un Nagels!" Im verblakten Keller aber findet man seine Behaglichkeit, später dann, in der ausgehenden Wilhelminischen Zeit, prächtige Räume, KPM-Geschirr und Bestecke von Sterlingsilber. Doch wir sind der Zeit vorausgeeilt. Es kamen die Begründer Justus Mitscher und Nicolaus Caspary, Ableger zweier alter Familien aus Traben-Trabach, 1784 nach Berlin. Friedrich der Große hatte die Stelle eines Kellermeisters an seinem Hofe ausgeschrieben; doch ihnen beiden zuvor kam um wenige Wochen Simon Habel, der die Stelle bekam. Dennoch blieben beide und suchten in Berlin ansässig zu werden. 16

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Sie müssen der heimatlichen Sippe abenteuerlich erschienen sein mit ihrem Entschluß, es mit dem preußischen Friedrich und seinen Berliner Spreeweinen aufzunehmen. - Vom großen Friedrich wußte man, daß er französische Rotweine bevorzugte und von deutschen Weißweinen nichts hielt. Ein Zeitgeschmack. Die Pflege der Spreeweine war damals noch den Wollanks1 anheimgegeben. Heute ist nicht mehr ersichtlich, wie weit Rat und Förderung der Wollanks mitgespielt haben beim Entschluß der jungen Weinhändler. Eine lose Verbindung jedoch muß sich hergestellt und erhalten haben; denn die Casparys verkauften 1848 die letzte Flasche Wollankschen Wein für drei Taler - da „ging" er schon nicht mehr; tout Berlin einschließlich des Hofes hatte Mosel- und Rheinwein schätzen gelernt, und Glaßbrenner verspottete den Spreewein als „Schulwein", geeignet, „sehulunwillige Kinderkens" damit in die Schule zu jagen, indem man ihnen androhe, andernfalls den sauren Spree wein trinken zu müssen. Die Wollanks dagegen lieferten den Casparys 1794 die Steine zum Hausneubau. Justus Mitscher kam mit einem Paß aus Frankfurt am Main. „Wir, Bürgermeister und Rat des Heiligen Reichs Stadt, ersuchen hiermit alle und jede Person Vorweiser dieser, den Justus Mitscher, welcher Geschäfte halber unterwegs ist, zu vorgemerktem Vorhaben... alle Beförderung und Hilfeleistung zu erzeigen." Um sich bei Hofe einzuführen, brachte er Proben von Rhein- und Moselwein mit, für welche er, hätte der kgl. Keller sie gekauft, Akzise hätte entrichten müssen. Dem König gefiel der Mosel; er behielt ihn und erwies sich dem Niederlassungsansinnen geneigt, wies sodann aber Herrn Mitscher über das Generaldirektorium an, er möge den Rheinwein anderwärts verkaufen oder zurücktransportieren. „Den Colonisten und Weingärtnern Justus Mitscher und Nicolaus Caspary wird auf ihre bei des Königs Majestät eingereichte Bittschrift vom 10. hujus der Freipass [Befreiung von der Akzise] auf die erbetenen 10 Stück Faß Mosel Wein, nicht aber auf nämliches Quantum Rhein-Wein in des Königs Namen Höchstselbst vollzogen. Genehmigt 13. Dezember 1784. - Der Kgl. Preußische General-Oberfinanz-Kriegs- und Domänen-Direktor." Es folgen drei Unterschriften, das kgl. Siegel und eine Stempelmarke für die Krone und die Initialen FR auf dem Bescheid. So blieben die „Colonisten und Weingärtner", die dem König dargetan hatten, daß sie aus der Kenntnis eigner Weinberge etwas von Weinbau und Lagerung verstanden und daß damit auch in Preußen ein gutes Geschäft zu machen sei. Sie gründeten die Firma „Weinhandlung Mitscher und Caspary. Anno 1785" - bald ist sie zweihundert Jahre alt. Und sie erwarben das Berliner Bürgerrecht. Seine Formulierung ist in sieben Generationen vom Vater auf den Sohn bewahrt worden und bewußt gewesen in seiner inhaltlichen Bedeutung. „Ich gelobe und schwöre meinem Allergnädigsten Könige und Herrn, auch Einem Hoch-Edlen Magistrat dieser Kgl. Haupt- und Residenzstadt, jederzeit getreu und gehorsam sich zu zeigen, Dero Nutzen und Bestes nach höchstem Vermögen zu befördern, dagegen Schaden und Nachteil zu kehren und abzuweisen. So oft ich auch von Seiner Kgl. Majestät bei Tag und Nacht, in heimlichen oder öffentlichen Sachen gefordert werde, will ich gehorsam allemal erscheinen und alles, was mir auferlegt wird, mit gutem Fleiß bestellen, auch mich in keinerlei Sachen wider Seine Kgl. Majestät oder einen Hoch-Edlen Magistrat gebrauchen noch finden lassen. Ingleichen will ich alle und jede Gaben, sie haben Namen, wie sie wollen, gern und willig abtragen und bezahlen, und mich in allen Dingen, wie auch einem guten Bürger 1

Eine alte Berliner Familie, die mindestens seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert dort ansässig war und im frühen 19. Jahrhundert die nördliche Gegend vor dem Königstor erschloß, wovon heute noch die Straßennamen „Weinbergsweg" und „Weinmeisterstraße" zeugen, ferner der S-Bahnhof „Wollankstraße" (Pankow).

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eignet und gebühret, erzeigen und verhalten. So wahr mir Gott helfe durch Seinen Sohn Jesum Christum." Früher als gedacht kam die Zeit, wo die Weinhandlung die „Gaben willig und gerne abtragen und bezahlen" sollte. 1793 war ihr von König Friedrich Wilhelm IL die Genehmigung zum Ausbau und Umbau des Hauses an der Klosterstraßen-Ecke erteilt worden. Dann kamen die Koalitionskriege mit dem Einfall der Franzosen in die Pfalz. Die Mitscher und Caspary waren einfallsreicher und vorsorglicher als andere: Sie verbrachten 1796 den in Traben lagernden Wein schleunigst und auf eigene Kosten - der Preis war durch den „Kriegstrubel" ernorm überhöht - nach Berlin. Auch die Lagerkosten übernahmen sie auf eigne Kappe. Und dann stockte der Absatz unerwartet; auch der Hof nahm den bestellten Wein aus Sparsamkeit nicht ab. Die Weinhandlung mußte sich bei Hofe in Erinnerung bringen mit einer nur für den König verbilligten Angebotsliste, versehen mit dem Hinweis, daß die Firma schon für die „Kellereien des Hochseligen Königs" Friedrich geliefert habe. Vom Erfolg dieser Offerte weiß man wenig. Die Zeiten wurden noch schlimmer. Berlin war seit 1806 von den Franzosen besetzt, Napoleons Kontribution lastete schwer, besonders schwer auf dem Stand der Kaufmannschaft, die sie als Korporation aufbringen mußte. So müssen die Mitscher und Caspary um Befreiung von Einquartierung bitten mit einem Gesuch, sie hätten als getreue Untertanen des Königs alle Pflichten geleistet, wie es ihnen auch als Bürger zukam. „Dieses können die Weinhändler Mitscher und Caspary in der Königs- und Klosterstraßen-Ecke mit Wahrheit bezeugen." Sie führen ins Feld, daß ihnen durch den Transport nach Berlin selbst 3000 Louisdors Frachtkosten entstanden seien. Aber durch die Besetzung Berlins hätten sie viele Kunden verloren, die Keller seien außerdem geplündert worden, und gerade jetzt seien Unkosten für den Hausneubau entstanden. So könnten fremde Händler mit größerem Gewinn verkaufen, sie aber seien getreue Untertanen und bezahlten die Akzise pünktlich. Das französische Einquartierungsbüro scheint ein offenes Ohr dafür gehabt zu haben; doch von der Kriegskontribution wurde niemand befreit. Es folgte lakonisch die Anordnung des Kommissars: „Die Kontribution von 100 Talern ist am 23. 5.1807 zu zahlen im Comptoir des Herrn Girard und Sohn am Mühlendamm, vormittags 9 bis 1 Uhr. Abschlägige Zahlungen können nicht entgegengenommen werden." Auch eine Quittung seiner pünktlichen Zahlung ist dem Herrn Caspary ausgefertigt worden, daß er „als Eigentümer des in der Königsstraße belegenen, mit der Nr. 40 bezeichneten Hauses zur Bestreitung der Kriegskosten einen unverzinsbaren Vorschuß von 150 Reichstalern zur Hauptstadt-Kasse bezahlt hat,... und soll diese Quittung bei der künftigen Regulierung als bares Geld oder Zahlungsmittel angesehen werden." Man hat es aufbringen können, da Sparsamkeit ererbte Familienkunst gewesen zu sein scheint, zumindest seit der zweite Herr Caspary seine Ausgaben im Kontobuch pedantisch rubrizierte: Trinkgelder für den Orgeltreter der (benachbarten) Parochialkirche (obwohl die Familie zu St. Nicolai gehörte), Ausgaben für einen Kupfertopf, für ein Leinenhemd, für den Anstreicher der Kellertür und für eine einschläfrige Bettstelle. Rührend zu sehen, wie da Großes und Kleines miteinandergeht! Doch war die Familie zu dieser Zeit schon wohlhabend, denn die Bestandsaufnahme schloß: „... haben wir mit Gottes Segen 50000 Taler Courant." Der Alexanderplatz lag nahe. Er war Wollmarkt. Nach abgewickeltem Geschäft kehrten die märkischen Junker bei Mitscher und Caspary ein. Sie wußten, sie würden dort vorzüglichen Wein finden und beste Gesellschaft. Die Königs- und Klosterstraßen-Ecke des Herrn Caspary führte Adel und Nobelbürgertum zusammen; durch sein Zutun ist das aufgeklärte Berlin erwachsen. Die Firma führte in kaiserlichen Zeiten nicht nur ein Gästebuch, sondern auch ein 20

Schuldnerverzeichnis. (Die Habeis taten's auch.) Eingetragen waren viele junge Gardeoffiziere. Kamen die Väter zum Wollmarkt nach Berlin, beglichen sie - zumeist - die Weinrechnungen ihrer Söhne. Doch zuweilen kam es anders, die Firma sicherte sich ab. Das weinfreudige Berlin fand hier sein Charakteristikum festgeschrieben, zum Exempel: „Ist ein schlimmer Zahler" oder „ .. .ist nichts zu hoffen." Doch man kam über gute und böse Zeiten, sogar über das Ende der Hohenzollernmonarchie hinweg. In der Weimarer Republik wurde der fünfte Caspary zum Handelsrichter ernannt. „An den Kaufmann Karl Caspary sen. in Berlin" steht handschriftlich, wie in der preußischen Verwaltung üblich, auf dem linken unteren Rand auf normalem Briefbogen in schlechtem Papier. „Der Justizminister Ial375

Berlin W 8, den 30.12.1923

Mittels Erlasses von heute sind Sie für die Zeit vom 16. Jan. 1924 bis 1926 zum Handelsrichter beim Landgericht I in Berlin ernannt worden. - Im Auftrag Dr. ..." So arm war die Republik geworden. Auch das Vermögen der Mitscher und Caspary war am Ende des Ersten Weltkrieges als verlorene Kriegsanleihe erbärmlich zusammengeschrumpft. Man ertrug es wie alle Opfer in den vergangenen Zeiten. Dennoch reichte es zum Weiterleben; erst dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb es vorbehalten, alles zu zerstören, die Firma in dem zerbombten Haus schuld- und sinnlos zu enteignen. Die alt-neue Firma „Mitscher und Caspary". Anno 1785" lebt anders. Sie weiß es. Und trotzdem ist unvergessen, was der in Traben zurückgebliebene Vetter 1785 an Justus Mitscher schrieb, als er von dessen Entschluß erfuhr, sich im Berlin Friedrich des Großen niederzulassen: „Die Großmut und Liebe des Königs gegen Sie hat mich in rührende Empfindung versetzt. Verehren Sie ihn, wie er mir allezeit groß verehrungswürdig blieb! Man hat Ursach, Gott zu danken, wenn man in einem Lande Schutz und Fürsorge genießt und sich ehrlich mühen darf und sein Brot erwerben kann. Kehren Sie sich nicht an die vielen Lästerungen, die man über den Herrn ausstößt; es ist unverantwortlich, sündhaft und lieblos und wider Gottes Gebot." Die sieben Generationen Casparys liegen begraben auf dem alten Nicolai-Friedhof am Prenzlauer Tor in der einstigen Königsstadt; bei ihnen schlafen in guter Gesellschaft viele Berliner Bürgermeister, Künstler, Gelehrte und Musiker und die Begründer alter Waisenhäuser und Schulen. Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28

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Ernst Kaeber zum Gedächtnis Von Konrad Kettig Dem Verein für die Geschichte Berlins ist es eine Ehre und Freude zugleich, sich an Leben und Werk seines Ehrenmitglieds Dr. Ernst Kaeber, dessen Geburtstag sich am 5. Dezember 1982 zum hundertsten Male jährte, in Dankbarkeit zu erinnern. Der Charlottenburger Ernst Kaeber (5. Dezember 1882 - 5. Juli 1961) besuchte das Joachimsthalsche Gymnasium, studierte Geschichte und neuere Sprachen, promovierte bei dem bedeutenden Erforscher preußischer Geschichte Otto Hintze 1906 zum Dr. phil. und ließ sich für die Laufbahn eines wissenschaftlichen Archivars ausbilden. In den Jahren 1913 bis 1955 - unterbrochen durch eine politisch bedingte Amtsentsetzung von 1937 bis 1945 - war er Direktor des Stadtarchivs (heute Landesarchiv Berlin). Die sehr erfolgreiche Tätigkeit des Stadtarchivars wurde begleitet, wie die Liste der Titel seiner veröffentlichten Schriften ausweist, von einer Fülle wissenschaftlicher, aus zuverlässigen Quellen erarbeiteter, streng sachlicher Publikationen zu Themen aus allen Perioden der Vergangenheit Berlins. Dieses wissenschaftliche Werk, das der Erfroschung und Darstellung der Geschichte seiner Vaterstadt galt, stellt einen Glanzpunkt in der Geschichtsschreibung der Stadt Berlin dar. Einzelheiten über Leben und Werk des bisher wichtigsten Historiographen Berlins in unserem Jahrhundert findet der Interessierte in mehreren Veröffentlichungen. Es sind zu nennen: Kettig, Konrad: Ernst Kaeber als berlinischer Historiker (mit Bibliographie), in: Der Bär von Berlin, 1957/58, S. 7-18; Lachmann, Joachim: Ernst Kaeberf, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 9/10,1961, S. 698-701; Oschilewski, Walther: Ernst Kaeber zum Gedächtnis, in: Der Bär von Berlin, 11,1962, S. 121/122; Vogel, Werner: Ernst Kaeber, Leben und Werk (mit Bibliographie), in: Ernst Kaeber: Beiträge zur Berliner Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1964, S. 377-392. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß Kaeber unermüdlich bemüht war, der Kenntnis der heimischen Geschichte einen breiteren Raum im öffentlichen Bewußtsein zu verschaffen. Neben anderen Gründen sei das auch deswegen wünschenswert, weil die Beschäftigung mit „der Vergangenheit dem, der einige Stunden ihr Zuhörer wird, Glauben und Kraft eben auch für den Kampf des Tages zu schenken vermag". Um seinem Ziel näher zu kommen, hat er vielerlei unternommen. Vor allemfieldem „Verein für die Geschichte Berlins", der seit vielen Jahrzehnten Freunde der Geschichte der Stadt aus allen Schichten der Bevölkerung umfaßt, eine besondere Rolle zu. Der Verein ist keine gelehrte Gesellschaft, aber er hat von Anfang an nicht nur den Sinn für die Heimatgeschichte zu wecken gesucht, sondern auch durch mehrere Aktivitäten der Wissenschaft und Forschung gedient. Schon 1913 war Kaeber Mitglied des Vereins geworden. Neben zahlreichen Vorträgen hat er zeitlebens tatkräftig in verschiedenen Vorstandsämtern im Verein mitgearbeitet, so z. B. seit 1926 als Schriftführer, seit 1932 als Herausgeber der Vereinszeitschrift, die zur Zeit der Weimarer Republik in eine wissenschaftliche Zeitschrift umgewandelt wurde. Mit dieser Zeitschrift erhielt Berlin endlich das zentrale, maßgebende Organ für alle Fragen, Themen, die in den Bereich der berlinischen Geschichtsschreibung und -forschung fallen. Die Zeitschrift des Vereins konnte dann in den Jahren bis 1945 mit den zahlreichen, meist sehr viel älteren Landesgeschichtszeitschriften des In- und Auslandes durchaus konkurrieren. Diese für eine wirksame Arbeit auf dem Gebiet der berlinischen Geschichte unerläßliche landesgeschichtliche Zeitschrift mit wissenschaftlichen Beiträgen, laufender bibliographischer Berichterstattung und einem Rezensionsteil, der über die wichtigste Literatur des In- und Auslands kritisch 22

referiert, nach 1945 wieder in Gang zu bringen, ist Kaeber aus verschiedenen Gründen nur ansatzweise gelungen. Bis heute fehlt das zentrale landesgeschichtliche Organ für den Bereich der Berliner Geschichte. Statt dessen sind inzwischen mehrere periodisch erscheinende, meist kleinere Publikationsblätter verschiedener Vereine, Museen, sonstiger Institutionen entstanden, die die unheilvolle Zersplitterung der Informationsmöglichkeiten im Bereich der berlinischen Geschichtsforschung verstärkt haben. Die auf diesem Gebiet Suchenden (vor allem Ausländer, die heute sehr viel stärker als früher an Berlinfragen interessiert sind) sehen sich ungeahnten Schwierigkeiten gegenüber. Zum Fehlen eines zentralen Informationsorgans kommt der große Mißstand, daß die für die Arbeit auf dem Gebiet der Berlinforschung benötigten Materialien (Archivalien, Autographen, Porträtsammlungen, Abbildungen, Teildokumentationen, Bücher, Zeitschriften u. a. m.) keineswegs einigermaßen umfassend in einem Archiv, Museum oder einer Bibliothek zur Verfügung stehen, sondern über viele „Stellen" vielfältig zerstreut zu finden sind. Auch die Bemühungen, in diesem Bereich zu einer Zusammenfassung, zu einer behutsamen Zentralisierung der Bestände an Berolinensien (hier im weitesten Sinne gemeint) zu gelangen, sind bisher vergeblich gewesen. Es sollte Aufgabe des Vereins sein, mit Unterstützung einiger weniger Sachverständiger und mit Vertretern aus der Verwaltung eine Beseitigung der bestehenden Mängel einzuleiten. Weiterhin wäre darauf zu dringen, daß der Verein örtlich mit seinem „Apparat" (Vortragsraum, Besprechungszimmer, Arbeitsraum für Benutzer, Bibliothek, Archiv u. a. m.) an eine leistungsfähige, für die Pflege der Berlinforschung zuständige Institution, wie z. B. das Landesarchiv, oder eine Bibliothek angebunden wird. Eine solche örtliche Verbindung von landesgeschichtlicher Vereinsinstitution mit entsprechender kommunaler oder Landeseinrichtung (Archiv, Bibliothek, historisches Museum) wird seit vielen Jahrzehnten vielerorts praktiziert, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und erhöht die Wirksamkeit der Arbeit - vor allem auch in finanzieller Hinsicht - auf landes- und heimatgeschichtlichem Gebiet ganz wesentlich. Möchten in Erinnerung und Erfüllung sozusagen des geistigen Erbes unseres hochverdienten Ehrenmitglieds Ernst Kaeber einige der hier aufgeführten Wünschbarkeiten und Notwendigkeiten zur Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten in der Berlinforschung verwirklicht werden! Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. K. Kettig, Krottnaurer Straße 13,1000 Berlin 38

Nachrichten Synagogen in Berlin Ausstellung im Berlin-Museum, Lindenstraße 14, 1000 Berlin 61. Dauer: 26. Januar bis 20. März 1983. Anlaß: 50 Jahre danach... In Erinnerung an die Eröffnung des früheren Jüdischen Museums in BerlinMitte, Oranienburger Straße 31, am 24. Januar 1933. Das frühere Jüdische Museum in Berlin war aus der Kunstsammlung (Wolfsche Stiftung) der Jüdischen Gemeinde hervorgegangen und feierte unter Teilnahme von Max Liebermann die Eröffnung seiner Räume in dem neben der Neuen Synagoge, Oranienburger Straße 30, gelegenen, 1932 geräumten und umgestalteten Siechenheim der Jüdischen Gemeinde. Diese Eröffnung, nur 6 Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, nahm die Jüdische Abteilung des Berlin-Museums zum Anlaß, mit einer Gedenkfeier und einer Ausstellung „Synagogen in Berlin" an die Bedeutung jüdischer religiöser und kultureller Einrichtungen zu erinnern. 23

Querschnittszeichnung der Synagoge Münchener Straße 37 in Schöneberg Einweihung 1910 Die Synagoge stand 1945 noch; sie wurde 1956 abgetragen Aufnahme: Aus den Akten der Baupolizei Schöneberg, 1982 Fotograf: Hans-Joachim Bartsch Der Nationalsozialismus, der die Zerstörung all dessen plante, was in deutscher und europäischer Kultur und Geschichte „jüdisch" war oder schien, war am 24. Januar 1933 vielen Verantwortlichen als ungeheure Drohung vor Augen, so daß die Eröffnung gerade zu diesem Zeitpunkt eine bewußte Antwort auf die der jüdischen Gemeinschaft gestellte Herausforderung war. Eine Gedenkfeier zur Eröffnung dieses Museums in Verbindung mit einer Ausstellung „Synagogen in Berlin" stehen in einem inneren Zusammenhang; die früheren Berliner Synagogen sind weitgehend zu einem Objekt der musealen und der kunst-/ kultur-/ architekturgeschichtlichen Betrachtung geworden durch die Zerstörung, die ihnen widerfuhr -; gleichzeitig jedoch muß betont werden, daß einige der Synagogen in den noch vorhandenen Resten wie auch in ihrer heutigen intakten Funktion ein Symbol für die Lebendigkeit jüdischen Lebens in Berlin sind. Zur Ausstellung erscheint ein zweiteiliger Katalog „Synagogen in Berlin" und eine „Geschichte des Jüdischen Museums in der Oranienburger Straße 31". Veronika Bendt 24

75 Jahre Stadtbibliothek Am 15. Oktober 1982 feierte die Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße im Bezirk Mitte ihr 75jähriges Bestehen. Unter ihrem Direktor Oberbibliotheksrat Dr. Werner verfügt sie über einen Gesamtbestand von 1,2 Mio. Einheiten. Darunter sind 60 000 Schallplatten, 10000 Kunstdrucke, 5000 gerahmte oder aufgeblockte Bilder, 200 Originalgrafiken von Künstlern aus der DDR, etwa 3000 Diaserien und 160 verschiedene Kurse in 36 Sprachen. Ein umfangreiches Katalogwerk erschließt die Bücher der Ausleihbibliofhek. In mehreren Lesesälen verfügt die Stadtbibliothek über etwa 300 Plätze. SchB.

Vortragsreihe zur Geschichte Berlins im Pergamon-Museum Im ganzen Jahr 1982 hat Dipl.-Phil. Paul Thiel vom museumspädagogischen Dienst an jedem zweiten Sonntag begleitende Vorträge zu einer Ausstellung „Großstadtproletariat - Lebensweise einer Klasse" gehalten, die vom Museum für Volkskunde im Pergamon-Museum veranstaltet worden war. Der erste dieser Diavorträge behandelte die Berliner Kneipen, Destillen und Weißbierstuben, vom „Groben Gottlieb" über „Bock" und „Zippe" bis „Zum Nußbaum", zu „Lutter und Wegener" und zur „Bierkirche" in Friedrichshain. Hierbei wurden auch historische Zusammenhänge wie der Berliner Bierboykott von 1894 behandelt und kulturhistorische, philologische und soziologische Fragen einbezogen. Dabei hat sich P. Thiel auf Archivmaterial, Katasterunterlagen, Baupläne und auch zeitgenössische Illustrationen aus der Zeit um die Jahrhundertwende gestützt. Wenn der Berliner in einer Kneipe einkehrte, dann wurde dort „einer gezwitschert", „einer auf den Diensteid genommen" oder „einer hinter die Binde jekippt", so daß man anschließend „im Tee", „anjeäthert", „illuminiert" oder „leicht anjesäuselt" war. Die Themen weiterer Vorträge waren „Mädchen für alles gesucht", „Schlafburschen und Obdachlose", der „Tod auf dem Feld der Ehre" oder „Hausfrauenvereine". SchB.

Zugänge im Märkischen Museum Das Märkische Museum ist bestrebt, seine Bestände zu mehren. So konnten den Sammlungen u. a. 2200 Berliner Ansichten auf Postkarten von 1945 bis zur Gegenwart, 90 Münzen aus der Zeit des 13. bis 18. Jahrhunderts, eine komplette Schmiedeausrüstung aus der Zeit um die Jahrhundertwende, Theaterzeitschriften von 1911 bis 1937, Theaterunterlagen von Liebhaberbühnen, historisches Kinderspielzeug, Schmuck und Handarbeiten hinzugefügt werden. SchB.

Neue Aufschlüsse zur Berliner Stadtgeschichte Unter Leitung von Dr. Heinz Seyer von der Arbeitsstelle für Bodendenkmalpflege beim Märkischen Museum wurde vorder Turmfront der Nikolaikirche ein 12 X 12 m großes, bis zu 3 m tiefes Feld ergraben. 10 m westlich des Turmeingangs zeichnet sich eine dicke Lehmschicht ab, die von Holzwänden begrenzt wurde. Dabei handelt es sich vermutlich um den ehemaligen Keller eines 4 x 4 m großen Hauses aus dem 14. Jahrhundert. Weitere Untersuchungen der Archäologen sollen nun ergeben, ob hier Spuren des bisher ältesten nachgewiesenen Berliner Hauses entdeckt wurden. In der Nähre liegt eine kreisrunde Bodenverfärbung von 75 cm Durchmesser, die auf ein hölzernes Vorratsbehältnis, etwa eine Tonne, schließen läßt. SchB.

Aus dem Mitgliederkreis Unserem Ehrenmitglied Willy Brandt ist am 29. November 1982 von der Universität Leeds die Ehrendoktorwürde der Rechtswissenschaft in einer Feierstunde verliehen worden, bei der die Herzogin von Kent als Kanzler der Universität den Vorsitz hatte. SchB. 25

Aus dem Mitgliederkreis ist nachzutragen, daß Professor Julius Posener, der unlängst zum Dr.-Ing. E. h. promoviert wurde, vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz mit dem Karl-FriedrichSchinkel-Ring ausgezeichnet wurde. Damit sollen seine Verdienste um den Denkmalschutz und sein Beitrag zur Rettung zahlreicher Berliner Bauwerke vor dem Abbruch gewürdigt werden. SchB.

* Unserem Mitglied, dem Verleger Axel Springer, ist der David-Preis verliehen worden. Der goldene Davidstern trägt die Inschrift „Für Wahrheit und Gerechtigkeit". Der Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek hat Axel Springer als einen Bewahrer Berlins und Jerusalems gewürdigt, der sich überall standfest für die Aussöhnung von Juden und Deutschen einsetzt. SchB.

* Frau Dr. Ella Barowsky, langjährige Parlamentarierin und von 1955 bis 1959 Bezirksbürgermeisterin von Schöneberg, wurde bei ihrer Verabschiedung als Aufsichtsratsmitglied der DeGeWo mit der „Ehrenmedaille der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft" ausgezeichnet.

* Professor Dr. Johannes Broermann, Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, vollendete am 17. Oktober 1982 sein 85. Lebensjahr. Vielfältig sind die Ehrungen, die ihm in Würdigung seiner Verdienste um die Wissenschaft zuteil wurden. Der Bundespräsident hat ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Universität Wien hat ihn zu ihrem Ehrenbürger gewählt. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. SchB.

* Der Verein für die Geschichte Berlins übermittelt im kommenden Vierteljahr seine Glückwünsche zum 70. Geburtstag Frau Elsa Feldmann, Herrn Rudi Mücke, Frau Ilse Nikolas, Frau Gertrud Polke, Frau Dr. Senta Rasmus, Herrn Kurt Reimann, Herrn Rudolf Weigmann; zum 75. Geburtstag Prof. Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm, Frau Gudrun Mellin, Frau Erna Rosenberger; zum 80. Geburtstag Frau Charlotte Bormann, Frau Jenny Beckert, Herrn Hans Hoppe, Herrn Gerhard Krienke, Herrn Hans Müller, Herrn Hans Wolff-Grohmann; zum 90. Geburtstag Herrn Friedrich Pausin, Frau Käthe Supke.

Buchbesprechungen Alte Berliner Läden. Ein Foto-Text-Buch mit 80 Fotografien. Texte von Barbara Tietze. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1982, 86 Seiten, Format 23 X 24 cm, 29,80 DM. Bei der Vorbereitung der Ausstellung „Berlin und seine Kneipen", bei der neben Hans Werner Klünner auch der Rezensent mitwirkte, fiel auf, wie viele alte Fotografien im Postkartenformat von Eingängen oder von der Frontseite Berliner Gaststätten aus der Kaiserzeit existierten und mit wieviel Stolz die Gastwirte und ihre Kunden posierten. Im Plakat dieser Ausstellung und auch in einem kommerziellen Poster sind diese alten Aufnahmen festgehalten worden. Hingegen erscheint es bemerkenswert, wie wenig in einer sonst doch der Show und dem Exhibitionismus verfallenen Zeit wie der unsrigen heutige Gastwirte dazu zu bewegen wären, sich vor ihrem Etablissement fotografieren zu lassen. Nachdem ein Bildband über Wiener Türen Furore gemacht hatte, lag es nahe, auch „Parterre und Souterrain" Berliner Läden und Kneipen in einer Monographie zu behandeln, beinahe vergessene Dokumente aus dem Berliner Alltag, wie Professor Barbara Tietze sie nennt. Meist stammen die Fotopostkarten von umherziehenden, heute nicht mehr bekannten Straßenfotografen, die mit diesem „privaten Arbeitsbeschaffungsprogramm" jenen Bereich kleinbürgerlichen Lebens festgehalten haben, der sich zwischen den weitaus besser bekannten herrschaftlichen Kreisen und der Welt der Armut abspielte. Gerade die kleinen Läden spiegeln den Lebensstandard von Kleinbürgern und Arbeitern wider, die sich Berlin als Wohn- und Arbeitsort ausgewählt hatten. Und wenn das Berlin der Jahrhundertwende mit der Einwandererstadt New York verglichen wurde und die Autorin in ihrem Vorwort darauf verweist, „daß kleine Läden und individuelle Dienstleistungen wieder Konjunktur haben", so fallen einem gerade in New York die vielen kleinen Einzelhandelsgeschäfte auf. Auch die soziologische Seite dieser alten Postkarten wird von Barbara 26

Tietze hervorgehoben: „Nachbarschaften, wie sie durch die persönlichen Kontakte zwischen Stadtbewohner und Kolonialwarenhändler, durch das enge Miteinander von Ladengeschäften und Mietwohnungen, von Werkstatt und Hinterhof entstehen, erscheinen uns als Faktor der sozialen Sicherheit, als positives Moment der Geborgenheit. Zeitgenossen hingegen schildern ihre Bemühungen, aus der sozialen Kontrolle durch diese Art Nachbarschaft auszubrechen. Wir lernen daraus, städtisches Leben in der Öffentlichkeit der Straße ist nicht ohne Rücksicht auf die anderen Lebensumstände der Zeit und der Stadt einzuschätzen." Wo es noch möglich war, wurden die Läden identifiziert und mit Straßennamen und Hausnummer angegeben. Der erläuternde Bildtext knüpft an den jeweiligen Ladentyp an, er nimmt aber nicht immer unmittelbar auf das Foto Bezug. Man erfährt Einzelheiten etwa über die zeitgenössische Zigarettenindustrie, auch über Schokoladen- und Margarineindustrie, merkwürdigerweise aber weniger von den Menschen auf den Fotos, ihrer Kleidung, Uniform, den abgebildeten Kinderwagen usw. Ganz am Schluß werden dann auch Kneipen und Restaurants abgebildet (übrigens schreibt man Schultheiss immer noch mit ss). H. G. Schultze-Berndt Dieter Borkowski: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen. Erinnerungen an eine Berliner Jugend. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1980, 224 Seiten, broschiert, 20 DM. Habent sua fata libelli - Am 2. Mai 1945 übergab der Autor, Jahrgang 1928, an der Frankfurter Allee der Mutter eines Schulfreundes sein Tagebuch, das er am 2. November 1942 begonnen und am 2. Mai 1945 abgeschlossen hatte. Nach der Rückkehr aus dem Gefangenenlager, in das er als Luftwaffenhelfer geraten war, erhielt er es wieder. Als der Verfasser am 9. Juni 1960 vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet wurde, wurden auch seine Diarien beschlagnahmt, die er bis dahin weitergeführt hatte. Die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend in der Reichshauptstadt Berlin hat er dann in der Einzelhaft nachgeschrieben. Nachdem er 1973 in die Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde, hat er diesen ersten Teil seiner Lebenserinnerungen veröffentlicht. Er stößt damit in eine Welle solcher Schilderungen jugendlicher Gefühle zunächst des Überschwangs und dann der zunehmenden Skepsis und Abwendung vom System. Wenn derartige „Memoiren" Jugendlicher aus den Kriegsjahren in dieser Quintessenz auch nicht repräsentativ sein dürften, so machen sie sich doch gut. Dem Autor kann bescheinigt werden, daß er sich getreulich erinnert und genau recherchiert hat. Das Geschehen im Luftkrieg um Berlin gibt er aus der Sicht der Turmflakabteilung im Friedrichshain wieder. Ob allerdings die Luftwaffenhelfer dort auf den Führer Adolf Hitler und Großdeutschland vereidigt wurden, sei als Frage angemerkt; im allgemeinen wurden die Flakhelfer der Hitlerjugend nicht vereidigt. Wie in der Geschichte unseres Vereins nachzulesen, wurden die Dome am Gendarmenmarkt bei einem Luftangriff am 23. November 1943 beschädigt und in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1944 zerstört. Im Tagebuch wird unter dem 18. Mai 1944 vermerkt, daß diese Dome am hellichten Tag in Flammen aufgingen. Das Buch des Nacherlebens dieser schweren Zeit sollte man vor allem jungen Menschen in die Hand drücken, obwohl diese am ehesten geneigt sein werden, um das Geschehen dieser Zeit und die sich dabei entwickelnden Sekundärtugenden von Pflichterfüllung bis Leistungsbereitschaft einen großen Bogen zu schlagen. H. G. Schultze-Berndt Irmgard Wirth: Berlin und die Mark Brandenburg. Landschaften. Christians Verlag, Hamburg 1982, 216 Seiten, mit 177 Abbildungen, Leinen 98 DM. Ihrem Buche „Berlin 1650-1914. Stadtdarstellungen aus den Sammlungen des Berlin-Museums" ließ Irmgard Wirth im gleichen Verlag und in gleicher brillanter Ausstattung ein Buch folgen, das die Landschaften der Mark Brandenburg zum Sujet hat: Gemälde und Graphik aus drei Jahrhunderten. Die Darstellung der Landschaft um ihrer selbst willen beginnt in der europäischen Kunst im 17. Jahrhundert, in Deutschland wenig später, von Skizzen der Dürerzeit einmal abgesehen. Italiener, dann die Holländer werden erste geistig-künstlerische Vorbilder. Die immer wieder als reizlos, nüchtern und ärmlich apostrophierte Mark Brandenburg schien freilich nur einen kargen Nährboden für künstlerische Landschaftsmalerei abzugeben - doch welch ein Irrtum. Schon die Berliner Theoretiker J. G. Sulzer und Karl Philipp Moritz priesen die Ästhetik der Landschaft und die „ganz nahe Beziehung [der Natur] auf unser Gemüt". Wer im vorliegenden schönen Buche blättert, spürt, wie die so stille, ernste, aber auch herb-anmutige, charaktervolle Landschaft der Mark noch im Bild das „Gemüt" ergreift. Französisches Rokoko, klassischromantische Manier, Biedermeier, Realismus, Impressionismus - Kunststile und -richtungen kamen und 27

gingen und fanden die Gefolgschaft der Landschaftsmaler. Nicht immer zog man in Berlin die jeweils gängige künstlerische Handschrift getreulich nach. Topographische Treue, Nüchternheit, hoher Realitätsgrad konnten den Werken der Großen von Chodowiecki bis Liebermann, aber auch denen der vielfach vergessenen Meister aus dem zweiten Glied, jenen spezifisch berlinischen „touch" geben, der auch noch ein unmalerisch scheinendes, „unergiebiges" Motiv zum Meisterwerk zu erhöhen vermag. Gar manchen Künstlern hat Theodor Fontane als Romancier und Wanderer durch die märkische Heimat die Augen für deren stille Reize geöffnet und ihre bildnerische Ausdruckskraft beflügelt. Souverän über dem Stoff stehend, immer wieder Umblicke bietend auf die Kunstübung der Paysage unter gesegneten Himmelsstrichen, stilistisch geschliffen, führt Irmgard Wirth den Leser aus dem 18. bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts. Sie lehrt sehen und erschließt die Bilder dem Verständnis des Fachmanns, erst recht dem des Laien nach Inhalt, Konzeption und Farbgebung. Hinter solcher ästhetisierenden Sicht und Wertung treten Fragen nach dem sozialen Umfeld des Künstlers, nach einem möglichen Auftraggeber und dessen eventuellen Einfluß, nach vielleicht sogar geschmacksbildendem Publikum so gut wie ganz zurück. Dabei waren doch nur die wenigsten der vorgestellten Meister als Akademielehrer der Mühen ums tägliche Brot überhoben. Ein paar schmale Ausblicke auf solche Gedankengänge werden aber eröffnet. Philipp Hackert, dem Goethe eine biographische Skizze widmete, wird mit der Äußerung zitiert, daß viele mißratene Historienmaler sich aufs „erniedrigende" Landschaftsmalen nur um ihres Lebensunterhaltes willen verlegten (S. 20); ein Bild des recht bekannten Berliners Franz Skarbina wird als Auftragsarbeit für einen reichen Bergwerksbesitzer vermutet (S. 138). Und die Sozialkritik eines Meisters Zille zwingt geradezu Überlegungen der vorgenannten Art auf. Alles in allem: Hier wird ein nach Gehalt und Gestalt hervorragendes Buch auf den Tisch gelegt, das eine Lücke in der kunstgeschichtlichen Literatur endlich ausfüllt. Gerhard Kutzsch

Stadtansichten. Gedichte Westberliner Autoren. Illustriert von Uliane Borchert. H. W. Herrmann Verlag, Berlin (West), Herausgeber: Peter Gerlinghoff, Günter Maschuff, Hans Ulrich Treichel, broschiert, 181 Seiten, 12 DM. Das Ordnungsprinzip dieser zeitgenössischen Anthologie ist der Wohnsitz oder Arbeitsplatz der Autoren, die als Westberliner bezeichnet werden, obwohl zu wetten ist, daß auch einige Nordberliner darunter sind. Neben bekannten Namen wie F. C. Delius, Ute Erb, Aldona Gustas, Christoph Meckel oder Volker von Törne trifft man Lyriker an, die einem bis dahin nichts bedeuteten. Das Spektrum der Gedichte reicht von einer Confessio Volker von Törnes aus dem Eröffnungsgottesdienst des Evangelischen Kirchentages 1977 in Berlin über Liebesgedichte, einer Berliner Zukunftsvision bis zu einem Gespräch über den Frieden und zu „Zeitgedicht" überschriebenen Poemen. Südafrika, Chile, der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Werwölfen der Wiking-Jugend sind politische Gedichte gewidmet, eines von ihnen entstand unter dem Eindruck einer Solidaritätsveranstaltung (für Chile) der FDJW in der „Neuen Welt". Als Zeitdokument der späten 70er Jahre hat diese Sammlung auch für den Berlin-Historiker Wert. H. G. Schultze-Bemdt

Klaus-Peter Schulz: Berlin und die Berliner. Heiteres und Nachdenkliches über einen verwegenen Menschenschlag. Herderbücherei, Band 646, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 1977,144 Seiten, 5,90 DM. Nach einem neuen Ordnungsprinzip hat unser Mitglied, der Arzt-Schriftsteller Dr. Klaus-Peter Schulz, Betrachtungen über den Berliner und seine Stadt und zugehörige Anekdoten zusammengestellt. Im wesentlichen sind es drei Abschnitte, unter denen der bis 1977 als Parlamentarier tätige Berliner seine Vorfahren und Mitbürger betrachtet: „Berliner von A bis Z" (A wie Arnim, Bettina von, bis Z wie Zille, Heinrich), dann „Von Durchreisenden und Wahlberlinern" (hier sind Persönlichkeiten von Joachim I. bis Suhr, Otto, versammelt) und schließlich „Die geborenen Berliner", die zugegeben kürzeste Ahnengalerie (von Friedrich dem Großen, König von Preußen, bis Tucholsky, Kurt). Der Blickwinkel und die Betrachtungsweise unterscheiden sich wohltuend vom üblichen Anekdotensammelsurium vergleichbarer Darstellungen. Auf Seite 99 berichtet Klaus-Peter Schulz, sein Vater Heinrich Schulz, damals als Staatssekretär im Reichsinnenministerium für die koordinierende Kulturpolitik in Deutschland verantwortlich, habe Heinrich Zille dazu inspiriert, Max Liebermann zum 80. Geburtstag eine Zeichnung mit seinem ganzen „Milljöh" zu schenken. Dieses Werk sei im Museum für die Geschichte Berlins erhalten. Hier werden sicher ungewollt Wünsche an das offensichtlich gemeinte Berlin-Museum angemeldet. 28

Über den Urberliner Adolf Hoffmann (1858 bis 1930), Sozialdemokraten, Stadtverordneten und Pamphletisten, schreibt der Autor: „Seinen Mangel an gediegener Bildung und Ausdrucksfähigkeit überspielte er immer wieder durch jene typische Form des Berliner Humors, die sich als überzogene, manchmal etwas lärmvolle und provokatorische Bescheidenheit definieren läßt. Ein Original unter allen mit echtem Spreewasser Getauften war er durch und durch, an vielseitigen Talenten eines ewigen Amateurs fehlte es ihm ebenfalls nicht, und durch seine Schlagfertigkeit, auf gut berlinisch .Kodderschnäuzigkeit', ist er berüchtigt und berühmt geworden. Gegner rief der politisch sehr radikale und kompromißlose Mann gleichsam von allen Seiten auf den Plan." Ein wenig trifft der Schluß dieses Porträts auch auf den Verfasser selbst zu. H. G. Schultze-Berndt

Berlins heimliche Sehenswürdigkeiten. Spezialgeschäft für verbilligte Bücher H. P. Heinicke, Rheinstraße Nr. 58, 1000 Berlin 41, 1981, 130 Seiten, 16,50 DM. Jeweils einer Bildseite wird eine Seite Text gegenübergestellt, wobei das weibliche Geschlecht erfreulich stark vertreten ist, selbst wenn es sich um so unterschiedliche Damen handelt wie Käthe Kruse und Soraya, Hildegard Knef und Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler und Kitty Schmidt. Daneben werden Persönlichkeiten wie August Scherl, Friedrich Schröder-Sonnenstern und Jochen Klepper mit ihrem jeweiligen Wohnhaus oder ihrer Wirkungsstätte konfrontiert. Nicht immer ist dabei ein leicht eingängiger Bezug zwischen Bild und Text herzustellen, zumal vielfach Neubauten an die Stelle des ursprünglichen Gebäudes getreten sind. Die Angabe der Geburts- und Sterbedaten hätte dem biographischen Charakter dieses Büchleins gut getan. Daß sich Anastasia nicht von der Stauffenbergbrücke in den Landwehrkanal stürzte, sondern wohl von der Bendlerbrücke, daß Erich Maria Remarque sein berühmtestes Buch „Im Westen nichts Neues" nicht 1919, sondern 1929 veröffentlichte und daß ein Ausdruck wie „oftverfilmteste" dem Sprachgefühl widerstrebt, läßt sich einsehen. Einiges ist auch bei der Topographie des Selbstmörderfriedhofs durcheinandergeraten. Der am Schildhorn angesiedelte Friedhof dürfte jedenfalls nicht die Bezeichnung Waldfriedhof Stahnsdorf tragen. Wer ein sonst freundliches Buch verschenken will, das Kurzbiographien von Annemarie Renger und von Wolfgang Neuss, von Richard Sorge und von Ilse Kubaschewski mit ihrer Bleibe in Berlin verknüpft, wird mit diesem etwas eigenwilligen Büchlein „hinter den Kulissen der Kulturmetropole" gut beraten sein. H. G. Schultze-Berndt

Geza von Cziffra: Der Kuh im Kaffeehaus. Die goldenen Zwanziger in Anekdoten. Verlagsbuchhandlung F. A. Herbig, München, Berlin 1981, 304 Seiten, Leinen 29,80 DM. Es muß in der Tat der Kuh heißen und nicht die Kuh, wird hier doch auf die Person des Wiener Feuilletonisten Anton Kuh angespielt. Unlängst ist im Löcher-Verlag, Wien, in Lizenz des Ostberliner Verlages Volk und Welt eine Sammlung seiner Feuilletons, Essays und Publizistik mit einem Nachwort von Ruth Greuner herausgekommen. Der hier vorliegende Band im Großdruck und auch deshalb mit Zielrichtung auf die ältere Generation handelt aber nur in Teilen von Wien, weil, wie es heißt, die berühmten, oft zitierten Wege in den zwanziger Jahren nicht nach Rom, sondern nach Berlin führten. Die vielen Anekdoten, unter denen man nicht wenige alte Bekannte trifft, sind rund um das Cafe Größenwahn (des Westens) und um das Romanische Cafe angesiedelt. Sie zusammengetragen zu haben ist das Verdienst Dr. Erich Doters, des Anekdoterichs, auf dessen Sammlung sich der Autor stützt. Wenn die Darstellung zuweilen auch etwas einfältig klingt („Kennen Sie Theodor Fontane? Sie müssen, lieber Leser, diese Frage schon entschuldigen, aber berechtigt ist sie, denn in unserer bestsellerträchtigen Zeit drohen manche großen Dichter in Vergessenheit zu geraten"), so ist sie im ganzen doch sehr erfreulich zu lesen. Nicht mit allen Aussagen kann man sich einverstanden erklären, so wenn Klabund heute „so gut wie vergessen" sein soll. Zille wurde in Radeburg und nicht in Radebeul geboren. Göring war preußischer Minsterpräsident und nicht Innenminister. Daß in einem Buch eines seriösen Verlages heute schon eine Silbentrennung Inte-resse möglich ist, darf man allerdings nicht dem Autor anlasten. Ein Kapitel ist Dada gewidmet, wo sich nach 1917 in Berlin die Gruppe Deutschland des dadaistischen revolutionären Zentralrats unter Raoul Hausmann und Richard Huelsenbeck bildete: „Geschäftsstelle: Charlottenburg, Kantstraße 118. Beitrittserklärungen werden dort entgegengenommen." Man sollte einmal nachsehen, ob dort schon die sicher verdiente Gedenktafel hängt. H. G. Schultze-Berndt 29

Eingegangene Bücher Aufbau und Aufgaben der Berliner Bezirksverwaltung. Neu überarbeitete Auflage, Broschüre. Ausstellung „Die Berliner S-Bahn". Katalog mit über 500 Abbildungen. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin, 32 DM. Ausstellungskatalog „Berliner Schauplätze aus Fontanes Romanen". Berlin, 259 Seiten, 20 DM. Bemmann, H: Berliner Musenkinder-Memoiren. Eine heitere Chronik von 18907-1930. Verlag VEB Lied der Zeit, Berlin, 216 Seiten, mit 111 Fotos, Pappband, 18 M. Benneu, Jack O.: 40 000 Stunden am Himmel. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Grunwald. Ullstein Verlag, Berlin, 480 Seiten und 16 Tafeln, mit Abbildungen, gebunden, 38 DM. Berlin. dtv-Merian-Reiseführer von Joachim Nawrocki, Christa Nawrocki, Günter Kunert, Jens Fleming, Barbara Effenberger und Marlies Menge. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 350 Seiten mit zahlreichen Fotos, Karten und Übersichten, broschiert, 22,80 DM. Berlin im Abriß. Katalog. Medusa-Verlag Wölk + Schmid, Berlin. Berlin - Landschaften am Wasser. Mit 90 Bildern in Farbe von Carl Hatebur, Text von Peter Baumann, Nicolaische Buchhandlung, Berlin, 124 Seiten, 68 DM. Berlin und seine Bauten. Herausgegeben vom Architekten-Verein zu Berlin. Frölich & Kaufmann, Berlin, 1877, Reprint des Originals, 800 Seiten, 609 Abbildungen, gebunden, Subskriktionspreis bis 31. März 1983: 148 DM, danach 198 DM. Berlin Wilmersdorf. Ein StadtTeilBuch. Herausgegeben von Udo Christoffel. 2. Auflage, Kunstamt Wilmersdorf, Berlin 1981, 168 Seiten, eine lose Beilage, mit zahlreichen Abbildungen. Berliner Stadtadressbuch. Verlag Schmidt-Römhild, Berlin. Berlin-Karte im Maßstab 1 :4000. Bezirksamt Wilmersdorf, Berlin, 4 DM. „Blätter zur Geschichte von Borsig und Borsigwalde" im MD-Projekt Borsig und Borsigwalde - Wir entdecken unsere Geschichte. Erste und zweite Folge. Museumspädagogischer Dienst, Berlin. Carle, Wolfgang: Das hat Berlin schon mal gesehen. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes nach einer Dokumentation von Heinrich Mertens. 2. Auflage, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin, 224 Seiten, 96 Abbildungen, Pappband, 14 M. Iden, Peter: Die Schaubühne am Halleschen Ufer, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 9,80 DM. Dreiser, Hans: Berlin. Prisma Verlag, Düsseldorf 1981, 64 Seiten, mit 50 Abbildungen, kartoniert, 12,80 DM. Drewitz, Ingeborg: Eis auf der Elbe. Tagebuchroman. Claasen Verlag, Düsseldorf, 207 Seiten, gebunden, 24,80 DM. • Ethel, Jeffrey, und Price, Alfred: Angriffsziel Berlin. Auftrag 250: 6. März 1944. Motorbuch-Verlag, Stuttgart, 39 DM. Frecot, Janos: Berlin fotografisch. Fotografie in Berlin 1860-1982. Katalog. Medusa-Verlag Wölk + Schmid, Berlin, 29 DM. Geschichte der Salzburger Protestanten. Herausgegeben vom Salzburger Verein in Berlin, Berlin, 1 DM. Gründungsgeschichte des Luisenstifts (175 Jahre). Neu verlegt, 8 DM. • Hildebrandt, Dieter: Die Leute vom Kurfürstendamm. Roman einer Straße. Carl Hanser Verlag, München, 400 Seiten, gebunden, 36 DM. • Hannah Hoch. Worte und Werke. Frölich & Kaufmann, Berlin, 144 Seiten, 100 Abbildungen, gebunden, 48 DM. Erich Honecker in Berlin. Herausgegeben von der Bezirksleitung Berlin der SED. Dietz Verlag, Berlin 1982, 172 Seiten, 11,20 M. Idelberger, Horst: Radwege in Berlin. Zustand, Planung, Möglichkeiten. Fahrradbüro Berlin, Berlin, mit Abbildungen, grafischen Darstellungen und Tabellen, 90 Seiten 8,10 DM. Jacobi, Lotte: Berlin - New York. Schriftsteller der 20er Jahre, Vorwort von Ludwig Greve. Zusammengestellt von Walter Scheffler. Enst Klett Verlag, Stuttgart, 120 Seiten, 45 Abbildungen, broschiert, 25 DM. • Jameson, Egon: Augen auf! Streifzüge durch das Berlin der zwanziger Jahre, Herausgegeben von Walther von La Roche. Originalausgabe. Ullstein Buch 20218. Ullstein Verlag, Berlin, 7,80 DM. Jensen, Jens Christian: Adolph Menzel. DuMont Buchverlag, Köln, 148 Seiten, 40 Farbtafeln, 70 Abbildungen, gebunden 79 DM. Kalender „Berlin Gestern 1983". Joeres*Verlag, Mönchengladbach. Kalender 1983 „Berliner Aspekte" und 2 Postkartenserien über die Berliner Wannseebahn. Ute und Bernd Eickemeyer Verlag, Berlin.

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Kalender 1983. Mit dreizehn Bogen im Format DIN A3, Vierfarbendruck, 12,50 DM. Ken, Alfred: Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Herausgegeben von Hugo Feting. Vorwort Sibylle Wirsing. Verlag Severin und Siedler, Berlin, ca. 700 Seiten, Leinen, 39,80 DM. Knobloch, Heinz: Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn. Veränderte und überarbeitete Ausgabe, Das Arsenal Verlag für Kultur und Politik, Berlin, 478 Seiten, zahlreiche Abbildungen, englische Broschur, 32,80 DM. Kompa, Kutschmar, Kam: Architekturführer DDR. Bezirk Potsdam. 1. Auflage, VEB Verlag für Bauwesen, Berlin (DDR) 1981. Krolow, Wolfgang: Seiltänze. Mit Texten von Rolf Hosfeld. Peter-Paul Zahl. LitPol Verlagsgesellschaft, Berlin, 36 DM. Krüger, Horst: Der Kurfürstendamm. Glanz und Elend eines Boulevards. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 128 Seiten, Abbildungen, gebunden, 28 DM. Lange, Friedrich C. A.: Groß-Berliner Tagebuch, 2. Auflage, Westkreuz-Verlag, Berlin/Bonn 1982, 190 Seiten, 18 DM. Paret, Peter: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland. Verlag Severin und Siedler, Berlin, 352 Seiten, mit 48 ganzseitigen Farbtafeln, Format 17 X 24 cm, Leinen, 78 DM. 'Plessen, Elisabeth: Kohlhaas. Roman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 9,80 DM. ' Riebschläger, Klaus: Vor Ort - Blick in die Berliner Politik. Verlag Arno Spitz, Berlin, 240 Seiten, 25 DM. •Schlicht, Uwe: Trotz und Träume. Jugend lehnt sich auf. Verlag Severin und Siedler, Berlin, ca. 256 Seiten, kartoniert, ca. 19,80 DM. Scholder, Klaus: Die Mittwochsgesellschaft. Unbekannte Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932-1944. Verlag Severin und Siedler, Berlin, 383 Seiten, 200 Abbildungen, Leinen, 48 DM. Scholz, Bubi: Der Weg aus dem Nichts. Wilhelm Heyne Verlag, München, 367 Seiten, broschiert, 8,80 DM. > Silva Stadtplan Berlin 1936. Im Maßstab 1 :23000, mit einem Straßenverzeichnis. Limitierte und numerierte Auflage von 1000 Exemplaren, Verlag Jürgen Schacht, Berlin, Subskriptionspreis 48 DM, ab l.Januarl983 58DM. Springer, Peter: Schinkels Schloßbrücke in Berlin. Zweckbau und Monument. Propyläen Verlag, Berlin, 336 Seiten, 144 Abbildungen, gebunden, 198 DM. Stadtbuch Reinickendorf 1982. Chronik-Verlag, Berlin. StadtFront Berlin West Berlin. Ein Bilder LeseBuch. Elefanten Press Verlag, Berlin, 223 Seiten, Fotos, 36 DM. Technikschau - Von der Festungsstadt zum Industriebezirk. Broschüre. Bezirksamt Spandau, Pressestelle, Berlin.

Im IV. Vierteljahr 1982 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Arwed Felgen, Verkaufsdirektor Neißer Straße 2, 6415 Petersberg/Fulda Tel.(0661)63695 (Bunsas) Irmgard Grunemann, Technikerin Sommerfieldring 23, 1000 Berlin 39 Tel. 8051372 (Dr. Kutzsch) Dr. Gerhard Kiersch, Professor Rosenheimer Straße 4, 1000 Berlin 30 Tel. 2136982 (Köhler) Günther Rüdiger, Feuerwehrbeamter Morgensternstraße 14, 1000 Berlin 45 Tel. 7723842 (Brauer)

Lina Spiel, Kauffrau Saalestraße 38, 1000 Berlin 44 Tel. 6848484 (J. Methlow) Burkhard Willimsky, Bezirksstadtrat Senftenberger Ring, 1000 Berlin 26 Tel. 4033177 (Griegers) Maria Wilke, Renterin Wichmannstraße 23, 1000 Berlin 30 Tel. 26163 21 (Brauer)

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Veranstaltungen im I.Quartal 1983 1. Freitag, 28. Januar 1983, 19.00 Uhr: Eisbeinessen anläßlich des 118. Jahrestages der Gründung unseres Vereins im Großen Saal der Hochschul-Brauerei, Amrumer Straße 31, Ecke Seestraße, Berlin 65. 2. Dienstag, 8. Februar 1983,16.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung „Berliner Synagogen" im Berlin-Museum, Lindenstraße 14, Berlin 61. Leitung: Frau Dr. Veronika Bendt. Treffpunk im Foyer. 3. Donnerstag, 24. Februar 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans Werner Klünner: „Spaziergang durch Alt-Berlin um 1900." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.. 4. Donnerstag, 3. März 1983,11.00 Uhr: Besichtigung des Areals des zukünftigen Museums für Verkehr und Technik auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Güterbahnhofs. Treffpunkt: Trebbiner Straße 9, Berlin 62. 5. Donnerstag, 17. März 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Michael Kremin: „Residenzstadt Charlottenburg. Die zentrale Idee." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 6. Donnerstag, 24. März 1983, 13.00 Uhr: Besichtigung des Berliner Kriminalmuseums. Treffpunkt: Gothaer Straße 19, Berlin 62. Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste herzlich willkommen. Die Bibliothek ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen Beisammensein und Diskussion im Ratskeller.

Mit Wirkung vom 1. Januar 1983 hat Frau Lieselott Gründahl die Leitung der Geschäftsstelle übernommen. Der Verein dankt Herrn Brauer für seine Verdienste.

* Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Gatower Straße 86, 1000 Berlin 20. Geschäftsstelle: Frau Lieselott Gründahl, 1000 Berlin 31, Damaschkestraße 33, Telefon 3232835; vom Vorstand beauftragt. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-1. Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 693 6791. Postscheckkonto des Vereins: Berlin West 433 80-102, 1000 Berlin 21. Bankkonto: 0381801200 bei der Berliner Bank, Kaiserdamm 95, 1000 Berlin 19. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Gatower Straße 86, 1000 Berlin 20; Günter Wollschlaeger; Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. Beüagenhimveis: Einem Teil der Auflage ist ein Prospekt des Arani-Verlages, 1000 Berlin 15, beigelegt. Wir bitten unsere Leser um freundliche Beachtung.

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 79. Jahrgang

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April 1983

Heft 2

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König Wilhelm I. an den Staatsminister und Minister des Königlichen Hauses von Schleinitz, Kullrich das Prädikat als Hof-Medailleur beizulegen, 23. Dezember 1863 (Zentrales Staatsarchiv, Merseburg, DDR)

Deutsches Reich, 5 Mark

Friedrich Wilhelm Kullrich Königlicher Hof-Medailleur in Berlin Sein Leben und Werk /

Von Klaus Sommer

1977 wurde vom Verband der Deutschen Münzvereine e. V. der Eligius-Preis für Arbeit aus der Münz- und Medaillenkunde gestiftet. Die Arbeit von K. Sommer (Krefeld) erhielt 1982 den 1. Preis in diesem Wettbewerb der Experten. Mit freundlicher Genehmigung d Redaktion des Numismatischen Nachrichten-Blattes (Speyer), das die Untersuchung in Heft 10/1982, Jg. 31, veröffentlichte, drucken wir sie imfolgenden ab, leicht gekürzt um e paar Aufzählungen von Münzen und Medaillen, die F. W. Kullrich für deutsche und ausländische Auftraggeber ausführte. Die hier vorgelegte Arbeit wendet sich an jeden, der an der deutschen Münz- und Medaillengeschichte des 19. Jahrhunderts interessiert ist, insbesondere an die Sammler der deutschen Reichsmünzen. Sie soll das Leben und Werk desjenigen Künstlers bekannt machen, der in Zusammenarbeit mit anderen Medailleuren eben diese Reichsmünzen geschaffen hat, mit Friedrich Wilhelm Kullrich. Neben vielen anderen Reichsmünzen ist es vor allem das erste Markstück des Deutschen Reiches, dessen Vorder-(Adler-)Seite sein Werk ist, mit dem Kullrich sich ein bleibendes und würdiges Andenken geschaffen hat. Von knappen Bemerkungen hier und dort abgesehen, hat sich bisher weder die numismatische Literatur mit Kullrich ausführlich befaßt, noch erwähnen allgemeine Lexika seine Persönlichkeit und sein außerordentlich umfangreiches Werk. Wichtige Angaben über Kullrichs Münzarbeiten und seine Arbeitsweise enthält das Werk des Freiherrn von Schrötter über das preußische Münzwesen. Detailliertere Kenntnis über Kullrichs Arbeiten habe ich erhalten durch die freundlichen Mitteilungen von Frau Dr. Lore Börner, Münzkabinett, Berlin, DDR - mir wurde hier Einblick in die Münzakten gestattet -, von Frau Dr. G. van der Meer, Den Haag, Frau Schukina, Leningrad, Herrn BJ0rn R. Ronning, Oslo, und Herrn Dr. O. Iliescu, Bukarest. Die Münzenhandlung Heinrich Winter, Düsseldorf, hat mir ihre Bibliothek zur Verfügung gestellt. Als ein besonderes Glück erachte ich es, daß es mir vergönnt war, die Bekanntschaft mit den Nachkommen von Wilhelm Kullrich zu machen. Sie zeigten für mein Vorhaben großes Interesse und haben mir alles mitgeteilt, was über den berühmten Vorfahren in der Familie noch bekannt ist. Ihnen allen danke ich sehr herzlich. Am 23. September 1862 ernennt König Wilhelm I. Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten. Die von Bismarck bestimmte politische Entwicklung, gekennzeichnet durch die für Preußen siegreichen Kriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) und schließlich durch die Reichsgründung 1871, weckte in Preußen und dann auch im jungen Reich ein neues nationales Selbstbewußtsein. Stolz und Optimismus, aber auch Überheblichkeit und Prunksucht breiteten sich im Lebensgefühl der Bürger aus. Wie auf allen Gebieten des menschlichen Lebens so auch in seinem Spiegelbild, der Kunst, wurde der neue Geist spürbar. Die Medaillenkunst, ohnehin seit jeher ein bevorzugtes Mittel, die Erinnerung an die Großtaten der Herrscher und Völker in unvergänglichem Metall für die Nachwelt lebendig zu halten, folgte dieser Bewegung. 34

Friedrich Wilhelm Kullrich (1821-1887)

Am 27. August 1862 ernannte die königlich preußische General-Münzdirektion einen Künstler zu ihrem Ersten Medailleur, der für diese Aufgabe wie geschaffen war, den durch viele Münzund Medaillenarbeiten bereits bekannten und geschätzten Friedrich Wilhelm Kullrich. Seine Medaillen, in ihrer Ausführung von hohem handwerklichen Können, sind ein getreues Spiegelbild der Zeit: Sie sind patriotisch in der Gesinnung, im Stil monumental und in der Form groß und schwer. Wilhelm Kullrich wurde am 18. Dezember 1821 als Sohn des Huf- und Waffenschmieds und Stadtältesten Johann Friedrich Kullrich (1789-1865) und seiner Ehefrau Johanna Christiana geborene Kretschmar (1794-1857) in Dahme in der Mark geboren. Die Familie Kullrich läßt sich bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurück verfolgen. Sie stammt aus Pressel im damaligen Kursachsen. Über Wildenhain kam der Urgroßvater von Wilhelm Kullrich, ein Schmiedegeselle, 1777 nach Dahme und heiratete dort die Tochter eines Huf- und Waffenschmieds. Auch der Großvater übte diesen Beruf aus. Zum Huf- und Waffenschmied bestimmte auch der Vater seinen Sohn Wilhelm. Als Schmiedegeselle unternahm der 17jährige eine zwei Jahre dauernde Wanderschaft, die ihn u. a. nach Dresden, München, Salzburg, Wien, Venedig, Stuttgart, Kassel und Braunschweig führte. Über die Erlebnisse auf seiner Reise 35

berichtet Kullrich in einem erhalten gebliebenen Tagebuch. Er hält darin sehr anschaulich die Umstände fest, unter denen damals ein Handwerksbursche eine Wanderschaft durchführte. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich der junge Mann durch Hufbeschlag und Schmiedearbeiten. In München z. B. arbeitete er in der Holzerischen Wagenfabrik, die zu dieser Zeit die Eisenbahnwagen für die Augsburg-Münchner Eisenbahn baute. Ein großes Erlebnis für ihn waren gelegentliche Fahrten mit der Bahn, so auch die von Fürth nach Nürnberg, wofür er sechs Kreuzer zahlte. Wilhelm Kullrich war ein aufgeweckter und fröhlicher junger Mann. Die lückenlose Aufzählung der Münchner Bierbrauereien und die begeisterte Schilderung des Balls der Münchner Schmiedegesellen in der Fastnacht im großen Rosengarten sind ein Beweis dafür. Sein flott geschriebenes Tagebuch schmückt er mit hübschen Landschaftsskizzen, heraldischen Zeichnungen und Darstellungen von allerlei Wagentypen. Von der langen, meist zu Fuß zurückgelegten Wanderschaft heimgekehrt, arbeitete er zunächst in der Werkstatt seines Vaters und half mit, die zehn Kinder zählende Familie zu ernähren, bis er zum Militär einrücken mußte. In dieser Zeit begann er mit den ersten Graveurarbeiten. Dem Wunsch des Vaters folgend, ging Kullrich anschließend nach Berlin, um hier ein tierärztliches Studium aufzunehmen. Bald muß er aber sein eigentliches Talent erkannt haben, denn er gab das Studium und auch den Schmiedeberuf auf, ging von 1845 bis 1847 als Graveur in die Lehre des Medailleurs und Elfenbeinschneiders Johann Karl Fischer (1802-1865) und besuchte danach auf Empfehlung von Fischer bis 1850 die von Johann Gottfried Schadow geleitete Akademie der Künste zu Berlin, an der er zum Bildhauer und Graveur ausgebildet wurde. Karl Fischer war auch hier sein Lehrer. Einfluß auf die Entwicklung des jungen Kullrich hatte auch sein Freund, der Schriftsteller Albert Emil Brachvogel (1824-1878), selbst als Graveur ausgebildet und 1846 ebenfalls ein Schüler von Karl Fischer. Brachvogel gehörte dem Berliner Handwerkerverein an, und wir können annehmen, daß auch Kullrich dort Mitglied war. An der Revolution von 1848 nahm der junge Kullrich großen Anteil. Im Dahmer Wochenblatt steht unter dem 6. Juli 1848 eine von ihm unterzeichnete Ode, worin es u. a. heißt: „ . . . Der Gefallenen Schatten steigen auf, umringen mich... dreihundert Seelen stehn vor meinem Auge, blutbefleckt... Ich gelobte, immerdar zu kämpfen für die Geistesfreiheit . . . ihr sei stets mein Kopf und Herz geweiht...!" Es mag dahin gestellt bleiben, ob Kullrich tatsächlich der Verfasser dieser Ode ist oder ob vielleicht sein Freund Brachvogel die Feder geführt hat. Mutig war sein Bekenntnis für die Gefallenen der Revolution in jedem Fall. Noch einmal mußte Kullrich zu den Soldaten. Als preußische Truppen unter dem Befehl Friedrich Wilhelms, des Prinzen von Preußen, 1849 mithalfen, den republikanischen Aufstand in Baden niederzuwerfen, war Kullrich dabei. Bei seiner Einstellung, wie sie aus der Ode von 1848 deutlich geworden ist, wird ihm der Waffengang nicht leicht gefallen sein. Auf dieses Ereignis fertigte Kullrich, noch Schüler an der Akademie, nach einer Zeichnung von Peter von Cornelius, 1849, seine zweite bekanntgewordene Medaille. Sie zeigt, zu welcher Meisterschaft es Kullrich in so kurzer Zeit bereits gebracht hatte. Die erste Medaille Kullrichs ist die auf G. Schadow. Sie wurde 1849 unter Leitung von Chr. D. Rauch in dessen Werkstatt modelliert. Kullrich hat aus Anlaß des Todes von Schadow, 1850, eine weitere Medaille auf diesen Künstler geprägt. In der Akademie der Künste wurde auch Christian Daniel Rauch auf den talentierten Künstler aufmerksam und ließ ihm wiederholt seine Förderung zuteil werden. Er veranlaßte ihn 1851, auf sein soeben fertiggestelltes Reiterdenkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden eine Medaille anzufertigen. Der König Friedrich Wilhelm IV., sehr angetan von dieser Arbeit, kaufte die Stempel, um davon die zum Verschenken bei der Einweihungsfeier bestimmten Exemplare prägen zu lassen. Rauch selbst erhielt je eine Medaille in Gold, Silber und Bronze. 36

Reiterstandbild Friedrichs des Großen, Unter den Linden, von Chr. D. Rauch, 1851

Kullrich war jetzt bereits als ein erstklassiger Medailleur anerkannt. Es ist wieder Rauch zu verdanken, daß er den jungen Künstler drängte, seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Rauch bewunderte die vorbildliche Prägetechnik der Engländer: Das Feld einer Medaille matt zu halten und das Relief darauf glänzend erscheinen zu lassen, das verstanden sie meisterhaft. Rauch wollte, daß auch preußische Medailleure diese Technik kennenlernten und verschaffte deshalb 1851 durch Vermittlung der berühmten Londoner Prägeanstalt von Wyon Kullrich eine Anstellung bei der Royal Mint im Tower. Kullrich blieb etwa zwei Jahre in London. Danach ging er nach Brüssel und Paris. 1855 war er in München und schließlich noch für eine kurze Zeit in der Schweiz. Wir wissen nicht, wo Kullrich die Stempel zu seinen sieben Medaillen, die er in den Jahren seiner verschiedenen Auslandsaufenthalte, also zwischen 1851 und 1855, schnitt und die Stücke prägen ließ; ob an den ausländischen Prägeanstalten, an der Berliner Münze oder vielleicht bereits bei der Berliner Medaillen-Münze von G. Loos. Keine seiner Medaillen aus diesen Jahren trägt allerdings neben seiner eigenen Chiffre das Signum G. Loos. Zu Ende des Jahres 1855 ist Kullrich wieder in Berlin. Bevor wir die Arbeiten Kullrichs für die Königliche Münze und seine eigenen Medaillenarbeiten verfolgen, wollen wir einen Blick auf seine privaten Verhältnisse werfen. 1858 heiratete Kullrich Anna Maria Marianne Schultz (1836-1927). Sie war die Tochter von Louise Schultz, einer geborenen Borsig. Die Verbindung zur Familie des berühmten Lokomotivbauers hat schon eine Zeitlang davor bestanden, denn Kullrich fertigte 1854 eine Medaille auf den Tod von August Borsig an. Wilhelm Kullrich wohnte in Berlin, und zwar 1856 in der Kürassierstraße 1, 1859 in der Louisenstraße 62, 1870 am Enckeplatz 5 und schließlich bis zum Tode in der Halleschen Straße 12. Das Ehepaar hatte neun Kinder. Der älteste Sohn, Friedrich (1859-1934), wurde Stadtbaurat in Dortmund. Eine Straße ist dort nach ihm benannt. Der Sohn Ernst (1863-1945) - sein Taufpate war Brachvogel - wurde Oberstudiendirektor in Berlin-Tempelhof und der Sohn Reinhard (1869-1947) wie sein Vater Medailleur an der Berliner Münze. Von ihm stammen unter anderem die 2- und 3-Mark-Gedenkmünzen auf die Jahrhundertfeier der Befreiungskriege, 1913. Über die Persönlichkeit Kullrichs geben die amtlichen Akten wenig Auskunft, und in der Familie ist die Erinnerung an den berühmten Vorfahren schon weitgehend verblaßt. Es wird noch von Wanderungen mit seinem Sohn Ernst durch die Hohe Tatra und von seiner 37

Naturliebe berichtet. Mehrmals war Kullrich in Rom. Bei seiner Arbeit duldete der Meister keine Störung, schon eine Fliege machte ihn wütend. Wilhelm Kullrich muß ein gutherziger Mann gewesen sein, denn es wird berichtet, daß er notleidenden Künstlern Geld lieh und sich dann oft damit begnügte, deren Werke an Zahlungs Statt anzunehmen. Auf diese Weise soll eine ansehnliche Gemäldesammlung in seiner Wohnung zusammengekommen sein. Es heißt auch, daß Kullrich wählen durfte, ob er lieber Hof-Medailleur oder Professor werden wollte. Auf den Rat seiner Frau hin entschied er sich für den ersten Titel. Wilhelm Kullrich war Mitglied des Vereins Berliner Künstler und der Loge zum Goldenen Pflug. Schon 1856 hatte die Königliche Münze zu Berlin Kullrich auf Empfehlung der Akademie der Künste eine feste Anstellung in Aussicht gestellt. Sie erfolgte aber tatsächlich erst nach dem Tode des Medailleurs Francke am 29. November 1859. Kullrich wurde 2. Münzmedailleur neben dem Hof-Medailleur Christoph Carl Pfeuffer (1801-1861). Bis dahin wurde Kullrich aber schon gelegentlich zu Münzarbeiten herangezogen. So stellte er 1858 stellvertretend für den erkrankten Pfeuffer die Stempel für die neuen y6-Taler her. Als Honorar erhielt er dafür 12 Friedrichsd'or. Am 1. März 1860 erscheint sein Name in der Gehaltsliste der Münze mit einem Jahresgehalt von 600 Talern. Als Pfeuffer 1861 starb, wurde Kullrich am 27. August 1862 1. Medailleur und erhielt zum Jahreswechsel 1863/1864 das königliche Patent zum Hof-Medailleur. Sein Gehalt betrug 1868 1000 Taler. Um den Posten eines 1. Medailleurs hatte sich auch Professor Karl Fischer beworben. Die General-Münz-Direktion lehnte ihn aber wegen seiner „Renitenz und Unmanier" ab und gab seinem ehemaligen Schüler Kullrich den Vorzug, weil dieser, nach den Worten des GeneralMünz-Direktors Goedeking, „außer künstlerischer Befähigung eine für Münzverhältnisse sehr zu wünschende Gefügigkeit besaß". Auch der Münzhof zu St. Petersburg bemühte sich, Kullrich nach Rußland zu holen. Der Künstler muß dort bereits in hohem Ansehen gestanden haben. Schon 1853 hatte Kullrich eine Medaille auf das 50jährige Jubiläum des Petersburger Bankhauses Stieglitz angefertigt, und 1855 bestellte der kaiserliche Hofrat Dr. von Köhne in St. Petersburg bei Kullrich eine Medaille auf die Krönung des neuen Zaren Alexander II. Köhne war es wohl auch, der den St. Petersburger Münzhof veranlaßte, 1859 Kullrich ein glänzendes Angebot zu machen. Danach hätte Kullrich schon nach einer 15jährigen Dienstzeit in Rußland mit einer Pension von 2000 Rubeln in den Ruhestand treten können. Kullrich lehnte das verlockende Angebot ab, reiste aber 1860 nach Petersburg. Auf Einladung der dortigen Münz-Direktion führte er technische Verbesserungen durch und schulte das Personal. Die preußische Münzverwaltung beeilte sich, diesen begehrten Mann nun ganz für sich zu gewinnen. Als Kullrich 1859 seine Anstellung bei der Königlichen Münze zu Berlin erhielt, befanden sich seine Arbeitsräume noch in dem Gentzschen Bau auf dem Werderschen Markt. Der ständig wachsende Münzbedarf machte aber in den folgenden Jahren erhebliche Um- und Neubauten erforderlich. Sie zogen sich bis 1871 hin. Danach bot die Münze, die nun ihre Hauptdienstgebäude an die Unterwasserstraße verlegt hatt, einen völlig neuen Anblick. Der von F. Gilly und G. Schadow geschaffene Münzfries, der das alte Münzgebäude schmückend umzogen hatte, wurde 1869 dort abgenommen und mit Ergänzungen an der Fassade des neuen Münzgebäudes angebracht. Der alte Gentzsche Bau fiel 1886 der Spitzhacke zum Opfer. Die Einrichtung der Münze war dem technischen Fortschritt gefolgt. 14 Uhlhornsche Prägemaschinen, ein großes Medaillenprägewerk und zwei Stoßwerke zum Senken der Matrizen, Patrizen und zum Prägen besonders großer Medaillen sowie alle anderen Apparate und Maschinen für die Münz- und Medaillenherstellung, angetrieben von drei Borsigschen 38

Gottfried Schadow, Bildhauer, 1764-1850

Dampfmaschinen, alles auf dem letzten Stand der Technik und sinnvoll einander zugeordnet, fand Kullrich hier für seine Arbeit vor. Erster Direktor und gleichzeitig General-Münzwardein an der Königlichen Münze war 1859 Heinrich Christian Kandelhardt. Zweiter Direktor und Obermünzmeister Friedrich Wilhelm Loos (ein Enkel von Daniel Loos). Erster und Hof-Medailleur war Christoph Karl Pfeuffer und Rendant Wilhelm Goedeking. Den Medailleuren war im Münzgebäude ein Atelier eingerichtet worden, sofern sie nicht schon ihre Wohnung dort hatten. Ihre Münzarbeiten für fremde Staaten und ihre privaten Medaillenarbeiten konnten sie dort nach einem festgelegten Reglement ausführen. So durften sie für fremde Regierungen nur mit Genehmigung der Münzdirektion arbeiten. Schriftpunzen, die für die Münzherstellüng vorhanden waren, durften für Privatarbeiten nicht benutzt werden. Die Arbeitsweise eines Medailleurs hatte sich in den letzten 50 Jahren seit den Tagen eines Daniel Loos stark verändert. Kullrich wie die anderen Medailleure stellte nach einer Zeichnung ein positives Reliefmodell aus Ton oder Wachs her, das erheblich größer war als die Münze oder Medaille, die man machen wollte. An dieser übergroßen Form konnte der Medailleur, der ja jetzt mehr Bildhauer oder Modelleur als Stempelschneider war, alle Einzelheiten der Vorlage auf das Feinste ausarbeiten. War das geschehen, wurde von diesem Relief ein Gipsabguß genommen, der anschließend noch einmal überprüft, notfalls überarbeitet wurde. Damit war die Arbeit des Künstlers beendet. Der folgende Vorgang war mechanischer Art. Nach dem letzten Gipsabguß wurde ein Eisenguß vorgenommen, der nun als Vorlage für den anschließenden Reduktionsprozeß diente. Die Reduktionsmaschine, damals schon gut entwickelt, reduzierte nach dem Storchenschnabelprinzip die Form auf die gewünschte Größe und übertrug gleichzeitig schneidend und versenkend, alle Höhen und Tiefen des Modells fein abtastend, das Relief in den ungehärteten Stahlstempel. Als 1. Medailleur an der Königlichen Münze zu Berlin war es Kullrichs Aufgabe, die Stempel für die Münzen des Königreiches Preußen und später des Deutschen Reiches sowie für andere deutsche und ausländische Staaten herzustellen und auf eine einwandfreie Ausprägung zu achten. Es war in Preußen nicht üblich, daß die Stempelschneider und Medailleure ihre Signen auf die Münzen setzten. (Es kommen Ausnahmen vor.) So fehlt auch auf den von Kullrich hergestellten Münzen, mit Ausnahme auf den rumänischen, sein Signum. Das macht es schwer, eindeutig festzulegen, welche Stücke tatsächlich von ihm oder aber von einem seiner Kollegen,

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Medaille auf die Vermählung des Prinzen Wilhelm von Preußen mit der Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein- Augustenburg, 1881 Pfeuffer, Mertens oder Weigand, stammen. Amtliche Unterlagen, die hier helfen könnten, existieren nicht mehr oder sind nicht zugänglich, und in der Literatur häufen sich die Widersprüche. Insbesondere läßt das Fehlen zuverlässiger Unterlagen die eindeutige Zuordnung der Rück-(Adler-)Seiten der silbernen 2- und 5-Markstücke sowie der Reichsgoldmünzen nicht zu. Seit 1867 stellte der Kaiserliche Münzhof zu St. Petersburg Versuche an, Kleingeld aus Nickel herzustellen. Deshalb wandte man sich 1877 auch an die Berliner Münze, die ein Angebot unterbreitete und eine Musterprägung vorlegte. Aussehen und Größe entsprachen einer Kupferkopeke. Die Aufschriften waren in russisch, die Rückseite jedoch zeigte den preußischen Adler. Zu einem Auftrag kam es nicht, und Rußland blieb zunächst beim Kupfergeld. Neben den vielen Münzstempeln, die Kullrich angefertigt hat, stammen von ihm auch die Typen für die Randschrift auf den Reichsmünzen. Wilhelm Kullrich war ein bekannter und gesuchter Medailleur. Seine Stellung als Hofmedailleur eröffnete ihm Möglichkeiten des Schaffens, die anderen Künstlern verschlossen blieben. Aus vielen deutschen Ländern, ebenso aber auch aus dem Ausland, aus Norwegen, Rumänien und sogar aus Australien, wurden Aufträge an ihn vergeben. Zuerst wollen wir uns den Medaillen zuwenden, die Kullrich für Preußen hergestellt hat. Viele festliche Begebenheiten in der königlichen und später kaiserlichen Familie, ebenso auch die geschichtlichen Ereignisse, besonders die siegreichen Kriege, finden ihren Niederschlag in Kullrichs Medaillenwerk. Dann viele Personenmedaillen, meist aus Anlaß eines Jubiläums in Auftrag gegeben, sowie Medaillen auf vielerlei Begebenheiten. Kullrichs Arbeiten erinnern an Ausstellungen, an die Einweihung von Brücken, Banken und anderer Gebäude, an Jubiläen von Universitäten, wissenschaftlichen Gesellschaften und Freimaurerlogen. Der Gründung einer Stadt vor Jahrhunderten wird ebenso gedacht wie der Fertigstellung der 1000. Lokomotive bei Borsig. Für Vereine liefert Kullrich Prämien- und Schützenmedaillen. Neben diesen dynastischen und privaten Medaillen stammt von Kullrich eine große Anzahl von staatlichen Verdienstmedaillen und Ehrenzeichen. Die von ihm gefertigten Alsen- und Düppelkreuze für die Teilnehmer am Krieg gegen Dänemark, 1864, und die in großer Auflage in Bronze und Stahl geprägten Kriegsdenkmedaillen von 1870/71 finden sich in vielen Familien auch heute noch unter den Erinnerungsstücken aus Urgroßvaters Zeiten. 40

Medaille zur Erinnerung an die Fertigstellung der 1000. Lokomotive bei Borsig, 1858 Kullrich führte seine Medaillenarbeiten in den Räumen der Königlichen Münze oder in der privaten Berliner Medaillen-Münze aus. Er gab weder Verkaufslisten heraus noch kümmerte er sich um den Vertrieb. Das alles überließ er der Berliner Medaillen-Münze, mit der er sein Leben lang zusammengearbeitet hat, oder seinen anderen Auftraggebern. Zwei Beispiele sollen zeigen, wie es zu Aufträgen kam und wie die Medaillen vertrieben wurden: Im Jahre 1861 bestellte der Magistrat von Braunschweig eine Medaille auf die 1000jährige Jubelfeier der Stadt bei dem in „bedeutendem Rufe" stehenden kgl. preuß. Münzgraveur Kullrich. Die Ausprägung erfolgte in Gold, Silber und Bronze. Den Vertrieb der Stücke besorgte ein Herr Johannes Heinrich Meyer, am Bankplatz wohnhaft. An ihn sollten sich die Interessenten wenden. Im anderen Beispiel geht es um die Hamburger Denkmünze zum 100. Jahrestag der Handelsfreiheit in Hamburg 1867. Mehrere Mitglieder der Handelskammer veranstalteten eine Subskription auf diese Medaille. Der berühmte Historienmaler Eduard Bendemann (1811-1889) lieferte den Entwurf und Kullrich fertigte danach die geschmackvolle Medaille. Sie erschien nicht im Handel, sondern wurde an die Subskribenten verteilt. Mindestens 40 Medaillen von Wilhelm Kullrich sind von der berühmten Berliner MedaillenMünze in Auftrag gegeben oder vertrieben worden. Diese Stücke tragen neben dem Signum des Medailleurs auch die Chiffre dieser Firma, meist G. LOOS DIR. Die erste Medaille Kullrichs, die diesen Firmennamen trägt, ist die von 1856 auf Carl F. L. Hinckeldey. Die Berliner Medaillen-Münze - die Anmerkung sei wegen der Bedeutung dieser Prägeanstalt für die Arbeiten Kullrichs gestattet - wurde nach dem Tode von Gottfried Bernhard Loos, 1843, dem Sohn des berühmten Hof-Medailleurs Daniel Loos, von dem Maschinisten L. Ostermann, der schon unter Gottfried B. Loos gearbeitet hatte, bis 1879 geleitet, und zwar außerordentlich erfolgreich. Sie firmierte jetzt „Berliner Medaillen-Münze von L. Ostermann, vorm. G. Loos." Die Geschichte dieser für die gesamte deutsche Medaillenkunst des 19. Jahrhunderts so wichtigen Prägeanstalt ist leider noch nicht erforscht worden. Ihre Akten, aus denen ein gutes Stück deutscher Medaillengeschichte rekonstruiert werden könnte, sind bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg am 3. Februar 1945 in den Berliner Geschäftsräumen, Schmidstraße 33, mit allen anderen Werten, darunter u.a. auch vielen Stempeln aus der Zeit von Daniel Loos, zugrunde gegangen. Der letzte Inhaber der Berliner Medaillen-Münze, Max Januscheit, ver4!

suchte nach dem Zweiten Weltkrieg vergeblich, den Betrieb wieder in Gang zu bringen, mußte aber schließlich am 12. Mai 1952 seine Firma endgültig auflösen. Abgesehen von wenigen Arbeiten, die Kullrich ohne jeden Auftrag, nur aus „Liebe zur Sache", wie er selbst sagt, durchgeführt hat, z. B. die Medaille von 1871 auf den Einzug Kaiser Wilhelms I. in Berlin, stellen seine Medaillen Auftragsarbeiten dar. Außer der Loosschen Prägeanstalt waren die Auftraggeber der preußische Hof und Staat sowie Privatpersonen, Vereine und Messeverwaltungen. Einige ausländische Staatsaufträge wurden auch über die Berliner Medaillen-Münze abgewickelt, so z. B. die für Norwegen anläßlich der Krönung Karls XV. 1860. Andere Aufträge dieser Art führte Kullrich direkt aus. Hier sind besonders seine vielen Arbeiten seit 1866 für das junge Königreich Rumänien zu erwähnen. Zu dem rumänischen König Karl I. (1866-1914) aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen muß Kullrich ein besonders gutes Verhältnis gehabt haben. In der Familientradition wird berichtet, daß er zweimal Gast des rumänischen Königs gewesen sei. Karl I. hat Kullrich auch für sein Münzund Medaillenporträt Sitzungen gewährt. Kullrich war mindestens zweimal in Rumänien, und zwar in den Jahren 1869 und 1883. Bei diesen Besuchen modellierte er die Bildnisse des Fürsten Karl bzw. des rumänischen Königspaares und besprach die von ihm vorzunehmende Prägung rumänischer Münzen und Medaillen. Viele Medaillen Kullrichs sind in Gemeinschaftsarbeit mit anderen Künstlern entstanden. Folgende Medailleure sind als Mitarbeiterin Erscheinung getreten: F. Staudigel, E. Schilling, E. Weigand (der Nachfolger Kullrichs), H. Weckwerth, W. Uhlmann, R. Fessler aus Bukarest, Karl Pfeuffer, E. Durussel, A. Wappenstein. Zu den beruflichen Qualitäten eines Medailleurs gehörte es, daß er die Entwürfe zu seinen Medaillen selbst machte. Auch Kullrich hat viele Medaillen nach eigenen Entwürfen oder nach den von ihm selbst angefertigten Porträtzeichnungen seiner Auftraggeber ausgeführt. In diesen Fällen fügte er dann seinem Signum ein A.V. (ad vivum) hinzu. In erheblichem Umfang aber arbeitete er, wie auch die anderen Medailleure, nach fremden Entwürfen. Die Namen dieser Maler oder Bildhauer erscheinen dann zusätzlich auf den Medaillen: Peter von Cornelius, J. H. Strack, E. Daege, L. Rosenfelder, August Fischer (der Bruder von Professor Karl Fischer), E. Bendemann, Th. Grosse, A. Wolff, R. Siemering, G Bläser, Ph. Grotjohann, L. Burger, R. Diez und E. Luerssen. Kullrich signierte seine Arbeiten mit folgenden Chiffren: KULLRICH, KULLRICH F., KULLRICH FEC, KULLRICH SCULPS., K., W.KULLRICH , WKULLRICH FEC, WKULLRICH F., W.KULLRICH FECIT, W.KULLRICH FEC.BEROL., W.KULLRICH BERLIN, W.KULLRICH IN BERLIN, W.K. Kullrich ließ von einigen Stempeln durch die Firma F. Schneider in Berlin, Linkstraße 9, Abdrücke in Bristol-Papier prägen. Er selbst fertigte nach einigen seiner Medaillen Reliefmedaillons in Gips an. Ein solches Medaillon zu der Medaille auf das Reiterdenkmal Friedrichs des Großen, 1851, sechs Zoll im Durchmesser, kostete 25 Silbergroschen. Unter Glas in vergoldeten Metallrahmen war es für 1% Taler zu haben. Seit 1856 beteiligte sich Kullrich auch an den Ausstellungen der Akademie der Künste zu Berlin. 1856 zeigte er dort neben seinen Medaillen auch eine Kamee, in Muschel geschnitten, mit dem Bildnis des kgl. Hof-Bildhauers Professor Chr. D. Rauch. Eine Kamee mit Kullrichs Selbstporträt ist hier abgebildet. Aus dem Journal der Königlichen Münze geht hervor, daß Kullrich dort schon vor seiner Anstellung private Medaillenarbeiten ausführen durfte. So prägte er z. B. im Januar 1856 die Medaille auf die 600-Jahr-Feier der Stadt Königsberg und im selben Jahr auch 184 Exemplare 42

Kamee mit Kullrichs Selbstporträt der von dem kaiserlichen Hofrat Dr. von Köhne in Auftrag gegebenen Medaille auf die Krönung des Zaren Alexander II. (vier in Gold, 16 in Bronze und 164 in Silber, davon 64 nur einseitig geprägt: 13 mit dem Kopf Nikolaus I. und 51 mit dem Kopf Alexanders IL). Kullrich erhielt dafür eine vom Obermünzmeister Klipfei und Münzmeister Loos unterschriebene Rechnung über fünf Mark, zehn Loth und zwei Grän verbrauchten Silbers und über Prägekosten in Höhe von 4'/2 Silbergroschen pro Stück = 24 Taler, 18 Silbergroschen. Es ist anzunehmen, daß später noch weitere Stücke ausgeprägt wurden. Bei solchen Arbeiten bat Kullrich zuvor anhand von Gipsabgüssen um Genehmigung zur Ausprägung. An einem Beispiel können wir das Approbationsverfahren verfolgen: Im Jahre 1857 wollte Kullrich für die Mansfelder Industrie- und Landwirtschaftliche Ausstellung in Eisleben eine Medaille prägen. Die General-Münz-Direktion leitete Kullrichs Gesuch an die königliche Verwaltung des Staatsschatzes und Münzwesens mit der Bemerkung weiter: „Da dieses Gepräge nichts zu enthalten scheint, was Bedenken gegen deren Ausprägung erregen könnte, so ersuchen wir die kgl. Verwaltung des Staatsschatzes ehrerbietigst zur Ausprägung dieser Preismedaille hochgnädigst die Erlaubnis zu erteilen. - Die General-Münzdirektion an die kgl. Verwaltung des Staatsschatzes und Münzwesens." Wenige Tage darauf, am 19. Oktober 1857, wurde die Genehmigung erteilt. Die Eintragungen im Journal der Königlichen Münze geben zwar einige Anhaltspunkte über die Prägezahlen, aber die genaue Auflagenhöhe konnte nur für wenige Medaillen ermittelt werden: Die Medaille auf den Krieg gegen Österreich 1866 wurde mit 264 Exemplaren (14 in Gold, 100 in Silber, 150 in Bronze), die auf den siegreich beendeten Krieg gegen Frankreich 1871 in 262 Exemplaren (25 in Gold, 100 in Silber, 134 in Bronze, 3 in vergoldeter Bronze) ausgeprägt. Bei der ersten Ausprägung der Medaille auf die drei Standbilder Blüchers, Yorcks und Gneisenaus, 1856, wurden 81 Exemplare hergestellt. Später mögen weitere Stücke hinzugekommen sein. Wenn es auch vorkam, daß Kullrich nur in ganz minimalen Auflagen prägte, in einem Fall waren es nur sechs Stück, so achtete er im allgemeinen doch darauf, daß ein Auftrag mindestens etwa 100 Exemplare ausmachte. Wie aus einem Brief Kullrichs vom 1. Juli 1880 an den preußischen Kultusminister von Puttkamer hervorgeht, hatte der Kaiser bei Kullrich 10 Exemplare von der Medaille auf seinen Einzug in Berlin 1871 in Bronze bestellt. Kullrich lehnte diesen Auftrag höflichst ab und bat darum, 100 Stücke liefern zu dürfen. 43

Bei dieser Gelegenheit erfahren wir auch etwas über die Preise seiner Medaillen. Der Stückpreis für die Ausführung dieser Medaille in Bronze bei einer Auflage von 100 Stück belief sich auf 20 Mark. Bei einer größeren Bestellung ermäßigte sich der Preis bis auf 15 Mark. Von einigen anderen Medaillen sind die Preise auch bekannt: Vermählung des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen mit der Prinzeß Royal von Großbritannien, 1858, 54 mm: Gold 20 Fr.d'or, Silber 6 Taler, Bronze l'/2 Taler, Neugold 2 Taler; 1 OOOjähriges Stadtjubiläum Braunsch weigs, 1861,51 mm: Gold 90 Taler, Silber 5 Taler, Bronze 1 Taler; Reiterdenkmal Friedrichs des Großen, 1851,37,8 mm: Silber 2'/2 Taler, Bronze 1 Taler. Der Fortschritt in der Prägetechnik ermöglichte es Kullrich, seine Arbeiten mit hohem Relief zu arbeiten und auch in außerordentlichen Formaten herzustellen. Einige Medaillen messen 75,78 oder gar 85 mm (Sieg über Frankreich 1871 z. B.). Am häufigsten vertreten sind die Durchmesser von ca. 42 und 51 mm. Die kleinste Medaille mißt 18 mm. Ausgeprägt wurden die Medaillen in fast allen prägbaren Metallen, in Silber und Bronze vor allem, aber auch in Gold, Zinn, vergoldeten oder versilberten Metallen, in Kupfer, Neugold, Messing, Stahl und Aluminium. Wie viele Medaillen Kullrich insgesamt hergestellt hat, ist nicht genau festzustellen. Sein eigenes Werkverzeichnis habe ich nicht gefunden, und in den Verkaufslisten der Berliner MedaillenMünze werden die Medailleure leider nicht genannt. Die Addition der in der numismatischen Spezialliteratur und v. a. in den vielen Auktions- und Verkaufslisten des Münzenhandels vermerkten Kullrich-Medaillen ergibt eine Zahl von etwa 140 Arbeiten. Als stilistisches Vorbild dienten Kullrich und den anderen Medailleuren seiner Zeit immer noch Bilder und Symbole aus der Antike. Füllhörner, Kränze, Götter und Genien. Aber auch das deutsche Mittelalter hat bei der Gestaltung mancher Medaille Pate gestanden. Viele Arbeiten machen einen etwas altväterlichen Eindruck auf uns. Es gibt Medaillen, auf denen Kleidung und dargestellte Gegenstände der modernen Zeit entsprechen, auf anderen sind Stile unbekümmert vermischt: Auf der Rückseite der Medaille auf die Gewerbeausstellung zu Königsberg 1875 sitzt die Stadtgöttin mit Mauerkrone und Lorbeerkranz, antik gekleidet, neben einer rauchenden Lokomotive. Die Medaille auf die Vermählung des Prinzen Wilhelm (Kaiser Wilhelm II.) 1881 zeigt auf der Vorderseite die Brautleute in Uniform bzw. Kleidung der eigenen Zeit, aber auf der Rückseite (von Uhlmann) eilen sie in Gewändern des Mittelalters aufeinander zu. Bei der Gestaltung einer Anzahl von Arbeiten fällt eine Besonderheit auf: Auf der Rückseite der Medaille auf das Rauchsche Reiterdenkmal Friedrichs II. wird die Umschrift in ein vom Medaillenfeld deutlich abgehobenes Band gesetzt. Bei späteren Arbeiten gewinnt dieses Band ein Relieffries - immer mehr Raum und nimmt dann - die Bildmitte wird entsprechend kleiner - erzählende Szenen auf. Auf der Vorderseite der Medaille auf die drei Feldherrendenkmäler marschieren und kämpfen die preußischen Truppen um die Köpfe ihrer Generäle herum. Bei den Medaillen auf den Krim-Krieg 1856, den Einzug Kaiser Wilhelms 1871, auf eine landwirtschaftliche Ausstellung in Rumänien verfährt der Künstler in gleicher Weise. Ebenso auch bei den großformatigen Medaillen auf die Siege von 1866 und 1871. Nur setzt hier der Künstler statt der Bildfolgen die Namen der Heerführer ein. „Die Medaille hat nicht nur darzustellen, sondern auch eine bestimmte Idee, die eigene oder die des Auftraggebers, auszudrücken. Wer nicht die schaffende und dichtende Kraft des Poeten in sich hat, der ist nicht zum Medailleur vorherbestimmt." (A. Lichtwark). Für viele seiner Arbeiten werden wir Wilhelm Kullrich geschmackvolle Gestaltung und meisterhafte Ausführung zugestehen. Dazu rechnen wir die Medaille auf die goldene Hochzeit 44

Medaille auf die Feldherrndenkmäler Yorck, Blücher, Gneisenau, 1856 (links: Köpfe, rechts: Denkmäler)

Kaiser Wilhelms I. und Kaiserin Augustas 1879. Das alte Kaiserpaar ist hier in einer würdigen, ernsten Haltung dargestellt. Auch in Arbeiten wie der Medaille auf den Sieg über Frankreich 1871 erkennen wir den Stolz und das gewonnene Selbstvertrauen des jungen Reiches, und in vielen Medaillen begegnet uns der Zeitgeist der Gründerjahre. Die Idee glauben wir also in den Werken Kullrichs zu sehen, um auf die Forderung Lichtwarks einzugehen, für die poetische Kraft indessen sind Einfachheit, Schwere und Klarheit getreten. Die Medaillen sind gediegen wie der König selbst. Mehr zum Schmunzeln reizt uns dagegen der Anblick eines kleinen Gepräges, und zwar auf die Königskrönung von 1861. Da sitzt das Königspaar auf einem „klotzigen" Doppelthron, hoch an den Medaillenrand gedrückt, und blickt aus luftiger Höhe, man möchte sagen ängstlich, auf eine verwirrende, beinahe chaotische Szene unter sich herab. Neben dem Wohlwollen seines königlichen Herren wurde Kullrich mit zahlreichen Ehrungen und Orden „begnadigt". Er war Ehremitglied der Akademien der Bildenden Künste zu St. Petersburg und Wien und Träger von Orden von Norwegen, Rumänien und Rußland sowie von Anhalt, Braunschweig, Mecklenburg-Schwerin und Reuß. Von seinem eigenen Land Preußen war er - außer mit der Landwehrdienstauszeichnung II. Klasse - mit dem königlichen Kronenorden 4. Klasse dekoriert worden. Außerdem war Kullrich Träger der Großen Goldenen Medaille für Kunst, die von der Akademie der Künste verliehen wurde. Wilhelm Kullrich starb am 2. September 1887 in Berlin und wurde am 5. September 1887 unter großer Anteilnahme seiner Familie, seiner Kollegen und vieler Freunde auf dem Matthäikirchhof in Schöneberg beigesetzt. Die Grabstelle wurde erst 1957 aufgegeben. Anschrift des Verfassers: Klaus Sommer, Heyenfeldweg 120, 4150 Krefeld

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ßie Militärkuranstalt zu Frohnau Eine Akte aus dem Wilhelminischen Kaiserreich Von Christiane Knop Bei Durchsicht einer Akte des Kriegsministeriums, und zwar seiner Medizinalabteilung von 1916 bis 1919 „betr. Heilanstalt Frohnau"1, ergibt sich ein ungewöhnliches Bild vom Ablauf einer Verwaltungsentscheidung im Wilhelminischen Kaiserreich - auch in Zeiten des Krieges -, das geeignet ist, Klischees von der militärischen Vorrangigkeit des Obrigkeitsstaates gegenüber dem Bürgerwillen zu korrigieren. Es ist in besagtem Falle keineswegs so, daß der Kaiser oder sein Reichskanzler über den Volkswillen hinweg befohlen und der Magnat Fürst von Donnersmarck habe seinem Prestige neue Nahrung gegeben. Die Verhandlungen, die sich vom Mai 1916 bis in den Herbst 1919 hinziehen, spiegeln einerseits das schwerfällige Hin und Her zwischen den höchsten Reichsbehörden in einem Rechtsstaat, obschon einem obrigkeitsstaatlichen, und andererseits das traurige Abgleiten jeder Initiative, aller Wünsche, Entwürfe und Schätzungen bis in die trostlose Lage der Kapitulation und Demobilisierung, wie sie ein Assessor beim Landrat des Kreises Niederbarnim im Oktober 1918 vorausahnte. Ein großes Projekt scheint zerredet worden zu sein, wenn man auf der letzten Seite2 die lapidare Feststellung liest: „... das Bauvorhaben betreffend die Einrichtung einer Militär-Kuranstalt zu Frohnau bei Berlin ... soll fallengelassen werden." Dies am 16. April 1919. Auf eine wahrhaft fürstliche Schenkung von 1000 Morgen Waldland und 3 Millionen Goldmark zur Errichtung einer Militärheilanstalt für Schwerstverwundete, über die der Kaiser als Kuratoriumsvorsitzender selbst verfügen sollte, scheint kleinmütiges Versagen die Antwort gewesen zu sein. Als der Schriftwechsel begann, war der Fürst seit wenigen Wochen tot, aber die Schenkung an den Kaiser bestand schon; es wäre nun auf die verwaltungsjuristischen und finanztechnischen Folgeeinrichtungen angekommen, ein medizinisch bahnbrechendes Projekt zu verwirklichen. Doch der Heutige, der die Auseinandersetzung um Haushaltsentwürfe und Sparbeschlüsse, die Wirkungskraft wirtschaftswissenschaftlicher Prognosen und parteipolitischer Argumentationen um Arbeitsplätze und Versorgungsbezüge, aber auch Verantwortungsscheu aus arbeitsmarktpolitischen Gründen kennt, versteht den sich mit fast gesetzmäßiger Notwendigkeit vollziehenden Entscheidungsvorgang mit seinem Nein und Nun-nicht-mehr. Er findet die Gegenwart widergespiegelt. Die Hauptpersonen der Handlung sind der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, dem damals auch das Reichsschatzamt unterstand, der Kriegsminister von Falkenhayn als oberster Dienstherr des Feldsanitätsdepartements, der Generalstabsarzt der Armee im Großen Hauptquartier, Professor von Schjerning, als Befürworter des Planes, der Landrat beim Kreise Niederbarnim, von Gerlach, zu dem der Gutsbezirk „Kaiserlich Frohnau" gehören sollte; hinzu kommen Architekten und Ingenieure, die aufgrund der Bodenbeschaffenheit Fragen der Be- und Entwässerung, der Heiz- und Kochanlagen begutachten, und sogar ein erster Bewerber, der die Anstalt wirtschaftlich leiten möchte, weil er Erfahrungen solcher Art aus der Ostasienexpedition einbringen kann3. Dem Reichskanzler wird zunächst eine sorgfältig durchdachte Denkschrift des Generalstabsarztes der Armee und des Chefs des Feldsanitätswesens, von Schjerning, aus dem Großen Hauptquartier vorgelegt, abgefaßt im Januar 1916. Sie ist bereits Ergebnis vorangegangener Besprechungen des damals 86jährigen Fürsten von Donnersmarck mit dem Leibarzt der 46

fürstlichen Familie, Dr. Berg, der zugleich Chefarzt des Lazaretts war, das die Fürstin von Donnersmarck in Frohnau seit 1914 führte, ferner des Ministers des Königlichen Hauses, den der Kaiser für den Plan gewonnen hatte. Dem Nacherlebenden erscheint es erstaunlich vorausschauend, wenn Professor von Schjerning darauf hinweist, welche unerträglichen wirtschaftlichen Lasten dem Deutschen Reiche nach Kriegsende durch die soziale und medizinische Versorgung der Kriegsbeschädigten erwachsen würden. Es geht diesem hohen Militär, der in erster Linie Arzt ist, um die Herabminderung der gesetzlichen Versorgungsbezüge, die nicht in allen Fällen gesetzlich erworben sind, sondern vielfach juristisch unabgesichert. Es wird also auch derer gedacht, die später im sozialen Niemandsland leben und dann eine moralische und politische Last für den Staat darstellen müssen, wie es tatsächlich ja auch geschehen sollte. Aber dies wird gleichsam nur im Seitenlicht beleuchtet; grundsätzlich geht es um die Kriegsopfer schlechthin, deren Dimension schon jetzt klar erkannt wird in der Formulierung: „ ... bei Größe und Ausdehnung des Krieges." - Der Heutige schaudert, wenn er bedenkt, daß die schrecklichsten menschlichen Verluste durch die Materialschlachten vom Sommer und Herbst 1916 erst noch bevorstehen; noch ist Verdun nicht das schreckenerregende Symbol. Die Denkschrift möchte die zu errichtende Militärheilanstalt in der Tradition des alten friderizianischen Invalidenhauses „Laeso et invicto militi" fortgeführt sehen, jedoch abgestellt auf die neuartigen medizinischen Indikationen. Es bringt der Generalstabsarzt auch die Erfahrungen der bisherigen „Militärkuranstalten" z. B. Wildbad und Königstein im Taunus - ein, und hier fällt das Wort für die beabsichtigte Institution zum erstenmal, bei der „Offizier und Mann sich am sichersten geborgen fühlen", wie er sagt; also „kein Invalidenhaus zum dauernden Verbleib, sondern eine Leib und Seele des Kranken berücksichtigende neuzeitliche Heilanstalt zu zeitweiligem Kurgebrauch und ambulatorischer Behandlung". Man glaubt Virchows sozialliberale Einstellung herauszuhören - aus dem kaiserlichen Hauptquartier! Daß nun ein klarer Abriß von der zu schaffenden Heilanstalt vorgelegt wird, die ganz dem Geiste Kaiser Wilhelms IL verpflichtet sein und seinen Namen tragen soll, deutet daraufhin, daß zwischen dem Fürsten, dem Generalstabsarzt, dem fürstlichen Leibarzt und Lazarettchef Dr. Berg sowie dem Kaiser Fühlungnahmen stattgefunden haben. Die Denkschrift setzt die Donnersmarcksche Schenkung unausgesprochen voraus, worauf die Formulierung „...in stiller, anmutiger Lage in der Nähe Berlins" deutet; dem hohen Militär ist diese „anmutige Lage" von Frohnau als Hofjagdrevier ja bekannt. Alle Argumente erscheinen selbst dem Heutigen noch großherzig-sozial und außerdem praktisch - wie z.B. der Hinweis, daß auch im Kriegsapparat tätige Offiziere (Generalstab, Kriegsministerium) dort ambulatorisch behandelt werden könnten (man denkt an etwa 800 Fälle) und daß man die Anstalt in Friedenszeiten als Garnisonslazarett statt des alten in Tempelhof weiterverwenden könne. Man hat bei der stationären Kapazität an 100 Offiziere und 200 Unteroffiziere und Mannschaften gedacht, die mit allen damals modernen Kurmitteln behandelt werden sollten. Die Bau- und Ausstattungskosten werden auf 5 Millionen veranschlagt und mit Personal, Kurdauer und Leistungsvolumen genau beziffert. Es ist auch beachtenswert, daß gerade der Chef des Feldsanitätswesens die häufigsten, dringlichen und damals neuen medizinischen Indikationen erwähnt, wie „kieferchirurgische Verletzungen, Versteifungen, Verkrümmungen von Gliedmaßen, Fehlen ganzer Glieder und periphere Lähmungen". Es sind Verstümmelungen, die vor allem der Stellungskrieg in den Materialschlachten mit sich gebracht hat und die ein Umdenken erfordern. Die Formulierung „Es 47

müßte sogleich ein Bauplatz bestimmt werden" läßt erkennen, daß schon die bestimmte Vorstellung von Frohnau bzw. die Donnersmarcksche Schenkung allem zugrunde liegt. Auch der Name der Militärkuranstalt wird bereits proponiert: „Haus Kaiser Wilhelm II." In ähnlicher Form wird er auch im weiteren Schriftwechsel verwendet. Das Projekt wird dem Reichskanzler dringend gemacht. Aber noch ist auch der Kaiser vorsichtig. In seiner Randbemerkung - übrigens eine klare und beherrschte Handschrift bekundet er seine Zustimmung, ordnet aber an, die Einwilligung des Herrn Kriegsministers einzuholen, und setzt den Baubeginn auf die Zeit nach Beendigung des Krieges fest. Damit ist der Konfliktstoff bereits gegeben: die Kompetenzabgrenzung zwischen militärischer Anstalt, die ja Reichsangelegenheit ist, und privater Finanzierung und den kommunalpolitischen Folgen. Um ihre Klärung wird es in den nächsten Monaten gehen. Dann schreitet das Projekt recht plötzlich fort. Telegraphisch erbittet der Kommandierende General im Kriegsministerium/Medizinalabteilung den Reichskanzler als Chef des Reichsschatzamtes um Auskunft, wieweit „die Verfügung über Frohnau" gediehen sei - der Plan hat also weitere konkrete Gestalt angenommen -; er selbst wolle mit dem Kriegsminister „alsbald dorthin fahren". Die Sache wird mit dem Vermerk „Sogleich" eilig gemacht und sogar um telegraphische Rückantwort gebeten. Das ist im Mai 1916. Schon zwei Tage später erfolgt die Antwort des Reichskanzlers. Aus ihr geht hervor, daß im Großen Hauptquartier eine entscheidende Besprechung schon im April stattgefunden habe, wovon er mit Schreiben vom 24. April in Kenntnis gesetzt worden ist. Doch nun hat er daraufhin in einem ersten handschriftlichen Entwurf seine Bedenken skizziert - sie werden später in maschinenschriftlicher Form sorgfältiger ausgeführt. Er zögert, weil er im Reichstag Etatschwierigkeiten zu erwarten hat. Es sei kaum denkbar, für 1916 noch einen Ergänzungsetat über 5 Millionen unterzubringen. Auch kann der Kaiser über die zugedachte Vermögenszuwendung nicht nach persönlichem Ermessen verfügen, sondern er muß sich hohenzollernschem Hausgesetz zufolge an die Richtlinien des Ministers des Königlichen Hauses halten. Da es sich ferner um einen zukünftigen Besitz des Militärfiskus handeln wird, also Reichsangelegenheit sein wird, muß der Umfang der „Belastung mit einer beschränkten Dienstbarkeit" wahrscheinlich Haftung der Öffentlichkeit gegenüber - geklärt werden. Als Eigentumsform schlägt er Erbbaubesitz auf 99 Jahre vor. So soll deshalb der Wettbewerb für einen Vorentwurf des Hauses noch aufgeschoben werden. „Das Vorhaben ist noch nicht etatsreif', urteilt er. Hier beginnt die verhängnisvolle Verzögerung. In dem eben erwähnten späteren Schreiben erörtert Bethmann-Hollweg die Kosten von nun 5 '/2 Millionen; man hat aus dem Offizierskurhaus in Wildbad Vergleichszahlen herangezogen, und die hier veranschlagten Kosten gehen weit darüber hinaus. Doch nun wird es interessant: Das Militär entfaltet die vorantreibende Kraft. Seit es einmal von der weitschauenden Idee überzeugt ist, spannt es den Rahmen noch großzügiger. - Der Generaladjutant des Kaisers, von Loewenfeld, weist auf die Möglichkeit hin, eine „weitherzige" - das Wort unterstrichen - Durchführung möglich zu machen. Ihm liegt die Transportfrage mit "der Eisenbahn am Herzen, die sichern soll, daß Schwerverwundete sofort und leicht ins Lazarett kommen sollen. Er hat die bisher geübte und weltweit geachtete Fortschrittlichkeit des Berliner Medizinalwesens im Auge und möchte sie hier fortgesetzt sehen. Umsichtig schlägt er vor, sich das Vorkaufsrecht für weitere Grundstücke in Frohnau zu sichern, auf denen die wissenschaftlichen Forschungsinstitute stehen sollen; als Denkmodell stehen offenbar die Kaiser-WilhelmInstitute und die Kaiserin-Friedrich-Stiftung. „... es wird darauf Bedacht zu nehmen sein, daß die Zukunft in Sachen Gesundheitspflege 48

Anforderungen stellen wird, an die wir noch gar nicht zu denken vermögen. Wer hat beim Bau der alten Pepiniere an Röntgen gedacht?" - Diese Beschwörung erfolgt zu einem Zeitpunkt, als das damals modernste Krankenhaus, das Rudolf-Virchow-Krankenhaus, gerade erst 10 Jahre bestand. Im August - die Etatberatungen für 1917 sind offenbar in vollem Gange - drängen die beiden Chefärzte des Feldsanitätswesens, O.St.A. Schwiening und O.St.A. Hocheimer, in Vertretung von Professor Schjerning nochmals auf baldige Hereinnahme des Projekts in den Etat und heben seine Bedeutsamkeit noch drängender hervor: „Frohnau soll eine Musteranstalt werden, die gerade bei Berlin nötig ist, wo der größte Zusammenfluß der Kriegsbeschädigten stattfindet und auch die schwersten Fälle schnell Rat und Hilfe durch die ersten Fachärzte bekommen müssen... Dabei soll jeder Luxus vermieden werden." Sie rücken auch die Kostenfrage in ein verständlicheres Licht. Der vom Reichsschatzamt herangezogene Vergleich mit den Kosten eines Offiziersgenesungsheims in Wildbad geht fehl, weil in Frohnau Erschließungskosten zu leisten sind, die dort entfallen, weil das Institut ja alle vorhandenen Kurmittel eines Weltbades mit in Anspruch nimmt. Ihre Aufrechnung liefert uns Heutigen einen interessanten Einblick in die Preisgestaltung des Jahres 1916. Es gilt damals als Binsenweisheit, daß das Bauen in Berlin erheblich teurer ist als in Süddeutschland. Hinzu kommt ein gewisser Klassenunterschied, der ein Offiziersbett mit fünf Mannschaftsbetten zu Buche bringt. Demgegenüber wird eine Kuranstalt im Sinne ganzheitlicher Medizin konzipiert. Sie sprechen von „jeder Art von Medikomechanik, Orthopädie, Elektromedizin, Strahlen-, Licht- und Luftbehandlung, Geländekuren, Arbeiten in Werkstätten, Garten und Landwirtschaft, Gelegenheiten zu chirurgischen Nachoperationen an Knochen, Muskeln, Nerven und Blutgefäßen, Prüfung und Instandsetzung künstlicher Glieder. Neben der Krankheit soll der kranke, körperlich und seelisch leidende Mensch durch die Art seiner Unterbringung, Beschäftigung und Unterhaltung nach der eigentlichen Kur mit allen aussichtsreichen Mitteln gefördert werden. Dies erfordert Anlagen, die über den Rahmen bisheriger Kuranstalten hinausgehen, sich aber nach den im Kriege gesammelten Erfahrungen durch dauerhafte Erfolge reichlich bezahlt machen." Sie errechnen die Gestellung eines Bettes mit 4000 Mark statt, wie bisher erwogen, mit 8000, für die Ausstattung pro Kopf 1667 Mark. So wird also der Reichskanzler ermutigt, und er wird nur um einen außeretatmäßigen Vorschuß von 10000 Mark gebeten, damit ein verbindlicher Vorentwurf endlich erstellt werden kann. Auch der Kriegsminister hat gegengezeichnet, und die Frage der „beschränkten persönlichen Dienstbarkeit für den Bauplatz" ist vom Kaiser selbst gelöst worden. Es müßte nun losgehen. Denn die „Guido Fürst von Donnersmarck'sche Generaldirektion" auf Schloß Neudeck in Oberschlesien macht wenige Wochen später, am 11. September 1916, ebenfalls Dampf. Sie übermittelt dem Kriegsminister in Berlin das Gutachten einer renommierten Firma, die eine Brunnen- und Wasserwerkanlage in Frohnau zu leisten fähig und bereit ist - sie war bisher an der Aufschließung der Landhauskolonie Frohnau tätig und kennt das Gelände gut. Und es werden 50000 Mark als erste Rat für einen Entwurf überwiesen. Die entsprechende Seite des Kontobuches liegt bei der Akte. Auch in diesem Schreiben wird noch einmal die Notwendigkeit zur Errichtung einer „MilitärKuranstalt größeren Stils" zusammengefaßt. Ein Wettbewerb wird abermals gefordert, damit ein Kostenanschlag nun genau beziffert werden kann. Dann heißt es lapidar: „Der Bauplatz wird geschenkt." Das nächste Schreiben des Reichskanzlers spiegelt die inzwischen eingetretene militärische Lage - Verdun! - wider. Es ist an den Kriegsminister gerichtet und läßt sich zu einem Ja/Nein 49

herbei, da er nun sicher ist, daß eine weiterefinanzielleStiftung der Donnersmarckschen Erben dem Geldmangel aufhelfen würde. Er möchte diese Last ausschließlich der Stiftung auferlegen, da die Gestellungskosten für ein Bett inzwischen die Höhe von 18 000 Mark erreicht haben. Dies ist dem Reichstag nicht mehr zumutbar. - So viel Volksvermögen hat also der Krieg in diesem Sommer verschlungen; die Inflation ist hier bereits vorgegeben. Alles hängt nun von einem überzeugenden Vorentwurf ab. Für ihn gibt der Kanzler nun grünes Licht, ohne sich jedoch festlegen zu wollen. So liegt denn 14 Tage später dieses Bauprogramm vor, vorgelegt von der „Intendantur der militärischen Institute" mit Sitz in der Luitpoldstraße im Berliner bayerischen Viertel. Man hat es offenbar aus der Schublade gezogen, wo es bereitgelegen hatte. Federführend ist Baurat Professor Weiß. - Es hat sich inzwischen auch der feste Arbeitstitel herauskristallisiert: „Militär-Heilanstalt in Kaiserlich Frohnau/Berlin". Das Bauprogramm hält fest an der Aufnahmekapazität von 100 Offizieren sowie 200 Unteroffizieren und Mannschaften zuzüglich einer nicht bezifferten größeren Anzahl von kriegsbeschädigten Offizieren und Mannschaften, die in „Groß-Berlin" tätig sind und auch nach dem Kriege ambulant behandelt werden sollen. Da die Frohnauer Bauordnung nur zweigeschossige Gebäude zuläßt, sollen also die Offiziere in vier Gebäuden, jedes zweigeschossig mit ausgebautem Dach, untergebracht werden. Der Entwurf hält sich in der Abmessung der Räume an die Friedensordnung für eine Garnison; den höheren Offizieren soll eine Burschenkammer beigegeben werden. Ähnlich den heutigen Rehabilitationszentren sind für Gelähmte acht Wohnungen mit anschließenden Pflegeräumen und Baikonen für Liegekuren vorgesehen. Im übrigen sieht der Entwurf die üblichen Neben- und Diensträume für Ärzte und Pflegepersonal und Behandlungsräume vor, vor allem genügend Abstellraum. Die Flurerweiterungen sollen zu Tagesräumen genutzt werden. Inmitten der vier Offizierswohnhäuser ist ein Offizierskasino gedacht, ebenfalls ausgestattet nach der Garnisonsgebäudeordnung aus Friedenszeiten; es enthält Nebenräume für Dienstund Pflegepersonal; gedacht ist an unverheiratete Sanitätsoffiziere. Auch die Mannschaften erhalten vier Gebäude zugewiesen wie die Offizierslogis. Kapazität: 50 Mann je Wohnhaus in 1- bis 8-Bett-Zimmern je nach Schwere der Erkrankung. Hier sollen die Kellergeschosse für Werkstätten zur Beschäftigungstherapie genutzt werden, angeschlossen an das Maschinen- und Kesselhaus, das die Energie liefern muß. Analog dem Offizierskasino gibt es einen Mannschaftsspeiseraum mit seinen Wirtschaftsräumen. Auch hier wieder ausgebaute Dachräume für Personalunterkünfte sowie Hörsäle und Lehrräume, sogar eine Kegelbahn. Inmitten der Wohngruppe soll das Kurmittelhaus stehen; es muß alle Untersuchungs- und Behandlungsräume einschließen, Arztpraxen und eine Röntgenanlage sowie Apotheke und Verwaltung. Die therapeutischen Möglichkeiten umfassen die ganze Palette damaliger Physiotherapie und Balneologie, die Maßnahmen zur Rehabilitation gelähmter Glieder im besonderen. Angefügt wird ein Operationshaus. Es soll für die Aufnahme von sieben intransportablen Schwerstkranken dienen; ferner ist an eine Infektionsisolierstation gedacht (die laut Randnotiz dem Rotstift zum Opfer gefallen ist). Räumlichkeiten zur Obduktion und Aufbewahrung von Leichen werden ebenfalls für erforderlich gehalten, dazu Remisen und Ställe, Garagen und eine kleine Feuerlöschstation, ja sogar ein kleiner landwirtschaftlicher Hof für Viehhaltung und eine Gärtnerei. Die Dachräume sind außer für Gärtner- und Kutscherwohnungen - für Futterböden geplant. Es folgen Ausführungen über Kessel- und Maschinenhaus, Wäscherei, Kühlanlagen und Schlosserei. Überall können und sollen auch Patienten beschäftigt werden. Gesonderte Wohnungen sind für 50

unverheiratete Sanitätsoffiziere, Chefarzt und Oberstabsarzt vorgesehen und schließlich ein Pförtnerhaus. Aus alledem geht hervor, daß die Planung eine geradlinige Fortsetzung des alten Invalidenhauses auf dem modernen Stand und unter den damals obwaltenden gesellschaftlichen Zuständen ist. Genauso ausgebreitet wie damals die persönliche Fürsorge Friedrichs des Großen ist hier die Für- und Vorsorge des Sanitätsdepartements auf Betreiben des Fürsten von Donnersmarck und im Einvernehmen mit dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn, also kein billiger Kriegsersatzbau. So wird verständlich, wie hoch die Kosten sein müssen. Er werden veranschlagt: 5 Millionen Mark für den Bau und 500 000 Mark für die Ausstattung sowie 10 000 Mark für den Vorentwurf und die Erschließungsarbeiten. Sie sollen aufgeteilt werden: die 10000 Mark als außeretatmäßige Ausgabe noch für 1916,2,5 Millionen Mark für den Haushalt 1917, weitere 2 Millionen Mark als zweite Baurate für den Haushalt 1918 und 1 Million Mark als Schlußrate für die Ausstattung. So steht also der ausgereifte Entwurf da, jedermann einleuchtend und dem Reichsschatzamt mundgerecht gemacht. Noch im selben Monat bestellt telegraphisch der Arbeitsminister den Chef des Feldsanitätswesens zu sich zur Unterrichtung „wegen beschleunigter Zugverbindung mit Frohnau", wie es im Telegramm heißt. Und noch einmal schaltet sich der Kaiser persönlich ein, der sich bisher zurückgehalten hat, und zwar mit einer Anregung, die Mosaikwerkstatt Wagner solle bei der Ausschmückung des Offizierskasinos beteiligt werden. Man kennt die kaiserliche Vorliebe für diesen Dekorationsstil von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche her. Obwohl nun der nächste Schriftvorgang den Vermerk „Schleunig" trägt, stellt sich am 9. November 1916 der Reichskanzler noch immer steif. Der Vorentwurf des Professors Weiß hat ihn nicht davon überzeugen können, daß er die sehr hohen Kosten von 18 000 Mark pro Bett vor Reichstag und Bundesrat werde verantworten können. Die Aufwendungen scheinen ihm immer noch zu hoch angesetzt angesichts der gewaltigen Kriegslasten, die er - und man bedenke die kritische Lage an beiden Fronten! - auf sich zukommen sieht, zumal die Hochrechnung eines Verwaltungsfachmannes aus der Medizinalabteilung ihn in dem Grundsatz bestärkt, das Projekt werde die angesetzte Summe erfahrungsgemäß weit übersteigen. Er sei höchstens bereit, die Sache durchzubringen, wenn ein Bett auf 8000 Mark käme, was dem bisherigen Satz entspricht. Um kein klares Nein herauslesen zu müssen, behält sich der Kriegsminister doch eine gelegentliche Neuvorlage bei „Sr. Exellenz" vor. Wenn es überhaupt weitergehen soll, muß die „Akademie des Bauwesens" den Vorentwurf nochmals begutachten. Inzwischen hat die Gemeinde Berlin-Pankow Wind von der Sache gekriegt; denn ein Schreiben des Gemeindevorstands weist „ergebenst" daraufhin, daß das Wasserwerk für Pankow an der Havel bei Stolpe gelegen sei und genügend Kapazität auch für die Militärkuranstalt aufbringen werde, was heißt, Pankow will am Geschäft teilhaben. Im November 1916 ist von der Akademie das Gutachten ausgefertigt und dem Kriegsminister zugestellt worden. Die Erwägungen des Für und Widers sind zäh und unübersichtlich. Aber am Ende hat der Begutachter sich zu einer Befürwortung durchgerungen, nicht zuletzt deshalb, weil ihm eine wirtschaftliche Zukunftsanalyse zugänglich gemacht worden sein muß, die allerdings immer noch von der Hoffnung auf einen Siegfrieden ausgeht. Es steht nun fest, daß der Baubeginn erst nach dem Friedensschluß vorgenommen werden soll. Die architektonische Gestaltung und die Ausstattung werden hier auf andere Grundzüge gebracht, eine axiale Verlagerung der Gebäude wird vorgeschlagen, und zwar in die Nord-SüdRichtung parallel zur Rauenthaler Straße, so wie das heutige Fürst-Donnersmarck-Haus 51

tatsächlich errichtet ist, da hier bereits eine gepflasterte Straße vorhanden ist und keine weiteren Abholzungen notwendig werden. Dabei ergeben sich in manchen Dingen Einsparungen, im ganzen aber rechnet man mit Mehrkosten von fast 2 Millionen Mark, selbst wenn man das Gesamtniveau senkt. Der Heutige bedauert das Fehlen jeglicher Bauzeichnung in der Akte. Der Baubeschreibung zufolge hätte die Anlage wohl eine Ähnlichkeit mit der des Virchow-Krankenhauses mit seinen Pavillons und den Freiflächen dazwischen gehabt, zumal der Gutachter sich zu den über- und unterirdischen Verbindungsgängen äußert. Interessant ist, wie gesagt, die wirtschaftliche Prognose: Die Bautätigkeit werde nach dem Krieg infolge von Hypothekenschwierigkeiten zurückgehen, die Neuentwicklung von Industriebauten stagnieren, weil sie durch die Kriegsproduktion übersättigt sei, die Umstellung auf Friedenswirtschaft werde überhaupt einen bescheideneren Zuschnitt erforderlich machen. Zumal durch die zurückströmenden Soldaten das Arbeiter- und Baustoffangebot sich erhöhen müsse, was auf die Preise drückt. Diese Entwicklung werde den Preisanstieg der Kosten für die Militärkuranstalt auffangen, was auch dann dem Reichsschatzamt neue Normen abfordern werde. Daher kann also auch der Grundtenor des Gutachtens noch ein halbwegs positiver sein. Doch spürt man eine gewisse Müdigkeit und Verantwortungsscheu; es kämpft bereits zwischen den Zeilen das eine Deutschland mit dem anderen. Tatsächlich haben sich die Schwergewichte auch schon entscheidend verlagert. Das Zögern ist nur verständlich, wenn man weiß, daß der Kriegsminister von Falkenhayn seit Mitte 1916 die Westfront dazu ausersehen hat, die materielle Überlegenheit der Entente-Mächte zu unterlaufen und die Kriegsführung auf einen solchen Punkt zu konzentrieren, wo der Geger gezwungen werden soll, sich zu verausgaben. Die Wahlfielauf Verdun. Jedoch schon im September mußte Falkenhayn erkennen, daß die Truppen sich in der Hölle von Verdun verbluteten. Hinzu kamen die Kriegserklärungen Rumäniens und Italiens, die es dann so aussehen ließen, als entglitte der Obersten Heeresleitung die Führung. Sie wurde umbesetzt: Hindenburg und Ludendorff traten an Falkenhayns Stelle; doch ihre militärischen Anfangserfolge konnten das tiefgreifende Dilemma der Versorgungslage nicht ausgleichen. Im Gegenteil, es zeigte sich jetzt in seiner dramatischen Aussichtslosigkeit. Erst jetzt wurden die Folgen davon relevant, daß sich das Vorkriegsdeutschland kaum Kolonien mit nennenswerten Rohstoffquellen hatte erwerben können. Die Versorgung mit Industrierohstoffen, vor allem Nichteisenmetallen, war fast Null. Das gleiche galt für die chemische Produktion. So wurde aus wirtschaftlichen Gründen eine entscheidende Kriegslösung erforderlich. Bethmann-Hollwegs Zögern entspringt einem Umdenkungsprozeß, der bis Ende 1916 noch mit einem halbwegs günstigen wirtschaftlichen Kriegsausgang gerechnet hatte; die hohen Verluste des Jahres 1916 veränderten alle Prognosen schlagartig ins Negative, zumal unter dem Eindruck der alliierten Kriegsblockade. Alle positiv gedachten Kreditmaßnahmen wie das „Gesetz des Vaterländischen Hilfsdienstes", eine Staatsanleihe, die der Reichskanzler gerade im Sommer 1916 im Reichstag einbrachte, zeitigte eindeutig negative Folgen, wie z. B. Lohntreiberei in der Kriegsindustrie. Die Wirtschaft steuerte auf einen Staatssozialismus zu. Dazu kam Hindenburgs Einsicht, der Kriegswille der Entente sei nicht zu brechen. Die ohnehin nie sehr gefestigte Position Bethmann-Hollwegs kam dadurch restlos ins Wanken; er wurde zum Rücktritt gedrängt; nach dem kurzen Zwischenspiel Michaelis' trat Graf von Hertling seine Nachfolge als Kanzler an. 13. Juni 1917: Der 4. Akt in der Frage „Frohnau" beginnt mit einem Paukenschlag des Kriegsministers. Im Westen hat sich der Krieg noch immer festgefressen, aber im Osten ist er in 52

Bewegung geraten; man spekuliert im Großen Hauptquartier wohl schon mit dem Umschwung in Rußland - nur vier Monate trennen die Zeitgenossen noch von der Oktoberrevolution, Die Materialschlachten gegen die westlichen Alliierten müssen grauenhafte Verluste gebracht haben, so daß sich nun wieder das Militär, also das Sanitätsdepartement, sorgenvoll, in fast beschwörendem Tone äußert. Es sucht die Dinge voranzutreiben, zumal „das Kriegsende noch nicht abzusehen ist". „Auch im Reichstag ist kürzlich die Notwendigkeit der schleunigen Bereitstellung neuer umfangreicher Militär-Kuranstalten erörtert worden. Der Kaiser hat die Wichtigkeit und Eilbedürftigkeit des Bauplanes anerkannt und wendet der Sache fortgesetzt sein besonderes Interesse zu. - Der Kriegsminister hat tatkräftige Förderung zugesagt. Wenn auch die jetzige Lage des Baumarktes eine baldige Inangriffnahme der Bauarbeiten nicht gestattet und das Kriegsende nicht abzusehen ist, so verursacht die Bereitstellung der erforderlichen Mittel und die Erledigung der technischen Vorarbeiten doch einen erheblichen Zeitaufwand. Kommt es zu einem baldigen Frieden oder Waffenstillstand, so würde der bisher entstandene oder noch entstehende Zeitverlust zu schwerem Notstand in der Heilfürsorge der vielen Tausenden von kurbedürftigen Kriegsteilnehmern führen." So plädiert man, da fest steht, daß das Reichsschatzamt sich außerstande erklärt, auch die 4 Millionen Mark aus der „Stiftung Ludendorff-Spende" bereitzustellen, um eine möglichst einfache, kostensparende Durchführung auf der Grundlage des Weißschen Entwurfs zu ermöglichen. Es kehrt die Beschwörung „Beschleunigung!" wieder. Gleichzeitig hat der Kriegsminister auch den Minister für öffentliche Arbeiten mobilisiert und von ihm am 19. August 1917 erreicht, daß ein beschleunigter Personenverkehr zwischen Berlin und Stolpe eingerichtet werden kann. „Diese Züge würden außer in Stolpe nur in Frohnau und Gesundbrunnen halten." Einen Fernbahnhof in Frohnau zu errichten, lehnt der Kriegsminister der hohen Kosten wegen ab. Nun scheinen die letzten Hindernisse beseitigt zu sein. Da kommt der Landrat des Kreises Niederbarnim, Gerlach, wieder als retardierendes Moment dazwischen; als ein wahrhafter Zauderer mit Amtsstubenargumenten. Er hat, als es um die katastermäßige Auflassung des Geländes für den Gutsbezirk „Kaiserlich Frohnau", auf dem der Bauplatz liegen soll, die Grundbücher von Frohnau beim Amtsgericht in Oranienburg eingesehen und herausgefunden, daß die „Berliner Terrain-Centrale" aus der Zeit des Ansiedlervertrages für Frohnau von 1909 der Kirchengemeinde und dem Schulvorstand von Stolpe noch 67 000 Mark schuldet und nicht bereit sei, sie zu zahlen. Eine solche unklare Rechtsgrundlage sei der Auflassung hinderlich. So ist das Jahr 1917 verstrichen, 1918 hat begonnen. Nach dem Gesagten braucht man sich nicht zu wundern, daß nun auch der neue Reichskanzler Graf von Hertling den Mut verloren hat. Sehr langatmig redet er gegen das Projekt. Am 23. Februar 1918 postuliert er, der geplante Bau sei eine „reine Friedensmaßnahme". Man wisse ja nicht, wie der Frieden aussehen werde und ob sich dann noch die Notwendigkeit ergeben würde, „einen Bau für die gedachten Zwecke in dem geplanten Umfang auszuführen". Inzwischen ist auch seine Stellung angefochten; er hat durch die Sozialdemokratie im Reichstag erhebliche Opposition erfahren müssen, und der Kaiser hat ihn von Anfang an nicht recht gedeckt. So hat Graf von Hertling die Ablehnung des Projekts seinem Stellvertreter, dem Grafen Roedern, übertragen, der klar das Nein ausspricht. Man hat inzwischen klarer erkannt, welche neuen Ausgaben auf das abgekämpfte Reich zukommen würden. Graf Roedern schätzt die zukünftige Preisgestaltung anders ein: nämlich Preissteigerungen gerade im öffentlichen Dienst, der ja im Zuge der Demobilisierung noch

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mehr staatliche Fürsorge vorwalten muß. Der Haushaltsentwurf für 1918 ist nur unter großen Schwierigkeiten zustande gekommen, eine Summe von 5,5 Millionen Mark ist darin nicht mehr unterzubringen. Wie ein Refrain zieht es sich durch das Schreiben: „... dem vermag ich nicht zuzustimmen." Damit schließt die Akte. So ist also die Heilanstalt „Kaiser-Wilhelm-Haus" in Frohnau nicht gebaut worden. Das Stiftungskuratorium hat den Stiftungsfonds, da er ja in Liegenschaften bestand, über die Inflation hinweggerettet. Aus seinem Exil in Doorn ist der Kaiser als Kuratoriumsvorsitzender zurückgetreten und hat den Vorsitz, wie es der alte Fürst von Donnersmarck geplant hatte, dem jeweils ältesten Sohn der fürstlichen Familie zurückerstattet; das war 1918 Guidotto Graf Henckel von Donnersmarck. Auch vor dem Zugriff der Nationalsozialisten hat sie sich zu wahren gewußt und dann den eigentlichen Stifterwillen wieder aufleben lassen in der Errichtung des „Fürst-DonnersmarckHauses" zur Rehabilitation cerebralbewegungsgestörter Kinder. Damit begann gegen Ende der fünfziger Jahre ein neues Kapitel. 1 2 3

IV, 11, Abt. 3, Nr. 83. - Die Akte befindet sich heute in Privatbesitz. Im Beschluß der Kassenverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Akademie, Berlin NW 40, an das Kriegsministerium. Für seine Tätigkeit fordert er nur freie Wohnung und Beköstigung, er erbietet sich dagegen, seine persönliche Sammlung ostasiatischer Kunstschätze dem Offizierskasino zur Verfügung zu stellen. Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28

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/Rettung und Rückkehr der Thora-Rollen Von Arthur Brass Nach Niederwerfung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas mit seinen Millionen ermordeter Menschen wurde in BerlinWeißensee auf dem hundert Jahre alten berühmten jüdischen Friedhof ein historisches Kapitel in der Geschichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zum guten Ende geführt, das bereits Gegenstand in der internationalen jüdischen Presse und in zeitgeschichtlicher Literatur war. Die auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee verwahrt gewesenen und unbeschädigt gebliebenen über 400 Thora-Rollen kehrten zurück in die Synagogen Berlins, der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Israels und anderer Länder, wo wieder jüdische Religionsgemeinden entstanden waren. Sie wurden damit der hohen Aufgabe im religiösen Leben der jüdischen Bevölkerung, die nach dem Holocaust noch am Leben geblieben war, wieder zugeführt. Die Thora enthält bekanntlich die fünf Bücher Moses auf handgeschriebenen Pergamentrollen. Ihre Verlesung ist ein wesentlicher Teil des jüdischen Gottesdienstes. Die im 2. Buch Moses, Kapitel 20, enthaltenen zehn Gebote gehören zu den sittlichen Grundlagen aller zivilisierten Staaten der Welt. Wie diese Schriftrollen schließlich vor der Profanierung durch die NS-Machthaber gerettet wurden, soll in den folgenden Zeilen geschildert werden. Die von der Auflösung, der Flucht und Auswanderung und später den Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager „judenfrei" gewordenen Gemeinden in Preußen hatten ihre 54

Thora-Rolle aus dem Bestand des Berlin-Museums, Jüdische Abteilung

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von den Juden-Pogromen am 8/9. November 1938 verschont gebliebenen Thora-Rollen, Weisungen entsprechend, an die durch die 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz gegründete „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" zu Berlin gesandt, wo sie in einem gemeindeeigenen Gebäude in der Elsässer Straße angesammelt und ordnungsgemäß verwahrt worden waren. Einer schönen Inspiration folgend, veranlaßten im Frühjahr 1943 zwei in besonders verantwortlichen Stellen bei der Jüdischen Gemeinde tätige Angestellte den Abtransport von 583 Thora-Rollen auf das Gelände des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee, Lothringenstraße. Der Verfasser dieses Berichtes war seinerzeit Dienststellenleiter des Jüdischen Friedhofs, auf dem bis zum Kriegsende laufend die Beerdigungen der verstorbenen Juden Berlins stattfanden. Der Transport wurde durchgeführt mit zwei großen Lastwagen des christlichen Spediteurs Scheffler. Dieser auch sonst als Freund der Juden bekannte Mann ist während des Kampfes um Berlin verstorben. Er führte den Transport, der ihn in höchster Weise gefährdete, zudem unentgeltlich durch. Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde durfte von der Aktion nicht verständigt werden; auch das Reichssicherheitshauptamt und die Gestapo durften nichts davon erfahren. Zu dieser Zeit bestand bei den Nationalsozialisten die Absicht, in der Synagoge Münchener Straße 37 eine provokatorische und profanierende Ausstellung von Kultusgütern der Juden und Freimaurer zu eröffnen, bei der die erwähnten Thora-Rollen ausgestellt worden wären. Ein kurzer Anruf des Direktors des Jüdischen Krankenhauses bei dem Verfasser dieses Berichtes meldete die Abfahrt der beiden Lastwagen. Wenige Stunden danach passierten die beiden Wagen mit dem Kultusgut das Tor des Friedhofes. Von den überraschten jüdischen Mitarbeitern der Friedhofsverwaltung wurden die Lastwagen sofort den Hauptweg entlang zur neuen großen Friedhofskapelle und seinen Nebengebäuden inmitten des Friedhofgeländes geleitet. Für die große Anzahl der Schriftrollen wurde viel Raum benötigt. Sie wurden sorgsam untergebracht auf der ursprünglich für einen kleinen Chor und ein Harmonium gebauten Empore der Trauerhalle und in dem rechts neben dieser Kapelle liegenden Gebäude, das für den Aufenthalt der an den Trauerfeierlichkeiten teilnehmenden Rabbiner und Kantoren bestimmt war. Zu dieser Zeit fanden die Beerdigungen ausschließlich von der neben dem Eingang des Friedhofs in der Lothringenstraße gelegenen Trauerhalle aus statt. Inmitten des Friedhofes, weit entfernt von seinem Eingang, erschien uns die Auswahl der Unterbringungsstelle zweckmäßig. Ein Kapitel hatte seinen Anfang genommen, das mit einer starken zusätzlichen Gefährdung aller jüdischen Mitarbeiter des Friedhofes verbunden war. Bei einer zu dieser Zeit in einem anderen Zusammenhang stattgefundenen Vorladung zum Reichssicherheitshauptamt - IV B 4 -, zu der der damalige Vorsitzende der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland", Dr. Epstein, der Friedhofsdezernent des Gemeindevorstandes und der Verfasser dieses Artikels erscheinen mußten, wurde dem ganzen Personalbestand der Friedhofsverwaltung die Verbringung in das Konzentrationslager Mauthausen angedroht. Die genannte Verwahrungsstätte des Kultusgutes sollte jedoch leider nicht Bestand haben. Bei den Bombenangriffen der Alliierten auf Berlin blieb der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee, der zwischen Rüstungsbetrieben lag, nicht verschont. Er wurde von mehr als 20 Bomben getroffen. Auf die genannten Gebäude mit den Thora-RollenfielenBrandbomben, so daß die Schriftstücke beschädigt und mit Schutt bedeckt wurden. In mühevoller Arbeit mußten die vielen hundert Thora-Rollen überprüft und die für Synagogen nicht mehr verwendbaren ausgeschieden und ihr Transport an eine andere Stätte der Zuflucht auf dem Friedhofsgelände veranlaßt werden. Für diese wichtige Arbeit an dem teuren Kultusgut stellte sich ein jüdischer Lehrer (Hebraist) mit jüdischen Schülern der Verwaltung zur Verfügung, dem wir Dank 56

schulden. Über 90 Schriftrollen waren so schadhaft geworden, daß sie dem Religionsgesetz gemäß auf dem Friedhof beigesetzt werden mußten. Die Beisetzung der beschädigten und für Kultuszwecke nicht mehr brauchbaren Schriftrollen fand in einem Trauerakt statt, der von dem in der Deportation aus dem Leben geschiedenen jungen Rabbiner Heinz Meyer geleitet wurde. Die anderen über 400 einwandfrei erhalten gebliebenen Thora-Rollen wurden in einem am Eingang Lothringenstraße gelegenen Gebäude der Verwaltung untergebracht. Sie wurden in aller Ordnung und unter günstigen klimatischen Bedingungen auf Regalen gelagert, die von unserem Tischer besonders hergestellt waren. So konnten sie nach der Auslöschung des NS-Regimes ihrer hohen religiösen Aufgabe in den Synagogen und Betstätten jüdischer Gemeinschaften wieder zur Verfügung gestellt werden. Dies war das gute Ende der Flucht vor Profanierung und den Gefahren des Krieges, das eingebettet ist in das Geschehen der NS-Zeit und durch diesen Bericht der Zeitgeschichte überliefert werden soll. Anschrift des Verfassers: Arthur Brass, Witteisbacher Straße 10 a, 1000 Berlin 31

Nachrichten 120 000 Besucher im Märkischen Museum Im Märkischen Museum wurde aus Anlaß des 125. Geburtstages des Meisters am 12. Januar 1983 das Heinrich-Zille-Kabinett wiedereröffnet. Im Jahre 1982 haben 116228 Interessenten Ausstellungen im Märkischen Museum am Köllnischen Park besucht, darunter diejenigen über 100 Jahre Kabarettgeschichte, über historische Postkarten und über Raucherutensilien aus 300 Jahren. Neueröffnet wurden die ständigen Abschnitte zur Berliner Stadtgeschichte zwischen 1705 und 1815 sowie zur Theatergeschichte von 1740 bis 1850. Interesse fand vor allem der Feldberger Altar aus dem Mittelalter. Erstmalig wurde in einem Betrieb eine Gastausstellung veranstaltet, im VEB Bergmann-Borsig mit historischen Fotos. Für das Jahr 1983 ist von März an eine Ausstellung „Marx in Berlin" geplant. Im zweiten Quartal wird die überarbeitete ständige Schau „Berlin 1648-1705" eröffnet. Von Juni an ist der Raum über Theatergeschichte wieder zugänglich. Die Ausstellung „75 Jahre Märkisches Museum" widmet sich in erster Linie der Baugeschichte. Schließlich wird des 250. Geburtstages des Berliner Verlegers, Kritikers und Schriftstellers Christoph Friedrich Nicolai gedacht. SchB.

Studienfahrt in die Alte Hansestadt Lemgo Es war wieder eine halbe Hundertschaft, die sich am Freitag, dem 17. September 1982, an der Berliner Bank an der Hardenbergstraße einfand, um die Reise nach Lemgo anzutreten. Im romantisch gelegenen Restaurant „Aussichtsturm" im Lemgoer Stadtwald machte man die erste Bekanntschaft mit der ansprechenden Umgebung dieser lippischen Stadt, aber auch mit Verkehrsamtsleiter Egon Trommer, der sich um die Vorbereitung und Abwicklung dieser Exkursion sehr verdient gemacht hat und dem deswegen hier noch einmal mit Nachdruck Dank gesagt werden soll. Ein Kleinod Lemgos, das Hexenbürgermeisterhaus, bildete den Auftakt zur Besichtigung der Sehenswürdigkeiten, ein Vortrag in lippischem Platt in der Alten Abtei vermittelte erste volkskundliche Eindrücke, eine Kaffeerunde in der „Ratswaage" führte an die gastronomischen Genüsse Lemgos heran. Dem Besuch des mehr bizarren als ästhetischen Junkerhauses folgte der eindrucksvolle Rundgang durch die Fachhochschule Lippe, Abteilung Lemgo, mit Professor Dr.-Ing. G. Baron an der Spitze. Der abendliche Besuch in der Stiftung Eben-Ezer erwies sich schon als ein früher Höhepunkt der ganzen Studienfahrt, da Professor Jochen Walther mit Herzenswärme und Einfühlungsvermögen die Aufgabe einer solchen Institution in der Hilfe an Behinderten lebendig zu 57

machen wußte. Eine kalte Platte mit lippischer Hausmannskost im Restaurant „Ilsetal", bei dem einige akademische Kellner ihr Geschick im Bedienen zeigten, schloß den Abend ab. Unter sachkundiger Leitung fand am Vormittag des folgenden Sonnabends eine Führung durch die Alte Hansestadt Lemgo mit ihren Kirchen, Giebeln und Fassaden statt. Dieser Stadtbummel wurde durch den gleichzeitig abgehaltenen Lemgoer Wochenmarkt belebt. Bürgermeister Reinhard Wilmbusse und Martin Kittlaus, Leiter des Bauplanungsamtes, empfingen die Berliner Gäste, die vor dem Aufbruch zum Hermannsdenkmal gern die Gelegenheit aufgriffen, sich in der Marienkirche von Kantor Walther Schmidt auf der Scherer-Orgel ein kleines Konzert geben zu lassen. Was sich als Führung durch das Westfälische Freilichtmuseum Bäuerlicher Kulturdenkmale schlicht im Programm präsentierte, erwies sich als ein sehr strammer Marsch, der sich durch die so liebenswürdige wie lebendige Art der beiden Führerinnen aber als recht eindrucksvoll im Gedächtnis eingeprägt hat. Die Kaffeepause in der Deele der Museumsgaststätte „Zum wilden Mann" war wohlverdient, das Abendessen im Alten Gasthaus Lallmann in Lüerdissen enthüllte dann das Geheimnis um den Pickert. Am Sonntag früh strahlte immer noch die spätsommerliche Sonne, als Stadtführer Josef Peters die Gäste am Kurpark Bad Salzuflen zu einem Stadtrundgang empfing, dem sich ein Spaziergang durch die Kuranlagen anschloß. Der Vollständigkeit halber seien auch noch das Mittagessen im Ried-Hotel zu Bad Salzuflen und die Kaffeepause im Königshof zu Königslutter erwähnt, aber auch der Stau auf der Autobahn. Dennoch war die Heimfahrt unbeschwert, und nicht wenige der Teilnehmer erkundigten sich nach dem Fahrtziel für die Exkursion 1983: Eine Anfrage liegt in der Stadt Göttingen vor. H. G. Schultze-Berndt

Stadtforum Berlin gegründet Im September 1982 hat sich in Berlin das „Stadtforum e.V." gebildet, dem u. a. auch namhafte Fachleute wie Professor Julius Posener, Professor Martin Sperlich und Professor Reinhard Breit angehören. Die Gründung des Stadtforums ist eine Reaktion auf die Städtebaupolitik, die nach Ansicht der Gründungsmitglieder in immer stärkerem Maße den Organismus und die Lebensfähigkeit der Stadt schädigt. Vor allem will sich das Stadtforum für die Erhaltung und Pflege der 1704 bis 1706 von Eosander geplanten und im Stadtgrundriß noch erhaltenen Altstadt von Charlottenburg einsetzen. Die Altstadt von Charlottenburg mit viel historischer Bausubstanz aus dem 18. und 19. Jahrhundert, deren Geschichte durch den Fund wertvoller historischer Akten des frühen 18. Jahrhunderts lückenlos dargestellt werden kann, ist im übrigen eines der stabilsten und lebendigsten Berliner Stadtquartiere. Angesichts der Planungen, von 1985 an verstärkt in Innenstadtquartiere einzugreifen und Bestehendes abzureißen, will das Stadtforum durch Untersuchungen noch intakter Stadtzusammenhänge Erfahrungen gewinnen, die Grundlage für eine konstruktive Stadtentwicklungs- und Stadtplanungspolitik sein könnten. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen mit der Internationalen Gesellschaft für Stadtgestaltung in Wien diskutiert werden, die u. a. auch Stadtverwaltungen, Bürger und Baugesellschaften berät. Auskünfte erteilt das Stadtforum e.V., Goethestraße 49, 1000 Berlin 12, Telefon (0 30) 3115493. SchB.

Tagesordnung der Jahreshauptversammlung am 18. Mai 1983 1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichts, des Kassenberichts und des Bibliotheksberichts 2. Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer 3. Aussprache 4. Entlastung des Vorstands 5. Neuwahl des Vorstands 6. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern 7. Verschiedenes Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind bis spätestens 26. April 1983 der Geschäftsstelle einzureichen. Um pünkdiches Erscheinen wird gebeten.

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Aus dem Mitgliederkreis Vom Biedermeier zum Atomzeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Julius-Springer-Verlages, 1842 bis 1965 Dr. phil. Paul Hövel, seit mehr als 15 Jahren Mitglied unseres Vereins, hat der Vereinsbibliothek seinen Privatdruck „Vom Biedermeier zum Atomzeitalter" überreicht. Das Buch ist nur in einer Auflage von 100 Exemplaren erschienen, so daß seine Hergabe für unsere Bibliothek eine Auszeichnung bedeutet. Seit seiner Gründung 1842 hat der wissenschaftliche Springer-Verlag nicht wenig zum kulturellen Ansehen Berlins beigetragen. Dr. P. Hövel schildert in seinem Buch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung dieser Zeitspanne seit 1817, dem Geburtsjahr von Julius Springer, und zugleich auch die Geschichte Berlins. Dr. Paul Hövel kam vor einem halben Jahrhundert aus Düsseldorf nach Berlin. Wie er schreibt, haben ihn die folgenden schlechten Jahrzehnte zu einem „überzeugten Berliner" gemacht. Als Leiter des Berliner Hauses des Springer-Verlages wie auch in vielfältiger ehrenamtlicher Tätigkeit als Vorsitzender der Urania und als Vorsitzender mancher Ausschüsse des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hat er ein Stück Kulturgeschichte Berlins mitgeschrieben. Für seine Spende sei ihm herzlich gedankt. Dieses Buch ist außerdem in Berlin vorhanden in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, in den Universitätsbibliotheken der FU und TU sowie in der Amerika-Gedenkbibliothek. SchB.

Buchbesprechungen Berlin - Landschaften am Wasser. Ein Foto-Textbuch mit 90 Fotografien in Farbe. Fotografiert von Carl Hatebur. Texte von Peter Baumann. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1982, 124 Seiten, Großformat 26,5 X 26,5 cm, Ganzleinen, 68 DM. Hier haben sich ein kundiger Autor, der seinen Text gut recherchiert hat, und ein Fotograf mit dem Mut zu extrem bunten, aufregenden Bildern zu einem Buch vereint, zu dem man beiden und dem Verlag gratulieren kann. Da wird das nötige Quentchen Statistik mitgeteilt: Berlin ist einer der zehn größten Binnenhäfen Deutschlands und das vielleicht schönste Wassersportrevier Europas. Zwölf schiffbare Wasserstraßen von 182 km Länge und 152 nicht befahrbare Gewässer werden von 455 Brücken überspannt. Acht Prozent seiner 884 km2 Groß-Berlins werden vom flüssigen Element eingenommen. Das Buch begleitet die Havel, den „norddeutschen Flachlandneckar" (Fontane), auf seinen 30 km, die er durch die Stadt fließt, und auch die Spree, den unerforschten Fluß, in einer Art Flußgeschichte. Diese stützt sich auch auf Adriaan von Müller, den Treuhänder der Berliner Altertümer, und es darf allenfalls gefragt werden, ob es Rixdorf und nicht Ricksdorf heißen muß. Der interessierte Leser (und das Interesse wird mit Sicherheit geweckt) erfährt beiläufig eine Menge über die Historie Berlins, des Schiffsbaus, des brandenburgischen Seewesens und der Berliner Dampfschiffahrt. Berlin, „Herz der östlichen Wasserstraßen", war hinter Duisburg-Ruhrort zweitgrößter Binnenhafen Deutschlands und liegt jetzt mit einem Güterumschlag von jährlich 8 Mio. Tonnen an achter Stelle der deutschen Binnenhäfen. Mehr als 17 000 Angler sind in 76 Vereinen zusammengeschlossen, zusammen mit den Berufsfischern holen sie jährlich 150 Tonnen Fisch aus der Havel, davon allerdings 110 Tonnen der unbeliebten Weißfische. Vor zwei Jahrzehnten haben die Spandauer Fischer noch 1,6 Mio. Krustentiere u. a. für den Export nach Frankreich gefangen, jetzt kommt man allenfalls auf 100000 Krebse. Die 25 Mitglieder der Fischer-Sozietät Tiefwerder-Pichelsdorf des Jahres 1950 sind inzwischen auf sechs Berufsfischer zurückgegangen - das Fest der Fischer auf der Spree, der Stralauer Fischzug, ist bereits verschwunden. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung (1939) beförderte die Berliner Berufsschiffahrt mit 319 Schiffen auf einem Wasserstraßennetz von 2200 km Länge rund 60000 Passagiere, von Hamburg bis nach Dresden, von Stettin bis Breslau. Die Geschichte des Wassersports (Gründung des ersten Seglervereins 1835) kommt durchaus zu ihrem Recht, auch mit Zitaten wie: „Auf dem Meere zu segeln ist kein Kunststück, wohl aber auf der Spree!" Man kann den Verfasser auf einer „Dampferfahrt" mit der Reederei

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Riedel begleiten. Ein oder zwei Kapitel sind dem Naturschutz gewidmet. Kritik wird an Spandau geäußert: „Mit den verschlissenen, beschmierten, besetzten und gar halb verlassenen Häusern wirkt der Kiez (Spandauer Kolk) vergessen von einem reichen Industriebezirk, der sich selbst im 750. Jahr seines Bestehens an dieser Stelle nur verbal zu seinem Herkommen bekennt." Auch wer nicht zu den 75000 Wassersportlern oder 6700 Seeleuten (darunter 16 Kapitäne auf großer Fahrt) des Westteils unserer Stadt gehört, wird an diesem Buch über Berlin am Wasser Freude und Belehrung finden. Hans G. Schultze-Berndt Horst Seeger/Ulrich Bötzel: Musikstadt Berlin. VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1974,179 Seiten mit 68 Abbildungen, broschiert, 4,80 M. Diese kleine Musikgeschichte Berlins wendet sich an ein breites musikinteressiertes Publikum und sucht in gefälligem, zwanglos plauderndem Stil einen einführenden Überblick zu bieten. Nachdem man zunächst auf gut der Hälfte des Raumes den vielschichtigen Entwicklungen bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinein in relativ ausgewogener Weise gerecht wird, beschränkt sich die Darstellung im weiteren fast ausschließlich auf den östlichen Teil der Stadt. Dieser wird denn auch als der eigentliche Erbe vorangegangener großer Traditionen breit und ausgiebig gefeiert, während musikhistorisch bedeutsame Vorgänge im Westteil der Stadt nur hier und da mit einem knappen Satz Erwähnung finden. Für den hiesigen Leser sind nicht nur dort, sondern auch im vorangehenden Abschnitt regelmäßig eingestreute, um historische Deutung im rechten marxistischen Sinne bemühte ideologische Phrasen ärgerlich. Wer über solche für DDR-Autoren wohl obligatorischen Sätze und Passagen hinwegzulesen vermag, kann aber eine im wesentlichen doch sehr liebevolle Schilderung der musikalischen Entwicklung Berlins bis in die vierziger Jahre finden und einen Einblick in das hierzulande im allgemeinen sicherlich weniger bekannte Ostberliner Musikschaffen gewinnen. Alexander Wilde Wolfgang Genschorek: Ernst Ludwig Heim. S. Hirzel Verlag, Leipzig 1981,226 Seiten mit 87 Abbildungen, 14 DM. Nach seinen Ärztebiographien über C. G. Carus, Hufeland und Robert Koch beschäftigt sich V. jetzt mit E. L. Heim, dem volkstümlichen Berliner Mediziner (1747-1834), der bei allem Interesse für Forschung und Fortschritt doch mehr Praktiker als Wissenschaftler war, ein Arzt und Helfer aus Leidenschaft, dem der Kontakt mit den kranken Mitmenschen ein Element seines Daseins gewesen ist. Die Darstellung fußt auf alter und jüngerer Literatur, nur wenige Male wird aus dem Aktenbestand des Ostberliner Stadtarchivs „Armendirektion" geschöpft; das im Landesarchiv Berlin (West) vorhandene Briefkonvolut und die möglicherweise in anderen Bibliotheken und Archiven noch lagernden persönlichen Zeugnisse werden nicht berücksichtigt. Dann hätten sich gewiß unmittelbares Erleben, Denken, Fühlen, Wollen des Menschen Heim noch eindringlicher vortragen lassen, als es jetzt der Fall ist. Doch das Buch ist gut und mit Gewinn zu lesen. Der Ablauf eines Lebens wird eingebettet in gesellschaftliche Zusammenhänge, in das kulturelle und - recht umfangreich - medizinische Geschehen jener Tage. Über die gelegentlichen obligaten Seitenhiebe, der DDR-Ideologie zuliebe eingeflochten, liest man gelassen hinweg. Gerhard Kutzsch Berliner Lokale in alten Ansichten von Dr. Gustav Sichelschmidt. Europäische Bibliothek, Zaltbommel, Niederlande, 1979, 92 Abbildungen, 26,80 DM. Die Berliner Bevölkerung, die ethnisch keineswegs homogen war, und ihr Zusammenwachsen zu einem „verwegenen Menschenschlag" haben davon profitiert, daß sie quer durch alle sozialen Schichten menschliche Kommunikation liebte und hierfür die gastronomischen Einrichtungen aufsuchte. Sie traf sich außerhalb der Stadtmauern in den Tabagien, in denen man nach Herzenslust rauchen (und trinken) konnte, was ein königliches Verbot auf der Straße untersagte. In einer Vielzahl von Kneipen, Budiken und Destillen stillen seitdem Männlein und Weiblein ihren ungewöhnlichen Berliner Durst. Um die Jahrhundertwende sind die Ansichtskarten entstanden, die den Bildteil dieses Bandes bilden, vom Berliner Rathskeller bis zum Restaurant Müggel-Werder. Auch die Berliner Bock-Brauerei, das Böhmische Brauhaus, der Spandauer Bock, die Neue Welt, und das Schloß-Restaurant Tegel (jetzt „Der Alte Fritz") gehören dazu; aber auch das Bierhaus „Siechen", der Franziskaner, der Spatenbräu und das Tucherhaus, Landres Weißbierstuben in den ehemaligen Werkstätten Christian Daniel Rauchs in der Klosterstraße und der Charlottengarten, Berlins älteste Weißbierstube, werden in Wort und Bild vorgestellt. Hans G. Schultze-Berndt 60

Alt-Berliner Photoalbum. Verlag Bernd Ehrig, Barstraße 28, 1000 Berlin 31. 19,80 DM. Das Gesicht alter Städte wird von verschiedenen Verlagen in Buchreihen den nachgewachsenen Generationen überliefert. Da gibt es eine Serie „Dingshausen, wie es früher war", eine andere stellt „Hinterstadt in alten Postkarten" vor. Was den ersten hier zu besprechenden Band von vergleichbaren Editionen unterscheidet, ist das Format der sämtlich aus der Landesbildstelle Berlin stammenden Fotografien, die sich teilweise über zwei Seiten erstrecken. Ebenso positiv ist zu vermerken, daß eine chronologische Reihenfolge gewählt und die Jahreszahlen gottlob mitgeteilt wurden. Bildtitel und das Vorwort des Verlegers sind auch in Englisch und Französisch aufgeführt. SchB. Berlin in alten Ansichtskarten. Herausgegeben von Lothar Papendorf. Flechsig Verlag, Frankfurt am Main 1981,95 Seiten, 24,80 DM. Die zehn Seiten des Vorworts und des Inhaltsverzeichnisses abgerechnet, hat dieser Band so viele Abbildungen wie Seiten. Eine ungefähre Angabe der Entstehungszeit der Ansichtskarten und damit eine Datierung wäre dienlich gewesen. Auf Seite 17 scheint die Unterschrift verdruckt zu sein. Auch wird von Schinkels Dom gesprochen, wo es schon derjenige Raschdorffs ist. SchB. Gustav Sichelschmidt: Berliner Leben. Ein Photoalbum aus der Zeit der Jahrhundertwende. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin, 82 Seiten, 19,80 DM. Der Aufstieg Berlins zur Reichshauptstadt lockte die Fotografen auf die Straße und in die Häuser. Die hier zusammengetragenen Fotos mit ihren Bildunterschriften sind im wesentlichen der Monatsschrift „Berliner Leben" entnommen. Dabei wurden weniger die bekannten Motive der Ansichtskartenliteratur gewählt als Gegenstände, deren unfreiwillige Komik zum Schmunzeln oder zur Nachdenklichkeit verführt, scheint es doch „selbst in den Berliner Elendsquartieren menschlicher zugegangen zu sein als in unseren gemordeten Städten" (aus der Einführung), wie ja auch heute „bereits jede stuckübersäte Hausfassade der Gründerjahre als künstlerische Offenbarung zur Kenntnis" genommen wird. Die Reproduktionen sind so gut oder so schlecht wie ihre Vorlage. Leider werden auch hier keine Jahreszahlen mitgeteilt, was etwa bei den Kunstausstellungen zu bedauern ist. Daß in jedem Berliner, ob er gedient oder nicht gedient hat, sein Herz bei den Klängen des Preußenmarsches höher schlägt (Abbildung „Aufziehen der Hauptwache"), läßt sich jetzt nur noch „Unter den Linden" feststellen. Dort wird man es auch mit Genugtuung vermerken, daß Zar Nikolaus bei der Hofjagd im neuen Kaiserlichen Jagdrevier Oranienburg binnen einer Stunde 35, Kaiser Wilhelm aber nur 30 kapitale Schaufler geschossen hat. Das letzte Bild „Nachtasyl" gibt zu denken, wurde doch nur 1300 Unglücklichen allnächtlich Schutz auch vor der Polizei gewährt. SchB. Annemarie Weber: Einladung nach Berlin. Langen Müller, München 1976. 224 Seiten, 28 DM. So ganz und gar unkonventionell, wie der Klappentext verheißt, wird das Thema sicher nicht behandelt. Es gibt schon eine Reihe von Büchern, die in gefällig zu lesenden Feuilletons oder instruierenden Texten, auch in Mischform, ihre Neigungen zur Stadt bekunden oder Abneigung nicht verhehlen. Annemarie Weber will vor allem glaubwürdig sein, und sie ist es. Unter vielen Aspekten wird Berlin lebensnah und frisch betrachtet - Menschen, Natur, Kunst, Bauwerke, Soziales: aus subjektiver Auswahl rundet sich ein Ganzes. In „Momentaufnahmen" wird den Männern und Frauen „aufs Maul geschaut". Hier bedient sich V. der Dialogform, wie sie schon der alte Glaßbrenner vor etwa 150 Jahren so zum „Amusemang" vorführte. Ein sympathisches Buch, trefflich geeignet zum Verschenken! GerhardKutzsch Hans Dieter Jaene: Berlin lebt. Bilder einer Stadt von 1150 bis heute. Anke Starmann Verlag, Berlin. 224 Seiten, ohne Jahresangabe. Der Bildband mit knappen interpretierenden Texten hebt sich aus der Menge von Fotobüchern durch die Absicht heraus, die Handels- und Gewerbestadt zu behandeln. Sehr konsequent wird das Vorhaben nicht durchgeführt. Vom Handwerk ist keine Rede, von Industrie und Handel wird mehr, aber auch nicht ausschließlich gesprochen und dies auch nur bis 1914, mit welchem Jahr die zwischen die Seiten geschobene Chronik der Wirtschaftsentwicklung endet. Was weiterhin im Bild geboten wird, ist politische Historie (besonders des 20. Jahrhunderts) und ist eine Vorführung markanter Bauten in beiden Teilen der Stadt. Damit befindet sich das Buch wieder in der Gesellschaft der üblichen Publikationen. Ungeachtet solcher Einwände gefällt der Band, der - sofern noch nicht vorhanden - Interesse am Schicksal Berlins zu wecken und für die Stadt zu werben weiß. Gerhard Kutzsch

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N e u e B e r l i n - L i t e r a t u r (Besprechung vorbehalten) Agee, Joel: „Zwölf Jahre". Eine Jugend in Ostdeutschland. Carl Hanser Verlag, München 1982,350 Seiten, gebunden, ca. 34 DM. „Alltagskultur/Industriekultur", Protokoll einer Tagung vom 15. l.bis 17.1.1982 Berlin (West) mit Fotos von Friedrich Seidenstücker, Berlin 1945-1950. Museumspädagogischer Dienst, Berlin. „Baedeker Berlin-Wedding". Zweite Auflage mit Stadtplan, drei Sonderplänen und 23 Zeichnungen. Text: Georg Holmsten. Karl Baedeker Verlag, Freiburg/Breisgau. Baur, Max: Potsdam Sanssouci. Bilder der Erinnerung, fotografiert 1934 bis 1939. Eingeleitet von Martin Gosebruck. Rembrandt Verlag, Berlin 1981, mit 85 Abbildungen und 1 Stadtplan Berlin. „Bauten unter Denkmalschutz", Bildband. Von Dieter Bolduan, Laurenz Demps, Peter Goralczyk, Heinz Mehlan und Horst Weiss. Berlin-Information, Berlin (Ost), 287 Seiten. „Berlin for Young People/pour les jeunes", englische/französische Ausgabe. Informationszentrum Berlin, Berlin 1982. 144 Seiten, broschiert, mit 24 Farbfotos und zwei Plänen von der Innenstadt. „Berlin in Geschichte und Gegenwart". Medusa Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 344 Seiten, 19,80 DM. Börsch-Supan, Helmut: „Antoine Watteaus Embarquement im Schloß Charlottenburg". In der neuesten Publikation der „Kleinen Schriften". Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Schloß Charlottenburg, Berlin, 36 Seiten, 5 DM. „Der Mendelssohn-Bau am Lehniner Platz". Erich Mendelssohn und Berlin. Herausgegeben mit Unterstützung des Senators für Bau und Wohnungswesen Berlin. Copyright: Schaubühne am Lehniner Platz Berlin (zahlreiche Abbildungen). Verlag Albert Hentrich, Berlin. „Die Böhmen in Berlin 1732-1932". Landesarchiv Berlin. Drewitz, Ingeborg, Lorenzen, Rudolf, u.a.: „Berlin: lokale Lokale". Kneipen-Gedichte und -Geschichte(n). Die „Szene" geschildert und bebildert von Michael Ebner und Arno Kirmeier. Berlin Verlag, Berlin, ca. 128 Seiten, ca. 40 Abbildungen, ca. 28 DM. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Gotteshauses der evangelischen Kirchengemeinde Am Hohenzollernplatz. Gemeindebüro der Kirche Am Hohenzollernplatz, Berlin. „Friedrich und Wilhelmine - Die Kunst am Bayreuther Hof" von Lorenz Seelig. Schnell & Steiner GmbH u. Co., München, 26 DM. Greiffenhagen, Martin: „Die Aktualität Preußens." Fragen an die Bundesrepublik. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch 3488. Gross, Leonard: „Versteckt". Wie Juden in Berlin die Nazi-Zeit überlebten. Deutsch von Cornelia Holfelder-v. d. Tann. Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek, 384 Seiten, gebunden, 36 DM. Haupt, Michael: „Die Berliner Mauer". Vorgeschichte - Bau - Folgen. Literaturbericht und Bibliographie zum 20. Jahrestag des 13. August 1961. Mit einem Geleitwort von Willy Brandt. Bernard & Graefe GmbH & Co. Verlag für Wehrwesen, München 1981, VIII, 230 Seiten, gebunden, 42 DM. „Jahrbuch der Deutschen Oper Berlin". 19,80 DM. „Jugend unter Hitler. Alltag im Nationalsozialismus". Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin. „Kladderadatsch". Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis ins Dritte Reich. Herausgegeben von Ingrid Heinrich-Jost. Informationspresse c. w. leske vertag gmbh, Köln, 350 Seiten, gebunden, 38 DM. Lentz, Georg: „Heißer April". Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 1982 ca. 320 Seiten, gebunden, ca. 32 DM. „Lokal 2000, Berlin als Testfall", Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek, rororo aktuell. „Machtergreifung" - Berlin 1933. Hans-Norbert Burkert, Klaus Metußek, Wolfgang Wippermann. Herausgegeben vom Pädagogischen Zentrum Berlin. Frölich & Kaufmann, Berlin, 18 X 25,5 cm, 264 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Paperback, Nr. 0063, 25 DM. Nakamura, Masauovi: „Operation Heimkehr". Politthriller. Berlin im Spannungsfeld von Ost und West. Droermersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co., München 1982,352 Seiten, gebunden, ca. 34 DM. 9. Bestandskatalog „Steinzeug und Porzellan des 18. Jahrhunderts im Kunstgewerbemuseum Berlin". Von Dr. Stefan Bursche. Kunstgewerbemuseum Knobelsdorff-Flügel des Schlosses Charlottenburg, Berlin, 331 Seiten, 38 DM. Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): „Slawenburg- Landesfestung- Industriezentrum". Beiträge zur Geschichte von Stadt und Bezirk Spandau. Colloquium Verlag, Berlin, ca. 400 Seiten Großoktav mit zahlreichen Abbildungen, Leinen, ca. 68 DM. 62

-: „Berliner Bibliotheken". Geschichtswissenschaften, 113 Seiten, broschiert, 15 DM. Scheer, Joseph/Espen, Jan: „Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei - Alternatives Leben oder Anarchie? Die neue Jugendrevolte am Beispiel der Berliner ,Scene'." Bernard & Graefe GmbH & Co. Verlag für Wehrwesen, München, 167 Seiten, viele Bilder. Schirmag, Heinz: „Albert Lortzing". Ein Lebens- und Zeitbild. 360 Seiten, 69 Abbildungen und 15 Notenbeispiele. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin (Ost), zellophanierter Pappband, 14 Mark, Auslandspreis 20 Mark. Schönberger, Angela: „Die Neue Reichskanzlei von Albert Speer." Zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur. Gebr. Mann Verlag, Berlin, 284 Seiten, mit 81 Abbildungen, 48 DM. „Spandau einst und jetzt", Bildband. Kunstamt Spandau, Berlin, 119 Seiten, 25 DM. Steinerne Zeugen. Stätten der Judenverfolgung in Berlin. Wolfgang Wippermann. Herausgegeben vom Pädagogischen Zentrum Berlin. Frölich & Kaufmann, Berlin, 18 x 25,5 cm, 116 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Paperback, Nr. 1004,19,80 DM. Streckfuß, Adolf: 1848 - Die März-Revolution in Berlin. Ein Augenzeuge berichtet. Herausgegeben von Horst Denkler, in Zusammenarbeit mit Irmgard Denkler. Informationspresse c. w. leske verlag, Köln 1983, zeitgenössisch illustriert, Leinen mit Schutzumschlag, 724 Seiten, 58 DM. Stresemann, Wolf gang: „Die Zwölf. Vom Siegeszug der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker. Atlantis-Verlag, Zürich, 92 Seiten, reich illustriert, gebunden, 29 DM. „Tradition ohne Schlendrian". 100 Jahre Philharmonischer Chor Berlin. Stapp Verlag, Berlin, ca. 300 Seiten, englische Broschur, 29,80 DM. Trumpa, K.: Zehlendorf in der Kaiserzeit - vom Dorf zum Vorort. Berlin. „Unterwegs zur mündigen Gemeinde - Die evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Gemeinde Dahlem". Alektor-Verlag GmbH, Stuttgart, 16 DM. Vier handgezeichnete, farbige Kartenblätter im Rahmen der Reihe „Quellen zur Geschichte der deutschen Karthographie". Berlin und Umgebung 1774/1775, 144 Seiten starkes Begleitheft von Professor Wolfgang Scharfe, Karten herausgegeben von Eckard Jäger und Lothar Zögner, Format 90 x 60, 118 DM. Weber, Klaus Conrad: Chronik von Dahlem II. 1945 bis 1981 - Landhauskolonie und Stätte der Wissenschaft. arani-Verlag, Berlin, 24,80 DM. „Wie sie DIE MAUER sehen". Stellungnahmen von Besuchern einer öffentlichen Zentralbibliothek. Eine Dokumentation, in Faksimile. Verlag Haus am Checkpoint Charlie, Berlin. Wirth, Irmgard: Berlin und die Mark Brandenburg, Landschaften, Gemälde und Graphik aus drei Jahrhunderten. Hans Christians Verlag, Hamburg, 216 Seiten, 78 DM. Wolff Charlotte: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit (Autobiographie). Verlag Julius Beltz, Weinheim. „Zehlendorf - ein Bezirk macht Geschichte". Amt für Jugendarbeit des Ev. Kirchenkreises BerlinZehlendorf. „10 Jahre Berliner Malerpoeten". Herausgegeben von Aldona Gustas. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin, 92 Seiten, 27 Abbildungen, kartoniert, 19,80 DM. 2. und 3. Band der Reihe „Berliner Geschichte". Magistrat von Berlin - Stadtarchiv, Berlin (Ost), 96 Seiten, 4 Mark.

Im I. Vierteljahr 1983 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Dr. med. Joachim Heinrich Bälde, Internist Helfensteiner Straße 30, 3501 Zierenberg Tel. (05606)3720 (Dr. Letkemann) Bert Becker, Student Heinrich-Kamp-Straße 15 a, 5802 Wetter 1 Tel. (0 23 35) 58 79 Dr. Werner Haupt, Dipl.-Chemiker Spessartstraße 17, 1000 Berlin 33 Tel. 8 216766 (Haupt)

Lucie Kuntz, Rentnerin Lichtungsweg 12. 1000 Berlin 28 Tel. 4017460 (Franzke) Dr. Robert Wiesenack, Dipl.-Br.-Ing. Schellendorffstraße 15, 1000 Berlin 33 Tel. 8 23 29 25 (Dr. Schultze-Berndt)

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Veranstaltungen im II. Quartal 1983 1. Donnerstag, den 14. April 1983,15.00 Uhr: Besuch der Ausstellung „Das Ende des Bauhauses und Bauhäusler im 3. Reich". Führung: Frau Angela Markowski. Bauhaus-Archiv, Klingelhöferstraße 13-14. Fahrverbindungen: Busse 9, 16, 24, 29. 2. Donnerstag, den 21. April 1983,16.30 Uhr: Besuch der Ausstellung „Die Böhmen in Berlin, 1732-1982". Führung: Herr Dr. Hans J. Reichhardt. Landesarchiv, Kalckreuthstraße 1-2. Fahrverbindungen: Busse 19, 29, U-Bahnhof Wittenbergplatz. 3. Mittwoch, den 18. Mai 1983,19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung. Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. - Tagesordnung unter Nachrichten abgedruckt. 4. Sonnabend, den 21, Mai 1983,10.30 Uhr: „Von Neidenburg in Ostpreußen zur Gartenstadt im Ost-Havelland. Das Wirken Paul Schmitthenners". Leitung der Führung durch Staaken: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt: Torweg, Ecke Hackbuschstraße. 5. Dienstag, den 14. Juni 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Hauptstadt und Weltstadt. Stadtplanung und Stadtgestaltung. Berliner Architektur der zwanziger Jahre". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 6. Dienstag, den 28. Juni 1983, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günther Kühne: „Bauten in der Industrielandschaft Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gäste herzlich willkommen. Die Bibliothek ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen Beisammensein und Diskussion im Ratskeller. Die Mitglieder, die Interesse daran haben, ihre MITTEILUNGEN binden zu lassen, mögen sich bitte in der Bibliothek bei Herrn Bunsas melden.

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3232835; vom Vorstand beauftragt. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000'Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 64

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 79. Jahrgang

Heft 3

Blick in den Glienicker Klosterhof

Juli 1983

/Der Glienicker Klosterhof Eindrücke - Fragen - Gedanken Von Malve Gräfin Rothkirch „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort." Eichendorff Das Glienicker „Klosterhöfchen", wie Prinz Carl von Preußen es selber nannte, entstand in der Zeit der Romantik. Im Jahr der Einweihung, 1850, war der Dichter Eichendorff 62 Jahre alt. Der 49jährige Prinz, der den Bau selbst bestimmte, beauftragte für die Ausführung den Architekten Ferdinand von Arnim. Mit diesem Klosterhof wurde die Gebäudekette um den Pleasureground geschlossen. Im und am Kasino hatte der Prinz hauptsächlich seine antiken, hier seine mittelalterlichen Kunstwerke vereint. Es ließ sich merkwürdigerweise in keiner zeitgenössischen Lebenserinnerung ein Echo finden. Er selber muß sein „Klosterhöfchen" besonders geliebt haben, denn er setzte für seine Erhaltung - zugleich für die des Kasinos - eine bestimmte Vermögenssumme aus. Bisher ließen sich auch keine Pläne, Aufzeichnungen oder Akten finden, aus denen Näheres und einzelnes zu erfahren wäre, z. B. über Konzeption, Kosten, Herkunft, Datierung der verschiedenen Kunstwerke. Nur ganz allgemein ist in einem Protokoll des „Vereins für die Geschichte Potsdams" von 1864 festgehalten, daß der Prinz Reste eines Klosters auf der Insel Certosa bei Venedig erworben hatte, um sie zusammen mit andernorts gesammelten Dingen für diesen Bau im „Styl eines byzantinischen Chiostro" zu verwenden. Seinerzeit war der Kreuzgang mit den mittelalterlichen Doppelsäulen und zwei kleinen kapellenartigen Nebenräumen gefüllt mit „losen" Kunstgegenständen, wie Ampeln, Kruzifixen, Vortragekreuzen darunter dem Baseler Kreuz Kaiser Heinrichs II. -, Krummstäben, byzantinischen Emails, Aquamanile in Löwengestalt, Gobelins, Meßgewändern..., nicht zu vergessen den Goslarer Kaiserstuhl (Inventar von Bergau „Bau- und Kunstdenkmäler in der Provinz Brandenburg" von 1885). Aus dem „byzantinischen" Brunnen in der Mitte sprang ein Wasserstrahl, Rasen bedeckte den Boden, Efeu umrankte die Mauern, der Vorhof hatte Weg und Bepflanzung. Heute wirkt das verwitterte „Klosterhöfchen" fast leblos. Dennoch hat es wohl für jeden, der durch das verschlossene Gitter lugt, eine Anziehung, als verberge sich ein Geheimnis dahinter. Nachdem ich still und länger darin verweilte, war mir, als hätte ich es finden dürfen, das „Zauberwort" von Eichendorff. Seither „singt" mir der Klosterhof, erfüllt mich, eröffnet meinen Augen immer neue Anblicke und erweckt Fragen, Gedanken und Entdeckungen. Ja, es sind kunstgeschichtliche Entdeckungen, die mich drängen, sie in frischer Begeisterung mitzuteilen. Dieser Aufsatz ist keine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Er möchte Impulse geben, die anstehende Restaurierung des Klosterhofes mit vielschichtigen kunsthistorischen und Materialuntersuchungen begleiten zu lassen. Vor allem liegt mir daran, all denjenigen, die Sinn und vielleicht sogar Sehnsucht - im Sinn der Romantiker - nach einer kontemplativen Begegnung mit sakraler Kunst des Mittelalters haben, diesen Ort in Berlin gleichsam ans Herz zu legen. Ich will versuchen, einige meiner Erlebnisse in Worte zu kleiden, wie die „Dinge" mich ansprachen, mir Fragen stellten, mich nach Vergleichbarem suchen ließen, bis ich begann, sie zu verstehen. 66

Mit „verstehen" meine ich einerseits von der äußeren Form her, ihre zeitliche und örtliche Herkunft bestimmen zu können, andererseits vom Inhalt her, ihre zeitlos gültigen Symbolhaftigkeiten zu erahnen oder ihre zeitfernen geschichtlichen Hintergründe als etwas zum „Anfassen" Nahes zu „begreifen". Treten wir durch Vorhalle und Vorhof über die Schwelle mit dem Pentagramm oder Dämonen abwehrenden - Drudenfuß ins Innere des Klosterhofes, in den Kreuzgang hinein, so wird der erste Blick von dem Wandgrab festgehalten, das in die Rückwand einer hohen, überdachten Nische eingefügt ist. Das Grabmal selbst, wie hochgetragen, wird von zwei mächtigen Säulen mit Korbkapitellen flankiert. Wer liegt dort auf dem mit Mosaikbändern um Porphyrscheiben geschmückten Sarkophag? Unter Kopfkissen und Füßen sind Bücher, Folianten, zu erkennen, der Dargestellte trägt Gelehrtenkappe, Mantel und Handschuhe mit Quasten. Es ist Pietro d'Abano, ein Weltweiser, Arzt, Astronom und Astrologe. Er wurde 1257 in Abano geboren, lehrte als Professor der Naturphilosophie und Medizin in Padua, wo er um 1315 verstarb, ein Zeitgenosse Dantes (1265-1321) und Giottos (1266-1337). Pietro kommentierte die „Problemata" des Aristoteles und verarbeitete das gesamte, im Verlauf des 12. und 13. Jahrhunderts bekanntgewordene antike und arabische Geistesgut. Als Anhänger des Philosophen Averroes (1126-1198) geriet er in Konflikt mit der Inquisition und wurde der Ketzerei bezichtigt. Es ist überliefert, daß sogar sein Leichnam noch verbrannt werden sollte - trotz Freispruch nach dem Prozeß -, weshalb ihn seine Schüler nächtlich ausgegraben und versteckt haben sollen. Heute gilt Pietro d'Abano den Paduanern als erster bedeutender Gelehrter seit Gründung ihrer Universität 1222. Ein Relief am Eingang des Palazzo della Ragione erinnert dort an ihn. Aber sein Grabmal, sein - leeres - Hochgrab, welchen Platz hatte es ursprünglich? Wie konnte es geschehen, daß ausgerechnet ein preußischer Prinz es erwarb, nach Glienicke bringen ließ und ihm hier eine so ehrende Aufstellung schuf? Im vorigen Jahrhundert war hierzulande Pietro d'Abano bekannter als heute. Clemens Brentano ließ ihn in den „Romanzen vom Rosenkranz" erscheinen, Spohr komponierte eine deutsche Oper seines Namens, die 1834 in Kassel aufgeführt wurde, und Ludwig Tieck schrieb eine Novelle über ihn. Ob Tieck diese seine „Zaubergeschichte - Pietro von Abano" an einem der Vorleseabende bei König Friedrich Wilhelm IV. in Sanssouci vortrug und Prinz Carl davon so begeistert war, daß er sich entschloß, das Grabmal dieses „Weltweisen" zu erwerben, als es im Kunsthandel „auftauchte"? Gestützt wird der Sarkophag von einem „Steinträger". Wie überzeugend drückt diese blockhafte Gestalt zugleich eigene Kraft und drückende Last aus! Der Mann sitzt mit weitaufgerissenen Augen und Mund da, gespannt und eingepreßt zwischen dem Block auf seinen Schultern und dem unter seinen Schenkeln. Flachanliegende Akanthusblätter, Falten des Untergewandes, des Oberkleides, Schuhe, Gürtel, Bart und Locken, alles ist sorgfältig, stilisiert und doch zugleich realistisch eingemeißelt. Von wem, wann, wofür mag dieses eindrucksvolle Kunstwerk geschaffen sein? Stilkritisch betrachtet wirkt der Steinträger etwa 200 Jahre älter als die weichmodellierte Gestalt des Pietro d'Abano. Gehört er nicht in die Reihe frühromanischer Plastiken oberitalienischer Kirchen, wie zum Beispiel Cremona oder Verona? Könnte „unser" Steinträger gar von Meister Nikolaus stammen, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts am Dom von Ferrara arbeitete und dort eine ähnliche Figur schuf? 67

Steinträger unter dem Wandgrab

Ferrara, Portalfigur um 1135

Im nördlichen Kreuzgang werden wir von einer dritten Plastik angezogen, einer Gottvater-Büste. Obgleich sie vom Stil her wiederum „ganz anders" wirkt, spüren wir, ohne es gleich mit Worten ausdrücken zu können, daß ein Sinnzusammenhang besteht, wie überhaupt, daß hier im Klosterhof nichts zufällig angeordnet ist. Welche Idee mag den Prinzen geleitet haben? Auch diese Plastik ist an hervorgehobener Stelle „gerahmt". Im mittleren Blickfeld dreier Arkaden schwebt gleichsam Gottvater auf einer Konsole aus aufgerollten Blättern. Den Hintergrund bildet ein marmoriertes, mit Mosaikstreifen begrenztes Wandstück, rechts und links rahmen ihn gedrehte Porphyrsäulen, oben ein Steingiebel, unten ein gezackter Steinbalken, den eine Säule mit auffallend urtümlichem Kapitell zu stützen scheint. Ich nahm mir Zeit, um mich anschauen zu lassen - ich schreibe bewußt „mich anschauen zu lassen" -, um die Plastik mit dem Herzen erleben zu dürfen. Natürlich regte sich dann auch die kunstgeschichtliche Frage: welche Zeit, welcher Künstler schuf solches Meisterwerk? Meine Erinnerung lenkte mich nach Pisa. Beim Blättern in Büchern fand ich Einzelaufnahmen der Domkanzel. Ist es nicht im wesentlichen die gleiche Weise, wie hier und dort Mund, Augen, Haare, Hände, wie Gewandfalten und auch Blätter im Verein mit menschlicher Gestalt geformt sind? Ist es nicht dieselbe Kraft geistigen Ausdrucks, die sich bei allen Köpfen zwischen den Augenbrauen konzentriert? Die Glienicker Gottvater-Büste stammt von Giovanni Pisano, zumindest aus der Werkstatt von Vater und Sohn Pisano. Seltsam, Giovanni, der Sohn, lebte fast zur gleichen Zeit wie Pietro d'Abano. Er wurde um 1250 geboren und starb 1314 in Pisa. Nachdem er mit seinem Vater Nicolo am Brunnen in Perugia 6*

Kopf der Gottvater-Büste

Detail der Domkanzel in Pisa von Giovanni Pisano

gearbeitet hatte, wurde er 1284 Dombaumeister in Siena. Hier schuf er den Figurenzyklus der Westfassade. 1297 ging er, auch als Dombaumeister, nach Pisa und schmückte die gotischen Geschosse des Baptisteriums mit Vollfiguren und Büsten. Von 1302 bis 1312 entstand die unvergleichliche Kanzel des Doms. Es ist bekannt, daß Pisaner und Sienesen im 19. Jahrhundert verwitterte Plastiken durch Kopien ersetzten. Die meisten Originale, heißt es, seien heute in Museen; also nicht alle. Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß Prinz Carl diese Gottvater-Büste (die ja recht verwittert ist) zusammen mit dem Affenkapitell aus Pisa (im Vorhof des Klosterhofes) erwarb. Gottvater als Schöpfer des Himmels und der Erde hält in seiner rechten Hand eine mit dem Kreuz gezeichnete Kugel, das Symbol des Kosmos. Ihm gegenüber, in der Mitte der Wand des südlichen Kreuzganges (an einer heute leeren Stelle) befand sich bis zum Verkauf um 1935 der Tondo eines byzantinischen Kaisers aus dem 12. Jahrhundert. Der Kaiser trägt ebenfalls eine Kugel in seiner rechten Hand, aber hier bedeutet sie die irdische Welt, auf der das Kreuz als Zeichen christlicher Herrschaft aufgerichtet ist. Wieder ahnen wir einen vom Prinzen Carl gefügten Sinnzusammenhang. Der Kaisertondo befindet sich heute mit einer auch aus Glienicke stammenden (und durch Kopie ersetzten) byzantinischen Madonna in der Dumbarton Oaks Collection bei Washington. Im Klosterhof existiert ein weiteres byzantinisches Relief, eine Muttergottes mit dem Christuskind. Sie entzieht sich bisher der Definition, obgleich sie beschriftet ist. Welche Sprache ist es, aus welchem Kulturkreis stammt das Relief, wo gibt es Vergleichbares? 69

Bei jedem Gang durch den Klosterhof stellen die vielen unterschiedlichen Säulen erneute Fragen. Zum Beispiel: Wo gibt es derart meisterhaft stilisierte und kostbar gearbeitete Basen wie die der Porphyrsäulen neben der Gottvater-Büste, und wer schuf das urtümlich, mythisch wirkende Kapitell mit dem Kopf eines Dämons zwischen Tauben? Die beiden Korbkapitelle zu sehen des Wandgrabes von Pietro d'Abano hingegen lassen sich datieren und orten. Sie stammen aus dem 6. Jahrhundert und kommen vielleicht aus San Michele in Ravenna. Diese byzantinische Kirche war Mitte des 19. Jahrhunderts derart verfallen, daß König Friedrich Wilhelm IV. mit einer Sondererlaubnis des Papstes das Apsismosaik kaufen konnte (es befindet sich heute im Ostberliner Bode-Museum). Es liegt nahe anzunehmen, daß sich Prinz Carl beim Kauf und Transport von Kunstwerken aus Italien seinem Bruder anschloß.

Marmorbase einer Porphyrsäule

Kapitell unter der Gottvater-Nische

Noch ein Gedanke zu den „Glienicker" Korbkapitellen: Die geschichtliche Spanne zwischen ihrer Entstehung und der Lebensmitte des Pietro d'Abano - um 580 bis um 1280 - ist zeitlich etwa gleich „weit" wie zwischen dem Philosophen und uns. Siebenhundert Jahre... vierzehnhundert Jahre! Was ist „Zeit"? Nicht symbolträchtig, sondern schmückend wirken Paare gedrehter Mosaiksäulen um ein Fenster und eine Blendtür. Sie entstanden wohl in der Werkstatt der römischen Familie Cosma, die seit Beginn des 13. Jahrhunderts berühmt wurde. Mir fiel als Vergleich die Tribuna der Unterkirche von San Francesco in Assisi ein. Auch diese Empore ist mit gedrehten Kosmatensäulen geschmückt und einem Kreismuster, das dem des Sarkophages von Pietro d'Abano ähnelt. Wieder andersgestaltete Säulen tragen die Kuppel des kleinen Glockenhauses, das sich über der nordwestlichen Dachecke des Klosterhofes ins Baumgezweig erhebt. Ihre gedrehten Säulen entsprechen denen des nördlichen Seitenflügels. Sie sind denen der beiden Ein- und Ausgangshallen und außerdem den Porphyrsäulen um die Gottvater-Büste verwandt. Welche der Säulen sind „alt", aus dem Mittelalter, und welche sind „neu", aus dem 19. Jahrhundert? Gegen Echtheitszweifel spricht, daß kein Kapitell dem anderen gleicht. Selbst in den Windungen der Säulenschäfte unterscheiden sie sich. Was also ist hier „echt", was „unecht"? 70

Cosmatensäule an der Blendtür

Im Kreuzgang gibt es andere „Stücke", bei denen sich die Nachahmung deutlich von dem originalen „Urbild" abhebt. Zum Beispiel haben die im 19. Jahrhundert gebrannten Tonziegel mit Rosetten, die zu Bändern gefügt alle Wände durchziehen, ihr Vorbild in dem „echten" Fries über Pietro d'Abanos Grabmal. Besonders fremdartig und „verdächtig" kamen mir die Pfeiler mit den zierlichen Ecksäulen der Eingangshalle vor. Sollten sie eine Erfindung des Prinzen Carl oder Ferdinand von Arnims sein? Aber dann stieß ich auf einen Bildband über die Abtei Pomposa, worin vier im Hof des Kreuzganges isoliert stehende Eckpfeiler zu erkennen sind, „Bifores", die aus dem 12. Jahrhundert stammen sollen. „Ihr plastischer Stil ist dem der Loggia des Doms von Ferrara verwandt, die der Meister Gugliemo 1135 schuf' (Mistrorigo). Beim Vergleich mit Glienicke wirken die Pfeiler in Pomposa allerdings wesentlich kompakter. Immerhin ist bemerkenswert, daß es im Mittelalter in Italien derartige Bifores mit gedrehten Ecksäulchen und verzierten Zwischenflächen gab. Seltsam, daß die unteren Stücke der Pfeiler in Pomposa durchgeschnitten beziehungsweise wie zusammengesetzt aussehen, wie es auch bei den meisten Säulen der Glienicker Halle der Fall ist. 71

Vorhalle (11. Jahrhundert) der Abteikirche Pomposa (Beginn 8. Jahrhundert)

Bei genauerem Hinsehen tauchen immer mehr Fragen auf. Wo gibt es Zackenbögen, wie sie den nördlichen Seitenflügel des Vorhofes (nicht den südlichen!) und die beiden Hallen zieren? Beim weiteren Suchen nach vergleichbaren Kunstwerken entdeckte ich Abbildungen zweier Kirchen in Tuscania und fand Seitenportale mit gezackten Bögen... Kapitelle mit stilisierten Blättern, Eckvoluten, Blüten... Säulenträger am Hauptportal (allerdings in Gestalt von Löwen)... die Fassade im ganzen wie zusammengestückelt wirkend... eine Zwerggalerie ähnlich der am Südflügel des Vorhofes hier in Glienicke! Sollten sich zumindest in dieser Richtung Anhaltspunkte für stilistische, zeitliche und landschaftliche Bestimmungen vieler rätselhafter Stücke im Klosterhof finden lassen? Tuscania liegt auf einer einsamen Bergeshöhe nicht weit von Montefiascone im südlichen Etrurien. Im Ort gibt es zwei alte Kirchen, S. Pietro und S. Maria Maggiore. Einer Legende nach soll S. Pietro für den Langobardenkönig Liutprand erbaut worden sein. Jedenfalls stammen beide Kirchen aus dem 7. oder 8. Jahrhundert. Sie wurden im 12. Jahrhundert erweitert und teils umgebaut. In der Kirche S. Pietro sind noch langobardische Steinschranken und ein Ziborienaltar erhalten. Langobardische Steinschranken? Waren dies nicht die vier abstrakten Reliefs im Klosterhof? Von Meisterhand sind sie gearbeitet und voller erspürbarer Symbolik! Da gibt es Quadrate und Kreise, Zeichen für Welt und Kosmos, geordnet durch die heilige Zahl vier; bandartige, sich 72

Langobardischi"; Relief, 8. Jahrhundert?

Tuscania: Portal von S. Maria Maggiore, 12. Jahrhundert

Langobardisches Relief, 8. Jahrhundert?

umschlingende Linien; spiralige und blattartige Endungen; Rosetten, Symbole für Sterne und Paradies; im Mittelpunkt eine Blüte - die Rosa mystika - oder ein Kreuz. Eines der Reliefs zeigt eine Art Triumphbogen, der aus pfianzenrankigen Säulen aufsteigt und oben mit Flammenzeichen besetzt ist (auch Krabbenreihe oder laufender Hund genannt). Darunter wachsen gleichsam zwei Lebensbäume neben einem hochaufgerichteten Kreuz. Kunstgeschichtlich betrachtet, handelt es sich hierum typisch langobardische „Muster". Kreuz, Bäume, Rosetten finden sich so zum Beispiel auf der bekannten Sigwaldplatte am CalixtusBaptisterium in Cividale aus dem 8. Jahrhundert. 73

Wer waren die Langobarden? Ein westgermanisches, wahrscheinlich aus Gotland stammendes Volk, sind sie um 50 v. Chr. an der Niederelbe ansässig gewesen (Bardowik!). Um 400 n. Chr. zogen sie nach Böhmen und Niederösterreich, weiter über Ungarn, Friaul nach Oberitalien in die „Lombardei", wo ihr Heerführer Alboin 568 das langobardische Königreich gründete. Pavia, 572 erobert, wurde fortan Haupt- und Krönungsstadt. In der Nachfolge des Ostgotenreiches von Theoderich bestand die langobardische Herrschaft in Italien rund 200 Jahre. 774 wurde Desiderius von Karl dem Großen besiegt, der sich darauf selbst mit der eisernen Krone der Langobarden krönen ließ. Die Langobardenkönigin Theodelinde stand in freundschaftlicher Beziehung zum heiligen Columban, der - aus Irland ausgewandert - in Bobbio ein berühmt gewordenes Kloster gründete, in dem er 615 starb. Ob Columbans irische Frömmigkeit die langobardische Kunst beeinflußte? Königin Theodelinde ließ ihren Sohn Adewald katholisch taufen, obgleich ihr zweiter Gemahl König Agilulf Arianer war und blieb. Zur Taufe von Adewald im Jahre 603 schenkte Papst Gregor der Große ein kostbares Evangeliar. Dies war 1965 auf der Aachener Ausstellung über Karl den Großen zu sehen. Ist es nur ein Zufall, daß sich auf dem Einbanddeckel dieses Evangeliars aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts ein fast modern anmutendes, stilisiertes Blütenmuster findet ähnlich dem an den Steingewänden der Eingänge in den Glienicker Kreuzgang und die Kapelle?

Langobardischer Brunnen, 7. Jahrhundert? 74

Vorhalle Pomposa: Kreuz mit Manus Dei

Und der Brunnen inmitten des Klosterhofes? So wie hier mag er im Hof eines Klosters gestanden haben, das vielleicht sogar vom heiligen Columban gegründet wurde. Deutlich sind noch Abnutzungsspuren von Tauen zu erkennen, mit denen Wassergefäße aus der Tiefe gezogen wurden. Gedrehte Säulen an den Ecken des Brunnens mit verwitterten, einfachen Blattkapitellen, sollten sie nicht an die vier Flüsse des Paradieses erinnern und Glauben schenken, daß Wasser aus seiner Tiefe heiligt? Jede Seite ist mit unterschiedlichen Ankerkreuzen, Palmetten- und Wellenbändern „beschriftet". Vergleichbare langobardische Brunnen stehen im Museum Corner in Venedig und im Kreuzganghof der römischen Kirche S. Giovanni in Laterano. Dieser wird ins 8. Jahrhundert datiert. Unser Glienicker Brunnen könnte bereits aus dem 7. Jahrhundert stammen. Wenn man ihn länger still betrachtet, spürt man seine sakrale Ausstrahlung. Die seltene Form des Ankerkreuzes am Glienicker Brunnen leitet zum Betrachten der beiden eigentümlichen, einander gleichen Kreuze; das eine in die Wand über der Grabfigur Pietro d'Abanos eingelassen, das andere den Giebel über der „Apsis" bekrönend. Weinlaubranken sind den Balken eingemeißelt, ihren Enden fügen sich kreisrunde Scheiben mit Ankerkreuzen an, im Schnittpunkt ist eine Manus Dei, eine Hand Gottes, zwischen Sonne und Halbmond erkennbar. Wo gibt es vergleichbare Kreuze? In Pomposa, eingelassen in die Schauwand der Kirchenvorhalle, die um das Jahr 1000 erbaut wurde! Hier gibt es zudem - wie in Glienicke? als „Spolien" eingefügte „ältere", aus der Gründungszeit der Benediktinerabtei im 8. Jahrhundert stammende Tierreliefs.

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Insgesamt sind in Wände und Bogenzwickel des Glienicker Klosterhofes 29 rundgefaßte Tierreliefs eingelassen, dazu enthält die Archivolte über dem Grabmal des Philosophen in ihren Rankenkreisen sieben gegengleiche Tierdarstellungen. In einer 1982 veröffentlichten Studie von Swiechowski, Rizzi und Hamann-MacLean wurden diese „romanischen Reliefs von venezianischen Fassaden" katalogisiert, aber nicht gedeutet und datiert. Von Gestaltung und Technik her stammen sie aus verschiedenen Zeiten und wohl auch Orten. Im 12. und 13. Jahrhundert waren Predigtbücher verbreitet, die aus dem „Physiologus" und aus „Bestiarien" schöpften. Von hierher betrachtet, könnten einige Tierdarstellungen - zum Beispiel der Archivolte - so etwas wie steinerne Predigten sein. Oder sollten die übereinander stehenden Tiere - eins auf dem Rücken des anderen - sich aus byzantinischen und sassanidischen Vorbildern herleiten lassen? Ich mußte mich im Klosterhof unwillkürlich an die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu erinnern. Sie war eine Nichte des byzantinischen Kaisers und wurde im Jahre 972 mit Otto II. verheiratet. Die auf purpurrotem Pergament beschriftete Urkunde zeigt ein „Grundmuster" sich wiederholender Kreise mit Tierpaaren.

Gussago, S. Maria Assunta, Langobardisches Relief, 8. Jahrhundert

Ist das Motiv von Adler und Schlange nicht ein mythisches Symbol, das von der christlichen Religion übernommen wurde? Es kommt mehrmals im Klosterhof vor. Eine Darstellung ähnelt - bis hin zur Kerbschnittechnik - einem langobardischen, aus dem 8. Jahrhundert datierten Relief. Dieses stammt aus der Kirche S. Maria Assunta in Gussago und ist beschriftet „MAVI ORANS", was wohl bedeutet: „Meister Mavius schuf dies betend." 76

„Kaiserliches" Gitter an der Kapelle

Noch haben wir nicht die kleine Kapelle des südlichen Kreuzganges betrachtet; zunächst die Tür mit Steinfassung und Gitter. Wieder die skeptische Frage: Kann das Gitter wirklich „echt" und also alt sein? Im Muster gleicht es dem am Hauptportal und den Gittern im Vorhof. Doch gibt es Unterschiede: Die beiden Türen sind im Material wesentlich stärker als die Einfriedung des Vorhofes. Sie ist ganz offensichtlich als Nachbildung der „originalen" Gitter geschmiedet. Dann müßten diese aus einem Stück gegossen sein? Und, da sie einem Teilstück des ältesten Gitterpaares im Aachener Dom fast gleichen, könnten sie um 800 entstanden sein? Und woher hat sie Prinz Carl? Wieder und wieder prüfe ich meine Begeisterung über diese herrlichen frühmittelalterlichen Kunstwerke. Sie führten doch bisher ein mehr oder weniger unerkanntes Schattendasein! Sollte das meiste nicht doch nur Nachahmung und der ganze Klosterhof ein typisches Zeugnis des beginnenden Historismus, ja des Eklektizismus sein? Hiergegen spricht, daß Prinz Carl - zwar „nur" Prinz und Laie - dennoch „Kenner und Beschützer des Schönen" (nach Pückler) war. Sein Adjutant Job von Witzleben schrieb am 30. April 1879 aus Venedig (an seine Mutter über den Prinzen): „Er ist zum 11. Mal in Italien und kann es keinen besser unterrichteten und geistvolleren Führer geben." Am 23. Mai desselben Jahres berichtete Witzleben aus Mailand: „Der Prinz machte mit uns zu Wagen eine Partie nach Monza . . . und nächsten Tag nach der Certosa bei Pavia. Letztere war höchst interessant, denn selten sieht man in so begrenztem Raum solche kostbare Sachen, kostbar durch Kunstwert, Alter und Seltenheit." Prinz Carl kannte also Monza, wo noch heute die Schätze von Königin Theodelinde mit dem Evangeliar Papst Gregors des Großen aufbewahrt werden. Er kannte „natürlich" auch Pavia, die Krönungsstadt der Langobarden. 77

Daß es Prinz Carl beim Sammeln mittelalterlicher Kunst um Sinnzusammenhänge ging, zeigen vor allem zwei „Gegenstände", die er einst hinter dem „kaiserlichen" Gitter in der kleinen Klosterhofkapelle aufstellen ließ: das Reliquienkreuz Kaiser Heinrichs II. (heute im Westberliner Kunstgewerbemuseum) und der Goslarer Kaiserstuhl. Das Kreuz hatte Heinrich II. im Jahre 1015 zusammen mit anderen Weihegaben dem Basler Münster gestiftet. Es enthält Reliquien vom Kreuz Christi und in der Mitte eine Kamee aus der römischen Kaiserzeit. Nachdem dies „Heinrichskreuz" etwa 300 Jahre versteckt blieb (von 1529 bis 1827), wurde es 1836 versteigert und vom Prinzen Carl erworben.

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Der Goslarer Kaiserstuhl, 11. Jahrhundert Der Thron Kaiser Heinrichs III. (1039-1056) war eines der ersten Stücke von Prinz Carls mittelalterlicher Sammlung. Er kaufte ihn 1820 seinem scheidenden Erzieher Minutoli ab. Die Goslarer hatten ihn 1811 mit anderem „Altmetall" zum Einschmelzen weggegeben. Heute steht der Kaiserstuhl wieder in Goslar, wohin ihn Prinz Carl vererbte, aber leider ohne Hinweis, wem dies zu verdanken ist. Kaiser Heinrich III. hatte sich bemüht, Ordnung in die seinerzeit zerstrittene römische Kirche zu bringen. Er beraumte 1046 eine Synode in Sutri ein, um zwei von damals drei konkurrierenden Päpsten dem Gericht des Episkopates zu überliefern. In vollem Ornat wurden Gregor VI. und Silvester III. in die Krypta des langobardischen Domes von Sutri geführt. In Anwesenheit des Kaisers mit seinem Gefolge und des gesamten Episkopates wurde ihnen die Absetzungssentenz vorgelesen. Dann nahm man ihnen feierlich, Stück um Stück, die Zeichen ihrer päpstlichen Würde ab, gleichzeitig Fackel um Fackel und Kerze um Kerze löschend. Es muß eine überaus beeindruckende Zeremonie gewesen sein, in einer Krypta, die der Langobardenkönig Liutprand im frühen 8. Jahrhundert stiftete, derselbe, an den die Kirchen in Tuscania erinnern! Unsere Gedanken sind nach Glienicke zurückgelenkt. 78

Alle „Dinge" des Klosterhofes haben einen Sinnzusammenhang. Prinz Carl wählte sie mit Bedacht aus. Dabei kam ihm ein an sich tragisches Geschick zugute. Im Herbst 1846 unternahmen Prinz Carl und Prinzessin Marie mit ihrer ältesten, 17jährigen Tochter Luise eine Reise nach Italien. Bereits in Genua erkrankte Luise so schwer, daß die Eltern sie in Todesangst nicht verlassen und Weiterreisen konnten. Sie mußten etwa ein Jahr in Oberitalien bleiben. Im Mai 1847 zogen sie in die Villa Carlotta am Comersee, die damals einer Schwägerin des Prinzen, Prinzessin Marianne, Gemahlin seines Bruders Albrecht, gehörte. Hier hatte Prinz Carl Zeit zum Nachdenken, zum Lesen, zum Planen, zum Sammeln. Das besondere Interesse für frühmittelalterliche italienische Kunst teilte er mit seinem Lieblingsbruder Friedrich Wilhelm. Der König kam im September 1847 nach Venedig und bat Carl, ihn als Cicerone zu begleiten. In Potsdam war damals die Friedenskirche im Bau, die Friedrich Wilhelm IV in Anlehnung an San demente in Rom selbst entworfen hatte. Sie erhielt ein originales byzantinisches Apsismosaik aus einer verfallenen Kirche der Insel Murano. In Venedig war 1847 beim Kunsthändler Pejaro das Mosaik des 6. Jahrhunderts aus Ravenna zu besehen, das der König gekauft hatte und hier restaurieren ließ. Von der Villa Carlotta aus machte Prinz Carl natürlich auch Bootsfahrten (wie Briefe bezeugen) über den Comersee. Ob er auf der kleinen Insel Comacina landete, sie durchstreifte und Trümmer des 6. bis 12. Jahrhunderts entdeckte? Über dieser Insel waltet ein Geheimnis: Es soll noch heute auf ihr von Buschwerk überwachsene Ruinen und herumliegende Mauerbruchstücke geben. Vermutlich war sie der Sitz einer ehemals römischen, dann langobardischen Bauhütte, der „magistri comacini". Nachdem Barbarossa Mailand 1162 besiegt hatte und die Magistri (modern ausgedrückt: die Ingenieure) von Comacina den Wiederaufbau vorantrieben, ließ der Kaiser 1169 alle Gebäude, Kirchen und Häuser der kleinen Insel zerstören. Sie muß ihm ein besonderer Dorn im Auge gewesen sein. Die „magistri comacini" sollen danach ausgewandert sein.

Langobardische Stucksäule 70

Ob die hohe Säule an der äußeren Nordwestecke des Klosterhofes einst auf der Insel Comacina stand? Sie läßt sich ins 7. oder 8. Jahrhundert datieren, trägt sogar langobardische Schriftzeichen. Gerade sie ist nicht „unecht", wie bisher behauptet wurde, weil sie „nur" aus Backsteinen mit Stucküberzug geschaffen ist. Materialgerechtigkeit als Kriterium zur Beurteilung „echter" Kunst paßt hier ebensowenig wie für Schinkels Werke, der ja viele Säulen, Gesimse, Vasen... aus Zinkguß anfertigen und als Gestein imitieren ließ. Auch läßt sich der Klosterhof nicht am Klassizismus Schinkelscher Prägung messen. Wer mit einem solchen Maßstab herangeht, wird ihn als fremdartig empfinden. Der Klosterhof gehört in die Kette der Gebäude um den Glienicker Pleasureground als wesentlicher Abschluß, gleichsam als Schlußstein. Den Vorhof ließ Prinz Carl um einen bereits hochgewachsenen Baum errichten - mit Freiräumen im unterirdischen Mauerwerk zum Weiterwachsen der Wurzeln!

Blick in den Vorhof Kunst nimmt nicht von sich aus Rücksicht auf die Natur, sondern Ehrfurcht und Einfühlsamkeit des Menschen. Es ist aber hier mehr als nur Rücksicht. In Glienicke sind unterschiedlichste „Dinge" - verschieden vom Wesen, vom Material, vom Alter her - zusammgengestimmt: das Ganze und jedes Teil dient einem Sinn. Es lebt hier - wie Eichendorff es nannte - „ein Lied in allen Dingen". Dies wurde von den Romantikern ernst genommen. Sie warnten vor der Selbstüberschätzung der Rationalisten und wandten sich bewußt dem Mittelalter zu. So verstanden, ist der Glienicker Klosterhof weder ein Gebilde des Historismus noch ein Museum für byzantinische Kunstwerke, sondern ein persönliches Bekenntnis zur Schöpfungsordnung, in der Natur und Kunst und mitten darin der Mensch - wachsend und reifend - Gott dienen dürfen. 80

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>mer uan Wilhelm Saegert Von Gerhard Kutzsch* Saegert entstammt einer Familie einfacher Soldaten. Sein Vater hatte 28 Jahre lang bei den neumärkischen Dragonern gedient, war als Unteroffizier verabschiedet worden und verbrachte den Rest seines Lebens als Ratsdiener in dem Städtchen Bärwalde, wo auch der Sohn 1809 geboren worden war. Mit Hilfe eines Stipendiums besuchte Carl Wilhelm, ein aufgeweckter Junge, das Lehrerseminar in Neuzelle, machte mit 19 Jahren sein Abschlußexamen als Taubstummenlehrer und kam 1840, nach Jahren der Lehrtätigkeit in Königsberg, Weißenfels und Magdeburg, als Direktor der Taubstummenanstalt nach Berlin. Im Sommer 1843 finden wir ihn nebenamtlich als Geschichtslehrer des Thronprätendenten Prinz Friedrich Wilhelm (des späteren Kaisers Friedrich HL), sehen ihn aber schon nach kurzer Zeit wieder dieses Postens enthoben. Er habe weder ihn noch seinen Sohn angesprochen, schreibt der Prinz von Preußen zehn Jahre später seinem königlichen Bruder, weil er sich durch andringliches Wesen und beständige schmeichlerische Bemerkungen auf die Zukunft des jungen Prinzen ihnen so unangenehm gemacht, daß der Sohn selbst darum gebeten habe, diesen Lehrer nicht zu * Die folgenden Ausführungen stellen eine Kurzfassung meines Aufsatzes „Friedrich Wilhelm IV. und Carl Wilhelm Saegert" dar, erschienen im „Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands", Band VI, Tübingen 1957, S. 133-172. 81

„konservieren" (25. November 1853). Im gärenden Jahr 1848 kämpft Saegert unter den Fahnen der Revolution, freilich nicht mit der Waffe in der Hand, sondern mit dem Worte, er läuft in die Volksversammlungen, hält Reden an die Menge und empfiehlt sich dieser selbst als Chef eines zu schaffenden Arbeitsministeriums. In einer anonym erschienenen, auf Saegert gezielten Flugschrift vom „falschen Abbe de l'Epee" (Berlin 1851 bei C. G. Brandis) heißt es: „Sich das Ansehen gebend, als huldige er den Freiheitsidealen der frommen Schwärmer, schloß er sofort einen Bund mit jenen Fanatikern, denen nichts heilig und zu Rechte bestehend ist; er ward ein eifriger Apostel der modernen Freiheitslehre und ihrer sozialistischen Träumereien und scharte sich als solcher mit den Stellenjägern aller Grade um ihre F a h n e . . . " Da beschied Friedrich Wilhelm IV., sehr wahrscheinlich von Härder, dem Kabinettssekretär der Königin, auf den „Volkstribun" aufmerksam gemacht, diesen - den er schon ganz der Revolution verfallen glaubte - zu sich, „um ihn der guten Sache zu gewinnen". Von dieser Stunde an gab sich Saegert als loyalster Untertan Seiner Majestät, stellte sich dem König als Nachrichtenübermittler und Berater zur Verfügung und wußte sich fortan sieben Jahre lang in dessen Gunst zu erhalten. Nur wenigen höchstgestellten Beamten war die Doppelrolle des Direktors der Taubstummenanstalt bekannt, ferner ein paar Höflingen, deren Aufgabe es war, den regelmäßig in den Schlössern zu Berlin, Charlottenburg oder Potsdam auftauchenden Besucher durch Bedientenwohnungen und über Hintertreppen in die Arbeitsräume des Königs zu geleiten. Die „Zauberkraft der Übereinstimmung", die der König zwischen sich und Saegert entdeckte, ist nur vom Pathologischen her verständlich, die Erklärung für das tatsächlich vorhandene Abhängigkeitsverhältnis des Monarchen von dem Direktor muß in den Bereichen des Irrationalen gesucht werden. Von Saegert allein fühlte sich der Mann verstanden, den das Unverstandensein als „eine der größten Plagen seines glorreichen Lebens" bedrückte. „Sie haben einen spiritus familiaris, der mehr weiß wie andere Geister..." schrieb Friedrich Wilhelm seinem Vertrauten (1855). Saegert wollte den König nicht beherrschen, er wollte nur eines: eine Position im Staatsdienst haben, so hoch wie möglich. Aber sie hätte nicht mit zuviel Verantwortung beladen sein dürfen. Im September 1848 bot ihm der König die Ministerpräsidentschaft und das Kultusministerium an. Besser als sein Herr wußte Saegert, daß er für beide Ämter unmöglich war und schlug sie aus. Er wolle „nicht jetzt schon Minister werden, da es ihm die Esel in der Löwenhaut doch nicht verzeihen würden, wenn er ohne Haut ginge und er würde sehr viele Neider haben". Der Schuldirektor war sich darüber im klaren, daß seine Ernennung für ein höchstes Staatsamt den unüberwindlichen Widerstand aller nur denkbaren Kräfte hervorgerufen und ihn möglicherweise sogar die Rolle des heimlichen Mandatars gekostet hätte. Dank energischem Nachdruck von allerhöchster Seite wurde Saegert 1849 in die 1. Kammer gewählt, der er dann für zwei Legislaturperioden angehört hat. Friedrich Wilhelm hoffte so, den Freund einem Ministersessel nähergebracht zu haben, hat ihm jedoch keinen wieder angeboten. Saegerts geradezu manisches Streben, auf der Stufenleiter des beruflichen Erfolges nach oben zu klimmen und sich im Glanz neuer Würden zu sonnen, hat zwei Kultusministern, Ladenberg und Raumer, das Leben sauer gemacht. Schon im August 1848 fordert der König durch seinen Geheimkämmerer Schöning, dann auch persönlich den Oberpräsidenten v. Patow auf, dem Wunsch Saegerts nach Mitgliedschaft im Provinzial-Schulkollegium zu entsprechen. Patow lehnt mit einem Hinweis auf die extraordinäre Laufbahn dieses Mannes und auf den Widerstand, der deshalb unter den Räten entstehen würde, ab. Bezeichnete es Saegert zeitlebens als seinen Grundsatz, nichts zu tun, wozu er auch andere Leute gebrauchen könne, so war die Beurteilung durch Patow treffend, er kümmere sich um alles, das er mit Eifer begänne, um dann die Details anderen zu überlassen, der Direktor sei exzentrisch und löse das ganze Kollegium 82

auf, „in dieser Branche aber sei noch Ordnung und man wünsche nicht, daß sie auch dort aufhöre". Friedrich Wilhelm war wütend und erklärte bei Patows Entlassung, er habe ihm auch diese Stellungnahme nicht vergessen. Das nächste Ziel eines Doppelangriffs von Seiten des Königs und Saegerts ist Kultusminister Ladenberg. Dieser widersetzt sich hartnäckig dem Ansinnen, Saegert gar ins Ministerium avancieren zu lassen und ihm ein besonderes Dezernat für Taubstummenangelegenheiten einzuräumen. Mit wohlgesetzten Worten weist der Minister seinen königlichen Herrn darauf hin, daß dieser Mann von Einseitigkeit und Selbstüberschätzung, die dem Dilettantismus eigen, nicht frei sei und daß die unangenehm hervortretende Neigung zu Geltungssucht und Überheblichkeit ihn mit einer Reihe sehr achtbarer Direktoren und Lehrer in Konflikt gebracht habe. Bis ins dritte und vierte Glied will sich Saegert, der von dem Bericht des Ministers Kenntnis erhielt, an Ladenberg rächen. In einem langen Handschreiben vom 26. August 1850 versucht der König, Ladenberg über sein wahres Verhältnis zu Saegert aufzuklären, den er einen „streng und geistreich konservativen integren Mann" nennt, den eine unselige konstitutionelle Bürokratie zu kompromittieren versuche. Der Kultusminister entgegnet mit einem Hinweis auf die Beurteilungen durch den Regierungspräsidenten v. Wolff-Metternich und andere Vorgesetzte Saegerts, daß man es mit einem tieferer wissenschaftlicher Bildung ermangelnden, der Basis eines gründlichen und richtigen Urteils entbehrenden, ehrgeizigen Mann zu tun habe, der in der Lehrerwelt für einen aufgeblasenen, eitlen Schwätzer gelte, dem es nur um das Geltendmachen seines eigenen Interesses zu tun sei und der sich auf Kosten seiner Berufspflichten überall hervordränge. Saegerts Aufnahme ins Kollegium bedrohe den Hochstand des preußischen Bildungs wesens, indem sie alle wissenschaftlich gebildeten Lehrer tief entmutigen müsse. Auch Ladenbergs Nachfolger v. Raumer, unternahm jahrelang nichts Entscheidendes, um des Königs und Saegerts Wünsche zu erfüllen. Erst im Sommer 1852 erinnert Saegert das Ministerium wieder daran, daß sein produzierender Geist im Fach der Humanitätspflege sich nicht einzwängen lasse, daß er im Ausland verherrlicht, in Berlin aber grundlos Persona ingrata bei den Behörden sei. Anlaß für die Beförderung zum Schulrat (Juli 1852) wurde jedoch eine vorübergehende Trübung des Verhältnisses zu Friedrich Wilhelm, der in dem Bemühen um Versöhnung dem schmollenden „Freunde" einen Gefallen tun wollte. „Fortschritte habe ich nicht gemacht", hatte dieser dem König geschrieben, „E. M. (Euer Majestät) haben in vier Jahren nicht vermocht, mich zu der Höhe zu erheben, die ein Bormann, Heindorf, v. Gräfe und Stiehl (d. s. Schul- und Geh. Regierungsräte) einnehmen, ich bin diesen gegenüber ein Untergebener geblieben... ich leide an keinerlei Illusionen mehr, darum fort mit der Politik, Arbeit für eigene Rechnung . . . ich bin seit November 48 wie ein Hund verdrängt, beseitigt - ich werde mich in einigen Jahren emanzipiert und verjüngt haben; mit einer Politik, die Manteuffel. Westphalen und Raumer führen, gehe ich keinen Schritt weiter fort..." (19. Mai 1852). Einmal zum Regierungsschulrat ernannt, nimmt Saegert nach dreimonatiger Unterbrechung seine Besuche bei Friedrich Wilhelm sogleich mit einem fünfstündigen Gespräch wieder auf. Der König irrte aber in der Meinung, seinen Intimus zufriedengestellt zu haben. Dieser fühlt sich in der Provinzialbehörde „zwischen oben und unten eingeklemmt" und „als Mädchen für alles" behandelt. Abermals erhält Raumer Befehl, Saegert anzuhören. Der Minister zaudert und hat „moralische Bedenken", diesen Mann zum Ministerialrat zu machen. Er wolle ihn nur empfangen, schreibt der Direktor, „wie man auch Zeitungsschreiber, Spione und Schmarotzer empfängt und verbraucht" (24. Dezember 1852). Das trostlose Spiel vom Sommer dieses Jahres wiederholt sich: Der „Freund" droht dem König seinen Rückzug an und hält vierzehn Tage darauf seine Bestallung zum General-Inspekteur des Taubstummenwesens in den Händen (Allerhöchster Erlaß vom 8. Januar 1853).

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Anfang 1856 trennen sich Saegerts Wege von denen Friedrich Wilhelms, doch läßt ihn dieser noch einmal 1857 als Gutachter in einer diffizilen politischen Angelegenheit durch den Ministerpräsidenten Manteuffel zu sich rufen. Ein Allerhöchster Erlaß vom 28. September 1857 macht Saegert zum Geh. Regierungs- und vortragenden Ministerialrat. Er wird zur Disposition des Ministerpräsidenten gestellt und von seinen Pflichten als Anstaltsdirektor entbunden. Im Staatsministerium vermag man ihm aber keine der neuen Würde entsprechende Tätigkeit zuzuweisen. Sein Bemühen, Oberregierungsrat zu werden, bleibt erfolglos. Jahrelang stöhnt er noch über die Absichtlichkeit seiner Zurücksetzung. Dem neuen Ministerpräsidenten. Fürst zu Hohenzollern-Sigmaringen, erbietet er sich, ein Nachrichtenwesen zu organisieren. Der Fürst lehnt ab als zu kostspielig, eine anderweitige Verwendung im Ministerium komme auch nicht in Frage, da der Prinzregent sie nicht wünsche (Bescheid an Saegert vom 14. Mai 1859). Der Verkehr mit dem König war in der Weise vor sich gegangen, daß Saegert ihn - wenigstens anfänglich -jeden Sonntag in den frühen Nachmittagsstunden aufsuchte, später wurden auch die Wochentage benutzt. Obendrein sandte der Direktorfast täglich Berichte zum Monarchen, der sie entweder auf Wunsch des Absenders sogleich vernichtete oder mit Randbemerkungen versah und umgehend zurückschickte. Die bereits erwähnten Höflinge Schöning und Härder vermittelten diesen Nachrichtenaustausch, für den man sich ausgerissener Tagebuchblätter bediente. Als Redner in der 1. Kammer ist Saegert lediglich in Schuldebatten ausführlicher hervorgetreten, und ob er wirklich in den Jahren 1850 bis 1854, also auch noch nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament, einzelne Abgeordnete in ihren Entscheidungen maßgeblich beeinflußt hat, wie er sich in seinen Mitteilungen an den König schmeichelt, ist sehr fraglich. Von den gegensätzlichen Auffassungen im Prinzipiellen zwischen König, Regierung und Kammern ganz abgesehen, haben die Deputierten in zäher Kleinarbeit an den wichtigen innerpolitischen Angelegenheiten dieser Jahre (Verfassungsrevision, Herrenhausbildung) Formulierungen gefunden und Beschlüsse gefaßt, die auch eines Saegerts beflissene Geschäftigkeit hinter den Kulissen nicht mehr im Sinn der Intentionen und Wünsche seines königlichen Mandanten umzubiegen vermochte. Saegert ist überzeugt, daß Preußen eine Verfassung benötige, die dem Wiederaufleben der Revolution vorbeugen und der werbenden Kraft auf die deutschen Mittel- und Kleinstaaten nicht ermangeln dürfe. In einem Aufsatz „Die Verfassungsfrage" (Berlinische Zeitung, 25. Januar 1849) vermißt Saegert eine tiefgreifende Behandlung sozialer Probleme durch die neue preußische Verfassung und mit dem Ruf nach Arbeitslosen-, Alters-, Witwen- und Waisenversorgung nimmt er Forderungen voraus, die erst nach Jahren ein großes Anliegen der „sozialen Demokratie" im innerpolitischen Kampf werden sollten. Den Zensus lehnt er ab, weil unmoralisch und den demokratischen Demagogen Vorschub leistend, denen mit einem „allgemeinen Wahlrecht" der Wind aus den Segeln genommen werden soll. Andererseits konnte er sich auch nicht mit jenem noch vom Vereinigten Landtag angenommenen Wahlgesetz vom 8. April 1848 befreunden, das „dem Organismus der Anarchie" entnommen einem jeden das aktive und passive Wahlrecht ohne Rücksicht auf Besitz, Bildung und Würdigkeit gab. Saegert trug noch seine eigenen Vorstellungen von der Volksvertretung Preußens mit sich. Die zweite oder Ständekammer sollte das ganze Volk, geteilt nach Interessen in vier Gruppen mit je einer gleichen Anzahl von Deputierten, vertreten: Arbeiter, Grundbesitzer, Handel- und Gewerbetreibende, Intelligenz. Jeder Urwähler hätte in seiner ihm zukommenden Steuer- oder Ständeklasse zu wählen gehabt. Saegert sah so die Prinzipien eines allgemeinen Wahlrechts und der Gleichheit vor dem Gesetz gewahrt. Der preußischen Verfassung „Form und Inhalt dessen geben, was Deutschland haben und werden soll", war sein Wunsch. Er setzte sich für die S4

Carl Wilhelm Saegert (1809-1879), Direktor der Taubstummenanstalt in Berlin 1840 bis 1857. Freund und politischer Berater Friedrich Wilhelms IV. in den Jahren 1848 bis 1855.

Revision des Grundgesetzes, dann für die Pairie im Sinn des Königs ein. Dessen kräftigen Widerwillen gegen die Konstitution macht sich Saegert zunehmend zu eigen: Er nennt sie „ein Werk der Not, eine Konzession an aufgeregte Massen, eine Beschwichtigung für den Augenblick", das revidierte Werk „ein Produkt des Zufalls, der schwankenden Majoritäten die letzte Entscheidung in die Hand gab" (29. Dezember 1849). Die Berufung aller Mitglieder der 1. Kammer wollte Friedrich Wilhelm als königliche Prärogative beanspruchen und daher den Verfassungsartikel 65 beseitigt wissen, der die Hälfte der Kammermitglieder aus Wahlen hervorgehen ließ. Angesichts der Entschiedenheit des Monarchen in dieser Frage enthüllt sich die ganze, mit tönenden Worten verputzte Bedeutungslosigkeit des „zwischenparlamentarischen" Wirkens Saegerts schlagend. Die führenden Köpfe der Fraktionen handelten ihre Ansichten und Formulierungen ohne ihn aus. Was er erfuhr, wußte der König bereits, der seinerseits einmal zielklar genug weniger denn sonst der Saegertschen Meinungen zur Sache bedurfte. Großen Wert legte Friedrich Wilhelm aber auf die Versprechungen des Freundes, Abstimmungserfolge in den Kammern vorzubereiten. Diese Zusagen konnte Saegert nicht einlösen. Die Kammerdebatten führten zu keinem Ergebnis, und erst die den Abgeordneten einer neuen Legislaturperiode unterbreitete Regierungsvorlage entschied im Frühjahr 1853 die künftige Bildung des „Herrenhauses" im Sinn der Forderungen des Königs. Nach jedem Mißerfolg in den Kammern will sich Saegert zurückziehen. Im Lauf des Jahres 1852 ist das etwa viermal der Fall. Es kommt dabei zu jenen schon oben erwähnten Spannungen im Verhältnis zum König, der, um den Verlust des Freundes besorgt, diesem die geforderten Ämter eines Rates und General-Inspekteurs ohne weiteres bewilligt. Ohne seine Erpressungsmanöver hätte Saegert diese Würden nie erhalten. Er wollte aber gar nicht ernstlich den König

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verlassen. Gewiß hat er das bittere Gefühl des Verkannt- und Mißachtetseins von einer schnöden Welt ausgekostet, aber sein Trotz bäumte sich dagegen auf. Noch sah er seine große Karriere vor sich und benötigte den König als Mittel zum Zweck - seinem anomal gesteigerten Geltungsdrang Erfüllung werden zu lassen. Er „bockte" nur und wollte wieder gebeten sein, eine Erwartung, die ihn auch nicht täuschte. An einer außenpolitischen Affäre im Zusammenhang mit dem Krimkrieg zerbrach im Herbst 1855 das „Freundschaftsverhältnis" zwischen dem König und Saegert. Als einziger unter allen Vertrauten Friedrich Wilhelms stützte der Schuldirektor seinen Monarchen, als dieser je einen Sonderbotschafter in die westlichen Hauptstädte London und Paris senden wollte, um die Bündnisfrage mit den Westmächten beziehungsweise die preußische Teilnahme an den kommenden Wiener Friedenskonferenzen zu erörtern. Saegert korrespondierte bald auch eifrig mit den beiden Spezialgesandten, dem Geheimrat Usedom und dem General Wedell, gab ihnen sogar unter Umgehung des Königs Ratschläge und „rektifizierte" deren Meinungen. In London wie Paris erwiesen sich die Missionen als völlige Mißerfolge. Nach Berlin zurückgekehrt, gingen Wedell und Usedom auf die Suche nach dem Schuldigen, den sie in Manteuffel zu finden glaubten, der ihre Reisen durch Gegeninstruktionen für die offiziellen preußischen Gesandten von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt habe. Saegert, schlau genug, um die Blamage der preußischen Politik zu erkennen und den drohenden Sturm der Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten ahnend, schickt dem König, der ihn um Auskunft bittet, mehrere Schreiben mit schwächlichen Rechtfertigungsversuchen und Absagen weiterer Tätigkeit' „durch die Hintertür". Er unterstellt, daß seinem Reden und Predigen kein Gehör geworden und deshalb die Karre mit aller Gewalt in den Dreck gefahren sei. Oder er vergleicht sich mit einem Souffleur, der nicht mehr vermag, als den Helden auf die Beine zu sehen, er aber Saegert - wolle nicht mit seinen Gaben „für solch Schauspielerpack verbraucht werden" (12. August 1855). Der König rügt den Inhalt und Ton solcher Briefe energisch, versichert Saegert jedoch weiterhin der Unverbrüchlichkeit seiner Dankbarkeit und Treue, ohne indessen den Schuldirektor umstimmen zu können. Dieser weist alle Versuche Friedrich Wilhelms, mit Hilfe von Fragen in politischen Angelegenheiten das alte Verhältnis wiederherzustellen, schnöde zurück. Selbst die Aussteuerbeihilfe für die Saegertschen Töchter, der alljährlich zu Weihnachten ein Betrag hinzugefügt wurde, verschmähte deren Vater, allerdings erfolglos. Des demütigenden Bemühens um die Freundschaft eines Unwürdigen endlich müde, erklärt der König, hinfort nichts Schriftliches von dem Direktor mehr annehmen zu wollen. Dennoch schickt er diesem zu Pfingsten 1856 noch ein Porträtbild mit einer Inschrift auf der Rückseite, die von fortdauernder Hochachtung und Dankbarkeit zeugt. Der Einfluß Saegerts auf Friedrich Wilhelm pflegte m dem Maß zu wachsen, in dem sich der Monarch von seinen Ratgebern in Regierung oder Freundeskreis verlassen fühlte und auf sich selbst gestellt fand. Sobald sich der Monarch mit seinen verschwiegenen Lieblingswünschen im Jahre 1848 gehörte hierzu die schnelle Rückkehr des vor der Revolution nach England ausgewichenen Prinzen von Preußen, 1854/55 die Entsendung von Spezialbeauftragten in die westlichen Hauptstädte - einer vorhandenen oder vermuteten Opposition gegenübersah, war der geschmeidige Scharlatan Saegert der Mann, der dem ängstlichen und unsicheren Monarchen insgeheim den Rücken steifte. So hat der Schuldirektor seinen indirekten Einfluß ausüben können und namentlich in der Affäre Wedel/Usedom die Schwierigkeiten vergrößern helfen, die die auf verantwortliche Stellen berufenen Männer ohnehin schon mit ihrem königlichen Gebieter hatten. Anschrift des Verfassers: Dr. G. Kutzsch, Königin-Eüsabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19 SO

Ztfr Anbringung der linken Sockelplatte am Denkmal Friedrichs I. am 19. Mai 1983 Ansprache von Herrn Prof. Dr. Martin Sperlich Meine Damen und Herren, nicht nur Bücher, auch Statuen haben ihre Schicksale. Im Ehrenhof des Charlottenburger Schlosses steht Schlüters Denkmal des Großen Kurfürsten. Der Kurfürst Friedrich III. hatte es 1697 in Auftrag gegeben, 1700 wurde es von Johann Jacobi gegossen und am 12. Juli 1703, dem Geburtstag des Auftraggebers, der inzwischen als Friedrich I. der erste preußische König geworden war, auf der Langen Brücke aufgestellt. Diese Brücke hatte Arnold Nering 1691 bis 1694 im Auftrag des Großen Kurfürsten gebaut, ein Jahr, bevor er das Charlottenburger Schloß zu bauen begann. Ursprünglich wollte Friedrich III. sein eigenes Standbild von Schlüter dort aufstellen, dann aber wurde dieser Platz für das Reiterbild gebraucht, und die Statue des Königs wurde recht nachlässig behandelt. Zunächst war vorgesehen, sie im Hof des Zeughauses aufzustellen, doch blieb sie vorerst im Gießhaus stehen, man hatte wohl Bedenken, nach der Königskrönung ein Denkmal mit den kurfürstlichen Insignien zu zeigen. Nach dem Tod Friedrichs I. läßt der Soldatenkönig Überlegungen anstellen, wie und wo die Statue aufzustellen sei. Der Gießer Jacobi macht sich anheischig, die königlichen Insignien nahtlos anzugießen, man erörtert, ob Sklaven oder Tugenden den Sockel schmücken sollten, wie hoch dieser zu sein habe oder ob man die Figur gar auf eine Säule in der Art der Trajanssäule stellen soll. Als Ort der Aufstellung werden vorgeschlagen: 1. der innere Schloßplatz 2. der vordere Schloßplatz 3. der Werdersche Markt Alle anderen Plätze wären entweder zu unregelmäßig wie der Molkenmarkt oder allzu dürftig bebaut. Diese Überlegungen blieben jedoch ohne Folgen, und die Figur blieb weiter im Gießhaus abgestellt. 1728 wurde das Denkmal dann aber doch auf dem Molkenmarkt aufgestellt, freilich bloß zur Dekoration für den Empfang Augusts des Starken. Dem Besucher aus dem prächtigen Elbflorenz sollte im dürftigen Preußen doch etwas geboten werden, und dem ökonomisch denkenden Soldatenkönig war die fehlende Königswürde seines Vaters recht gleichgültig. Auf einem Sockel mit gipsernen Sklaven erfüllte so Schlüters Bildwerk seine Aufgabe als Bühnenbild für die fürstliche Stadtrundfahrt. Nach der Abreise des Besuchers schreibt von Marwitz an den König: „E. K. M. werden sich erinnern, daß die Sklaven unter der Statue als auch die Adler und Schilder wegen der Kürze der Zeit nur von Gips angefertigt. Wan dan solche den Winter über nicht nicht dauern und abfallen werden, so muß E. K. M. Resulution anheimzustellen... solches alles von Metall gießen zu lassen. Und weil die jetzige Gipser Arbeit also bezahlet und angefertigt, daß solche künftig zum Modell des Gießens dienen soll und deshalb angenommen werden müßte, so würde wohl nötig sein, indessen einen Verschlag von Brettern um gedachte Statue zu setzen." Der König befiehlt, die Sklaven in Bronze gießen zu lassen, will dann aber andere Begleitfiguren, läßt Entwürfe machen und sucht, weil die ihm nicht gefallen, Kupferstichvorlagen heraus. 87

Jahrelang geschieht nichts, die Gipsfiguren werden unansehnlich, werden aber, ehe sie ganz verrotten, doch noch in Bronze gegossen. Die Aufstellung bleibt unbefriedigend, dem König fällt eine ökonomische Abhilfe ein. Die Stände der Kurmark sollen die Ehre haben, die Kosten zu tragen. Er läßt ihnen sagen, „er habe sehr gerne vernommen, daß dero Churmärckische Landschaft nebst andern guten Gewinsten der Lotterie auch das große Los gewonnen, wozu (er) derselben gratuliere", und „er trage zu ihr das Vertrauen, sie werde sich eine Freude daraus machen, das Piedestal von der Statue dero in Gott ruhenden Herrn Vaters M. zu Berlin auf ihre Kosten machen zu lassen, wogegen er den benötigten Marmor schenken wolle." Obwohl die Stände von der Lotterie nur Verluste zu verbuchen hatten, gehorchten sie diesem zarten Wink. Die Entwurfsarbeiten für den Sockel, die Reliefs und die Inschriften ziehen sich lange hin. 1741 befreit Friedrich der Große, der seinen Großvater nie besonders geschätzt hat, die Stände von ihrer Verpflichtung. Die Marmorblöcke blieben liegen und wurden 1742 dem Bildhauer Adam übergeben. Das Denkmal wurde wieder im Gießhaus abgestellt; und als 1760 die Russen Berlin besetzten, nahmen sie es als Kriegsbeute mit, brachten es aber bloß bis nach Spandau, von wo aus es 1764 nach Berlin ins Zeughaus zurückgebracht wurde. Friedrich der Große wollte die Figur dort im Hof aufstellen lassen, als aber Boumann einen Kostenanschlag über 3000 Taler für den Sockel vorlegte, schrieb er an den Rand: „Ich habe die ApothekenRechnung des Baudirektors Boumann erhalten und bin denselben Betrag, da dergleichen Statue zu versetzen, unmöglich mehr als 120 Taler kosten kann, zu bewilligen nicht gemeint." Nun stand Schlüters Werk den Rest des Jahrhunderts unter Gerumpel in einem Winkel des Zeughauses und wäre um ein Haar eingeschmolzen worden. Im Dezember 1800 machte der Kurator der Akadamie der Künste den Vorschlag, das Werk zur Jahrhundertfeier der Krönung auf einem provisorisch bronzierten Holzpostament aufzustellen. Die Bronzesklaven, die auch noch da waren, sollten aber ihrer mäßigen Qualität wegen nicht aufgestellt werden. Später will Rauch aus ihnen antike Bronzekopien für das Ehrenhoftor im Charlottenburger Schloß gießen lassen, dann sollen sie für das Denkmal Friedrich Wilhelms I. in Gumbinnen benutzt werden. Schließlich hat man sie aber doch eingeschmolzen. 1802 wird das Bildwerk endlich in Königsberg in Preußen auf einem von Gottfried Schadow entworfenen Sockel aufgestellt, 1807 entwendeten französische Soldaten das Zepter, das dann 1815 aus dem Metall eines eroberten französischen Geschützes neu gegossen wurde. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Bronze mit Ölfarbe gestrichen und verlor dadurch ihre Patina. Schadow schreibt 1849 in „Kunstwerke und Kunstansichten": „Das Piedestal ist von Marmor, die Inschrift wurde von Hofrath Hirth verfaßt und lautet auf der Vorderseite: Friedrich Erster König der Preußen zu Königsberg gekrönt d. XVIII. Jänner MDCCI auf der hinteren Seite: Die Bildsäule des Ahnherrn widmete dem edlen Volk der Preußen zum immerwährenden Denkmal gegenseitiger Liebe und Treue d. I. Jänner MDCCCI Friedrich Wilhelm III. 88

Auf der rechten Seite ist der schwebende Adler mit Zepter und Reichsapfel mit der Unterschrift „Suum cuique", auf der linken Seite sind Krone und Zepter dargestellt. Die hintere Marmorplatte trägt jetzt einen neuen Text, der in wenigen Zeilen das weitere Schicksal erzählt: „Statue von Andreas Schlüter. 1698 für den Hof des Zeughauses bestimmt. 1801 von Friedrich Wilhelm III. der Stadt Königsberg i. Pr. geschenkt. Auf einem von Gottfried Schadow entworfenen Sockel am Schloß aufgestellt und seit 1945 verschollen. Neu gegossen 1972 nach der Form der Staatlichen Gipsformerei zu Berlin mit tätiger Hilfe von Waldemar Grzimek als Geschenk von Gerhard Marcks." Es ist eine lange Geschichte, die hier lapidar verkürzt als wichtigste Mitteilung vier Bildhauernamen enthält: Schlüter - Schadow - Marcks - Grzimek. Ich will in Kürze das Kapitel 2 dieser Geschichte, dasjenige mit den zwei Namen unserer Zeitgenossen, erzählen: Der Charlottenburger Gerhard Marcks ist vor zwei Jahren mit über neunzig Jahren gestorben, er hat die Aufstellung dieses Denkmals noch erleben können, wenn auch nicht in persönlicher Mitwirkung. Waldemar Grzimek, der schon als Fünfzehnjähriger unter den Fittichen von Gerhard Marcks seine erste Skulpturenausstellung hatte, konnte im Jahr der Aufstellung dieses Denkmals in der Charlottenburger Orangerie sein Gesamtwerk ausstellen. Ohne diese beiden stände diese Skulptur nicht hier. Wir, die Betreuer der Schlösser und Gärten, wollten seit jeher, d. h., seit wir eigene Haushaltspläne aufstellen, das in Königsberg verlorene Werk in Bronze gießen lassen, weil der Gips der Gipsformerei allzu gefährdet ist. Dieser Gipsabguß nach dem Original ist nun nach dem Verlust des Bronzedenkmals als „Original" anzusehen, und wir haben die Pflicht, die so bewahrte Form dieses großen Kunstwerkes in dauerhaftem Material, d. h. wiederum in Bronze, aufzuheben. Wir wußten, daß es diesen Gips gab, als es aber ernst wurde, als wir das Geld hatten, stellte es sich heraus, daß es wieder einmal Fatalitäten mit den Beinen der Hohenzollern gab: Die uns benachbarte Gipsformerei der Staatlichen Museen hatte nur das Oberteil der Statue, die Beine fehlten. Wir gaben also traurig diesen Akt der Denkmalpflege auf, bis eines Tages Waldemar Grzimek ins Schloß kam und uns mit Eindringlichkeit beschwor, Friedrich I. in Bronze gießen zu lassen, weil doch der Gips eben nicht ewig hält. Als er erfuhr, warum wir das noch nicht getan hätten, wurde er sogleich tätig und konnte, freizügiger als wir, feststellen, daß in der anderen Gipsformerei dieser Stadt - wir haben hier ja alles doppelt - das Modell vollständig war. Vor einem Jahrzehnt gab es nun für uns noch keine Möglichkeit, diese Zwillingssituation zu Rate zu ziehen, wenn man ein Diener des Senats ist - daran glaubten beide Hälften der Deutschen mit großer Festigkeit. Künstler sind freie Menschen und können sich den Luxus leisten, ihrem Ingenium und ihrem Verstand zu folgen. Drüben wollte man von Gerhard Marcks eine große Figur haben. Marcks sagte: „Ich will dafür kein Honorar, sondern nur, daß ihr Schlüters Standbild in Bronze gießt." Durch diese so noble wie einfache Transaktion steht nun dieses Werk als das Werk von vier deutschen Bildhauern vor uns. Fritz Becker, vielfach bewährt beim Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses, hat die bildhauerischen Arbeiten des Sockels und die Schrift geschaffen. Der Sockel wurde nach Fotos und überlieferten Maßangaben von dem Architekturhistoriker Hartwig Schmidt mit Scharfsinn und analytischem Verstand zeichnerisch rekonstruiert. Leider gab es nur Fotos von vorn und von rechts, die linke Reliefplatte, nach Schadows Beschreibung mit Krone und Zepter geziert, wurde von keinem Foto überliefert. Denkmalpflegerische Gewissenhaftigkeit erlaubt es uns nicht, ein solches Emblem frei zu erfinden. Wir ließen den Marmorbossen roh stehen, um ihn bearbeiten zu können; wenn nun, da dieses Problem allen sichtbar ist, ein Königsberger K9

Landsmann in seinem Fotoalbum einen Schnappschuß von der linken Seite findet, wird auch dieses Relief noch entstehen. So sagte ich vor vier Jahren. Wir wußten natürlich, daß Krone und Zepter auf dieser Reliefplatte dargestellt waren, aber wir sind Denkmalpfleger und machen nichts als Rekonstruktion, was nicht klar überliefert und belegt ist. Für uns gilt die Maxime des Dichters, die von Rilke stammt: „Er war ein Dichter, und er haßte das Ungenaue." Es schien uns kurios, daß alle die vielen hundert Fotos dieses Denkmals immer nur von vorn oder von halb rechts aufgenommen waren, niemals von der linken Seite, aber wir gaben die Hoffnung nicht auf, daß irgendeinmal doch noch ein solches Foto auftauchen konnte. Dazu muß man allen Leuten davon erzählen, und unsere Hoffnung trog nicht. Im Jahr 1982 schickte uns Herr Ulrich Albinus von der Stadtgemeinschaft Königsberg eine alte kolorierte Postkarte von 1901, die diese fehlende Platte darstellte, freilich in einer extremen Schrägansicht, aber doch genau genug, um die Anordnung von Zepter und Krone genau zu erkennen. Wie diese im einzelnen aussehen, wußten wir natürlich nicht nur von alten Darstellungen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, sondern auch von den Originalen, die wir hier im Schloß aufbewahren. Ich darf daher der Stadtgemeinschaft Königsberg in der Landsmannschaft Ostpreußen aus der Patenstadt Duisburg und der Prussia-Gesellschaft herzlich danken und ihre Vertreter begrüßen. Leider hat der Stadtvorsitzende der Stadtgemeinschaft Königsberg zu dieser Veranstaltung nicht kommen können, der insofern eine besondere Beziehung zu diesem Denkmal besitzt, als er in seinem Büro die Porträtzeichnung eines Verwandten von Gerhard Marcks zu hängen hat. Fritz Becker, der auch das gegenüberliegende Relief und die Schrift geschaffen hat, hat mit denkmalpflegerischem Engagement, das vielfach beim Wiederaufbau der Berliner Schlösser bewährt ist, auch dieses Marmorrelief geschaffen. Nun steht also Schlüters Skulptur auf Schadows Sockel, beide auf das genaueste und redlichste rekonstruiert, am angemessenen Ort am Schloß Charlottenburg, dessen Bauherr sich 1701 in Königsberg krönen ließ. Beide Städte beherbergten sein Denkmal. Wir sind glücklich, daß eine Gemeinschaftsarbeit so vielfältiger Art nun zum Abschluß gekommen ist und ein Kunstwerk höchsten Ranges dank dem tätigen Interesse so vieler Bürger wieder erstehen konnte, mit allen historischen Bezügen, die wir, wenn wir uns selbst verstehen wollen, nicht vergessen dürfen. Ich freue mich, daß Herr Ulrich Albinus von der Prussia-Gesellschaft, dem das Verdienst gebührt, die Unterlagen für die Wiederherstellung der Reliefplatte beigebracht zu haben, daß Frau Dr. Gundermann und Herr Dr. Krüger bei dieser Enthüllung anwesend sind, und nicht zuletzt danke ich unserem bewährten Freund, dem Bildhauer Fritz Becker, der das historische Vorbild mit künstlerischer Sensibilität und denkmalpflegerischer Gewissenhaftigkeit in Marmor geschlagen hat.

Nachrichten Feier des 300. Gründungstages des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums 1681 hatte der Große Kurfürst auf der Spreeinsel, dem Friedrichs-Werder, das Friedrichs-Werdersche Gymnasium gegründet, das seit 1908 in der Bochumer Straße in Moabit ansässig war. 1935 wurden dort die letzten Sextaner eingeschult, die Lateinklassen an der Friedrich-Nietzsche-Schule in Hermsdorf, später Georg-Herwegh-Oberschule, wurden unter der Bezeichnung Friedrichs-Werdersches Gymnasium bis 1951 weitergeführt, danach erlosch der Name. 90

Paul Sohst, sowohl Absolvent als auch Lehrer am Friedrichs-Werderschen Gymnasium (FWG), hatte den Gedanken, des 300. Gründungstages zu gedenken. Er wandte sich an den Schriftführer des Vereins für die Geschichte Berlins, Dr. H. G. Schultze-Berndt, der, gestützt auf einen Kreis ehemaliger FWGer, die organisatorischen Vorbereitungen für eine Feier in die Hand nahm, die am 23. Oktober 1982 in der Georg-Herwegh-Oberschule stattfand. Es mögen an die 200 Festgäste gewesen sein, die sich in der Aula dieses Gymnasiums einfanden, dessen Oberstudiendirektor H. Völker ein Geleitwort sprach. Für die ehemaligen Schüler des Friedrichs-Werderschen Gymnasiums übermittelte Dr. K. Voigt die Grüße, für den Bezirk Reinickendorf dessen Bürgermeister G. Birghan, nachdem der Bezirksbürgermeister H. M. Quell aus Tiergarten die ehemaligen FWGer in ihrem früheren Schulgebäude in der Bochumer Straße willkommen geheißen hatte. Frau Dr. Hanna-Renate Launen, Senatorin für Schulwesen, Jugend und Sport, nutzte die Gelegenheit zu grundlegenden Ausführungen über die gerade vom Friedrichs-Werderschen Gymnasium mitgetragene fortschrittliche Pädagogik im Preußen des vergangenen Jahrhunderts. „300 Jahre Friedrichs-Werdersches Gymnasium" war das Thema des Festvortrages von Dr. F. Escher (Freie Universität Berlin), den dieser zugleich als Vorstandsmitglied des Vereins für die Geschichte Berlins hielt. Dr. H. G. Schultze-Berndt richtete das Schlußwort an die alten und jungen Schüler, sprach ihnen den Dank aus und äußerte seine Freude über die vielen Zeichen der Verbundenheit, die in Form von Briefen, aber auch in Gestalt der Anwesenheit ehemaliger jüdischer Mitschüler aus den USA, aus Israel und Großbritannien zum Ausdruck gekommen war. Das Orchester der Georg-Herwegh-Oberschule unter Leitung von Oberstudienrat F. Klöck und Frau Studiendirektorin A. Zirr umrahmte den Festakt in schwungvoller Weise. Ein Begrüßungsabend im Hotel Hamburg war der Feierstunde vorausgegangen, ein gemeinsamer Besuch der Deutschen Oper Berlin schloß die Folge dieses Festes, das herzbewegende Erlebnisse vermittelte, vielen Schülern das Wiedersehen nach Jahrzehnten ermöglichte und etwas vom guten Geist des FriedrichsWerderschen Gymnasiums als eines der ältesten Gymnasien Berlins spüren ließ. H. G. Schultze-Berndt

Geschichtsmuseen in der DDR Die 102 Geschichtsmuseen in der DDR werden jährlich von 6,4 Mio. Interessenten besucht. Teils wird die deutsche Geschichte insgesamt dargestellt, teils werden nur einzelne Epochen behandelt oder Sondergebiete wie die Agrargeschichte, Militärhistorie usw. aufgegriffen. Besonders zahlreiche Geschichtsmuseen finden sich in den Bezirken Dresden, Erfurt, Halle, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und Magdeburg. Jede Bezirksstadt der DDR verfügt heute über ein historisches Museum. Nach 1945 wurden nach dem Verständnis der DDR wichtige Geschichtsmuseen gegründet. Zu ihnen gehören das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, das Georgi-Dimitroff-Museum in Leipzig und die zu den historischen Museen gezählten nationalen Mahn- und Gedenkstätten in Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen. Mehr als die Hälfte der Museen der DDR sind Regional- und Heimatmuseen. Die Geschichtsmuseen werden von 83 Jugendclubs und Arbeitsgemeinschaften mit mehr als 2200 Mitgliedern betreut. Etwa 40 % der Ausstellungsbesucher sind Jugendliche, wie sich auch die von mehreren Museen getragenen „Museumstage der Jugend" bewährt haben. SchB.

„Fontane-Kreis" in Fulda Mit dem Ziel, Berliner Geschichte lebendig zu erhalten, hat sich in Fulda ein „Fontane-Kreis" konstituiert. Diesergeht auf Arwed Felgen, Neisser Straße 2,6415 Petersberg, zurück, der in einem Oberstudienrat des Dom-Gymnasiums, einem gebürtigen Spandauer, einen tatkräftigen Mitstreiter gefunden hat. In einer Filiale der Commerzbank soll Berliner Geschichte in Karten und Bildern der Öffentlichkeit nahegebracht werden. Außerdem sollen in den Volkshochschulen des Landkreises und der Stadt Fulda Seminare über die Geschichte der ehemaligen Reichshauptstadt veranstaltet werden. SchB.

Heimatgeschichtliche Sammlung in Erkner Seit dem 7. April 1983 ist die kleine „Heimatgeschichtliche Sammlung" in Erkner wieder zugänglich, die im strohgedeckten „Kolonistenhaus" aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, dem ältesten Haus des Ortes, untergebracht ist. Sie zeigt Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände sowie Fotos und Dokumente zur

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Ortsgeschichte und ist donnerstags und sonntags von 14.00 bis 17.00 Uhr geöffnet. Unter anderem hatten die Besitzer des unter Denkmalschutz stehenden Hauses Gegenstände eines Schumachers, eine Kaufmannswaage, ein Butterfaß und einen Dreschflegel zur Verfügung gestellt. Die Chronik des mehr als 400 Jahre alten Ortes vor den Toren Berlins beginnt mit der ersten urkundlichen Erwähnung von „im Arckenow" von 1579. Die Ausstellung untersteht dem Heimatgeschichtlichen Kabinett Köpenick, das auch Führungen und ortsgeschichtliche Vorträge vermittelt (Telefon 6 56 2123). SchB.

Zur Phonothek in der Berliner Stadtbibliothek Die Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Straße im Bezirk Mitte sammelt seit 1955 Schallplatten, die seit 1966 auch öffentlich ausgeliehen werden. Die Phonothek verfügt mittlerweile über etwa 60 000 Schallplatten, darunter mehr als 200 Phonographenwalzen vom Ende des 19. Jahrhunderts. 1973 wurde der Phonothek eine Linguathek eingegliedert, in der 160 verschiedene Kurse in 36 Sprachen vermittelt werden können. Seit 1975 werden auch Tonbandkassetten ausgeliehen, deren Bestände sich auf 3000 Stück belaufen. Seit dem Frühjahr 1983 stellen Dr. Heinz Werner, Direktor der Berliner Stadtbibliothek, und Dr. Werner Goldhan, Direktor der Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek, in der Reihe „da capo" des „Berliner Schallplattentheaters" große Sänger und Instrumentalisten aus Gegenwart und Vergangenheit vor. SchB.

Das Historische Archiv der Technischen Fachhochschule Berlin Das Historische Archiv der Technischen Fachhochschule (TFH) wurde 1975 eingerichtet. Es arbeitet mit folgenden Aufgaben: a) Zentrale Archivierung von Text- und Bildmaterial, Tonträgern und Schaustücken in Zusammenhang mit den Vorläufereinrichtungen der TFH, nämlich den ehemaligen Ingenieurschulen bzw. -akademien Bauwesen (Schöneberg und Neukölln), Beuth, Gauß und Gartenbau; b) Erarbeitung einer historischen Gesamtdarstellung dieser Ingenieurschulen; c) Archivierung bezüglich der TFH seit Gründung; d) Öffentlichkeitsarbeit e) Aufbau einer Dokumentation durch Sammlung von Schrift- und Bildgut über sämtliche im Stadtgebiet des ehemaligen Groß-Berlin ansässig gewesenen bzw. noch vorhandenen Bildungseinrichtungen technischer Prägung (mit Ausnahme der TH/TU Berlin und des Berufsschulwesens). Hiermit wird der Grundstock für eine umfassende Historiographie des technischen Bildungswesens in Berlin über einen Zeitraum von drei Jahrhunderte geschaffen. Archiv- und Sammlungsbestand I. Schularchive (19. und 20. Jahrhundert): Archiv der 1. Handwerkerschule, Bau-Archive Kurfürstenstraße, Leinestraße und Vereinigte Bauschulen, Beuth-Archiv, Gauß-Archiv, Gartenbau-Archiv und TFH-Archiv II. Ingenieurarchiv (20. Jahrhundert) III. Schulsammlungen (18. bis 20. Jahrhundert): Akademien, Handwerkerschulen, Gewerbeschulen, Fachschulen, Meisterschulen, Bauschulen, Ingenieurschulen (West- und Ost-Berlin) und Fachhochschulen IV Sonstige Sammlungen: Lehrbücher, Dia-Sammlung „Entwicklung der Bautechnik" (inkl. Baugeschichte Berlins), Bildmappen für Architektur und Gartenbau; Sammlung biographischen Materials über die mit den Vorläufereinrichtungen der TFH verbundenen Leitfiguren C. P. W. Beuth, C. F. Gauß, F. Grashof und P. J. Lenn6 Die Schularchive und -Sammlungen umfassen z. Z. 75 Institutionen. Leitung: Professor Dipl.-Ing. Dipl.-Kaufmann Hans J. Wedefeld. Sprechzeit: Während des Semesters: dienstags 9.30 Uhr bis 12.00 Uhr. Anschrift: Technische Fachhochschule Berlin, Historisches Archiv, Luxemburger Straße 10, 1000 Berlin 65, Haus Grashof, Raum 802. Telefon 45 04-4 20 oder 45 04-219/335. SchB. 92

Nicolai-Zimmer im Märkischen Museum wiedereröffnet Zum 250. Geburtstag des Berliner Schriftstellers, Kritikers, Buchhändlers und Verlegers Christoph Friedrich Nicolai hat das Märkische Museum dessen Zimmer mit einer neuen Ausstellung wiedereröffnet. Originalmöbel aus seinem ehemaligen Wohnhaus in der Brüderstraße, Buchausgaben, Gemälde und Graphiken erinnern an Leben und Werk des bedeutenden Berliner Aufklärers. SchB.

Studienfahrt nach Göttingen Die diesjährige Exkursion führt vom 16. bis 18. September 1983 nach Göttingen. Es ist das folgende Programm vorgesehen: Freitag, 16. September 1983 6.30 Uhr Abfahrt an der Berliner Bank, Hardenbergstraße 12.00 Uhr Ankunft in Göttingen, gemeinsames Mittagessen 13.00 Uhr Ankunft bei Sartorius, Information über das Unternehmen (Dr. Chr. Sartorius) 13.45 Uhr Betriebsbesichtigung (Dr. Chr. Sartorius, E. Knothe, Dr. Schmeisser) 15.30 Uhr Kaffeepause bei Sartorius 19.30 Uhr Gemeinsames Abendessen Sonnabend, 17. September 1983 9.00 Uhr Städtisches Museum, Diavortrag von Kustos Dr. J.-U. Brinkmann, anschließend Gang durch die Stadtgeschichtliche Abteilung (Museumsdirektor Dr. Schmeling, Herr Schütte, M.A., Dr. Brinkmann) Anschließend Stadtrundgang unter Führung von Damen und Herren des Städtischen Museums bzw. des Göttinger Geschichtsvereins 11.30 Uhr Empfang durch Oberbürgermeister Professor Dr. Rinck im Alten Rathaus 12.30 Uhr Mittagessen 14.30 Uhr Besichtigung von Muthaus und Burg Hardegsen (Archivar L. Simon) und des Geigenmuseums (Führung durch dessen Besitzer Dr. Eilermeier) Anschließend Kaffeetafel in der Burgschenke 17.00 Uhr Besichtigung der 850 Jahre alten romanischen Klosterkirche im Töpferdorf Fredelsloh 18.00 Uhr Besuch der Burg Plesse, Führung Dr. Last bzw. Gemeindedirektor Lies, Geschäftsführer der Freunde der Burg Plesse e.V. Anschließend Abendessen im Rittersaal der Burg Plesse Sonntag, 18. September 1983 9.30 Uhr Aufbruch 10.00 Uhr Besuch des Grenzdurchgangslagers Friedland mit Vortrag über Geschichte, Aufgaben und Bedeutung des Lagers 11.00 Uhr Europäisches Brotmuseum, Mollenfelde 12.30 Uhr Schloß Berlepsch mit gemeinsamem Mittagessen 15.30 Uhr Kaffeepause ca. 21.00 Uhr Rückkehr Änderungen bleiben vorbehalten, die noch offenen Lokalitäten für die verschiedenen gemeinsamen Mahlzeiten werden rechtzeitig mitgeteilt. Die Übernachtung ist im Hotel Rennschuh, Kasseler Landstraße 93,3400 Göttingen, vorgesehen; sämtliche Zimmer verfügen über Dusche und WC, der Bettenpreis beträgt 40 DM einschließlich Frühstück pro Nacht. Die Sartorius GmbH verfügt u. a. über die Geschäftsbereiche Präzisions- und Analysenwaagen, Mikrobiologische Laborfiltration, Klinische Chemie und Medizintechnik und ist ein für die Universitätsstadt Göttingen repräsentatives Unternehmen. Für das Abendessen auf der Burg Plesse sind wahlweise vorgesehen: Smoki-Matjes (9,50 DM). Plessefilet bzw. Herrenplatte (jeweils zwei Schweinefilets, 10,50 DM). Anmeldungen sind formlos bis zum S. August 1983 an Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, zu richten, wobei dieser Termin auf die Rückkehrer aus den Schulferien Rücksicht nimmt. Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich auf 81,50 DM je Person, er schließt die Omnibusfahrt, die Ausflüge, alle Besichtigungen, Führungen und Vorträge ein. SchB.

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Buchbesprechungen Heinz Knobloch, Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn. - Lizenzausgabe im „Arsenal" 1982, ursprünglich erschienen im Verlag „Der Morgen", Berlin (Ost), 1981, 449 Seiten, mit einem Personenregister, Literaturangaben, zahlreichen Abbildungen und einem Abbildungsverzeichnis. Die Darstellung ist ein in der DDR modernes Buch, indem es auf eine geschlossene Biographie verzichtet und dafür in der Manier der Aneinanderreihung von Mosaiksteinen zwischen Gegebenheiten der Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt. Der Vf. läßt den Leser an der Entstehung seines subjektiv erfaßten Mendelssohn-Bildes teilnehmen. Dazu führt er ihn durch die noch sichtbaren Reste einer Mendelssohn-Vergangenheit im friderizianischen Preußen in Alt-Berlin. Der Titel „Herr Moses in Berlin" ist mit Bedacht so formuliert und deutet auf eine besondere Erkenntnismethode: Der Vf. will auf der Spurensuche im trümmerhaften Ost-Berlin einen solchen Mendelssohn vergegenwärtigen, wie er dem heutigen sozialistischen Bewußtsein dort erscheint. Dies involviert eine parteiliche Betrachtungsweise, wie sie der Diamat als einzig wahrer Standpunkt beansprucht, von dem aus Vergangenheit überhaupt betrachtet werden darf. In der Absicht, jeder Gedenktafelverehrung aus dem Weg zu gehen und im Erzählen eine Gestalt zu schaffen, die jeder Leser frisch ergreifen kann, geht der Vf. etwas leichtfertig mit der historischen Wahrheit um, obschon er ein ausgiebiges und weitverzweigtes Quellenstudium (auch in West-Berlin) betreibt und bisher wenig bekannte Funde - z. B. im Gleim-Haus in Halberstadt - auftut. Es geht dem Vf. nicht um das Modell zum „Nathan", sondern um eine lautere geistige Figur, die aus einer gesellschaftlichen Außenseiterposition als nur geduldeter Jude im absolutistischen Staat durch gewaltfreie Selbstbehauptung und unbedingte Souveränität eine anerkannte Autorität wird, an der nie jemand vorbei kann und die eigentlich ihren Platz in der Akademie der Wissenschaften hätte einnehmen sollen. (Die Ablehnung Friedrichs des Großen, seine Berufung dorthin zu bestätigen, trug ihm seine Todeskrankheit ein.) Die sprunghafte Darstellung macht das Buch schwer lesbar, zumal für jugendliche Leser, die sich in der historischen Topographie des alten Berlin nicht auskennen. Es fordert auch die Geduld, die Einseitigkeit hinzunehmen, mit der das friderizianische Staatssystem als das „sklavischste in ganz Europa" abgewertet wird. Der Vf. spricht stets nur von „Eff Zwei" und bezichtigt den König der sarkastischen Launen und hinterhältigen Praktiken, deutsche Philosophie zu erniedrigen. Der Leser erhält aber ein genaueres Bild von Moses Mendelssohns geistiger Wirksamkeit, als es die gängigen Kenntnisse geben. Mendelssohn war nicht nur der Lessing- und Nicolai-Freund, sondern als außergewöhnlicher Autodidakt ein Reformator des orthodoxen Judentums seiner Zeit und ein Bildner seiner eignen jüdischen „Nation", die er an die deutsche Sprache und die Dichtung der Aufklärung heranführte. Der Vf. zitiert nicht unberechtigt Heines Hinweis auf die Ähnlichkeit seiner Bedeutung mit der Luthers. Zum ersten Mal seit dem Zeitalter der Kreuzzüge befruchteten jüdischer und deutscher Geist einander. Und wie im 13. Jahrhundert entstand als Frucht „Menschenfreundlichkeit", das ist Toleranz aus Vernunft und als Herzensangelegenheit des Gebildeten und der Fürsten. Als ein sozial Geachteter und als unbestechlicher Richter von umfassender philosophischer Bildung nimmt „Herr Moses", wie man ihn nennt, schließlich seinen Platz im aufgeklärten Berlin ein. Durch seine Söhne und den ihm befreundeten Arzt Dr. Markus Herz leitet er über in das Zeitalter der Berliner Salons. Allerdings hat er - befangen in der Philosophie seiner Jugend - weder Goethe noch das Zeitalter der Romantik verstanden. Hier liegen seine Grenzen. Das Menschenfreundsein hat der Vf. überzeugend geschildert; unbefriedigend aber bleibt die Frage beantwortet, was Aufklärung in Preußen unter Lessing und Nicolai gewesen sei; denn diese Suche verstellt sich der Vf. mit seiner Einseitigkeit dem Phänomen Preußen gegenüber. Verdienstlich ist die Würdigung seiner „Phädon"-Übersetzung und der Übertragung der Psalmen sowie seiner Selbstdarstellung des Judentums. - Zwischen den Zeilen kann der aufmerksame Leser Seitenhiebe gegen das ideologische System heraushören, unter dem die Untersuchung entstanden ist. Gerade wegen dieser Besonderheiten ist es ein lesenswertes Buch. Christiane Knop

Gabriele und Helmut Nothhelfer: Zwischenräume. Menschen in Berlin 1973-1982. Mit einem Text von Michael Zimmermann. Herausgegeben von Ann und Jürgen Wilde. DuMont Buchverlag Köln 1983, Leinen, 160 Seiten, 58 DM. Nicht der einzelne Mensch, sondern Menschen, die sozusagen unter die Leute gegangen sind, werden von Gabriele und Helmut Nothhelfer mit ihren Fotos eingefangen. Dennoch sind dies keine Schnappschüsse 94

und auch keine Porträts, sondern Bilder von Menschen, die ihre Aufmerksamkeit anderen zuwenden oder einfach vor sich hinträumen. „Diesem Augenblick des Innehaltens verhelfen sie (die Nothhelfers) mit ihren Fotos zur Dauer." Dies ist dem Vorwort von M. Zimmermann zu entnehmen, der auch darauf hinweist, daß auf den Bildern die eigentlichen Berlin-Symbole fehlen, daß man Berlin aber auf den zweiten Blick an dem Altersgegensatz zwischen der Großvätergeneration und den Jugendlichen als der Hauptmasse der Bevölkerung Berlins erkennt. „Aber Berlin ist vor allem eine Großstadt, die im Unterschied zu manchen westdeutschen Großstädten eine ,gute Gesellschaft', zu der man gehört oder nicht gehört, mit bestimmten Standards, Verhaltensweisen und äußeren Merkmalen nicht hat." Im übrigen hat der mehr in historischen Kategorien denkende Rezensent nie gewußt, daß man Fotografieren auch so philosophisch betrachten kann. Die Gesichter erscheinen in der Tat merkwürdig abweisend, träumerisch oder verkniffen, zuweilen gar entseelt, obwohl M. Zimmermann dies als „das bürgerliche Prinzip der distanzierten Würde" deutet. Am freundlichsten kommt einem fast das einzige Foto vor, das nur die Rückenpartie eines Mädchens zeigt (Nr. 63), sonst ist alles en face aufgenommen worden. EinrichtigesLachen setzt allerdings den Schlußpunkt unter das Buch. Es stammt (im Gegensatz zu dieser Fotografie) von Gabriele Nothhelfer selbst (S. 155). Die Nothhelfers holen sich erst nach der „heimlich" entstandenen Aufnahme das Einverständnis ihrer Objekte ein. Die Künstler bitten darum, nicht ihnen die Schuld zu geben, wenn an ihren Bildern „ein Moment von Traurigkeit" zu spüren ist. Die beste Kennzeichnung ihrer hier sichtbar gewordenen Kunst stammt von den Nothhelfers selbst: „Die Zwischenräume, die uns von den anderen trennen, sind durchsichtig, aber inwieweit sind sie durchlässig? Diese Frage ist oft das eigentliche Thema unserer Fotografien. In der Menge versucht der einzelne, Distanz zu wahren. Niemand möchte etwas von sich preisgeben oder verletzlich wirken. Unangefochten will jeder seiner Wege gehen. Daraus erwächst die trennende Kälte, die besonders in den Großstädten, so auch in Berlin, spürbar ist." H. G. Schultze-Berndt

Georg Holmsten: Deutschland Juli 1944. Soldaten, Zivilisten, Widerstandskämpfer. Droste Verlag Düsseldorf, 1982, 160 Seiten, 153 Abbildungen, 48 DM. Unser Mitglied G. Holmsten, aus vielen auch historischen Büchern und dank seiner sechs Baedeker Berliner Bezirke bekannt, legt hier sozusagen den Teil seiner Autobiographie vor, der sich mit seiner Rolle beim Widerstand als designierter Leiter des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) befaßt. Er schildert die Geschichte des Bendlerblocks und führt auch in die Militärhistorie der Weimarer Republik ein (wem ist es heute ohne weiteres geläufig, daß das Kabinett Wilhelm Marx wegen seiner Zusammenarbeit mit der Roten Armee gestürzt wurde?). Der Autor widersteht dem Versuch, sich zu heroisieren, und legt dar, wie er mit Hilfe seiner Graue-Maus-Theorie den Schergen bei allen Verhören widerstehen konnte (hier setzte für ihn eigentlich erst der „Widerstand" ein). Zwischengeschaltete Bildseiten dienen der Illustration der allgemeinen Lage im Sommer 1944. Die Bilder sind gut gewählt, so daß man sich manchmal einen Nachweis wünschte. Ein Irrtum ist zu korrigieren: auf Bild 133 beglückwünscht nicht Reichsjugendführer B. von Schirach Hitler zum überstandenen Attentat; in dieser Funktion war er schon längst von A. Axmann und dieser von H. Lauterbacher abgelöst worden, um den es sich wohl handelt. Eine Chronik der Tage vom 1. Juni bis 31. August 1944 beschließt dieses Buch, das die Geschichte des 20. Juli mit derjenigen eines Mannes verknüpft, dem beim Gelingen eine wichtige Rolle zugekommen wäre, H. G. Schultze-Berndt

Hildegard Knef: So nicht. Albrecht Knaus Verlag, Hamburg. 320 Seiten, Leinen, 34 DM. In diesem Buch - einem Gemisch aus Autobiographie und Roman - beschreibt Hildegard Knef insbesondere das Schicksal ihres Bruders, seinen Kampf ums Weiterleben nach einem Mordanschlag, seinen Durchhaltewillen, getreu seiner Parole: So nicht. Doch auch für sie selbst gilt dies, auch sie wird gebeutelt von immer neuen Schicksalsschlägen, die sie allerdings geradezu magisch anzuziehen scheint, sich aber nie unterkriegen läßt. Das Buch liest sich wie ein Kriminalroman, doch am Ende muß man einem Ausspruch ihres Bruders zustimmen, der einmal meint: er wie seine Schwester könnten weder mit Geld noch mit Menschen umgehen. Irmtraut Köhler 95

Veranstaltungen im III. Quartal 1983 1. Sonntag, den 17. Juli 1983,10.30 Uhr: „Felder, Wiesen, Wald, Wasser und ländliche Bauten eine sommerliche Begehung einer märkischen Landschaft am Rande der Großstadt". Endpunkt Dorfaue Heiligensee. Leitung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt Ruppiner Chaussee 377, am Meilenstein. Fahrverbindungen: S-Bahnhof Heiligensee, Bus 14, Haltestelle Bahnhof Heiligensee, Hennigsdorf er Straße. 2. Dienstag, den 19. Juli 1983,14.30 Uhr: Sommerausflug und Streifzug durch die Geschichte der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe mit Besichtigung. Treffpunkt vor dem Hauptpoital. Anschließend Gelegenheit zum Kaffeetrinken im Blockhaus. Sommerpause im Monat August. 3. Freitag, den 2. September 1983,15.00 Uhr: „Rund um die Dorfaue Marienfelde". Leitung: Herr Günter Wollschlaeger. Treffpunkt vor dem Westportal der Dorfkirche. 4. Studienfahrt nach Göttingen vom 16. bis 18. September 1983. Leitung: Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt. Programm und Hinweise auf der letzten Seite. Zu den Vorträgen im Rathaus Charlottenburg sind Gaste herzlich willkommen. Die Bibliothek ist zuvor jeweils eine halbe Stunde zusätzlich geöffnet. Nach den Vorträgen Beisammensein und Diskussion im Ratskeller. Die Mitglieder, die Interesse daran haben, ihre MITTEILUNGEN binden zu lassen, mögen sich bitte in der Bibliothek bei Herrn Bunsas melden.

Im II. Vierteljahr 1983 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Christian Bornemann, Beamter Suchlandstraße 11, 1000 Berlin 41 Bernd Heibel, Beamter Alt-Moabit 84 b, 1000 Berlin 21 Charlotte Pangels, Schriftstellerin Kanarische Inseln/Spanien, La Matanza de Acentejo, Galle Limeras 46

Anneliese Stade Maxhofstraße 9 a, München 71 (Gründahl) Hans-Joachim Wollschläger, Dipl.-Ing. Ernst-Lemmer-Ring 161, 1000 Berlin 37 (Grünert)

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 323 2835; vom Vorstand beauftragt. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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^MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 79. Jahrgang

Oktober 1983

Heft 4

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wäl - der! Heil dir meinBrandenbur-ger Land! Hoch Land! 2. Uralte Eichen, dunkler Buchenhain, l-'grrünende Birken umrahmen den Wiesenrain,:! Steig« hoch... 3. Bauern und Bürger vom märkischen Geschlecht !•' hielten stets zur Heimat in märkischer Treue fest.-! Steige hoch... 4.„Hie Brandenburg- allwege!" sei unser Losungswort, h der Heimat die Treue in allen Zeiten fort..-! Steige hoch,.. Mit freundlicher Genehmigung des Robect-Rühie-Vetlages, München

/Sechzig Jahre „Märkische Heide" Das Lied und sein Schöpfer - Ein Kapitel Zeitgeschichte

C/ Von Otto Uhlitz Das Heimatlied und sein Schöpfer Märkische Heide, märkischer Sand sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland. Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand, hoch über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburger Land! So lautet die erste Strophe des volkstümlichen Liedes, das einmal eines der am meisten gesungenen Lieder in Deutschland und so etwas wie eine „Nationalhymne" der Brandenburger war'. Ich verbinde mit diesem Lied vor allem die Erinnerung an meine Miiitärzeit. Wir haben das Lied oft und gern gesungen, freiwillig und ohne Zwang, denn was gesungen wurde, bestimmte keine Heeresdienstvorschrift, kein Offizier und Unteroffizier, sondern - wenn der Wunsch, ein Lied zu singen, geäußert wurde oder das Kommando „Ein Lied" kam - der rechte Flügelmann des ersten Gliedes der Marschkolonne. In dieser Eigenschaft habe ich mich oft befunden. Mir gefiel die Melodie. Der Text sprach mich unmittelbar an, bin ich doch in der Mark groß geworden, am Rande dunkler Kiefernwälder. Grünende Birken gab es ebenfalls, natürlich auch märkischen Sand. Der rote Adler war auch etwas anderes als das Hakenkreuz. Er beschäftigte schon meine kindliche Phantasie, war er doch - auf dem Schild der Feuersozietät - an fast jedem Gebäude in der Mark zu sehen. Er schmückte auch eine alte Landkarte, die es bei uns zu Hause gab. Und auf dieser Landkarte hatten die Umrisse der Mark die Form eines Adlers. Ich war der Meinung, daß da irgendwelche Zusammenhänge bestehen müßten. Über den Textdichter und Komponisten haben wir uns damals keine Gedanken gemacht. Für uns war die „Märkische Heide" ein altes märkisches Volkslied oder ein Lied, das zum mindesten aus der Zeit Theodor Fontanes und seiner Wanderungen stammte. Daher war ich überrascht, als vor wenigen Jahren einer meiner Söhne, der sich als Stadtführer ein Zubrot verdient, von seinem „Kollegen" Gustav Büchsenschütz erzählte, der das Lied „Märkische Heide" geschaffen habe und trotz seines hohen Alters (Gustav Büchsenschütz wurde 1982 80 Jahre alt) fast täglich auf Achse sei, um Touristengruppen durch Berlin zu begleiten. Ich habe Gustav Büchsenschütz dann bald selbst kennengelernt und als temperamentvollen Erklärer unserer Stadt und ihrer Geschichte erlebt. Seine echt berlinische Art kommt an. An sich hätte er diese Tätigkeit als Stadtamtmann i. R. und ehemaliger Leiter des Sport- und Bäderamtes des Bezirks Steglitz gar nicht nötig: Es macht ihm aber Spaß, sein heimatkundliches Wissen den meist westdeutschen Gästen zu vermitteln. Nicht ohne Grund ist er als erster Stadtführer in Berlin und wohl sogar in der gesamten Bundesrepublik 1975 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Weil das Lied „Märkische Heide" auch in der NS-Zeit gesungen wurde, meinen einige, es sei ein „Nazilied" gewesen2. Davon kann nach der Entstehungsgeschichte und nach dem Text keine Rede sein. Das Lied besingt schlicht und einfach die Schönheit der Mark Brandenburg in einem dem Wesen ihrer Landschaft und ihrer Menschen angemessenen Ton. Text und Melodie sind von Anfang an verständlich, ja selbstverständlich. Man spürt: Das Lied kommt aus dem

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Herzen, es gibt ungekünstelt die Eindrücke wieder, die der Schöpfer des Liedes bei seinen Wanderungen durch das Brandenburger Land in sich aufgenommen hat. Der Text enthält nicht eine einzige martialische Zeile. Es ist ein Heimatlied und enthält ein deutliches Bekenntnis zur Heimat. Wer ein solches Bekenntnis als „nazistisch" oder „faschistisch" diffamiert, sollte sich mit dem hohen Stand der heimatkundlichen Forschung und der Heimatpflege in der DDR vertraut machen (vgl. nur die bemerkenswerte, im Akademie-Verlag erscheinende Buchreihe „Werte unserer Heimat"). Er blättere vor allen Dingen einmal in den Liederbüchern der Jungen Pioniere, der FDJ, der Schulen und der Nationalen Volksarmee („Heimat, dich werden wir hüten") und beschäftige sich mit den von Johannes R. Becher verfaßten und von Hanns Eisler vertonten Heimatliedern. Die erste Strophe eines dieser Lieder, die ich hier nur als Beispiel zitieren möchte3, lautet: Deutsche Heimat, sei gepriesen: Du, im Leuchten ferner Höh'n, in der Sanftmut deiner Wiesen, deutsches Land, wie bist du schön! Das Gewitter ist verzogen und verraucht der letzte Brand. Weltenweiter Himmelsbogen wölbt sich strahlend über dich, unser Heimatland. Ein anderes Becher/Eisler-Lied beginnt mit: „Wieder ist es Zeit zum Wandern, und wir gehen Hand in Hand, und der eine zeigt dem andern unser schönes deutsches Land."4 Damit will ich es bewenden lassen. Für den, der sich schnell informieren will, empfehle ich das 1982 in 6. Auflage erschienene Wanderliederbuch „Zieh mit mir hinaus"3. Moßmann und Schleuning haben beispielhaft das in DDR-Liederbüchern abgedruckte Lied „Unsere Heimat" mit der Musik von Hans Naumikat und dem Text von Herbert Keller näher beleuchtet und dieses Lied, in dem die Bäume im Walde, das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Felde, die Vögelein in der Luft, die Fische im Wasser und einiges mehr aufgezählt werden, nicht ganz zu Unrecht mit einem zu fast jeder Landschaft passenden „Ludwig-Richter-Holzschnitt" verglichen5. Man stelle doch einmal Liedern dieser Art das Lied von der „Märkischen Heide" gegenüber. Hier gibt es, wie schon Klaus-Konrad Weber festgestellt hat 6 , keine „subjektiven Ergüsse", keine „Appelle an eine nur imaginäre Heimat", „nichts Verschwommenes", keine undifferenzierte Heimattümelei. Hier wird vielmehr „mit wenigen Strichen . . . in sachlicher Weise" unverkennbar und unverwechselbar eine reale Heimat, unsere Mark Brandenburg, angesprochen. Wer eine andere Heimat einbeziehen will, muß der Melodie einen anderen Text unterlegen, wie das z. B. die Tiroler getan haben, die mit den Märkern den roten Adler als Wappentier gemeinsam haben. Sie sangen oder singen noch heute7 nach der Melodie von Büchsenschütz: Riesige Berge, steile Felsenwand sind Tirolers Freude, sind sein Heimatland. Steige hoch, du roter Adler, hoch über Fels und Wand, hoch über firnenweiße Berge! Heil dir, mein Südtiroler Land! 99

Büchsenschütz hat unsere alte Mark und nicht eine nationalsozialistische Mark Brandenburg besungen, denn 1923, als das Lied entstand, gab es in der Mark nicht eine einzige NS-Organisation, und Hitler war so gut wie unbekannt. Und wir haben, als wir das Lied sangen, auch nicht an den NS-Gau gedacht, zumal dieser nicht „Mark Brandenburg", sondern „Kurmark" hieß. Das Wort „Kurmark" kommt im Text des Liedes nicht vor. Büchsenschütz hat über die Entstehung des Liedes in der Februarausgabe 1934 der Zeitschrift „Brandenburger Land"8 berichtet, und zwar objektiv und ohne sich bei den Nazis anzubiedern. Insoweit unterscheidet er sich von vielen „Musikschaffenden", die sich mit den Nationalsozialisten arrangierten9. Daß er nicht verschweigen konnte, daß das Lied auch auf den großen Veranstaltungen der NSDAP gesungen wurde, liegt auf der Hand. Gustav Büchsenschütz hat, wie er damals und auch später verschiedentlich berichtete, das Lied geschrieben, weil ihm bei seinen vielen Wanderfahrten durch die deutschen Lande bewußt geworden war, daß die Mark Brandenburg kein eigentliches Heimatlied besaß. Überall hörte man Heimatgesänge, am Rhein, in Tirol, an der Weser und an der Saale - nur von der brandenburgischen Heimat kündete kein volkstümliches Lied. Die wenigen märkischen Lieder eigneten sich nur für geschulte Chöre, nicht aber zum Singen beim Wandern. Als er 1923, 21 Jahre alt, für eine freie Wandergruppe der Bismarckjugend, der Jugendorganisation der Deutschnationalen Volkspartei, einen Heimabend ausrichten mußte, kam ihm der Gedanke, selbst ein Lied zu schaffen. Aufseiner von ihm unzertrennlichen Klampfe summte er sich die Töne zusammen und schrieb sie, da ihm das Notenschreiben nicht geläufig war, in Tonsilben nieder „e - eis - d - eis - h" und darunter fein säuberlich die Worte „Märkische Heide". Ebenso stellte er die Verse zusammen10. Am Himmelfahrtstag des Jahres 1923, dem 10. Mai, also vor nunmehr 60 Jahren, trug er das Lied seinem Freundeskreis in der Jugendherberge Wolfslake am Krämer (südöstlich Vehlefanz im Havelland) vor. Nun kann man von der Bismarckjugend halten, was man will - eine Naziorganisation war sie jedenfalls nicht. Einem 1935 in der Zeitschrift „Deutscher Kulturwart" veröffentlichten Artikel" kann entnommen werden, wie Büchsenschütz zur Bismarckjugend gekommen ist. Das hing mit seinen ersten Ausflügen zusammen, die ihn, wie könnte es bei einem Berliner anders sein, in die Müggelberge führten. Die Müggelberge und der nahe gelegene Teufelssee übten eine besondere Anziehungskraft auf ihn aus, schon wegen der gruseligen Geschichte von der verwunschenen Prinzessin, die im See einen Schatz hütet und den einsamen Wanderer in die Tiefe locken will. „Wenn wir Kinder sehr artig waren", so schrieb Büchsenschütz, „dann durften wir auf den Aussichtsturm klettern." Neben dem Aussichtsturm auf den Kleinen Müggelbergen gab es die imposante steinerne „Bismarckwarte" auf den Großen Müggelbergen, von der aus man einen besonders weiten Blick auf die märkische Landschaft hatte. Am 1. April, dem Geburtstag des ersten Reichskanzlers, brannte oben auf der Warte in einem eigens dafür erbauten „Feuerbecken" das „Bismarckfeuer", das die kindliche Phantasie besonders anregte. Kein Wunder also, daß sich der junge Schüler damals von der Bismarckjugend besonders angesprochen fühlte und sich ihr anschloß (womit erwiesen ist, welche harmlosen oder sogar banalen Gründe die Mitgliedschaft in einer Organisation oft haben kann). Damals, als am Himmelfahrtstag des Jahres 1923 am Krämerwald zum erstenmal das Lied von der „Märkischen Heide" erklang, ahnte niemand, daß es einmal eine so große Verbreitung finden würde. Es verdankte sie, wie Büchsenschütz 1934 schrieb, in erster Linie der märkischen Wandervogelbewegung. Eine sangesfreudige Gruppe übernahm es von der anderen. Das Lied erlebte die typische Verbreitung eines Volksliedes: Es wurde mündlich überliefert, Textdichter und Komponist blieben unbekannt. Aus diesem lebendigen Gebrauch erklären sich, wie Büchsenschütz ebenfalls schon 1934 feststellte, einige Abweichungen vom Text und von der 100

Älteste gedruckte Notenfassung des Liedes aus dem Jahre 1924 Melodie in der ursprünglichen Form. Das Lied war seinem Schöpfer ganz einfach davongelaufen. Es wurde von ihm erst 1932 wieder eingeholt, als sich in Robert Rühle ein Verleger fand, der es drucken ließ und fortan wirtschaftlich verwertete. Inzwischen hatte es aber eine weit über die Wandervogelbewegung und die bündische Jugend hinausgehende Verbreitung gefunden. Ohne Zutun seines Schöpfers und ohne, daß er das gewollt hätte, war das Lied trotz seines unpolitischen Inhalts von den völkischen Verbänden und schließlich auch von der SA in Beschlag genommen worden. Exkurs: Alte Melodien, neue Texte Dieses Schicksal teilte es allerdings mit vielen anderen Liedern. Damals wurde fast das gesamte Liedgut der bündischen Jugend und der Volksliedbewegung von der Hitlerjugend übernommen12. Auch die meisten Kampflieder der Arbeiterbewegung wurden von der nationalsozialistischen Bewegung „umfunktioniert". Die „Märkische Heide" stellt insoweit keine Besonderheit dar. In diesem Zusammenhang muß vor allen Dingen an das Schicksal des revolutionären Arbeiterliedes „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" erinnert werden, das nicht nur mit dem abgewandelten Text „Brüder in Zechen und Gruben", sondern sogar mit dem ursprünglichen Text von der SA und anderen NS-Verbänden gesungen wurde. Mit dem ursprünglichen Text ist es im Anhang zu „Köhlers Taschen-Liederbuch für das deutsche Volk"13, übrigens zusammen mit der „Märkischen Heide", im Abschnitt „Lieder der nationalen Erhebung" abgedruckt. Mit dem ursprünglichen Text steht es als „Kampflied der SA" auch in „Uns geht die Sonne nicht unter, Lieder der Hitlerjugend, Köln 1934" M. Das Leunalied („Bei Leuna sind viele gefallen, bei Leuna floß Arbeiterblut") wurde sogar mit der Ortsbezeichnung Leuna auch in SA-Kreisen gesungen, obwohl es zur Zeit des Kommunistenaufstandes in Leuna noch keine SA gab15. Aus dem Lied vom kleinen Trompeter („Von all' unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut wie unser kleiner Trompeter, ein lustig' Rotgardistenblut") wurde ein Horst-Wessel-Gedenklied („Von all' unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut wie unser Sturmführer Wessel, ein lustiges Hakenkreuzlerblut"). In dem Lied „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren" wurde der Kehrreim geändert. Anstatt „dem Karl Liebknecht, dem haben wir's geschworen" sang man „dem Adolf Hitler..." Aus dem sogenannten „Büxenstein-Lied" („Im Januar um Mitter101

nacht ein Spartakist stand auf der Wacht") mit der auf Berlin bezogenen 7. Strophe „O Spreeathen, o Spreeathen, viel Blut, viel Blut hast du gesehen! In deinem Friedrichshaine ruht so manches tapfere Spartakusblut" wurde: „Durch Groß-Berlin marschieren wir. Für Adolf Hitler kämpfen wir! Die rote Front, brecht sie entzwei! SA marschiert - Achtung - die Straße frei!" Der Kundige weiß natürlich, daß wir hier das beliebte Weltkrieg-I-Soldatenlied „Argonnerwald, um Mitternacht, ein Pionier stand auf der Wacht" vor uns haben, das allerdings auch schon Vorgänger hatte: „Zu Kiautschou um Mitternacht, stand ein Matrose auf der Wacht" und „O Regiment, mein Heimatland, meine Mutter hab' ich nicht gekannt". Ebenso wie das Büxenstein-Lied stammen fast alle von den Nazis mißbrauchten Arbeiterkampflieder - eine Ausnahme bildet „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", das auf ein altes russisches Volks- oder Studentenlied zurückgehen soll16 - aus dem Fundus älterer, wohlbekannter Soldatenlieder. Für unsere Beispiele sind außer „Argonnerwald" zu nennen: „In Bosnien sind viele gefallen", „Von allen Kameraden war keiner so frohgemut als unser kleiner Trompeter - ein jung' Husarenblut", „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren. Auf, auf zum Kampf, zum Kampf fürs Vaterland. Dem Kaiser Wilhelm haben wir's geschworen, dem Kaiser Wilhelm reichen wir die Hand." 17 Die Kommunisten hatten keine Berührungsängste, als sie diese Soldatenlieder nach textlichen Abänderungen übernahmen. Sie hatten auch keine Hemmungen, sie nach der „Entweihung" durch die Nazis und dem Sturz des NS-Regimes wieder in ihr Liederrepertoire aufzunehmen. Die Liedforschung der DDR geht der Text- und Melodiengeschichte der einzelnen Lieder ganz penibel nach, behandelt jedoch ihren Mißbrauch durch die Nationalsozialisten nicht' 8 . Ebenso verfuhr die deutsche Liedforschung zur Nazizeit. Sie verschwieg, daß die hier erörterten „Kampflieder der Bewegung" einmal Arbeiterkampflieder waren19. Das Marschlied „Durch Groß-Berlin marschieren wir" wurde als angeblich zeitgebundene Neuschöpfung unmittelbar auf das Kriegslied „Argonnerwald um Mitternacht" zurückgeführt; seine zwischenzeitliche Existenz als Arbeiterkampflied wurde nicht erwähnt, war aber den meisten Menschen in dieser Zeit durchaus noch vertraut. Diese Zusammenhänge sind den Jüngeren kaum bekannt. Das dürfte diesen Exkurs rechtfertigen. Das Heimatlied im Dritten Reich Der eigentliche Siegeszug der „Märkischen Heide" begann 1933, nicht weil die Nazis die Macht übernahmen, sondern weil in diesem Jahr der bekannte Operettenkomponist Paul Lincke das Wanderlied als Marschlied „arrangierte" und zwei einleitende Marschteile hinzukomponierte. Auch das ist ohne Wissen des Textdichters und Komponisten des Wanderliedes geschehen, wie sich aus einem Brief Paul Linckes vom 12. November 1936 ergibt, in dem es heißt: „Sehr geehrter Herr Büchsenschütz!... Weder ich noch meine Angestellten haben je behauptet, daß das Lied ,Märkische Heide' von mir ist, und auf Anfragen stets richtig gestellt, daß ich nur die Vorteile [einleitenden Teile, d. Verf.] des Marsches und die neue Harmonisierung und MarschOrchestrierung mit neuen Nebenmelodien geschrieben habe. Ich hängte also nicht nur das Trio 19a einfach an, sondern bearbeitete es mit richtigen Marsch-Effekten für Streich- und Militärmusik. Die Arbeit ist von allen maßgebenden Kapellmeistern und Musikern als hoch künstlerisch ge wertet worden, und jeder wird feststellen, daß die Melodie durch dieses MarschArrangement musikalisch veredelt wurde. Daß ich ohne Ihr Wissen den Marsch gemacht, ist nicht wahr. Herr Robert Rühle hat mir gesagt, daß er von Ihnen als Verfasser des Textes und [der] Musik alle Rechte erworben hatte und unter der Voraussetzung mich aufgefordert, den Marsch zu schreiben. Zur grundsätzlichen Feststellung der Angelegenheit werde ich jetzt der 102

Gustav Büchsenschütz. Texter und Komponist des Liedes „Märkische Heide, märkischer Sand", als Stadtführer 1982, 80 Jahre alt

Musikkammer (Rechtsbüro) den Fall übergeben, damit endlich Klarheit geschaffen und meine Person nicht mehr in unwürdiger Weise in die Sache hineingezogen wird. Heil Hitler! Paul Lincke" Gustav Büchsenschütz war hinsichtlich des vorletzten Satzes ganz anderer Meinung. Er glaubte, daß er dem Verleger mit den Verlagsrechten nicht zugleich seine Urheberrechte übertragen hatte und die Bearbeitung des Wanderliedes als Marschlied seiner Einwilligung bedurft hätte. Er verzichtete jedoch auf eine gerichtliche Auseinandersetzung, zumal die Tantiemen reichlich flössen, an denen nun allerdings auch Paul Lincke wegen der einleitenden Marschteile beteiligt war. Aus dem ersten Satz des Schreibens von Paul Lincke ergibt sich aber auch, daß Gustav Büchsenschütz insofern nach wie vor seinem Lied hinterherlaufen mußte, als nun plötzlich in Veröffentlichungen20 und Rundfunksendungen Paul Lincke als alleiniger Schöpfer genannt wurde. Büchsenschütz sah sich bis in den Krieg hinein veranlaßt, Rundfunksender, Zeitungen und Zeitschriften vom wahren Sachverhalt zu unterrichten, wofür er eine Art „Musterbrief' verwandte. Unterstützt wurde er bei der Wahrung seiner Rechte von dem Herausgeber und Verleger des Cottbuser Anzeigers, Albert Heine, der nicht müde wurde, gegen die „Unterschlagung" des wirklichen Dichters und Komponisten zu protestieren. Einem prominenten Nazi wäre das alles kaum passiert. Gustav Büchsenschütz war aber in den braunen Jahren keiner der professionellen „Liedermacher", die im Auftrage des Reichspropagandaministers Lieder am laufenden Band vertonten. Er war und blieb ein Laie, dem einmal ein großer Wurf gelungen war. Insoweit kann er mit dem französischen Pionierhauptmann Claude 103

Joseph Rouget de Lisle verglichen werden, der 1782 die Marseillaise schuf, oder mit dem Drechsler Pierre Degeyter, der 1888 die Internationale vertonte, deren Text allerdings von dem Arbeiterdichter Eugene Pottier stammt. Gustav Büchsenschütz war noch nicht einmal Mitglied der NS-Partei. Er war 1945 das, was er schon vorher war: Stadtinspektor beim Bezirksamt Steglitz von Berlin. Erst nach 1945 stieg er auf der Laufbahnleiter einige Sprossen höher und wurde Amtmann. Zunächst einmal wurde er jedoch 1943 eingezogen. Als Soldat konnte er nach seiner eigenen Melodie marschieren. In der Amerika-Gedenkbibliothek wird ein Teil der Korrespondenz des damaligen Vorsitzenden des Vereins für die Geschichte Berlins, Dr. Hermann Kügler, aufbewahrt. Darunter befinden sich auch einige Feldpostbriefe von Gustav Büchsenschütz, der mit Kügler eng befreundet war. Nach diesen Briefen war Büchsenschütz alles andere als ein begeisterter Krieger. In den Briefen geht es überwiegend um das Vereinsleben, um Vorträge und heimatkundliche Wanderungen, an denen Büchsenschütz nicht teilnehmen konnte, und um Veröffentlichungen des Vereinsvorsitzenden, die dieser ihm zugeschickt hatte. Alles vollkommen unpolitisch. Nur einen Satz möchte ich aus seinem Brief vom 25. Juni 1944 an den „lieben Freund Hermann" zitieren: „Ich habe Sehnsucht nach meiner Heimat Berlin - und wenn es auch nur Trümmer sind." „Märkische Heide" war nach 1933 ohne Zweifel eines der am meisten gesungenen Lieder, nicht nur in Berlin und Brandenburg, sondern darüber hinaus in anderen Teilen Deutschlands. Auch weit über Deutschland hinaus war es verbreitet. Der Text ist in mehrere Sprachen übersetzt worden. Tantiemen kamen aus aller Welt, nicht nur aus fast allen europäischen Ländern, sondern auch aus den Vereinigten Staaten, aus Brasilien und Japan. Der Berliner Schulleiter und Volksliedforscher Johannes Koepp schrieb damals: „Wenn ich mit Berliner Jungen auf den Schüleraustauschreisen deutsche Lieder sang, dann als erstes immer ,unser' Lied, die Märkische Heide. Sie erklang unter Pinien bei den Ruinen von Delphi und in Boulogne an der französischen Kanalküste, im englischen College und am Lagerfeuer inmitten von amerikanischen Jungen im Camp Becket südlich der großen Seen von Nordamerika. Ein Indianer, ein junger Student aus New York, spitzte besonders die Ohren, hieß er doch in seinem Stamm der ,Red Eagle' [Roter Adler]. Als französische Schüler vom Aufenthalt in der Mark 1933 heimkehrten, sangen sie auf dem Pariser Nordbahnhof: ,Eleve-toi, aigle rouge!' Seltsame Wanderungen und Wandlungen eines Liedes!"21 Nach dem Kriege wurde das Lied nach wie vor gesungen. Anfang der fünfziger Jahre erschien eine Telefunken-Schallplatte. Die Bundeswehr übernahm das Lied in ihre Liederbücher22. Nur im Osten war und blieb es verpönt. Im Westen teilte es schließlich das Schicksal der deutschen Nationalhymne und aller deutschen Volkslieder. Es ist wie diese heute beinahe in Vergessenheit geraten. Jazz, Beat- und Popmusik, Schlager mit englischen Texten, und seien sie noch so banal, gelten als „in". Deutsche Volkslieder zu singen gilt hierzulande - ganz im Gegensatz zur DDR - als hinterwäldlerisch und reaktionär. Nur für „Folklore" - ausländische Volksmusik erwärmt man sich neuerdings. Insoweit ist das Schicksal des Liedes „Märkische Heide" nichts Besonderes. Und doch unterscheidet es sich in wesentlichen Punkten von anderen zur NS-Zeit gesungenen Liedern: Es wurde zwar ebenso wie die erwähnten Arbeiterlieder Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten übernommen, die linksorientierten Gruppen ließen es aber „links" liegen, obwohl es sich z. B. in dem „Liederbuch des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold"23 neben dem Deutschlandlied, neben „Was ist des Deutschen Vaterland", „Stimmt an mit hellem, hohem Klang", „Der in Krieg will ziehen, der muß gerüstet sein", „Flamme empor", „Ich hatt' einen Kameraden", „Regiment sein' Straße zieht" und anderen Liedern dieser Art ausgesprochen harmlos und geradezu pazifistisch ausgenommen hätte. 104

Die Nichtbeachtung des populären Liedes durch die Arbeiterbewegung dürfte darauf zurückzuführen sein, daß es erst 1923 entstanden ist. Die alten Soldatenlieder waren aber schon 1919 oder bald danach von der revolutionären Arbeiterbewegung umgestaltet und übernommen worden. Im Gegensatz zu diesen Liedern war „Märkische Heide" kein Soldatenlied, sondern ein Wander- und Heimatlied. Als solches besaß es keinen „kämpferischen Charakter", aber gerade der war damals gefragt24. Im übrigen stand die „Heimat" in jenen Jahren in der Arbeiterbewegung nicht hoch im Kurs. Man war international. Als das Lied dann um 1930 von den völkischen Verbänden und den Nazis okkupiert wurde, war es zu spät. Nun war es als Kampfmittel der anderen Seite ohne arbeiterrevolutionäre Vergangenheit festgelegt. Die Nationalsozialisten waren in dieser Hinsicht skrupelloser und insoweit wohl auch die geschickteren Propagandisten. Sie übernahmen ungeniert die alten Arbeiterkampflieder, um die revolutionäre Arbeiterschaft auf ihre Seite zu ziehen. Die zur SA übertretenden Kommunisten konnten ihre alten vertrauten Lieder, wenn auch teilweise mit verändertem Text, weitersingen. Und dabei konnten sich die Nazis noch darauf berufen, daß es sich bei diesen Liedern im Grunde genommen um alte Soldatenlieder handele. Ebenso ungeniert okkupierten die Nationalsozialisten, ohne den Textdichter und Komponisten zu fragen oder ihn in ihren Liederbüchern beim Namen zu nennen, auch das ganz unpolitische Lied „Märkische Heide", um die vielen unpolitischen Wandergruppen, die Angehörigen der Wandervogelbewegung, die bündische Jugend und nicht zuletzt die heimattreuen Brandenburger zu beeindrucken. Wer wollte leugnen, daß sie Erfolg hatten? Noch in einem weiteren Punkt unterscheidet sich die „Märkische Heide" von den „Kampfliedern der Bewegung", einerlei, ob es sich dabei um mißbrauchte alte Arbeiterlieder oder um von Komponisten wie Baumann und anderen neugeschaffene Lieder handelt: Es ist im Gegensatz zu allen diesen Liedern in den Liederschatz der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg eingegangen, wobei ich unter „Liederschatz" die Lieder verstehe, die von den Soldaten wirklich gesungen wurden, nicht diejenigen, die in den Liederbüchern standen oder die in den KinoWochenschauen, im Rundfunk oder auf Propagandaveranstaltungen erklangen. Die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges waren weiß Gott keine Hurrapatrioten. Vaterlandslieder mit hohlem Pathos wie „Es braust ein Ruf wie Donnerhall", „O Deutschland hoch in Ehren" oder Lieder, die den Krieg verherrlichen, haben wir nicht gesungen. Baumanns 1932 für eine katholische Jugendgruppe(l)12 geschriebenes Lied „Es zittern die morschen Knochen" auch nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. NS-Kampflieder, gleichgültig, wo sie hergekommen oder wie sie entstanden sind, und reine NS-Kompositionen wie „Es dröhnet der Marsch der Kolonnen", „Nun laßt die Fahnen fliegen", „Unsere Fahne flattert uns voran", „Volk ans Gewehr" existierten für uns Soldaten nicht. Auftragsarbeiten des Propagandaministeriums wie „Wir fahren gegen Engelland", „Bomben auf Engelland" und Norbert Schultzes „Waffengattungslieder" (Afrikalied, Panzergrenadierlied, Marinelied, U-Boot-Lied usw.) ebenfalls nicht. Insoweit muß ich Fred K. Prieberg25 widersprechen, der behauptet, diese Lieder wurden „an der Front und in der Heimat eifrig gesungen". Meine Erfahrungen decken sich mit denen Rudolf Walter Leonhardts26: Wir haben Lieder gesungen, die von Mädchen und Frauen, von der Heimat und vom Wiedersehen handelten. Ich kann sie hier nicht alle aufzählen. Die Älteren kennen sie: „In einem Polenstädtchen"; „Erika" („Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein"); „Lore" („Im Wald, im grünen Walde, da steht ein Försterhaus"); „In Sanssouci am Mühlenberg"; „Die blauen Dragoner", dies schon wegen des Anhanges „Weit ist der Weg zurück ins Heimatland"; das Lied von der „schwarzbraunen Haselnuß", von den „Heckenrosen" („Schön blühn die Heckenrosen, schön ist das Küssen und das Kosen"), vom „freien Wildbretschütz", vom „schönen Westerwald", vom „Schlesierland" („Kehr ich einst zur 105

Heimat wieder") und so weiter und so weiter und natürlich und nicht zuletzt das Lied von der „Märkischen Heide". Wenn dieses Lied ein „Kampflied der NS-Bewegung" gewesen war (was nicht zutrifft), dann war es das einzige Kampflied, das von den deutschen Soldaten angenommen, gesungen und damit in den Kreis der Lieder einbezogen wurde, die nach Rudolf Walter Leonhardt 27 damals das waren, was man heute als „Protest-Songs" bezeichnen würde. Oder wie anders soll man Lieder nennen, die anstatt der von uk-gestellten Komponisten amtlich produzierten und amtlich verordneten Propagandastücke gesungen wurden? Es besteht kein Grund die Lieder, die die deutschen Landser im Zweiten Weltkrieg wirklich gesungen haben, heute zu diskriminieren oder nur dann zu akzeptieren, wenn sie, wie etwa „Lili Marleen", dadurch die „höheren Weihen" erhalten haben, daß sie auch von den Soldaten der Alliierten gesungen wurden. Das gilt auch und gerade für die „Märkische Heide", ein Lied, in dessen Text auch der Böswilligste keine Naziideologie hineininterpretieren kann. Und wer da meint, die von den Soldaten gesungenen Lieder hätten die Kriegsanstrengungen unterstützt, der müßte auch alles verbieten, was damals im Rundfunk, insbesondere in den beliebten Wunschkonzerten, in den Opern- und Operettenhäusern gespielt und gesungen wurde. Vom kulturellen Erbe der deutschen Musik würde dann nicht viel übrig bleiben. Viele z. T. berühmte Komponisten und Interpreten, fast alle unsere großen Filmschauspieler (die ganz wesentlich dazu beigetragen haben, daß das Volk bei guter Laune blieb), hätten dann seit 1945 in Sack und Asche gehen müssen. Sie taten es nicht. Vor allen Dingen die Filmschauspieler bezeichnen sich in ihren Memoiren fast durch die Bank als „Widerstandskämpfer", auch wenn sie damals bei Goebbels ein- und ausgegangen sind. Sollten die deutschen Infanteristen etwa schweigend marschieren und sich das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon war?

Ähnliche Melodien? Als ich vor einem Jahr einer in Berlin erscheinenden Zeitschrift gegenüber arglos die Frage aufwarf, ob man nicht des Schöpfers unseres Liedes aus Anlaß seines 80. Geburtstages am 7. April 1982 gedenken sollte, wies man nicht nur auf die angebliche „Belastung" des Liedes hin, sondern behauptete auch, die Melodie der „Märkischen Heide" sei aus den Melodien von drei anderen Liedern zusammengesetzt und daher keine eigenständige Schöpfung. Das soll der Musikforscher Hans Mersmann nachgewiesen haben. Mersmann beschäftigt sich in der Tat auf Seite 43 seines 1937 bei Ludwig Voggenreiter in Potsdam erschienenen Buches „Volkslied und Gegenwart" (das eigentlich in einen Giftschrank gehört, weil M. sich bemühte, die Volksliedforschung im Lichte der NS-Rassentheorie zu betrachten) mit dem Kehrreim des Liedes „Märkische Heide" und nur mit diesem („Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand, hoch über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburger Land!"). Mersmann vergleicht diesen Teil der Büchsenschütz-Melodie mit den Melodien der Lieder „Pfeifer, laß dein Rößlein traben", „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" und „Of den Alpe möcht i singe, weiß so mengs und artig Lied". Dabei kommt er zu der durchaus zutreffenden Feststellung, daß die Melodie „Pfeifer, laß dein Rößlein traben" keine persönliche Schöpfung sei, da der Zusammenhang mit dem Kehrreim von Büchsenschützens „Märkische Heide" sinnfällig sei. Und in der Tat: Die beiden Melodien sind fast tongleich, woraus jedoch nichts anderes zu folgern ist, als daß das nachgemachte Landsknechtlied „Pfeifer, laß dein Rößlein traben" nach der Büchsenschütz-Melodie gesungen wurde - genauso wie das bereits erwähnte Tiroler Lied „Riesige Berge, steile Felsenwand". Da Mersmann in der Fußnote 1 auf Seite 43 als Quelle für das Lied „Pfeifer, laß dein Rößlein traben" das Liederbuch der Hitlerjugend „Uns geht die Sonne nicht unter" angibt und außerdem in der Fußnote 2 daraufhinweist, daß die „Märkische Heide" mit 106

„großer Wahrscheinlichkeit" früher entstanden ist, bestand kein Grund anzunehmen, Büchsenschütz habe für seinen Text die Melodie des nachgemachten Landsknechtsliedes verwendet. Meine weiteren, u. a. mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg durchgeführten Recherchen haben ergeben: Das Lied „Pfeifer, laß dein Rößlein traben" ist nur einmal veröffentlicht worden, und zwar in dem von Mersmann erwähnten Liederbuch der Hitlerjugend „Uns geht die Sonne nicht unter", das 1934 erschienen ist. Für dieses Lied wurde die Büchsenschütz-Melodie verwendet, nicht umgekehrt. Hinsichtlich des Schweizer Liedes „Of den Alpe möcht i singe, weiß so mengs und artig Lied" konnte keiner der von mir befragten Musikexperten eine Übereinstimmung mit der Melodie des Kehrreims von „Märkische Heide" feststellen. Mersmann behauptet eine solche Übereinstimmung auch nicht. Er „spürt" nur eine „innere Nähe". Der breite Anstieg im Dreiklang, der hinunter bis zur Sexte, hinauf bis zur Terz geht, sei für das süddeutsche, besonders für das schweizerische Volkslied kennzeichnend. Das erwähnte Schweizer Lied zitiert er beispielhaft. Er will damit beweisen, daß das Lied „Märkische Heide" seine Popularität seinem volksliedhaften Charakter verdanke. Das hat man natürlich in den zwanziger Jahren, als das Lied von Mund zu Mund und von Gruppe zu Gruppe ging, ohne die von Mersmann angestellten musiktheoretischen Betrachtungen auch schon „gespürt". Jedenfalls ist entgegen den aufgestellten und wohl auch in interessierten Kreisen unter der Hand weiterverbreiteten Behauptungen festzustellen: Die Melodie des Kehrreims des Liedes „Märkische Heide" hat nichts mit der des Schweizer Volksliedes zu tun. Was bleibt, ist das Lied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", mit dessen Melodie an der Textstelle „Hell aus dem dunklen Vergangenen ..." in der Tat die letzten Takte des Kehrreims der „Märkischen Heide" („... über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburger Land!") fast übereinstimmen. Experten meinen, daß es sich bei dieser Übereinstimmung um eine unbewußte Adaption handele. Büchsenschütz führt gerade diese Stelle auf die von ihm bereits 1934 in der Zeitschrift „Brandenburger Land"8 erwähnten Veränderungen zurück, die die Melodie in den zwanziger Jahren bei der Verbreitung des Liedes von Mund zu Mund erfahren habe. Das wird durch die wohl erste gedruckte Notenfassung des Liedes in der Vereinszeitschrift der Bismarckjugend aus dem Jahre 1924 (Abbildung 2) bestätigt28. Die letzten Takte der heutigen Fassung des Kehrreims der „Märkischen Heide" haben sich die singenden Wandergruppen in den zwanziger Jahren „zusammengesungen". Dabei ist es unbewußt zu einer Übernahme einiger Takte des Liedes „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" gekommen. Das beweist den volksliedhaften Charakter des Liedes. Auch für Mersmann ist diese Stelle, die der singende Laie überhaupt nicht bemerkt und die selbst Experten erst aufgrund meines ausdrücklichen Hinweises wahrgenommen haben, ein Beweis dafür, daß das „Zeitlied" „Märkische Heide" auf dem Boden des Volksliedes stehe, wenn auch nicht des deutschen, so doch des russischen, denn die Melodie von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" gehe auf ein russisches Volkslied zurück. Diese Tatsache spricht meiner Meinung nach nicht gegen unser Lied, sondern bestätigt nur die zwischen dem deutschen und dem russischen bzw. slawischen Musikgefühl bestehende Verwandtschaft. Unbeschadet der Veränderung einiger Takte der ursprünglichen Melodie durch die „Stimme des Volkes" ist zusammenfassend festzustellen: Mersmann hat nicht nachgewiesen, daß die Melodie der „Märkischen Heide" aus den drei oben erwähnten Liedern zusammengesetzt ist. Er hat das noch nicht einmal behauptet. Nicht Büchsenschütz hat fremde Melodien, sondern andere haben seine Melodie verwendet. Als Textdichter und Komponist der „Märkischen Heide" hat sich Gustav Büchsenschütz einen Ehrenplatz in der Geschichte der Mark Brandenburg gesichert. 107

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Hans Jürgen Hansen: Heil dir im Siegerkranz - Die Hymnen der Deutschen, Oldenburg 1978, S. 6,73. Das wurde mir jedenfalls entgegengehalten, als ich einer in Berlin erscheinenden Zeitschrift 1982 vorschlug, des 80. Geburtstages von Gustav Büchsenschütz zu gedenken. 3 Vgl. „Zieh mit mir hinaus - Wanderliederbuch", 6. Aufl., Leipzig 1982, S. 88. Hierzu auch Walter Moßmann und Peter Schleuning: „Alte und neue politische Lieder", Rowohlt-Taschenbuch, 1978, S.115. 4 Wie Anm. 3, Wanderliederbuch, S. 6. 5 Wie Anm. 3, S. 116. 6 Klaus-Konrad Weber: „Gustav Büchsenschütz - Dichter und Vertoner der Märkischen Heide 65 Jahre", in: Mitteilungsblatt der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg Nr. 65 vom 1. Mai 1967. 7 Auf einer Steglitzer Woche im Jahre 1966 sang es der Knabenchor des Stiftes Wüten bei Innsbruck, wobei der Chorleiter allen Ernstes glaubte, es handele sich um ein Tiroler Volkslied. Er wurde erst von dem anwesenden SPD-Abgeordneten Susen auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht (Bericht des Herrn Susen). Den Text des nach der Melodie der „Märkischen Heide" gesungenen Tiroler Liedes hat Johannes Koepp auf S. 146 des 1. (und einzigen) Bandes seiner „Deutschen Liederkunde - Jahrbuch für Volkslied und Volkstanz", Potsdam 1939, abgedruckt. Ich habe den Text auch im Programm eines Tumabends des Turnvereins Lienz vom 27. April 1937 gefunden. 8 S.33. ' Beispiele in Hülle und Fülle bei Fred K. Prieberg: „Musik im NS-Staat", Fischer-Taschenbuch, 1982. 10 Mündliche Mitteilung von G. B. " 2. Jg., 1935, S. 147 ff. 12 Prieberg, wie Anm. 9, S. 243 ff. 13 Minden i. W. o. J. (Bibliothek des Volkskundemuseums in Berlin). 14 In dem 1939 von der Reichsjugendführung herausgegebenen „Unser Liederbuch - Lieder der Hitlerjugend" ist es auf S. 9 ebenfalls als „Altes Kampflied der SA", allerdings mit dem Text „Brüder in Zechen und Gruben", abgedruckt. 15 Moßmann und Schleuning, wie Anm. 3, S. 261. 16 Vgl. Hans Mersmann, Volkslied und Gegenwart, Potsdam 1937, S. 44 (russisches Volkslied). Neuerdings wird behauptet, es handele sich um ein russisches Studentenlied, vgl. das in Anm. 3 zitierte Wanderliederbuch, S. 130, und „Heimat, dich werden wir hüten - Ein Liederbuch für den Marschgesang", hrsg. von Oberst Eberhard Schröder und Major Günther Rudolph, 2. Aufl., (Ost-)Berlin 1980, S. 28, 29. 17 Vgl. Wolfgang Steinitz: „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten", (Ost-)Berlin 1978, S. 298 ff. (300). 18 Vgl. hierzu das eben (Anm. 17) erwähnte Buch und Hermann Strobach: „Deutsches Volkslied in Geschichte und Gegenwart", (Ost-)Berlin 1980. 19 Vgl. z. B. Hans Mersmann, wie Anm. 16, der sich auf S. 45 ff. mit der Geschichte des NS-Marschliedes „Durch Groß-Berlin marschieren wir" beschäftigt. " a Lincke versteht unter Trio das ursprüngliche Wanderlied, dem er zwei Marschteile vorgesetzt hat. 20 Vgl. z. B. den Artikel „Dem jungen Paul Lincke zum 70jährigen", in: Nr. 262 des „8-Uhr-Abendblattes" vom 6. November 1936 und die Berichtigung vom 11. Februar 1937, in der festgestellt wurde, daß allein Gustav Büchsenschütz Anspruch darauf hat, als Autor des Liedes „Märkische Heide" genannt zu werden. 21 Wie Anm. 7. 22 Vgl. das vom Bundesministerium der Verteidigung - Führungsstab der Streitkräfte - 1976 herausgegebene Liederbuch der Bundeswehr „hell klingen unsere Lieder", S. 45. 23 Herausgegeben im Auftrage des Bundesvorstandes, J. H. W. Dietz Nachf., Berlin o. J. (1926?). 24 Hermann Strobach, wie Anm. 18, S. 32. 25 Wie,Anm. 9, S. 338. 26 „Lieder aus dem Krieg", Goldmann-Taschenbuch, München 1979, S. 7 ff. (13). 27 Ebd., S. 10. Bedauerlicherweise erwähnt R. W. L. nicht das Lied „Märkische Heide", was nur auf einem Versehen beruhen kann. 28 „Der Bismärcker", 1924, S. 50, heute verschollen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Text und Melodie vor der endgültigen Drucklegung durch den Verleger Rühle im Jahre 1932 noch in anderen Vereinsmitteilungen u. ä. abgedruckt worden sind. 29 Vgl. Anm. 16. 2

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Friedrich Neuhaus - ein vergessener Eisenbahnpionier Am 28. Oktober 1983 jährt sich zum 100. Male die Enthüllung des Denkmals für Friedrich Neuhaus, das immer noch auf der Treppe zwischen den beiden Rundbogenportalen vor dem ehemaligen Hamburger Bahnhof in der Invalidenstraße steht. Denkmal wie auch Friedrich Neuhaus sind heute nahezu vergessen, zu Unrecht, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Georg Ernst Friedrich Neuhaus wurde am 20. September 1797 in Behme bei Herford in Westfalen geboren. Noch vor Abschluß seiner Schulausbildung beteiligte er sich 1815 als freiwilliger Jäger am Frankreichfeldzug. 1816 ging er zum Studium nach Berlin und legte 1818 HBEÜffiS!'-

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Eiserne Neujahrskarte (6X9 cm) der Königlichen Eisengießerei von 1848 aus dem persönlichen Besitz von Friedrich Neuhaus am Ende der 1. Studienphase das „Regierungs-Kondukteur- (d. h. Feldmesser-jExamen" und 1824 als Abschluß der 2. Studienphase das ,.Bau-Kondukteur-(d. h. Baumeister-jExamen" ab. Dazwischen war er 3 Jahre im Deichbauwesen an der Oder beschäftigt. Von 1824 bis 1828 war Neuhaus als ausführender und begutachtender Baumeister beim Straßenbau in den damaligen Provinzen Brandenburg, Pommern und Preußen tätig. 1828 wurde er zum Wegebau-Inspektor und 1835 zum Oberwegebau-Inspektor in Stargard ernannt. In diesem Jahr wandte sich das Stettiner Kommittee für den Bau einer Eisenbahnlinie Berlin-Stettin an ihn und beauftragte ihn mit den Vorarbeiten für deren Bau. Nachdem Neuhaus Nord-, Mittel- und Süddeutschland, 109

Österreich, Holland und Belgien bereist hatte, um sich über den Bau und Betrieb von Eisenbahnlinien zu informieren, führte er ab 1836 die Planung für diese Bahnlinie aus. Als deren Bau im Jahre 1840 dann in Angriff genommen wurde, schied Neuhaus aus dem Staatsdienst aus, um als Oberingenieur den Bau zu leiten - damals eine risikobehaftete Entscheidung. Denn wie in jenen Jahren die Arbeit bei den Eisenbahngesellschaften eingeschätzt wurde, macht eine Äußerung Wilhelm Beuths deutlich, als sich Neuhaus von ihm verabschiedete: „Neuhaus, ich habe Sie bisher für einen verständigen und anständigen Menschen gehalten, da Sie aber jetzt Eisenbahnen bauen wollen, muß ich feststellen, daß Sie ein Schwindler geworden sind." Diese damals noch ablehnende Haltung Beuths gegenüber Eisenbahnen belegt Max Neuhaus, der Sohn von Friedrich Neuhaus, noch mit einem anderen Beweisstück, das leider seit 1945 verschollen ist. Er schreibt: „Hierüber gibt es ein ergötzliches Dokument, nämlich eine Aquarellskizze von der Hand des berühmten Schinkel, die im Schinkel-Museum in der Technischen Hochschule aufbewahrt wird. Beuths Steckenpferd war die Hebung der Pferdezucht, und die Skizze stellt ihn dar, wie er in einem bequemen Lehnstuhl sitzt, vor sich auf den Knien ein Buch großen Formats mit Abbildungen von Vollblutpferden. Aber er betrachtet diese nicht mehr, sondern liegt zurückgesunken, den Kopf nach rechts gewendet, anscheinend ohnmächtig im Lehnstuhl; denn links von ihm zeigt sich ein vorbeifahrender Eisenbahnzug, dessen Anblick ihn in der Betrachtung der Zuchthengste jäh gestört und in den auf dem Bild dargestellten traurigen Zustand versetzt hat." Die Berlin-Stettiner Bahn war mit 134 km Länge eine der ersten größeren Bahnlinien Deutschlands und wurde in 3 Jahren vollendet. Neueste Erkenntnisse hatte sich Neuhaus auf einer Englandreise im Jahre 1841 verschafft; von dort bezog er auch das Schienenmaterial für den Oberbau. Beim Bau dieser Bahnlinie hatte er erstmals in Deutschland Beton verwendet, eine Technik, die er in Belgien kennengelernt hatte. Bei der Auswahl der Lokomotiven berücksichtigte Neuhaus bereits deutsche Fabrikate: So wurde der Eröffnungszug am 15. August 1843, besetzt mit Ehrengästen - darunter König Friedrich Wilhelm IV. und Alexander von Humboldt - von einer Borsig-Lokomotive gezogen; Ausdruck einer lebenslangen privaten und geschäftlichen Beziehung zwischen Borsig und Neuhaus, der übrigens selbst als Lokomotivführer ausgebildet war. Zur gleichen Zeit leitete Neuhaus den Bau der Linie Stettin-Stargard ein. Inzwischen zum Baurat ernannt, wurde Neuhaus 1843 zum technischen Mitglied der Direktion der Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft gewählt, um die Vorarbeiten für diese Bahn und dann deren Bau zu leiten. Dies wurde der eigentliche Höhepunkt seiner Arbeit. Von 1844 bis 1847 erbaute er eine Bahnanlage, die jahrelang als beispielhaft galt. Das Empfangsgebäude in Berlin diente später oft als Vorbild für andere Bahnhöfe, die von Borsig hergestellte eiserne Bahnsteighalle war die erste dieser Art und Größe in Norddeutschland, und die Bahnhöfe an der Strecke nach Hamburg waren so modern konzipiert, daß viele von ihnen, wie jeder Transitreisende heute noch sehen kann, unverändert ihre Aufgabe erfüllen. Und schließlich war die Streckenführung so angelegt, daß sie - was bei ihrem Bau nicht vorgesehen war Geschwindigkeitsrekordfahrten bis in die jüngste Zeit erlaubte. Auch nachdem Neuhaus 1850 zum Vorsitzenden der Direktion und zum Betriebsdirektor der Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft gewählt worden war, eine Position, die er bis zu seinem Tode innehatte, blieb er weiterhin aktiv. Sein Plan, am Monbijouplatz einen zentralen Personenbahnhof zu errichten, ließ sich nicht verwirklichen, so daß als Ersatzlösung nach seinen Plänen 1850/1851 die Berliner Verbindungsbahn erbaut wurde, eine Linie, die die isoliert stehenden Berliner Kopfbahnhöfe miteinander verknüpfte. 1860 wurde er aufgrund seiner Verdienste zum Geheimen Regierungsrat ernannt. 110

Friedrich Neuhaus um 1865 111

Nach dem Bau der Linie Wittenberge-Buchholz (1871-1874) unter seiner Leitung war sein letztes großes Werk in Berlin der Bau eines Verwaltungsgebäudes für die prosperierende Berlin-Hamburger Eisenbahn-Gesellschaft (1874) an der Ecke Invaliden-/Heidestraße. Daneben sind noch einige technische Neuerungen erwähnenswert, die ihm zuzuschreiben sind, wie der Bau der ersten schmiedeeisernen Gitterbrücke in Deutschland über den Eisgraben bei Spandau zusammen mit Borsig (abgerissen 1910) sowie die erstmalige Verwendung von Laschenverbindungen an den Schienensträngen und die Verbesserung des Schienenprofils. Neuhaus starb am 4. Dezember 1876 und wurde auf dem Invalidenfriedhof begraben. Er gehört zu den Pionieren des Eisenbahnwesens; zahlreiche wegweisende Lösungen hat die Eisenbahntechnik ihm zu verdanken. Da ihm selbst die Weiterverbreitung seiner Ideen und Erkenntnisse nicht wichtig erschien, ist er heute fast vergessen.

Anmerkung: Eine ausführliche und reich bebilderte Darstellung des Lebens von Friedrich Neuhaus sowie seines Hauptwerkes, des Hamburger Bahnhofes, mit dem später darin untergebrachten Verkehrs- und Baumuseum findet sich in: Holger Steinle: Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis. Der ehemalige Hamburger Bahnhof in Berlin und seine Geschichte. 1983, 100 S., 78 Abb., Format 21X27 cm, gebunden mit Schutzumschlag, 34 DM, ISBN 3-924091-00-5, zu bestellen bei: Silberstreif Verlag GmbH, Postfach 311309, 1000 Berlin 31, Telefon (030) 249212.

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Das Neuhaus-Denkmal vor dem ehemaligen Hamburger Bahnhof in der Invalidenstraße, 1982

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J75 Jahre Siemens-Güterbahn Von Arne Hengsbach

Wer die Nonnendammallee westlich von Siemensstadt befährt, kommt zwischen Paulsternstraße und Gartenfelder Straße an dem etwa 700 m langen Bahnhof der Siemens-Güterbahn vorbei. Der Bahnhof mit seinen drei Gleisen liegt in einem etwa 21 m breiten Mittelstreifen zwischen den beiden Fahrdämmen der Straße. Vom Bahnhof Ruhleben aus überführt die Reichsbahn auf einer 2,1 km langen Zuführungsstrecke die für die Siemenswerke bestimmten Waggons bis zu dem Bahnhof in der Nonnendammallee bzw. holt die für den Rücktransport zusammengestellten Wagen von dort wieder ab. Die Verteilung der Wagen auf die einzelnen Siemenswerke übernehmen die elektrischen Lokomotiven der Siemens-Güterbahn. Außerdem laufen über diesen Bahnhof die Wagen für die von der Reichskreditgesellschaft betriebenen Strecken im östlichen Haselhorst nach dem Eiswerder und vor allem zu den großen Tanklagern der Firmen Shell und Esso am Salzhof. Diese Anschlußbahn, auf der die WTAG mit Dieselloks den Betrieb für die Reichskreditgesellschaft führt, zweigt am Westende der Nonnendammallee aus dem Siemens-Bahnhof ab und führt in nördlicher Richtung weiter. In der Hauptsache ist heute der Siemens-Bahnhof von den Kesselwagenzügen mit Ölprodukten besetzt, die zu den Tanklagern am Salzhof transportiert werden, oder mit den entleerten Ölzügen, die zur Abholung durch die Reichsbahn wiederum auf dem Siemens-Bahnhof abgestellt werden. Dieser Bahnhof, der für die Firma Siemens und die übrigen angeschlossenen Firmen auch heute noch von wirtschaftlicher Bedeutung ist, konnte am 16. März 1983 auf sein 75jähriges Bestehen zurückblicken. Allerdings beschränkt sich dieses Jubiläum nicht auf den Bahnhof; die gesamte SiemensGüterbahn, von der der Bahnhof ja nur ein Betriebsteil ist, konnte am gleichen Tage ihr 75. Jubiläum begehen. Im folgenden soll aber weniger der technische und wirtschaftliche Werdegang der SiemensGüterbahn im Mittelpunkt stehen als vielmehr die Stadt- und verkehrsplanerischen Vorstellungen und Bestrebungen, die die Bahn zum Gegenstand ihrer Entwürfe gemacht haben. Zunächst aber sei auf die Vor- und Entstehungsgeschichte unserer Güteranschlußbahn eingegangen: Schon im Jahre 1899, noch vor der Jahrhundertwende, als die Firma Siemens & Halske ihr einstiges Kabelwerk, das erste Werk am „Nonnendamm", d. h. der nachmaligen Siemensstadt, errichtet hatte, suchte sie nach Lösungen, wie sie ihre neue Fertigungsstätte an die Staatsbahn anschließen könnte. In jener automobillosen Zeit war der Eisenbahntransport zum und vom Werk für jedes größere Industrieunternehmen von ausschlaggebender Bedeutung. Als Straßenfahrzeug stand nur das pferdebespannte Fuhrwerk zur Verfügung, das Güter nur über kurze Distanzen im Stadtverkehr zu befördern vermochte. Als behelfsmäßiges Verkehrsmittel hatte Siemens & Halske bereits 1899 bei Inbetriebnahme des Kabelwerks ein Trajektschiff eingesetzt, einen besonders konstruierten Dampfer, der auf der Spree zwischen dem Werk und einem bis zum Ufer des Flusses geführten Anschlußgleis des Bahnhofs Westend (oberhalb der damaligen Eisenbahnbrücke am Charlottenburger Schloßpark) pendelte und jeweils zwei Güterwagen mitführen konnte. Mit diesem Schiff konnten bei zwölfstündigem Betrieb pro Tag insgesamt 16 Eisenbahnwagen hin und her befördert werden. Diese Verkehrsverbindung reichte so lange aus, wie sich der Bedarf an Eisenbahntransporten im engen Rahmen hielt. Dringend notwendig aber wurde die Herstellung eines dauerhaften und ausrei114

Güterbahnhof Nonnendammallee, Oktober 1982

chenden Eisenbahnanschlusses seit 1904, also zu dem Zeitpunkt, als immer mehr neue Werke am „Nonnendamm" geplant wurden und auch entstanden, die verkehrlich erschlossen werden mußten. Der Leiter und zugleich Planer der Siemens-Bauabteilung, der Regierungsbaumeister Karl Janisch, konnte sich bei seinen vorbereitenden Projektarbeiten für einen Güterbahnanschluß für die Siemens werke zunächst auf einen bereits vorliegenden Entwurf stützen. Die Stadt Spandau hatte nämlich im Jahre 1900 ein Projekt für eine kombinierte Straßen- und Güterbahn ausarbeiten lassen, das eine Straßenbahnverbindung zwischen der Spandauer Altstadt und dem fernen „Nonnendamm" über Haselhorst vorsah, außerdem sollten die wenigen schon an der Unterspree gelegenen Industriebetriebe - es handelte sich um die Firma Motard in „Paulstern" und um das Siemens-Kabelwerk - Gleisanschlüsse erhalten, die von der militärfiskalischen Anschlußbahn Spandau-Eis werder abzweigen sollten. Dieser Entwurf blieb unverwirklicht, denn der Stadt Spandau standen die Mittel für die Ausführung, die 1902 auf 533 000 RM veranschlagt worden waren, nicht zur Verfügung. Diesen Entwurf entwickelte Janisch 1905 weiter. Tatsächlich wurden dann 1907/08 sowohl die Güterbahn als auch die Straßenbahnstrecke ausgeführt. In Siemensstadt hatten beide Bahnen sogar gemeinschaftliche Gleise. Da aber dieser Gemeinschaftsbetrieb von Straßen- und Güterbahn diese Gleisstrecken zu stark belastete, wurde 1918 bis 1922 die Auflösung dieser gemeinsamen Strecken ausgeführt, so daß jeder Verkehrsträger nun über seine eigenen Gleise verfügte. Die von Siemens gebaute Straßenbahn von Spandau nach dem Nonnendamm wurde am 1. Oktober 1908 eröffnet und ein Jahr später von der Stadt Spandau übernommen. Ihre weitere Entwicklung interessiert hier nicht mehr. 115

Die Siemens-Güterbahn wurde an die militärfiskalische Güterbahn Spandau-Eiswerder angeschlossen, diese Lösung hatte seinerzeit auch die Stadt Spandau vorgesehen. Diese im Jahre 1892 dem Betrieb übergebene Anschlußbahn verband die staatlichen Rüstungsfabriken Artilleriewerkstatt, Geschoß-, Gewehr-, Munitions-, Pulverfabrik und das Feuerwerkslaboratorium mit dem Staatsbahnhof Spandau. Von diesem zog sich die Bahn in drei großen Bogen durch das militärfiskalische Fabrikgelände, vor allem nördlich der Spree und im Westen von Haselhorst. An der Stelle der Militärbahn, die am weitesten nach Osten gelegen war, etwa an der Einmündung der Gartenfelder Straße in die Berliner Chaussee (Straßenname heute Am Juliusturm), zweigte der Siemens-Anschluß ab und verlief weiter in östlicher Richtung, und zwar nördlich der Nonnendammallee, die zu dieser Zeit nur aus einem 5,50 m breiten Fahrdamm und anschließendem Schlacken weg im Zuge der heutigen südlichen Fahrbahn bestand. Zwischen Straße und Gleisen stand eine Reihe Weiden. Ungefähr gegenüber dem Motardschen Fabriketablissement „Paulstern" lag der Übergabebahnhof, der aus einem Übergabe- und einem Umfahrungsgleis, beide etwa je 340 m lang, bestand. Die Gleisanlage war am Südrand des Haselhorster Exerzierplatzes angelegt worden, und Siemens zahlte für die vom Reichsmilitärfiskus zur Verfügung gestellten Flächen eine Miete. Die Militärverwaltung trat also Siemens gegenüber als Gestattungsgeber für den Anschluß und als Grundstücksvermieter auf. Bis zu dem neuen Bahnhof beförderten Lokomotiven der preußischen Staatsbahn die für die Siemensfirmen bestimmten Wagen und holten von hier auch die für den Rücktransport bereitgestellten Waggons wieder ab. Auf dem Bahnhof übernahmen die elektrischen Lokomotiven der Siemens-Güterbahn die Wagen und brachten sie auf verschiedenen Strecken zu den einzelnen Werken in Siemensstadt und Gartenfeld. Als das Gartenfelder Kabelwerk 1912 in Betrieb ging, wurde der Bahnhof um etwa 125 m nach Osten verlängert, weil das neueröffnete Werk zusätzlichen Güterverkehr brachte. Die 1908 in Betrieb genommene Güteranschlußbahn der Firma Siemens mitsamt ihrem kleinen Bahnhof an der Nonnendammallee genügte in den ersten Jahren ihres Bestehens den Verkehrsansprüchen vollkommen. Eine neue Situation brachte dann aber der Erste Weltkrieg (1914-1918). Die militärfiskalische Eisenbahn war durch die Transporte von Rohstoffen, Kohle usw., andererseits von Waffen, Gerät und Zubehör an die Zeugdienststellen und Truppenteile überlastet. Dazu kamen die Gütertransporte der Siemensfirmen, die ja ebenfalls auf der Bahn ihre Kriegsgüter, Munition, Waffen, Nachrichtengeräte, elektrische Schiffsausrüstungen und Flugzeuge versenden mußten. Bei der stetig zunehmenden Belegung der Militärbahnstrecke zum Güterbahnhof Ruhleben durch beide Bahnen - jeweils etwa 120 000 Waggons sollen in den letzten Kriegsjahren über die Militärbahn gelaufen sein, davon etwa die Hälfte für bzw. von Siemens - waren Verkehrsengpässe zu befürchten. Die Firma Siemens plante daher 1916 die Herstellung einer eigenen Güteranschlußbahn an den Güterbahnhof Ruhleben, der im Osten des Bahnhofs abzweigen, in einem Bogen nach Nordosten geführt und die Spree westlich der damaligen Otternbucht überqueren sollte. Auf dem Gelände der „Lietzower Wiesen", heute Baustelle für das neue Kraftwerk Reuter-West, war ein Verteilerbahnhof vorgesehen, von dem aus Verbindungsgleise zu den schon bestehenden Gleisanlagen, u. a. auch zur Nonnendammallee, geführt werden sollten. Dieser Plan fand aber nicht die Zustimmung der Spandauer Behörden. Besonders der Spandauer Stadtrat für den Tiefbau, Dr. Fischer, stellte sich gegen das Siemenssche Bahnprojekt. Fischer, der von 1916 bis 1920 in Spandau amtierte, war der erste Stadtplaner Spandaus, der nach damals neuzeitlichen Gesichtspunkten den Entwurf eines Generalbebauungsplanes der Stadt aufstellte; dieser Ent116

wurf enthielt nicht nur die Zonung nach Bauklassen, die Ausweisung von Wohn- und Industriegebieten, sondern auch verkehrsplanerische Vorstellungen. Fischer sah in dem Straßenzug Nonnendammallee-Berliner Chaussee (heute Am Juliusturm) eine wichtige Hauptverkehrsstraße, die Spandau mit Siemensstadt verbinden sollte. Innerhalb der Siemensstadt war die Nonnendammallee bereits seit 1906 in 49 m Breite ausgebaut worden. In dieser Breite wollte Fischer sie weiter nach Westen in Richtung Spandau fortsetzen, die Berliner Chaussee wollte er mit 42 m Breite bemessen. In diese Konzeption paßten die Gleisanlagen der Firma Siemens nicht mehr hinein. Er bestand daher auf einer Herausnahme der Gleise aus der geplanten Straße. Nach langen Verhandlungen mit der Firma Siemens, der derartige Verzögerungen ihres Bauprojektes zunächst recht ungelegen kamen, einigten sich schließlich die Stadt Spandau und Siemens auf ein neues Projekt: Die nördlich der Nonnendammallee gelegenen Siemenswerke, nämlich das Kabelwerk in Gartenfeld und das Flugzeugwerk in Siemensstadt, aus dem nach Kriegsende das Schaltwerk hervorgehen sollte, dachte man durch ein Gleis zu erschließen, das von dem Verteilerbahnhof nach Norden abzweigte, die Nonnendammallee planfrei mit einer Brücke überquerte und sich dann neben der heutigen Paulsternstraße auf das Niveau senkte, um dann auf dem vorhandenen Strang weiter nach Gartenfeld zu führen; das Schaltwerk sollte durch ein abzweigendes Kurvengleis angeschlossen werden. Die Gleisanlagen der südlich der Nonnendammallee befindlichen Werke sollten durch ein weiteres Verbindungsgleis mit dem Verteilerbahnhof verbunden werden. Die Kosten für diese umfangreichen Gleisbauarbeiten, die Bahndämme, die Brücke usw. wollten die Stadt Spandau und Siemens je zur Hälfte tragen. Die diesbezüglichen vertraglichen Vereinbarungen wurden am 8. Juli bzw. am 24. August 1918 abgeschlossen, zu einer Zeit, da sich der Krieg bereits seinem Abschluß näherte. Es wurden noch Vorarbeiten für eine spätere Durchführung eingeleitet, doch bedurfte es einer Bauausführung nun nicht mehr. Das Ende des Krieges brachte eine weitgehende Entlastung der bisherigen militärfiskalischen Eisenbahn, die jetzt für den zurückgegangenen Verkehr völlig ausreichte. So wurde das Projekt nicht weiterverfolgt, es geriet zwar nicht ganz, aber doch ziemlich in Vergessenheit. Erst ein Jahrzehnt später sollte es wieder aufleben, 1928, als die Planungen für das neue „West"-Kraftwerk (heute Kraftwerk Reuter) in den Spreewiesen südlich von Sternfeld begannen. Für die Zufuhr von Kohle war neben dem Wasser- auch ein Bahnanschluß vorgesehen. Der 1918 von Siemens und der Stadt Spandau ausgearbeitete Plan einer von Ruhleben aus in nordöstlicher Richtung verlaufenden Anschlußbahn, die Siemens - und das neue Kraftwerk an die Reichsbahn anschließen sollte, gewann nun wieder an Bedeutung. Dieser Entwurf konnte allerdings nur als Grundlage für die neue Planung dienen. Infolge der Lage des Westkraftwerks erhielt nämlich die nun vorgesehene Bahn eine weiter nach Osten, jenseits der damaligen Otternbucht, verschobene Führung. Die Projektierung des Westkraftwerks gab den städtischen Baubehörden Veranlassung, ihre Entwürfe übergeordneter Straßenzüge mit denen des Elektrizitätswerks abzustimmen. Es bestanden in den städtebaulichen Überlegungen Vorstellungen von „Hauptverkehrsstraßenzügen", damals des öfteren auch „Ausfallstraßen" genannt. Für den Nord-Süd-Verkehr war ein auch als „Außenringstraße" bezeichneter Straßenzug vorgesehen, der Charlottenburg mit Reinickendorf verbinden sollte; vom Wiesendamm herkommend sollte er die Spree östlich des neuen Kraftwerks überschreiten, dann in einem Bogen nach Nordwesten auf Haselhorst zu verlaufen. Es war daran gedacht, diese Straße nordwestlich der (einstigen) Saatwinkler Brücke über den Hohenzollernkanal und weiter durch die Jungfernheide nach Reinickendorf zu führen. 117

Diese Straßenplanung hat auf dem Bebauungsplanentwurf für die ab 1930 aufgeführte „Reichsforschungssiedlung" in Haselhorst - nach einer vom Deutschen Reich gegründeten Gesellschaft zur Erforschung neuer wirtschaftlicher und technischer Methoden im Wohnungsbau so genannt - in starkem Maße eingewirkt. Nach dem Projekt dieser Straßenverbindung Charlottenburg-Reinickendorf wurde der 40 m breite, zweibahnige Haselhorster Damm ausgebaut, das einzige Teilstück, das von dem großen Plan jemals verwirklicht wurde. An Ost-West-Verbindungen hatte man u. a. einen durchgehenden Straßenzug Holtzdamm-Nonnendammallee vorgesehen. Der Holtzdamm war ein schmaler, kaum befestigter Feldweg, der in dem Laubenund Gewerbegebiet am Ostrand des heutigen Charlottenburg-Nordost (Paul-Hertz-Siedlung) seinen Anfang nahm und sich in westlicher Richtung durch das ausgedehnte Kleingartenland des heutigen Stadtteils Charlottenburg-Nord nach Siemensstadt hinzog. Im Zuge dieses Holtzdammes war eine breite Hauptverkehrsstraße geplant, die etwa in Höhe der Mäckeritzstraße in die Nonnendammallee einmünden sollte. Im Zuge dieses einstmals geplanten Holtzdammes ist 1960 der Popitzweg angelegt worden. Die Nonnendammallee selbst war nur innerhalb der Siemensstadt in 49 m Breite vollständig ausgebaut, weiter westlich bestand sie nur aus dem südlichen Fahrdamm, der 1927/28 auf eine Breite von 7,50 m gebracht und asphaltiert worden war, und einem Gehweg. Auch die anschließende Berliner Chaussee (heute Am Juliusturm) erfuhr damals einen Teilausbau; damals wurde der nördliche Fahrdamm angelegt. Die Planung lief also den tatsächlichen Verhältnissen weit voraus. Zu den Straßenbauobjekten in der Siemensstadt-Haselhorster Gegend gehörte auch ein Ausbau des „Schwarzen Weges". Dieser lief vom einstmaligen Gutshaus des Ritterguts Haselhorst am Knick der Gartenfelder Straße auf 700 m Länge geradezu nach Süden durch die Felder des Gutes. Vermutlich nach der Farbe seiner Befestigung trug der von Weiden und Pappeln besäumte Weg den Namen „Schwarzer Weg". 1929 wurde er in Paulsternstraße umbenannt. Auch dieser Weg hat die Stadtplaner schon frühzeitig zu neuen Einfällen angeregt, wozu seine gerade Führung beigetragen haben könnte. Schon 1905 hatte Janisch anläßlich der Planung für die Straßenbahnlinie Spandau-Hauselhorst-Siemensstadt vorgeschlagen, hier eine Straße mit Mittelplanum für die Bahn und zwei Richtungsfahrdämmen vorzusehen, wobei eine Straßenbreite von 30 m angenommen wurde. Der Spandauer Stadtbaurat Fischer wollte 1917 den „Schwarzen Weg" in ein Netz überörtlicher Straßen einbinden. Er spricht von einem „nordsüdlichen Straßenzug, welcher von der Jungfernheide ausgehend, über Gartenfelde, den Schwazen Weg und nach Überquerung der Spree... südlich des Spandauer Bockes die Charlottenburger Chaussee erreicht... sowie die kürzeste Verbindung zwischen Jungfernheide und Grunewald darstellt". Also auch bei Fischer tritt bereits der Grundgedanke einer Nord-Süd-Verbindung hervor, wie sie dann ein Jahrzehnt danach die städtischen Planer verfolgten. Ein späterer Ausbau des „Schwarzen Weges" als „Ausfallstraße" wird zuerst in den Jahren 1928/29 konkreter erörtert. Diesen Planungen war eines gemeinsam: Es waren Straßen höherer Ordnung, bei denen eine zusätzliche Nutzung des Straßenraumes durch die vorhandenen Anlagen der Siemens-Güterbahn nicht mehr möglich schienen. Infolgedessen unterstrich die Stadt Berlin-ihre Forderung, die Gleise der Siemensbahn rechtzeitig aus dem künftigen Straßenland zu entfernen. „Die Werkbahnen der Siemens-Schuckert-Werke können nach diesem Plan ohne besondere Schwierigkeiten aus den Verkehrsstraßen beseitigt werden", sagt ein Vermerk vom 23. Mai 1929 der zentralen Tiefbauverwaltung. Die Realisierung der großartigen Straßenbauprojekte Holtzdamm -Nommendammallee bzw. der „Ausfallstraße Reichskanzlerplatz-Tegel" war innerhalb der nächsten Jahre nicht zu erwarten, weder bestand als Voraussetzung ein förmlich festgestellter Fluchtlinienplan, noch konnte der Grunderwerb für die benötigten Straßenlandflächen 118

vorbereitet werden. Hinzu kam, daß sich die Stadt Berlin seit 1929 immer mehr in ihrer finanziellen Krise verstrickte, die eine Inangriffnahme derartig kostspieliger Straßenbauprojekte ohnehin verbot. Die Planungen Berlins schwebten hier gleichsam in einem luftleeren Raum. Unter diesen Umständen konnte man der Firma Siemens den Betrieb ihrer Güterbahn in den von den phantasievollen Planungsvorstellungen betroffenen Gebieten nicht verwehren, man genehmigte auch beantragte Erweiterungen von Gleisanlagen, aber der Polizeipräsident als Kleinbahnaufsichtsbehörde erteilte diese Genehmigungen nur befristet, auf einige Jahre, um später jederzeit eine reibungslose Durchführung der Straßenplanungen zu gewährleisten. Diese Einschränkungen bezogen sich sowohl auf die 1928 durchgeführte Erweiterung des bislang nur zweigleisigen Güterbahnhofs an der Nonnendammallee um weitere drei Gleise nach Norden hin in das frühere Exerzierplatzgelände als auch auf den neuen Gleisanschluß von Siemens nördlich der Spree bis zum bestehenden Gleisnetz in der Motardstraße und an der Nonnendammallee. In seiner Genehmigung vom 15. November 1929 nach dem preußischen Kleinbahngesetz für die Anschlußbahn Ruhleben-Siemensstadt machte er die Auflage, daß die schienengleichen Kreuzungen des neuen Zuführungsgleises mit der Nonnendammallee, der Motardstraße und der projektierten Ausfallstraße am Kraftwerk West „bis spätestens im Jahre 1935 durch den Bau von Überführungsbauwerken zu beseitigen und gleichzeitig" sämtliche Gleisanlagen der Siemens-Schuckert-Werke aus der Nonnendammallee zu entfernen seien. In den dreißiger Jahren wurden diese Termine um jeweils ein oder einige wenige Jahre verlängert, da sich ein Straßenbau immer noch nicht abzeichnete. Erst gegen Ende des Jahrzehnts schienen umfassende Straßenbaumaßnahmen in einer absehbaren Zukunft bevorzustehen. Anstelle der 1924 als Behelfskonstruktion errichteten hölzernen Berliner Brücke über die Havel in Spandau wurde 1937 die Errichtung der Berliner-Tor-Brücke der heutigen Juliusturmbrücke in Angriff genommen, deren Fertigstellung sich bis 1942 hinzog. Auch der Ausbau der zu beiden Seiten an der Brücke anschließenden Straße „Am Juliusturm" wurde vorbereitet. In Spandau selbst wurde eine breite Schneise durch das Altstadtgebiet an der Breiten Straße und am Behnitz geschlagen, die später gelegentlich als brutaler Eingriff in die Altstadtstruktur bedauert worden ist. Östlich der Brücke wurden die Planungen für den Straßenbau eingeleitet. Ihrer künftigen Verkehrsbedeutung entsprechend sollte die Straße von anderen Verkehrsmitteln nur noch planfrei überschritten werden. Daher wurde projektiert, die plangleiche Kreuzung der - der Siemens-Güterbahn westlich benachbarten - Industriebahn der „Inag" (Industrieanlagen GmbH) in der Straße „Am Juliusturm" östlich der Zitadelle durch ein Überführungsbauwerk zu ersetzen. Der Bahnkörper sollte dann im Zitadellenweg wieder auf Niveau abfallen. Dieses Vorhaben ließ auch den Neubau der Nonnendammallee mit der Herstellung eines zweiten Fahrdammes in einer absehbaren Zeit heranrücken. Außerdem bestand die Absicht, die „Ausfallstraße", die ein Jahrzehnt zuvor bei der Kraftwerks- und Güterbahnplanung eine Rolle gespielt hatte, „in kurzer Zeit" herzustellen. In der Zeit der Speer-Planung wurde diese Straße als „vierter Rang" bezeichnet. Der Polizeipräsident forderte daher die Firma Siemens im März 1938 auf, die Beseitigung der plangleichen Kreuzungen vorzunehmen und den Güterbahnhof an der Nonnendammallee bis spätestens zum 31. Dezember 1939 zu beseitigen. Die Firma Siemens war also genötigt, für ihren Übergabe- und Verschiebebahnhof einen neuen Standort zu finden, der auch den betriebstechnischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Rechnung trug. Vier Varianten für den neuen Bahnhof wurden ausgearbeitet, zwei davon verlegen ihn in Süd-Nord-Richtung westlich der Paulsternstraße, wobei die Anlage so angeordnet wurde, daß in dem einen Entwurf der Hauptteil der Verschiebegleise südlich, in dem 119

anderen nördlich der Nonnendammallee liegen sollte. Ein anderes Projekt sah den Bahnhof im Bereich der östlichen Motardstraße vor, und es waren 1939 auch bereits Verhandlungen mit der Stadt eingeleitet, die Motardstraße als öffentliche Straße aufzuheben und das Straßenland den Bahnzwecken zur Verfügung zu stellen. Eine vierte Überlegung schließlich versetzte den Bahnhof in die damaligen Spreewiesen zwischen Nonnendammallee und Spree westlich von Paulstern. Zu einer Entscheidung über den Standort des zu verlegenden Bahnhofes kam es trotzdem nicht. Die NS-Zeit war für weitreichende städtebauliche Planungen außerordentlich aufgeschlossen. Umfangreiche Projektierungen wurden in Angriff genommen, bereits vorliegende Entwürfe wurden umgearbeitet, dann mußten die einzelnen Projekte miteinander abgestimmt werden, da die eine Planung in die andere eingriff, dabei mußten auch schon beabsichtigte Ausführungen zurückgestellt werden. Daß finanzielle oder wirtschaftliche Überlegungen bei den Planverfassern eine Rolle gespielt haben, ist nicht ersichtlich. Nachdem man ein Jahrzehnt hindurch die geplante Ringstraße mit der Güterbahn hatte überführen wollen, wurde 1938 gefordert: „Gemäß der Forderung des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt sind ... alle Eisenbahnen unter dem 4. Ring unterführt". Das erschwerte natürlich die gesamte Güterbahnplanung der Firma Siemens, denn die bisher berechneten Gradienten waren nun wertlos. Noch einschneidender aber war ein 1938 aufgestellter Plan: der vierte Ring sollte nun östlich am Kraftwerk West, weiterhin östlich der Paulsternstraße und über den östlichen Teil der Insel Gartenfeld in Richtung Tegel verlaufen. Parallel zu dem vierten Ring war im Siemensstädter Bereich eine Eisenbahnstrecke vorgesehen, die von der Heerstraße nach Tegel führen und je zwei S-Bahn- und Güterbahngleise aufnehmen sollte. Die Linienführung war „hauptsächlich vom Generalbauinspektor bestimmt... und von Wehrmachtbelangen beeinflußt". Diese recht unbekümmerten Planungen brachten für die Projektierung des Siemens-Güterbahnhofs, aber auch für die betroffenen städtischen Straßenbauentwürfe so viele Fragen, daß an eine Innehaltung des Räumungstermines Ende 1939 nicht mehr gedacht werden konnte. Der Polizeipräsident war daher damit einverstanden, in dieser Angelegenheit gesetzte Fristen „auf unbestimmte Zeit" zu verlängern. An diesen Planungen wurde auch noch in den ersten Kriegsjahren gearbeitet, an eine Ausführung war, selbst wenn die Planungen einen Abschluß gefunden hätten, nach Ausbruch des Krieges 1939 nicht mehr zu denken. NS-Planungen aus den Speerschen Büros kann man zwar als großzügig bezeichnen, es haftete ihnen aber auch Rücksichtslosigkeit an, denn sie zeigten wenig Einfühlung in vorhandene Stadtstrukturen und die Landschaft. Angelegt waren diese Planungen in einem Maßstab, der zu den tatsächlich bestehenden Notwendigkeiten häufig in keinem Verhältnis mehr stand. Nach Beendigung der Blockade wandte sich die Tiefbauverwaltung dem Ausbau schon bestehender bzw. neu herzustellender Straßenzüge zu. Das Notstands- oder „Garioa"-Programm brachte mit seinen Sondermitteln in den Jahren 1950 bis etwa 1957 die Möglichkeit, umfangreiche Straßenbaumaßnahmen zu finanzieren. Das zur Bekämpfung der damaligen Arbeitslosigkeit konzipierte Programm gab die Möglichkeit, mit niedrigen Tagewerkssätzen viele Arbeitskräfte zu beschäftigen. Ein ganzes Geflecht von neuen Verkehrsstraßen wurde damals im Nordwesten der Stadt geplant und ausgeführt. 1950 bis 1952 entstand der Tegeler Weg (heute Kurt-Schumacher-Damm) in der ersten Ausbaustufe. 1952 wurde als damals größtes nach dem Kriege durchgeführtes Straßen-Neubauvorhaben der Goerdelerdamm angelegt. 1952/53 wurde der „neue" Siemensdamm nördlich der vorhandenen Straße verlegt. Diese Straßenumlegung sowie die des Tegeler Weges zwischen Bahnhof Jungfernheide und Jakob-Kaiser-Platz im Jahre 1953 geschah, um die Voraussehungen für den Weiterbau des 1938 begonnenen Westhafenkanals zu schaffen. 120

Dieses Netz neuer Verkehrsstraßen hat auch auf die weiteren Straßenbauplanungen des Senats eingewirkt. Schon Ende 1952 stellte man Überlegungen an, den immer noch nur eine schmale Fahrbahn aufweisenden Straßenzug der Nonnendammallee (westlich der Siemensstadt) und der Straße Am Juliusturm ebenfalls auszubauen und mit einer zweiten Fahrbahn zu versehen. Den akuten Anlaß für den Ausbau der Nonnendammallee gab schließlich die schon 1953 beabsichtigte Errichtung des Ziegelsplitterwerks an der Nonnendammallee gegenüber dem Siemens-Bahnhof, da man durch den Verkehr zu und von diesem Werk eine erhebliche zusätzliche Belastung der Nonnendammallee erwartete. Bei den dem Ausbau vorausgehenden Verhandlungen zwischen den Baubehörden Berlins und den Siemensfirmen tauchte auch wieder die alte Frage einer Verlegung des Siemens-Bahnhofs an der Nonnendammallee auf, aber diesmal löste man sie gewandter, als man sie 1918, 1928 und 1938 angestrebt hatte. So vereinbarten Berlin und Siemens, daß im Endzustand bei grundsätzlicher Beibehaltung der Planungen aus den Jahren 1918 und 1928 bis 1939 diese Gleisanlagen aus der Nonnendammallee entfernt werden und die Nonnendammallee dann von der Siemens-Güterbahn unter Beseitigung der höhengleichen Kreuzung niveaufrei überquert werden sollte. Der Zeitpunkt des „Endzustandes" aber wurde zeitlich überhaupt nicht festgelegt, vielmehr führte man 1954/55 den neuen nördlichen Straßenteil am Güterbahnhof entlang, der nun zwischen zwei Fahrdämmen in einem 21 m breiten Mittelstreifen lag. Lediglich zwei der vorhandenen fünf Gleise gab Siemens auf und stellte die bisherigen Gleisflächen dem Straßenbau zur Verfügung. Derartige Abmachungen konnten um so eher getroffen werden, als sich bereits damals, vor Mitte der fünfziger Jahre, deutlich der Rückgang des Güterverkehrs auf der Schiene abzuzeichnen begann. Auch heute, fast drei Jahrzehnte nach dem Ausbau der Nonnendammallee hat sich eine Notwendigkeit, den Bahnhof in seiner Lage zu verändern, nicht gezeigt. Was man allerdings 1954 nicht voraussehen konnte war, daß der Güterbahnhof in der Nonnendammallee eine erhebliche Funktionsänderung erfahren mußte. Er wurde seit etwa 1965 zum Olbahnhof für die großen Tanklager der Firmen Shell und Esso am Salzhof, die von Ruhleben her über die Siemens-Anschlußbahn und den Siemens-Bahnhof mit Kesselwagenzügen beliefert wurden. Auf diesem übernehmen die Lokomotiven der Westfälischen Transport AG die Züge mit den Mineralölprodukten und führen sie auf dem Anschlußgleis nach dem Salzhof den Tanklagern zu. Im letzten Jahrzehnt gingen im Jahr jeweils etwa 15000 bis 20000 Ölwaggons über den Bahnhof in der Nonnendammallee. Die Straßenplanung des vierten Rings, die einst mit der Bahnplanung in engem Zusammenhang stand, hat die Jahrzehnte überdauert. Die alte „Ausfallstraße" östlich vom Kraftwerk Reuter und ihre nördliche Fortsetzung im Zuge der Paulsternstraße sind in den Planungen seit den 50er Jahren unverändert zu finden. Bei der Projektierung für das neue Heizkraftwerk „Reuter-West" der Bewag ist die Straße zwischen Spree und Motardstraße, diesmal als „Hauptverkehrsstraße" bezeichnet, wiederzufinden und im Bebauungsplan für das Kraftwerk zwischen Spree und Motardstraße auch entsprechend ausgewiesen. Hier ist die Straßenplanung zum ersten Mal über die skizzenhaften Entwürfe hinaus gediehen. So ist das zählebige Projekt immerhin 65 Jahre alt geworden, ohne daß seine Realisierung in absehbarer Zeit in Aussicht stünde. Da aber der Verkehr mit seinen Bedürfnissen nicht ohne Straßen sein kann, hat man ein Provisorium geschaffen. Im Jahre 1952 baute die Stadt die Paulsternstraße im Notstandsprogramm behelfsmäßig aus, die neue Straße wurde neben dem einstigen „Schwarzen Weg" angelegt; 1966 wurde der Fahrdamm wegen des inzwischen stark angewachsenen Verkehrs wiederum provisorisch verbreitert. So hat die Straße als „vorläufige Einrichtung" auch schon wieder ein Alter von dreißig Jahren erreicht. 121

Nachrichten Vom 23. September an bis Ende November 1983 findet eine kleine Ausstellung zum Thema Hamburger Bahnhof/Verkehrs- und Baumuseum im Verkehrsmuseum in der Urania statt.

Berichtsjahr 1984 der Internationalen Bauausstellung 1987 Nach dem Stand Mitte 1983 seien hier einige der Veranstaltungen aufgeführt, die das Land Berlin, vertreten durch den Senator für Bau- und Wohnungswesen, im Berichtsjahr 1984 für die Internationale Bauausstellung 1987 vorgesehen hat: 1. Retrospektive „Wohnen in Berlin 1900-1984". Konzeption und Projektleitung: Stiftung Deutsche Kinemathek. 2. „Friedrich Gilly", Ausstellung, Ort: Berlin-Museum, Zeit: 21. September bis 1. November 1984. Friedrich Gilly (1772-1800) darf als Begründer der modernen Baukunst - nicht nur in Preußen - gelten. Bisher unbekannte Originalzeichnungen, Fotos und Archivalien, aber auch Objekte des Kunstgewerbes werden Friedrich Gillys umfassende Leistungen im Städtebau und in der Landbaukunst dokumentieren. Projektleitung: Berlin-Museum in Zusammenarbeit mit Hella Reelfs. 3. „Die Zukunft der Metropolen - Das Beispiel Berlin", Ausstellung/Veranstaltung, Ort: Technische Universität Berlin, Zeit: September bis November 1984. Ein Forschungs-, ein (wissenschaftliches und populäres) Veranstaltungs- sowie ein Ausstellungsprogramm zur Untersuchung und Darstellung der Zukunftsperspektive Berlins als deutscher Metropole. In einem historischen internationalen Vergleich werden Aspekte der Geschichte, der Gegenwartsproblematik und der Zukunftschancen der Metropolen im Prozeß des technisch-industriellen und gesellschaftlichen Wandels behandelt. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit und in welchem Sinne die besonderen Probleme des heutigen Berlins auch als Zuspitzung genereller Probleme der Metropolen begriffen werden können, inwieweit die Nachteile der Berliner Situation auch die Chancen ihrer Umkehrung in Vorteile bergen und inwieweit die besonderen Zuspitzungen von Problemen, wie aber auch spezifische Standortaspekte Berlins die Chancen bieten für exemplarische Antworten auf gesellschaftliche Probleme von nationalem und internationalem Interesse. Konzeption und Projektleitung: Technische Universität Berlin, vertreten durch den Präsidenten und K. Schwarz. 4. „Städtisches Wohnen in Berlin und in London vom Mittelalter bis heute", Ausstellung, Ort: voraussichtlich Orangerie, Schloß Charlottenburg, Zeit: Oktober 1984. Konzeptionelle Vorbereitung: Josef Paul Kleihues, Projektleitung: Joseph Rykwert, Association für Metropolitan Arts, London. 5. „Kreuzberg", Kreuzberger Mischung gestern - heute - morgen, Ausstellung, Ort: Bewag-Halle, Paul-Lincke-Ufer, Zeit: 16. September bis Oktober 1984. Gegenstand der Ausstellung soll das komplexe Phänomen der „Mischung" sein, als Gewerbegeschichte, Arbeits- und Alltagskultur sowie Gewerbe- und Wohnarchitektur. Konzeptionelle Vorbereitung: Hardt-Waltherr Hamer, Projektleitung: K. H. Fiebig, D. Hoffmann-Axthelm, E. Knödler-Bunte.

Denkmalschutz für Deutschlands letzten Glaspalast Das Verwaltungsgericht Berlin hat jetzt den Denkmalschutz für das ehemalige Deutsche ArbeitsschutzMuseum an der Fraunhoferstraße in Charlottenburg bestätigt. Das Gebäude war im Frühjahr 1982 vom Landeskonservator unter Schutz gestellt worden. Gegen die Unterschutzstellung hatte die Eigentümerin des Gebäudes, die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, geklagt. Die 16. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin wies die Klage der Bundesanstalt ab. Bei dem früheren Arbeitsschutz-Museum mit seiner gläsernen Ausstellungshalle handelt es sich um das letzte Objekt dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum. Derartige Glaspaläste sind sonst nur noch als Gewächshäuser in botanischen Gärten zu finden. Das Museum für Arbeitsschutz war von 1900 bis 1906 als Eisenfachwerkbau für die „Ständige Ausstellung für Arbeiterwohlfahrt" vom Reichsamt des Innern erbaut worden. I SchB. 122

Fünfundsiebzigster Jahrestag der Eröffnung des Märkischen Museums Nachdem der Magistrat von Berlin schon 1891 für den Bau des Museums ein Grundstück an der Waisenbrücke erworben hatte und 1899 mit den Aushubarbeiten begonnen worden war, konnte das Märkische Museum am Köllnischen Park erst am 10. Juni 1908 eröffnet werden. In einer Sonderausstellung, die noch bis November 1983 gezeigt wird, erinnert das Märkische Museum Berlin an seine Baugeschichte und an seinen Architekten Ludwig Hoffmann (1852-1932), der von 1896 bis 1924 Berliner Stadtbaurat war. Die Fotosammlung des Museums konnte inzwischen durch Originalfotografien des 1950/51 in der Ära Ulbricht abgerissenen Berliner Stadtschlosses ergänzt werden, die sämtlich von „J. Jamrath und Sohn, Photograph beider kaiserlich-königlichen Majestäten in Berlin", stammen. Außerdem wurden der Sammlung mehr als 2000 Berlin-Ansichten aus der Zeit nach 1945 einverleibt. Die Grafiksammlung wurde um Handzeichnungen aus den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts vermehrt, darunter die Zille-Mappe „Komm, Karlineken, komm" von 1925. In der Handschriftenabteilung wurde eine Dokumentation von „merckwürdigen" Justizvorgängen aufgenommen, die aus Edikten und Urteilen der Jahre 1600 bis 1665 besteht. SchB.

Vier Millionen Bücher bei den Staatlichen Allgemeinbibliotheken in Ost-Berlin Im Ostteil der Stadt stehen Bücher, Fachzeitschriften und Tonträger aus insgesamt 550 Bibliotheken den Bürgern kostenlos zur Verfügung. Ein Fünftel der Bevölkerung Berlins wird von den Staatlichen Allgemeinbibliotheken mit einem Gesamtbestand von rund vier Millionen Büchern, Bildern, Karten und Tonträgern versorgt. Die Berliner Stadtbibliothek konnte im ersten Halbjahr 1983 ihren Buchbestand um etwa 40000 Bände auf 1,116 Millionen Exemplare erweitern. SchB.

Von unseren Mitgliedern Arne Hengsbach 70 Jahre Am 20. November 1983 feiert Arne Hengsbach, einer unserer namhaftesten und fruchtbarsten Berlinhistoriker, seinen 70. Geburtstag. Wer den großen und schwergewichtigen, äußerlich etwas mürrisch wirkenden Mann nicht kennt, wird in ihm kaum einen derart aufgeschlossenenen und sensiblen, vielseitig interessierten und humorvollen Geschichtskenner vermuten. Geboren in Siemensstadt, ist er zeit seines Lebens diesem Stadtteil zwischen Berlin und Spandau und seiner besonderen, weit über das Lokale hinausgreifenden Entwicklung treu geblieben. Am Staatl. Kantgymnasium Spandau legte er 1932 das Abitur mit einer „Fünf in Mathematik und einer „Eins" in Geschichte ab - ein bedeutsames Indiz für die frühe Hinneigung zur Historie, die vielleicht sogar erblich bedingt war. Denn auch sein Vater, der Schriftsteller Arno Hengsbach, genannt Hach, wandelte zu jener Zeit eifrig und im Hauptberuf auf den Spuren des alten Berlin. Er schrieb in den Jahren 1928 bis 1945 für die „DAZ", die „Morgenpost", die „Germania" und andere Zeitungen heimatgeschichtliche Artikel, wobei er die Literaturgeschichte bevorzugte; auch die Berliner Stadt- und Dorfkirchen wurden in umfangreichen Serien behandelt. Der Sohn folgte den väterlichen Anregungen schon zeitig und begann seine literarische Tätigkeit im Jahre 1932 mit Artikeln über die Entstehung Siemensstadts im „Siemensstädter Anzeiger", für die er ein Honorar von 2 RM pro Aufsatz erhielt. Zur gleichen Zeit erlernte er bei der bekannten Gsellius'schen Buchhandlung in der Berliner Mohrenstraße den Antiquariatsbuchhandel, bis der Zweite Weltkrieg ihm schließlich andere Tätigkeiten abverlangte. Voll zur Entfaltung konnte Arne Hengsbach seine historische Begabung erst nach Kriegsende bringen. Er war von der Gründung des „Spandauer Volksblattes" im März 1946 an bis zu 750-Jahr-Feier Spandaus im Jahre 1982 heimatkundlicher Mitarbeiter dieser Zeitung. Die erste zusammenhängende Darstellung der Geschichte Siemensstadts (mit Haselhorst) erschien 1954 anläßlich des 50jährigen Gründungstages der Wohnstadt - aus der Feder Arne Hengsbachs. Neben den selbständigen Schriften hat er in verschiedenen Publikationen, vor allem im „Bär von Berlin" und in den „Mitteilungen" unseres Vereins (dem er seit 1949 123

angehört), mehr als 50 größere Aufsätze veröffentlicht, die die Siedlungs-, Bau-, Industrie- und Verkehrsgeschichte Berlins zum Gegenstand haben. Mit gleicher Freude und Akribie widmete er sich kulturgeschichtlichen Themen wie dem Spandauer Theater oder der Berliner Trivialliteratur. Zahlreiche Arbeiten lieferte Hengsbach auch zur topographischen Entwicklung seiner Vaterstadt Spandau, der er in verschiedenen beruflichen Funktionen diente, so z. B. 1946 bis 1950 als Pressereferent beim Bezirksamt Spandau. Zum Abschluß seines langen Berufslebens war er in den letzten Jahren als firmengeschichtlicher Mitarbeiter bei der Firma Siemens tätig. Das Altenteil hat dieser überaus kundige Sachwalter BerlinSpandau-Siemensstädter Geschichte zwar erreicht, wünschen wir ihm und noch mehr uns, daß er sich tunlichst noch nicht darauf zurückziehen möge! Peter Letkemann

Buchbesprechungen Niemands Land. Fotos: Monika Hasse, Text: Peter Schneider. Verlag Frölich & Kaufmann GmbH, Berlin 1982, 25 DM Monika Hasse, von Hause aus mit dem Entwerfen von Theaterkostümen beschäftigt und in dieser Eigenschaft auch Gastprofessorin an der Hochschule der Künste Berlin, fotografiert seit einem Jahrzehnt. Wer aus ihrer Arbeit in den schönen Künsten nun auch schöne Fotografien im herkömmlichen Sinn erwartet, wird sich getäuscht sehen - auf ihren Fotos hält sie „planmäßig Unwichtiges, Nebensächliches, Wertloses fest". Weder Ansichtskartenaufnahmen noch Stadtlandschaften herkömmlicher Art sind ihr Sujet, „sondern der Wahrnehmungsraum eines einzelnen Menschen, der in dieser Stadt zu einer bestimmten Zeit lebt. Zu sehen ist eine Stadt, die nahezu menschenleer ist. Soweit Menschen erkennbar sind, wirken sie verlorener noch als die Dinge, die sie umgeben. Daß diese Stadt Berlin heißt, tut fast nichts zur Sache. Monika Hasses Fotos handeln vom Leben in einer großen Stadt am Rand des zweiten Jahrtausends." So beschreibt Peter Schneider die künstlerische Sicht der Fotografin. Peter Schneider ist zuletzt durch seine Erzählung „Der Mauerspringer" (1982) und durch das Drehbuch zum Film „Der Mann auf der Mauer" bekannt geworden. Er steuert Zwischentexte bei, für die ähnliche Kriterien gelten können wie für die Fotos, aber auch Bildunterschriften, etwa zu einem Foto eines großen Mercedes-Sterns oberhalb eines die Mauer symbolisierenden Zaunes mit drohend abwehrenden Dornen: „Montags kein Fleisch, freitags kein Bier. Lieber Erich, wir danken dir." Hier zwei weitere Proben für die bewußt verfremdenden Bildtitel: „Was aus Berlin wird? Hier ist mein Vorschlag, erwidert der Fahrer dem Reisenden auf seine Frage: ein Bierzelt über die Stadt, die Außenmauern stehen ja schon, nur in der Mitte 'ne Fahrspur freilassen für den Bierwagen" und „Die Mauer ist für die Deutschen im Westen der Spiegel, der ihnen Tag für Tag sagt, wer der Schönste im Lande ist." H. G Sckultze-Bemdt Berlin - New York. Schriftsteller in den 30er Jahren, fotografiert von Lotte Jacobi. Mit einem Vorwort von Ludwig Greve. Zusammengestellt von Walter Scheffler. 100 Seiten, 45 Abbildungen. Pappband 25 DM. Marbacher Schriften, Band 21, 1982. In Kommission bei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachf. GmbH Stuttgart. Die Fotografin, die heute noch in New Hampshire, USA, tätig ist, kam 1927 nach Berlin, dem „gemütlichen Babel", und hat mit Vorliebe Literaten, Theaterleute und Verleger abgelichtet. Ihre Aufnahmen sind eine Art fotografischer Literaturgeschichte, von Vicki Baum, Ernst Bloch und Martin Buber bis zu Kurt Wolff, Carl Zuckmayer und Arnold Zweig, dazwischen Alfred Döblin, Alfred Kerr, die Manns, Joachim Ringelnatz, Anna Seghers und Kurt Tucholsky. In einem gediegenen Band sind diese zeitgeschichtlich wertvollen und künstlerisch eindringlichen Porträtfotos zusammengefaßt worden, denen Ludwig Greve ein Geleitwort vorangestellt hat. Er verweist auf das Magazin „Querschnitt", dem diese Aufnahmen entnommen sein könnten, obwohl ein Teil bereits aus New York stammt, wohin Lotte Jacobi 1935 emigrierte. Da vor allem der jüngeren Generation „Der Querschnitt" nicht geläufig sein mag, sei auf das Ullstein Buch Nr. 4716 „Der Querschnitt" hingewiesen, in dem ein Faksimile-Querschnitt durch den Querschnitt 1921-1936 gegeben wird, herausgegeben von Wilmont Haacke und Alexander von Baeyer. In der Nr. 6/1933 schrieb Dr. Louis Ferdinand von Preußen über Ford, in der letzten Ausgabe vom Oktober 1936 ist ein Artikel von Friedrich Luft abgedruckt. So schließt sich der Kreis wieder. H. G. Schultze-Berndt 124

Karl Voß: Auf den Spuren Goethes in Berlin. The World of Books Ltd., London 1982.129 Seiten mit einem Personen verzeichnis, einem Straßenverzeichnis der behandelten Berliner Örtlichkeiten und 28 Abbildungen aus dem 18. Jahrhundert. Der Titel ist bescheidener als sein profunder Inhalt; denn es schreibt ein Berlin- und Goethe-Kenner zugleich, der als gebürtiger Berliner die gewissenhafte Berliner Goetheforschung souverän handhabt. Seine Studie entspringt pädagogischer Absicht und ist ein didaktisches Meisterwerk, in dieser Kürze - er verfolgt Goethes fünftägigen Berlinaufenthalt von 1778 gleichsam Schritt für Schritt - ein Goethe-Bild von Berlin her zu entwerfen, bei dem Weimar am Rande bleibt. Er geht der Nachvollziehung dieser Tage anhand von Goethes Tagebuch den ungewöhnlichen Weg, das in jenem Jahrzehnt noch ungeschiedene Konglomerat von Spätaufklärung, Sturm und Drang und gerade sich abzeichnender Klassik in die Berliner Geistes weit einzupflanzen. Selbst der Historiker und Germanist liest bekannte Fakten in bisher kaum vollzogener Zusammenschau und in statu nascendi der friderizianischen Königsstadt. Im Mittelpunkt stehen nicht, wie sonst gewohnt, „Goethes Herzog", sondern Wilhelm von Humboldt, Zelter, die Karschin und die Topographie Berlins. Der jungen Generation ist es keine leichte Lektüre; sie verlangt mühevolles Sicheinlesen in ein dichtes Gespinst geistiger Beziehungen anhand eines guten historischen Berlinführers; sie ist doppelt schwer, weil der Schauplatz der Spurensuche im heutigen Ost-Berlin liegt, das junge Menschen weder kennen noch leicht aus der trostlosen Verfremdung wiedererkennen können. Gerade deshalb mußte der Versuch unternommen werden - gleichsam als Nachlese zum Goethe-Jahr und von einem Berliner, dem aus eigener kindlicher Heimatkunde Alt-Berlin noch vertraut ist. Verdienstlich ist es, die Spurensuche an die noch vorhandenen topographischen Gegebenheiten aus dem 18. Jahrhundert anzuknüpfen; allerdings wäre man dankbar für eine besser lesbare, größere Karte von Berlin um etwa 1800; denn nur so ist das im Anhang gegebene Straßenverzeichnis für den Unkundigen nachvollziehbar. In dem Bestreben, auf knappem Raum ein geistiges Gesamtbild zu entwerfen, ließ es sich offenbar nicht vermeiden, zeitlich vor- und zurückzuspringen, was die Lesbarkeit erheblich erschwert. Vf. setzt bei jungen Leuten viele literaturhistorische Kenntnisse voraus, die kaum noch vorhanden sind. Der Kunstgriff, städtebauliche Gegebenheiten vom Zeitpunkt ihrer Entstehung bis zu ihrem heutigen Zustand zu verfolgen, läßt vor dem Leser das Wesen der Residenzstadt, wie es Nicolai zuerst beschrieben hat, bis zum Gebilde Groß-Berlin entstehen - so z. B. das Ensemble des Forum Fridericianum, den Wollmarkt über den Alexanderplatz der Döblin-Zeit bis zum Mittelpunkt der „Sozialistischen Metropole der Hauptstadt der DDR". Der Leser mache sich selbst auf die Suche! Viele reizvolle Streiflichter beleben das Bild, wie z. B. die Erwähnung, daß Chamisso WachofFizier am Potsdamer Tor war, daß Goethe und Schiller in demselben Gasthof Unter den Linden abstiegen, oder die launige Gegenüberstellung, wie verschiedenartig Goethe, Schiller und Heine „die Linden" erlebten. Es bleibt die Aufgabe, das scheinbar schockierende Zitatrichtigzu interpretieren: „Es ist ein schön Gefühl, an der Quelle des Krieges zu sitzen in dem Augenblick, da sie überzustrudeln droht. Und die Pracht der Königsstadt und Leben und Ordnung und Überfluß, das nichts wäre ohne die tausend und tausend Menschen, bereit für sie geopfert zu werden. Menschen, Wagen, Pferde, Geschütze, Zurüstungen, es wimmelt von allem..." - Diese scheinbare Kriegsbegeisterung ist verständlich als Gefühl des Aufbruchs aus politischer Stagnation und Kleinstaatlichkeit und ist abzugrenzen gegen militaristische oder nationalistische Einschläge, womit diese Anschauung nichts zu tun hat. Erwähnenswert ist ferner das Streiflicht, wie Goethe als weimarischer Staatsminister an gewerblichen und sozialen Problemen befaßt ist; er besuchte die Königliche Porzellanmanufaktur. Das schöne und bedeutsame Kapitel seiner Freundschaft mit Zelter liest sich angenehm; neu oder wenig bekannt ist Ottilie von Goethes Ehekrise, in der sich alle Beteiligten eine Heilung durch einen Berlinbesuch erhofften. In allem erwies sich Zelter als väterlicher Freund, als eine zarte und redliche Gestalt. Durch die Freundschaft mit Zelter reicht Goethes Berlinverbundenheit bis ins Zeitalter Friedrich Wilhelms III. hinein. Ein seelischer Mittelpunkt ist ferner das Humboldt-Kapitel; die schöne Freundschaft beider Männer nahm angesichts nahenden Todes der beiden tiefernste Züge an. Der Berliner Leser ist dankbar für das Goethe-Won: „Berlin (sei) der einzige Ort in Deutschland, für den man etwas zu unternehmen Mut hätte...", eine Überzeugung, aus der die Stadt heute leben muß. Das Kapitel der Goethe-Aufführungen und der literarischen Adaptation in Berlin kann Vf. in diesem Rahmen nur streifen; es ist eine eigene Studie wert, vor allem im Zusammenhang mit seiner Hochschätzung der guten Bühnensprache am Berliner Theater (S. 99) und des kunstverständigen Publikums. 125

Vf. berichtet auch, wie sehr Goethe im Alter mit dem Aufstieg zur vormärzlichen Industriestadt verbunden blieb. Diese Anschauung mag seine Ahnung für das heraufsteigende Industriezeitalter geweckt haben. „Ich lebe in Berlin mehr, als ich sagen kann, und vergegenwärtige mir möglichst das mannigfache Große, was für die Königsstadt, für Preußen und für den gesamten Umfang der Kunst und Technik, der Wissenschaften und der Geschäftsordnung (gemeint: Wirtschaftsordnung) geleistet und gegründet wird" (S. 101). Seine Zuneigung zu Berlin begann 1778 mit Wegely und endete im hohen Alter mit den Trostworten Zelters zu seinen Altersdepressionen: „Berlin segnet dich; kein Ort ist in der Welt, wo du besser angesehen bist." Das weist voraus auf die beginnende Goethe-Verehrung in den Berliner Salons. Christiane Knop

Charlotte Wolff: Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit/Eine Autobiographie. Beltz Verlag Weinheim und Basel, 1982, 319 Seiten, brosch. Der Lebensweg der Autorin - Jüdin, Ärztin, Psychologin und Wissenschaftlerin - führte aus einem behüteten Elternhaus in einem westpreußischen Provinznest nahe der polnischen Grenze über Danzig, Königsberg, Freiburg, Tübingen und Berlin nach Paris und London. Sie begegnet einer Vielzahl interessanter Menschen - Maler, Dichter, Schriftsteller, Wissenschaftler -, an denen sich ihr analytischer Scharfsinn, aber auch ihre intuitive Begabung ebenso offenbaren können wie an den Situationen, in die sie gerät. In Berlin sind es vornehmlich Dora und Walter Benjamin und deren Kreis, in Paris beeindrucken die Surrealisten die Emigrantin tief, hier und in London erleichtern ihr Maria und Aldous Huxley neben vielen anderen Freunden und vor allem Freundinnen das Leben. Ihren Unterhalt verdient sich Charlotte Wolff mit praktizierter Chirologie, der Charakter- und Schicksalsdeutung aus den Formen und Linien der Hände. In der Annahme, genug darüber gesagt und geschrieben zu haben, widmet sich die unter dem Zwang lesbischer Veranlagung lebende Frau fortan sexualwissenschaftlicher Forschung. Sie schreibt ein Buch über Liebe zwischen Frauen und eines über Bisexualität (beide Bücher liegen in deutscher Übersetzung vor). Wenn die Vf. behauptet, Menschen würden „wesentlich häufiger durch biographische Ereignisse [also durch einmalige, durch Augenblicksereignisse] hetero- oder homosexuell als durch ihre Konstitution", so ist von hieraus wohl der seltsame deutsche Titel dieses Buches zu erklären - der Sexus der Vf. ist jedenfalls anläge- und nicht ereignisbedingt. Bisexualität wird nicht nur als Bestandteil der Persönlichkeit, sondern als gleichberechtigte Lebensform verstanden. „Unter bisexueller Gesellschaft verstehe ich eine solche, die keine Wertunterschiede bei der einen oder anderen Liebesorientierung macht. Die Gleichsetzung von Heterosexualität mit Reife und beim Mann mit körperlicher und geistiger Überlegenheit führt zur Zerstörung der menschlichen Rasse." Die Vf. bringt ihre Gedanken über das unkonventionelle Sexualverhalten einer alternativen Gesellschaft, erreichbar durch Erziehung, in den „Feminismus" (hier mit Frauenbewegung gleichgesetzt) ein. „Wir müssen allen Menschen klarmachen, daß die Zukunft der Menschheit von einer neuen Mentalität abhängt, die den Materialismus verachtet und statt dessen Kultur und Liebe zu den erstrebenswertesten Zielen erklärt. Erste Bedingung der Freiheit ist absolute Toleranz in kollektiven und individuellen Beziehungen" (S. 243), und „nur eine bisexuelle Gesellschaft kann uns vom Sexismus und der ganzen Skala psychosexueller und sozialer Unterdrückung befreien" (S. 237). Nur so wird das Verhältnis der Geschlechter zueinander entspannt. „Die vorurteilsbehaftete Vorstellung der vom Mann abhängigen Frau ist nichts weiter als eine überalterte soziale Konvention" (S. 306). Nach der Lektüre so breit ausgeführter philanthropisch-utopischer Sexualpsychologie vermißt der Leser das Fehlen der Chirologie-Erkenntnisse der Vf. um so mehr. Das Buch bleibt „sexlastig". Wer meint, es könne sich unter die Berolinensien unserer Bibliothek nur verirrt haben, der sei auf die Berliner Jahre der Studentin, dann Ärztin hingewiesen und auf die Darlegungen der alten Dame anläßlich ihrer Berlin-Besuche in den 70er Jahren, als sie die hiesigen Lesbierinnen und Emanzipierten mit ihren kühnen Thesen noch in Wallung brachte. Gerhard Kutzsch

Eike Geisel: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, 158 Seiten, 120 Abbildungen, Verlag Severin und Siedler, Berlin, Leinen, 38 DM. Schon in dem Namen „Scheunenviertel" liegt etwas Unheimliches und Beängstigendes, zugleich aber auch eine Verlockung. Günter Kunert schreibt in seinem Vorwort: „Das Scheunenviertel war eine eigentümliche Mixtur aus vielen Bestandteilen, nicht nur Ghetto, nicht nur Unterwelt, nicht nur billiges Amüsier126

viertel, nicht nur Zuflucht der aus Polen eingereisten armen Juden, nicht nur ein ,Zille-Milljöh'." Wo befand sich dieses Viertel? Es lag hinter dem Berliner Alexanderplatz in einem Geviert von Gassen und Gäßchen zwischen Münz- und Lothringer Straße, Prenzlauer und Rosenthaler Straße. „Hier wohnten im alten Berlin die armen Leute, und hier befanden sich schon früh die Quartiere der Armut und die Schlupfwinkel der Verworfenheit. Im Jahre 1846 wies Berlin nach einer statistischen Aufstellung schon 2000 Verbrecher, ebensoviel Obdachlose sowie 8000 Bettler und andere fragwürdige Existenzen auf, und im Lauf dieser Zeit wurden die engen Gassen und die schmutzigen Häuser des Scheunenviertels immer mehr zum Schlupfwinkel des Verbrechertums." (Aus einem Polizeibericht Anfang dieses Jahrhunderts.) Im Jahre 1906/07 wurde der verfallene Kern um den Babelsberger Platz abgerissen und die Volksbühne dort erbaut; der Platz hieß nun Bülowplatz, aus ihm wurde der Horst-Wessel-Platz, daraus der RosaLuxemburg-Platz, und heute heißt er schlicht Luxemburgplatz. Doch das Viertel blieb heruntergekommen. In der Dragoner-, Linien-, Rücker- und Mulackstraße blieb die Wohndichte fünfmal höher als in der ganzen Stadt, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. So also das Zustandsbild, bevor die erste Judenwelle nach dem Attentat auf den Zaren 1881 hereinschwappte. Zuerst waren es noch wenige, ihre Zahl vergrößerte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der russischen Revolution, als viele Juden aus Angst vor Pogromen ihre Heimat in Rußland und Polen verließen, um in Deutschland Schutz und Auskommen zu suchen. Sie alle - die Ostjuden - kamen am Schlesischen Bahnhof an und siedelten sich wie schon so viele vor ihnen hinter dem Alexanderplatz an. Man schätzt, daß es einige tausend gewesen sind. Sie kamen als kleine Kaufleute, Schuster, Uhrmacher, Schneider oder Zigarettenarbeiter nach Berlin, die meisten in der Hoffnung, von hier den Sprung über den großen Teich nach Amerika machen zu können. Ihr Zentrum war die Grenadierstraße mit ihrer Vielzahl von Geschäften, koscheren Speisestuben, mit ambulantem Straßenhandel, Betstuben, Synagogen und Talmudschulen, aber auch zionistischen Kulturvereinen und sozialistischen Klubs. Das Buch Eike Geisels dokumentiert anhand der verschiedensten Texte, Bilder und Dokumente die Atmosphäre und die Geschichte dieses ostjüdischen Viertels, das durch die Nazis ausgerottet und schon beinahe vergessen innerhalb unserer einstigen Hauptstadt existierte. Irmtraut Köhler

Wolfgang Carle: Das hat Berlin schon mal gesehen/Die Geschichte des Friedrichstadt-Palastes. HenschelVerlag Berlin (Ost) 1982, 236 Seiten, mit 104 Abbildungen. Angesichts der Fülle nostalgischer Berlin-Bücher in West und Ost engt sich das Feld der Themen für schreibwillige Autoren immer mehr ein. W. Carle hat sich die Geschichte der Berliner Revue, der „Show", zum Gegenstand gewählt, keineswegs nur die des Friedrichstadt-Palastes, wie der Untertitel verheißt, wenngleich dessen Geschicke auch heller ausgeleuchtet werden. Das ist ein Buch, ganz speziell geschrieben für Liebhaber der Welt des Varietes und der Ausstattungsstücke. Den jüngeren Generationen sagen die tausend genannten Namen von Artisten und Künstlern der zwanziger und dreißiger Jahre nichts mehr. Gerhard Kutzsch

Im III. Vierteljahr 1983 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Käthe Kutsche Zimmermannstraße 17, 1000 Berlin 41 Ursula Seffert Ruhrstraße 15, 1000 Berlin 31 Wolfgang Spenn, Dipl.-Verwaltungswirt Florastraße 7, 1000 Berlin 41 Hans Joachim Wolf Stadtrandstraße 488, 1000 Berlin 20

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Veranstaltungen im IV. Quartal 1938 1. Donnerstag, den 6. Oktober 1983, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Klaus von Krosigk, dem Referenten für Gartendenkmalpflege beim Senator für Umweltschutz, „Aufgaben und Ziele der Gartendenkmalpflege in Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Donnerstag, den 13. Oktober 1983,19.30 Uhr: „Berlin halt ein..." Aus dem Leben und Werk von Paul Zech. Es liest Siegfried Haertel. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Sonntag, den 13. November 1983, Volkstrauertag, 10.30 Uhr: „Von Amalie Friedländer und Charlotte von Kalb zu Adolph von Menzel und Theodor Mommsen - Begehung des dritten Kirchhofs der Dreifaltigkeitsgemeinde am Hang des Tempelhofer Berges". Führung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt: Bergmannstraße 39/41. Fahrverbindungen: U-Bhf. Gneisenaustraße, Busse 4, 24, 28. 4. Donnerstag, den 24. November 1983,19.30 Uhr: Vortrag von Herrn Prof. Dr. Wolf-Dieter Dube, Generaldirektor der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz: „Die Berliner Museen in den achtziger Jahren". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 5. Donnerstag, den 1. Dezember 1983, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Prof. Dr. Irmgard Wirth: „Berliner Bildnismalerei im 19. Jahrhundert". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 6. Mittwoch, den 14. Dezember 1983, 11.00 Uhr: „Vorweihnacht auf einem Barnimdorf. Treffpunkt vor dem Portal der Dorfkirche Lübars. Mittagessen und gemütliches Beisammensein im „Alten Dorfkrug Lübars". Menü: Selleriecremesuppe, Rinderschmorbraten in Rotweinsauce, gemischtes Gemüse und Kartoffeln, rote Grütze. 18 DM. Telefonische Anmeldungen bis zum 28. November 1983 unter der Rufnummer 8 5127 39 ab 19.00 Uhr. Fahrverbindungen: U-Bhf. Tegel, weiter mit Bus 20.

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 32328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30 22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 80. Jahrgang

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Ludwig Meidner • Paul Zech

Januar 1984

Paul Zech Ein expressionistischer Dichter Von Siegfried Haertel Die expressionistische Dichtung hatte in dem am 19. Februar 1881 in Briesen/Westpreußen geborenen Paul Zech einen der stärksten und konsequentesten Vertreter sozialer Lyrik. Mit solcher Wucht, Schärfe und Hellsichtigkeit hatte vor ihm noch niemand dichterisch das Industrieleben gestaltet. Alfred Wolfenstein1 schrieb einmal: „Das Leben des Dichters aber, das sei im Getümmel des Schicksals und der kämpfenden Gestalten. Er halte sein Herz nicht in seinem Haupte gefangen. Er fürchte nicht für sein Werk, wenn er sich der Lebendigkeit hingibt, sondern, wenn er sich fürchtet. Im grenzenlosen Leben gestalte er zuerst sich selbst, - dann kann sein Werk seine wahrste Gestalt empfangen. Denn nur der dem Kampfe Hingegebene kann Welt erzeugen. Und es geht nicht dem endlichen Paradies zu, sondern der unendlichen Steigerung des Menschlichen." Diese Zeilen von Wolfenstein, der auch Expressionist war, geben einen Umriß vom Leben und künstlerischen Wirken Paul Zechs. Sie könnten als Motto über einer Biographie des Dichters stehen, und sie sollen hier als Einleitung der Würdigung eines fast vergessenen, in der Geschichte des Expressionismus jedoch fest verankerten Westpreußen stehen. Bevor wir uns nun der Biographie und dem Werk von Paul Zech zuwenden, soll hier noch einmal das Hauptanliegen der Expressionisten vorgetragen werden, das ja zugleich das literarische Programm des zu Würdigenden umreißt. Im Lexikon kann man über den Expressionismus unter anderem folgendes lesen: „Im Protest gegen die konventionellen Formen und als Gegenbewegung zum Naturalismus werden die neue Wirklichkeit und der neue Mensch erlebt und gestaltet. Der Expressionismus stellt das innere Erlebnis über das äußere Erlebnis; die Dichter sollen Künder sein. Steigerung des Gefühls bis zum Pathos, ekstatischer Ausdruck." Der in Prag geborene expressionistische Dichter Paul Kornfeld2 sieht die wichtigste Aufgabe des Expressionismus so: „Das eben mag die letzte Mission und der letzte Sinn aller Kunst sein, nichts als das: Die Menschheit zu erinnern, daß sie aus Menschen besteht, und den Menschen zu erinnern, daß er Gottes ist und eine Seele hat, daß sie sein einziger Mittelpunkt, ein einziges Wesen ist und alles andere nur Last, die sie niederzieht, und das Netz, in das sie eingefangen sein muß, um auf der Erde zu sein; letzter Sinn aller Kunst, dem Menschen vorzuführen, wie alle Wirklichkeit nur Schein ist und hinschwindet vor dem wahren menschlichen Dasein." „Die Menschheit erinnern, daß sie aus Menschen besteht." Das ist wohl der Kernsatz des Expressionismus und damit auch die programmatische Aufgabe von Paul Zech. Um ein Beispiel dieser Aufgabe des Dichters zu geben, sei hier auf einen Vers aus seinem 1916 entstandenen dramatischen Gedicht Empor hingewiesen.: 1 2

Jurist und später freier Schriftsteller. Geboren 1888 in Halle/Saale, gestorben als Emigrant 1945 in Paris Freier Schriftsteller und Dramaturg. Er war Jude. Geboren 1889 in Prag, umgekommen 1942 in Lodz.

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„ O Menschheit, such in diesem ausgerauchten Raum die Mutter nicht! Millionen Mütter kauern angstklein und überströmt von Tränenschauern an leerer Betten mondbescheintem Saum. Mit hilflos stammelnden Gebeten heben sie die durchbohrten Herzen in die Nacht empor und bröckeln langsam von dem Turmbau Leben wie morsche Ziegel ab. Denn nie verlor ein Dasein so den Sinn zu sein, wie dieser Frauen sohnloses Jahr. Ihr Himmel war gewölbt in dem Gebot: alternden Vätern Söhne aufzubauen, die Wachsenden, noch über den gemeinen Tod der Zeuger, aus rohrschwanken Kinderzeiten in ein umfriedetes Geborgensein zu leiten. Ihr aber habt mit schmetterndem Gesang, mit marschgeschwellten Schritten das Band zerschnitten von Herz zu Herz. Aus eurem Überschwang gewitterte ein sonnenloser Norden. Und so wie eine Rose, die Frost verdirbt: sind alle Mütter grau geworden, und niemand weiß von euch wie mühsam jede stirbt." Da wir uns nun dem Leben Paul Zechs zuwenden, soll hier noch einmal der eingangs zitierte Satz von Alfred Wolfenstein stehen: „Das Leben des Dichters aber, das sei im Getümmel des Schicksals und der kämpfenden Gestalten." Betrachten wir das Leben des Dichters, so erkennen wir deutlich die Reflexion auf das Werk. In Wuppertal-Elberfeld ging der Lehrerssohn zur Schule. Nach dem Abitur studierte er in Bonn, Heidelberg und Zürich. Soziale Neigungen ließen ihn jedoch bald sein Studium abbrechen, um als Hauer und Steiger in den Kohlenzechen des Ruhrgebietes und in den Eisenhütten von Belgien und Nordfrankreich zu arbeiten. Ein gewerkschaftlicher Auftrag brachte ihn in Paris mit jungen französischen Literaten zusammen. Von ihnen empfing er die Anregung, Villon, Mallarme, Verlaine, Rimbaud und Verhaeren zu übersetzen. Diese Arbeit gab wohl auch den Anstoß zu eigenen dichterischen Versuchen. Im Jahre 1909 erschien als Privatdruck ein Band Gedichte „Das schwarze Revier". Von diesem Zeitpunkt an war Zech literarisch ungemein produktiv. Bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 erschienen rund 45 Titel in verschiedenen Verlagen. Gleichzeitig gab Paul Zech folgende Zeitschriften heraus: Das neue Pathos, Das dramatische Theater und Weihnachtsblätter. Parallel zu diesem umfangreichen literarischen Wirken läuft der Kampf um die leibliche Existenz. Von 1910 bis 1933 lebte er in Berlin. Seine letzte Wohnung war in Schöneberg, Naumannstraße 78. Er war Redakteur an verschiedenen Zeitungen, Mitarbeiter der Volksbühne und Bibliothekar. Zeitweilig arbeitete er als Kommunal- und Industriebeamter, dabei immer seine Stentorstimme gegen das soziale Unrecht erhebend. Diese Arbeit in den verschiedenen Berufen, das Hineingestelltsein in die Masse der Werk- und Berufstätigen gab dem literarischen Schaffen jene Ursprünglichkeit der Sprache, die den Dichter Paul Zech kennzeichnete. Das nachstehende Gedicht Mittagspause zeigt, wie der Arbeiter Zech eine bestimmte Situation seines Werktages lyrisch umgesetzt hat: 131

Vom Ruß die Gesichter noch grau hocken sie breit in der Sonne da. Aus den Ohren hat sich der Räderradau langsam gelöst und der Wald scheint ganz nah. Sie atmeten den harzigen Ruch mit jedem Biß in das trockene Brot, und verschlucken den Fluch wider die ewige Not. Ein Vogel spaziert da im Kraut, und auf dem Steinhaufen brennt so faul eine Schlange die Haut -: Erdelement! Da werden die Augen ganz hell und denken ins Leben zurück: an Wiesen und Herdengeschell und glauben, das war wohl das Glück ... Da war wohl die Welt, die hinter dem Sonntag liegt, und wo das stinkig Geld keinen Heller mehr wiegt. Wo man sich satt fressen kann wie auf der Wiese das Vieh .... und da sehn sie sich manchmal an und fühlen ein Zittern im Knie. Und lächeln bedrückt in den Wind, der mit Staub und herbstaltem Laub jetzt langsam heranrückt. Der Regen fällt schwer auf ihr weites Gesicht und die Luft schmeckt rauchig und alt... und drin in der Fabrik, da regnet es nicht und das Rad hat wieder Gewalt.

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In den Gedichtbänden Das schwarze Revier, Schollenbruch und Schwarz sind die Wasser auf der Ruhr fand seine Bergarbeiterzeit ihren literarischen Niederschlag. In dem obenstehenden Gedicht klingt in einigen Zeilen die Liebe Zechs zur Natur durch. In seinem zweiten, 1910 erschienenen Bändchen Waldpastelle beschäftigt sich der Dichter nur mit der Natur. In diesen Gedichten sind Erinnerungen an seine Kindheit in Westpreußen und im Sauerland verarbeitet. Als Probe das Gedicht: Der Wald Reißt mir die Zunge aus: so habe ich noch Hände, zu loben dieses inselhafte Sein. Es wird ganz Ich und geht in mich hinein, als wüchsen ihm aus meiner Stirn die Wände, wo klar die Berge zu den Wolken steigen. Ich will mit dem gerafften Licht ins Blaue malen das noch nie geschriebene Gedicht und es in alle Himmel klar verzweigen. Denn hier ist Eingang zu dem Grenzenlosen; hier wird die Welt zum zweiten Male Kind aus den gezogenen weißen und den schwarzen Losen. Tritt ein, der du verwandert bist und blind! Wenn einst in Räumen laut war hohes Rufen um Gott - : die Bäume sind zu ihm die Stufen. Dieses Sehnen nach den heimatlichen Wäldern hat den Dichter sein ganzes Leben lang begleitet. Die Krönung für sein dichterisches Schaffen erfuhr Paul Zech im Jahre 1918 durch Heinrich Mann, der ihm als entscheidender Mann der Jury den Kleist-Preis der Heinrich-v.-KleistStiftung zusprach. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Zech mit dem Erleben des furchtbaren Völkermordens auseinander, und es entstanden Werke wie Das Grab der Well, Eine Passion wider den Krieg, Golgatha, Eine Beschwörung zwischen den Feuern und andere pazifistische Dichtungen. Erwin Piscator, der revolutionäre Regisseur, brachte in seinem Berliner Theater am Nollendorfplatz mit großem Erfolg Paul Zechs Rimbaud-Vision Das trunkene Schiff heraus. Bis 1933 erschienen fast jedes Jahr ein bis zwei neue Werke, darunter Romane, die recht erfolgreich waren, wie Die Geschichte der armen Johanna, Peregrins Heimkehr und Ich bin Du. Mit der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, bei der auch die Bücher Paul Zechs mit den Worten Wider den undeutschen Geist ins Feuer flogen, endete dieser Lebensabschnitt. Die Nationalsozialisten setzten Zech sofort nach der Machtergreifung im Jahre 1933 fest. Wahrscheinlich sahen sie ihn als Kommunisten an, der er aber nie war. Nach Feststellung dieses Irrtums ließen sie Zech im Juni dieses unseligen Jahres frei, und er emigrierte über Prag und Paris nach Südamerika. Kurt Pinthus schreibt im Nachwort seiner „Menschheitsdämmerung" über diese Zeit: Nach bitteren Jahren in Argentinien, wo er seinen Lebensunterhalt als Hausierer zeitweise verdient, bereiste er, meist auf Einladungen, den südamerikanischen Kontinent. Er befährt den Amazonas und seine entlegensten Nebenarme und lebt bei wilden Indianerstämmen. Er besichtigt mit fachmännischem Interesse chilenische Kupferminen und spürt den Konquistadoren am Sonnentor von Tiahuanaco nach, befährt mit einem Binsenboot den Titicaca-See und nimmt an 133

archäologischen Forschungen in Inka-Ruinen teil. Heute ist er mit brasilianischen Schmetterlingsjägern unterwegs im Urwald, wenig später bei den Wasserfällen des Iguacu in Paraguay. Wir sehen ihn bei den Rest-Stämmen der Ona-Indianer im Feuerland, dann geruhsam auf einer Hazienda, Indios ausfragend, um seine Sammlung von alten Indio-Geschichten zu vervollständigen." Hier in der Fremde, immer von einem unsagbaren Heimweh geplagt, entstehen unter dem Titel Neue Welt Verse der Emigration. In einem dieser Verse steht: Die dunklen Stimmen aberfinden noch nicht die Spur zu meinem Blut, ich höre immer noch die Linden im Rauschen der Gedankenflut. Wie in Europa ist auch hier die literarische Produktion unerschöpflich. Noch in Buenos Aires erscheinen die Bücher Bäume am Rio de la Plata, Gedichte, die Erzählungen Ich suchte Schmid und fand Malva und eine Gedenkschrift für Stefan Zweig. Nach dem Krieg wurden aus dem Nachlaß Zechs herausgegeben: Die schwarze Orchidee, indianische Legenden; Die Sonette aus dem Exil; der Roman Kinder von Parma; Reiseberichte aus Südamerika unter dem Titel Das rote Messer; Die grüne Flöte vom Rio Bini; ausgewählte Legenden Die Ballade von einer Weltraumrakete und Abendgesänge und Landschaft der Insel Marapampa. Außerdem war Paul Zech in Chile Mitarbeiter der einzigen deutschsprachigen Zeitschrift Deutsche Blätter. Das unruhige Leben in Südamerika zehrte sehr an den Kräften dieses Mannes von stabiler Statur. Am 7. September 1946 brach er kurz vor Erreichen seiner Wohnung in Buenos Aires zusammen und starb noch am selben Tag an Entkräftung. Es scheint, als hätte Paul Zech in seinem Roman Die Geschichte der armen Johanna sein einsames Sterben vorausgesehen. Das Werk schließt: Am anderen Morgen fand Dich, wie es sich geziemt, eine ganz gleichgültige Person tot im Bett. In einem Sarg aus Tannenholz wurdest Du begraben, ohne Begleitung. Auch ich ging nicht mit, denn noch im Tode solltest du Dein Schicksal der Einsamkeit erfüllen, erzengelgleich, in frommster Erhabenheit. Zitieren wir hier noch einmal den letzten Teil der Worte Alfred Wolfensteins, die am Beginn dieses Gedenkens stehen: „ Und es geht nicht dem endlichen Paradiese zu, sondern der unendlichen Steigerung des Menschlichen. " Paul Zech hat mit seiner Dichtung der Menschlichkeit gedient und deshalb sollte er nicht vergessen werden. Anschrift des Verfassers: Siegfried Haertel, Mariendorfer Damm 216, 1000 Berlin 42

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Die Blumenzwiebelzucht in Berlin im vorigen Jahrhundert Die nachstehende Arbeit beschäftigt sich mit der selbst den Kennern der Berlin-Geschichte wenig gegenwärtigen Tatsache, daß im vorigen Jahrhundert die Blumenzwiebelzucht im Osten der Stadt einen ins Gewichtfallenden Wirtschaftsfaktor darstellte. Der Aufsatz - im folgenden etwas gekürzt - wurde 1921 in der Zeitschrift „ Gartenschönheit" veröffentlicht und stammt aus der Feder von Prof. Dr. Dr. h. c. Dr. E. h. Wittmack (1839-1929). dem Nestor der deutschen Landwirtschaftswissenschaft. Der gebürtige Hamburger promovierte 1867 in Berlin und ging gleich darauf zur Pariser Weltausstellung, wo ihn der preußische Vertreter v. Salviati mit dem Kauf der für die Errichtung eines landwirtschaftlichen Museums bestimmten Gegenstände beauftragte. Wittmack wurde zunächst der Kustos des Museums, das an der Potsdamer Brücke lag. 1874 habilitierte er sich in Berlin und legte ein in seiner Fachwelt viel beachtetes Buch über Gras- und Kleesamen vor. Gleichzeitig dozierte er am Landwirtschaftlichen Lehrinstitut. Bei Errichtung der Landwirtschaftlichen Hochschule 1881 wurde er dort ordentlicher Professor, später auch Honorarprofessor für Angewandte Botanik an der Friedrich-Wilhelms-Universität mit Lehraufträgen an der Tierärztlichen Hochschule und an der Gärtnerlehranstalt in Dahlem. Er war der erste Doktor der Landwirtschaft E. h. und Dr. h. c. der Veterinärmedizin. Die ihm für die Vollendung des W.Lebensjahres zugedachte höchste Ehrung - die Verleihung des Adlerschildes des Deutschen Reiches - hat er nicht mehr erlebt.

Hyazinthen Es war einmal, so sagte ich in den letzten zwanzig Jahren alljährlich zu meinen Studierenden, wenn wir im Mai den ersten botanischen Ausflug nach dem Park des Herrn von Treskow in Friedrichsfelde machten und an den Stationen der Stadtbahn Warschauer Straße und StralauRummelsburg vorbeikamen. Es war einmal hier ein Hauptsitz der Berliner Blumenzwiebelkultur, das Auge erfreute sich an den herrlichen Hyazinthen und Tulpen. Jetzt ist davon fast nichts mehr zu sehen. Die Riesenstadt Berlin streckte ihre Arme auch im Osten immer weiter aus, besetzte wie im Damenspiel die Flächen mit Häusern, vertiefte im Interesse der Schiffahrt die Spree und entzog dadurch den Gärten und Feldern das Grundwasser. Und doch waren die Hyazinthen- und Tulpenkulturen vor dem Frankfurter und Stralauer Tor nicht die einzigen Stätten, auch in Berlin selbst wurden noch viele gezogen. Wann die Anzucht der Blumenzwiebeln vor dem Frankfurter Tor eigentlich begonnen hat, ist nirgends recht zu ersehen; es ist überhaupt merkwürdig, daß wir über die Gärten Berlins im 19. Jahrhundert wenig oder doch nichts Zusammenfassendes haben. Über das 17. und 18. Jahrhundert sind wir namentlich durch Nicolais „Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam", dritte Auflage, zweiter Band, 1786, viel besser unterrichtet, und neuerdings hat Professor Dr. Pniower, Direktor des Märkischen Museums, die „Berliner Gartenkunst im 17. und 18. Jahrhundert" trefflich geschildert in der Zeitschrift „Gartenkunst", 1914, Heft 8, Seite 111 bis 127, mit 21 Abbildungen. In demselben Heft gibt er auch Seite 127 bis 132 eine Darstellung der „Berliner Plätze und ihrer gärtnerischen Anlagen mit acht Abbildungen". Über die Geschichte der Hyazinthe findet sich unter anderem ein Artikel von C. Schenkung im 9. Jahrgang der Gartenlaube, Seite 139. Die Hyazinthe wurde Mitte des 16. Jahrhunderts aus Konstantinopel beziehungsweise dem Orient eingeführt und dann besonders in Holland kultiviert. In Berlin soll sie nach Otto und Dietrich, Allgemeine Gartenzeitung (wir wollen diese 135

künftig kurz mit O. und D. bezeichnen), 5. Jahrgang, 1837, Seite 152, von David Bouche, Lehmgasse 11,1740 bis 1750 zuerst gebaut sein. Wahrscheinlich ist es aber dessen Vater Pierre Bouche gewesen, denn Jean David Bouche lebte erst vom 1747 bis 1819. Letzterer hat sich aber um die Kultur der Blumenzwiebeln, die er in größerem Maße betrieb, wie überhaupt um die Blumenzucht entschieden große Verdienste erworben, und auf Betreiben der Anwohner wurde wegen des Boucheschen Blumengartens laut Verfügung vom 17. August 1816 die Lehmgasse Blumenstraße benannt. Übrigens schickten schon um 1740 die Gebrüder Klefeckere in Hamburg alljährlich ihren „Catalogus von gar vielen schönen Arten Bluhmenzwiebeln" nach Berlin (Consentius Alt-Berlin Anno 1740, 2. Auflage, Berlin 1911, Seite 66). Bis etwa 1820 lagen die meisten Gärtnereien im Osten Berlins noch innerhalb der Stadtmauer, der jetzigen Memeler Straße, und nach Ludwig Helling, Geschichtlich statistisches topographisches Taschenbuch von Berlin 1832, Seite 114, gab es auch damals noch „in der Luisenstadt und im Stralauer Viertel mehr Gärten als Häuser". Die meisten Gärten waren in der Blumenstraße, Koppenstraße, Fruchtstraße, Rosengasse, wohl richtiger Roseesgasse, nach dem Schweizer Obersten du Rosee, welcher hier einen großen Garten hatte (Fidicin, Berlin, historisch und topographisch, Berlin 1843, Seite 110) (jetzt Markusstraße), Krautstraße, benannt nach dem Finanzminister von Kraut, dessen Garten, 1723 angelegt, in der Langengasse vor dem Stralauer Tor lag (Consentius, a.a.O., Seite 71), Frankfurter Straße, Palisadenstraße, Langestraße. Mühlenstraße und auf der linken Seite der Spree in der Köpenicker Straße. Allmählich begann man auch die Kulturen vor dem Frankfurter Tor. Im Jahre 1820 kaufte zum Beispiel Johann Jakob George, der Großvater des Herrn Paul George, von Gastwirt Brennicke, dem Besitzer des sogenannten Schlößchens, eines früheren Jagdschlosses, sieben Morgen Land und gleichzeitig der Gärtner Krause von Brennicke ebenfalls sieben Morgen. In Boxhagen und Rummelsburg begann die Kultur etwas später. In den 1850er Jahren wurden die Gärtnereien, die noch in der Stadt lagen, infolge der Anlegung des Schlesischen, damals Frankfurter Bahnhofes und des Ostbahnhofes fast gänzlich nach den Außenbezirken verdrängt. Immer blieb die Blumenzwiebelkultur hauptsächlich im Spreetale, das sich dafür besonders eignete. Der Untergrund war feuchter Sand, der Grundwasserstand kaum jemals tiefer als 75 Zentimeter. Die Oberschicht bestand aus bester Gartenerde, die durch Jahrzehnte lang andauernde Spatenbearbeitung aus Wiesenboden entstanden war. Dabei war das ganze Terrain vollständig eben und senkte sich nur ganz allmählich nach dem Spreebett hin. Der Grundwasserbestand sank erst dann stärker, als die Spree der Schiffahrt wegen um etwa zwei Meter vertieft wurde. Man muß geradezu staunen über die frühere Ausdehnung der Hyazinthenkultur. In O. u. D., 1. Jahrgang, 1833, Seite 62, heißt es unter anderem: Bald werden die hiesigen Blumisten sich mit den Holländern messen können. Schwerlich dürfte das Ausland es glauben, daß es hier Gartenbesitzer gibt, die vier Magdeburger Morgen (ein Hektar) zum großen Teil mit sehr guten, frühen, sehr seltenen Sorten Hyazinthen bebauen. Wenn man die Hyazinthenkultur vor 25 Jahren gesehen und sie jetzt wieder sieht, so glaubt man sich auf die holländische Hyazinthenfelder versetzt zu sehen. Die große Wohlfeilheit spricht schon für die Menge, die hier gezogen wird. Schade, daß so oft durch Krankheiten hier sowohl wie in Holland Massen davon verloren gehen. Der Hyazinthenflor der Herren David und Peter Bouche zeichnet sich auch in diesem Jahre durch seine Schönheit und geschmackvolles Ordnen aus, und es ist ein großer Genuß, in den Hyazinthengefilden mit Muße Floras Schätze bewundern zu können. 136

Vegetative Vermehrung Der Heranzucht der Blumenzwiebeln erfolgte in der Hauptsache aus Brutzwiebeln. Die größte Vermehrung erzielte man aus den sogenannten „Platzern", die sich bei besonders starkem Wachstum in größeren Mengen hauptsächlich bei den Sorten L'amie du cceur, Maria Catharina und Görres vorfinden. Diese am Boden geplatzten Zwiebeln teilten sich nach dem Wiedereinlegen ins Land in viele kleine und mittelgroße Zwiebeln auf. Das in Holland vielfach übliche Verfahren, durch einen Kreuzschnitt am Zwiebelboden oder gar durch Aushöhlen des Zwiebelbodens kleine Zwiebelchen zu erhalten, war weniger im Gebrauch. Es kommt hier auch in Betracht, daß die Blumenzwiebelzucht in Berlin fast nie als alleiniger Erwerbszweig betrieben wurde, sondern in Gärtnereien, die auch Gemüse, Topfpflanzen oder Baumschulartikel kultivierten. Einer der größten Züchter war der Kunst- und Handelsgärtner C. Krause. Fruchtstraße 15, er gab 1837 (O. u. D., Seite 152) die Zahl seines alljährlichen Vorrats auf etwa 1% Millionen Zwiebeln einschließlich der jungen Nachkömmlinge an, und im Herbst 1836 wurden 6000 Henri le Grand von hier nach Holland geschickt. Die Nachbargärten blieben nicht zurück, so der von David Bouche, Peter Bouche, Joh. Peter Bouche, Mathieu, Limprecht, Joh. George und anderen mehr. Im Jahre 1842 (O. u. D., Seite 161) war aber der Kunstgärtner Fr. Mawes, Fruchtstraße 13 (bei O. u. D. steht Mewes und kein Vorname, Fruchtstraße 13 wohnte aber Fr. Moewes), wohl der größte, bei ihm sah man ein Feld von 2000 Quadratruten (über 11 Morgen, fast 3 Hektar). Er hatte etwa 2 Millionen Zwiebeln (einschließlich der jungen), von denen er wenigstens 60 000 Stück (in O. u. D. steht 600 000, da ist wohl eine Null zu viel) verkaufte, die nach allen Gegenden Deutschlands, nach Polen, Rußland, Dänemark, Schweden und Frankreich gingen. Er hatte in seinem Katalog 357 Sorten Hyazinthen und 100 Tulpen. Von La bien aimee verkaufte er jährlich 40 000, von Henri le Grand 30 000, von Acteur, Geliert, L'amie du cceur je 20 000 usw. Von Tulpen: einfach Duc van Thol 30 000, gefüllte 20 000, Tournesol und Duc von Neukirch je 10000. Berlin hatte 1842 etwa 400 Kunstgärtner, von denen die Hälfte wenigstens sich mit der Anzucht der Zwiebelgewächse, wenn auch in weit geringerem Maße beschäftigte. Die Hyazinthenausstellungen In den 1840er Jahren fanden in der Fruchtstraße großen Hyazinthenausstellungen im Freien statt, die auch vom Hof besucht wurden. Stets waren diese Ausstellungen mit Konzerten verbunden und auch sogar mit Restaurationsbetrieb. Dies ist um so erklärlicher, als es damals und früher noch mehr - Sitte war, in einigen Gärtnereien seinen Kaffee einzunehmen, im Sommer im Freien, im Winter in den Gewächshäusern, die zu Wintergärten erweitert waren. In der Vossischen Zeitung Nummer 89 vom 17. April 1841 zeigt G F. Huck an, daß er in diesem Jahre als Haupttableau die große Ehrenpforte nachgebildet habe, welche bei dem feierlichen Einzüge des Königs und der Königin auf dem Alexanderplatz errichtet war, 90 Fuß hoch (gemeint ist wohl lang) und 60 Fuß breit, von einer eigens erbauten Tribüne sei das ganze Terrain bequem zu übersehen. Nachmittags Konzert des ganzen Gardeschützen-„Chors". Eintrittspreis 2 % Silbergroschen, wofür jeder ein Topfgewächs, ein Bouquet oder eine farbige lithographierte Karte, darstellend die große Ehrenpforte, erhält. Fr. Mcewes und L. Faust hatten im selben Jahr (Vossische Zeitung Nummer 91) ein paar Hyazinthen-Tableaux: einen Glorientempel mit preußischem Adler, Wappen und der Inschrift: F.W. IV. u.a. 137

In Nummer 95,1841, künden Fr. Mcewes und L. Faust an, daß am Sonntag den 25. April, früh 6 Uhr, ein großes Trompetenkonzert stattfinde und zur Bequemlichkeit des Publikums an verschiedenen Halteplätzen in der Stadt von früh '/26 Uhr Droschken aufgestellt seien. „Es wird gebeten, Nummer 13 zu beachten." Es herrschte also schon Konkurrenzneid. Daß der beißende Berliner Witz auch damals nicht fehlte, geht aus einer Anzeige in der Vossischen Zeitung vom 19. April 1841 hervor. Da kündet Louis Drucker, Besitzer eines Vergnügungslokals, an: „Montag und Dienstag 425. und 426. Vergnügtsein, großes Konzert und wissenschaftliche Vorträge. Die Eröffnung meiner Hyazinthenausstellung erfolgt heute Abend um acht Uhr. Sie zeichnet sich durch Verwelkung und Geruchlosigkeit aus. Droschken werden vergütigt. Die Rolle der Sperlinge hat Herr Prof. Nudelmüller aus Gefälligkeit übernommen." Die Ausstellungen wurden von Tausenden besucht, und man erzählt sich, daß man sich gar nicht die Zeit nahm, das Geld zu zählen, sondern es in Körben forttrug und in die gute Stube legte. Im Jahre 1842 hatte G. F. Huck das Denkmal Friedrichs des Großen dargestellt, 1844 die beiden Rossebändiger, welche der russische Kaiser dem König geschenkt, 1845 das Standbild Peters des Großen. Friedrich Möwes (hier schreibt er nicht Mcewes, man sieht, es wechselt sehr zwischen Möwes, Mcewes und Mewes) zeigt 1842 an, daß er einen Flächenraum von 2000 Quadratmetern mit Blumenzwiebeln bepflanzt habe, das Haupttableau sei der Rote Adlerorden, außerdem fünf geometrische Figuren, 1844 hatte er das Brandenburger Tor dargestellt und eine geometrische Figur, 1845 die Alexandersäule in Petersburg und 1846 das russische Wappen. Dieser Doppeladler war 100 Fuß hoch und 80 Fuß breit. - Er war jedenfalls der größte Aussteller, nahm aber auch stets 5 Silbergroschen als Eintrittspreis, die andern nur 2 '/2 Silbergroschen. August Mewes hatte 1842 als Haupttableau das Berliner Stadtwappen, umgeben von einem Kranz mit Krone. 1846 macht er außer auf seinen Hyazinthen- auch auf seinen Tulpenflor, „bekanntlich den größten und schönsten", aufmerksam. Wenn man bedenkt, daß die Zwiebeln zu diesen Tableaux schon im Herbst in die Erde gelegt werden mußten, so kann man die Sorgfalt ermessen, die nötig war, um die verschiedenen Farben auseinander zu halten, auch mußten es Sorten sein, die zu gleicher Zeit blühten. Merkwürdigerweise sagten die Tageszeitungen in ihrem redaktionellen Teil fast nichts über die großartigen Ausstellungen, und auch die Fachzeitschriften erwähnten ihrer selten. Allmählich scheint die Sache sich überlebt zu haben, schon 1845 ladet nur noch Friedrich Möwes ein. Auch gingen die Kulturen später zum Teil durch Ringel- und Rotzkrankheit zu Grunde. Schon im Jahre 1841 sagt übrigens Demmler (O. u. D., Seite 47), daß die Anzahl blühender Gewächse, namentlich der Blumenzwiebeln in Berlin, im Abnehmen begriffen sei, die Gründe aber seien erfreulich, weil der Verkauf der Berliner Zwiebeln im trockenen Zustande seit einigen Jahren einen ungemeinen Aufschwung genommen habe und der Züchter für die trockene Zwiebel mehr erhalte als für die getriebene.

Ersatz der Kulturen durch Maiblumen Von 1850 an wurden nach Herrn A. Clotofskis Mitteilungen Hyazinthen schon von vielen Gärtnern gezogen, und zwar nur aus Brutzwiebeln, die gangbarsten Sorten waren: La jolie blanche, weiß, Henry le Grand, hellblau, Görres, rot, L'amie du coeur, rot und blau, Maria Catharina, rot; von Tulpen: Duc van Thol, einfach, Scharlach, rot, gelb, weiß, rosa, gefüllt, rot 138

und gelb, und Duc de Berlin, rot und gelb. Letztere war von N. Richard in der Mühlenstraße gezüchtet. Außerdem wurden noch zu Tausenden gezogen: Tournesol, gefüllt, rot und gelb, Duc de Neukirch, einfach, rot und gelb, usw. Die Berliner Zwiebelkultur steigerte sich dermaßen, daß um 1870 der Gärtner Petzold vor dem Stralauer Tor allein mit L'amie du coeur, rot und blau, etwa vier bis sechs Morgen und August Schultze (auch Tulpenschultze genannt) in der Mühlenstraße acht bis zehn Morgen mit Tulpen belegt hatte. Die Berliner Zwiebeln hatten einen guten Ruf, da sie sich früher treiben ließen als die holländischen. Um diese Zeit bezogen aber schon manche Gärtner kleinere Hyazinthenzwiebeln aus Holland und kultivierten sie noch ein Jahr, wo sie ihre volle Größe erreicht hatten, das nannte man „überlegen". Da die Boxhagener Ländereien sich am besten für die Kultur eigneten, waren in wenigen Jahren (um 1870) etwa 80 bis 100 Morgen mit Blumenzwiebeln belegt. Der größte Züchter war damals Louis Friebel, und im Frühling waren die Kulturen der Anziehungspunkt von Tausenden von Berliner Besuchern. Auch die Prinzessin Friedrich Carl kam fast jedes Jahr nach dort, um sich an der Pracht der Blumen zu erfreuen. Die Berliner Blumenzucht ging aber nach und nach um 1900 aus den obenerwähnten Gründen, ferner wegen des Rauches und auch wegen der Zwiebelkrankheiten ein. C. van der Smissen, Steglitz, macht in seinem Zwiebelkatalog 1901 (Gartenflora 1901, Seite 420) bekannt, daß er die seit 20 Jahren geführte besondere Abteilung für Berliner Hyazinthen aufgebe wegen fortschreitender Bebauung und des Mangels an geeignetem Boden. Gustav Adolf Schultz, Eckartsberg, den wir damals befragten, bestätigte das und sagte: „Ich kultiviere auf meinen Ländereien in Friedrichsfelde allerdings noch an 100 000 Zwiebeln, und außerdem sind es wohl noch einige Firmen, wie die Herren Fritz Götze, Gebr. George, A. Clotofski und andere mehr, doch ist das kein Vergleich mit der früheren Bedeutung." In dieser Aufzählung hatte G. A. Schultz wohl nur vergessen, Louis Friebel aufzuführen, der war damals noch der bedeutendste Züchter. Glücklicherweise hat die Berliner Gärtnerei durch den Niedergang der Blumenzvwefe/zucht nicht gelitten. Die Maiblumenkultur trat mehr an ihre Stelle, sie wuchs schon von den 50er Jahren an und spielte zu Ende der 60er Jahre eine hervorragende Rolle. Es war besonders Carl Chone, der Vater von Otto Chone, der auch den Export erfaßte und schon von Mitte der 60er Jahre an nach England und Rußland, dann nach Frankreich und Ende der 60er Jahre nach den Vereinigten Staaten versandte. Ähnlich geschah es bei Julius Hoffmann, Köpenicker Straße, und L. Späth, ebendaselbst, jetzt Baumschulen weg. Gegen Mitte der 70er Jahre kam noch Gustav Adolf Schultz, Eckartsberg, hinzu. Die Ausfuhr an blühbaren Keimen umfaßte viele Millionen, und wenn der Durchschnittspreis mit 33 Mark das Tausend angenommen wird, so kommt für die damaligen Verhältnisse eine ganz hübsche Summe heraus! - Trotz der Ausfuhr blieben für den Berliner Bedarf noch genügend Keime zum Treiben, und die Preise waren gut. Das änderte sich aber schnell, als die Gotthardbahn die Überschwemmung der deutschen Märkte mit italienischen Blumen hervorrief. Da lohnte sich die Treiberei fast nicht mehr. Immerhin ist die Maiblumenzucht ebenso erwähnenswert für die Berliner Gärtnerei wie die Zucht der Hyazinthen und anderer Blumenzwiebeln.

Tulpen und verwandte Blumen Die Tulpen wurden in Deutschland 1559 aus der Türkei eingeführt und in Berlin seit etwa 1730 in größerem Umfang gezogen. Nicolai hebt in seiner „Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam", 3. Aufl., 2. Band, Berlin 1776, Seite 929, besonders die schönen Tulpenflore in den Gärten der Prediger an der Parochialkirche in der Klosterstraße hervor. Der Hofprediger 139

Reinhard und sein Vorgänger, Hofprediger Schare, zogen Tulpen aus Samen und warteten nicht bloß fünf bis sechs Jahre, sondern zehn bis fünfzehn Jahre, bis die Tulpen ihre endgültige Farbenzeichnung erhielten. Weiter werden genannt Hofprediger Grüner und Wilmsen. - Auch andere Liebhaber zogen Tulpen aus Samen, so Generalleutnant Eye von Wartemberg am Brandenburger Tor, Generalmajor von Buttler in Potsdam, Geheimer Finanzrat Beyer, Mauerstraße, Kriegsrat Beyer, Hofrat Scala, Kgl. Opernsänger Concialini, Unter den Linden, Kaufmann und Kommerzsekretär Schmiel und von Gärtnern Hofgärtner Heydert, Potsdam, Hofgärtner Fintelmann, Charlottenburg, „Lustgärtner" Zietemann zu Berlin in der Königsvorstadt. Das größte Sortiment Tulpen, über 900 Sorten, bloß in Beyblumen und Bissarden, außer den Baguetten und Rigaults, besaß der obengenannte Kaufmann und Kommerzsekretär Schmiel, Schützenstraße, welcher damit in und außerhalb des Landes einen beträchtlichen Handel trieb. Er gab auch ein gedrucktes Verzeichnis heraus. Destillateur Bohn, Lindenstraße, Kunst- und Handelsgärtner Winzer, ebenfalls Lindenstraße, kultivierten auch Tulpen. Schöne Sortimente Tulpen hatten noch Bertram, unweit der Oranienburger Brücke (im Reußschen Garten?), Goldsticker Barth, Krausenstraße, Steinschneider Liebig auf dem Köpenicker VorstadtsKirchhof. Um 1835 hatte der Justizrat Meyer, dessen Häuser zur Besichtigung offenstanden, unter anderem schöne Tulpen, ebenso die Gärtner Kratz, Krause, George, Mewes. - Krause, Limprecht, Toussaint und Craß hatten schon im Dezember 1835 schöne Maiblumen trotz des ungünstigen Wetters. Ein einziger dieser Gärtner setzte zu Weihnachten gegen 500 Töpfe blühender Maiblumen ab. Limprecht trieb damals schon einen neue Tulpe Duc de Berlin, die früher ist als Duc van Thol, wie oben erwähnt, von Carl Richard gezüchtet. Interessant ist, daß Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts Tulpenzwiebeln nach Holland geschickt wurden. Dort hatten die Sorten Duc van Thol einfach, rot und gelb, so durch eine Tulpenkrankheit, „das Feuer", gelitten, daß dringend gesunde Zwiebeln zur Nachzucht gebraucht wurden. Infolge des trockenen Bodens und der klimatischen Verhältnisse sowie auch der durch die Nähe der Welt- und Fabrikstadt Berlin beeinflußten, mit Rauch geschwängerten Niederschläge wollten Hyazinthen, Scilla und Crocus nicht mehr wachsen. Die Tulpenkultur dagegen konnte erweitert werden, weil die reichlichen Niederschläge des Winters und des Frühjahrs in der Regel das Wachstum günstig beeinflußten. Die älteren, nicht mehr gangbaren Sorten wurden ausgemerzt und durch neuere, marktfähige Sorten ersetzt. Außer Hyazinthen und Tulpen wurden auch Krokus und Narzissen sowie ganz besonders Scilla sibirica kultiviert. Diese wurden der sehr schönen blauen Farbe wegen, der Lieblingsfarbe Kaiser Wilhelms I., überaus gern gekauft. Gebr. George dürften davon die größten Bestände gehabt haben. Es kamen jährlich etwa 120000 Stück zum Verkauf, und Wilhelm Ernst, Charlottenburg, forderte bei seinen Zwiebelbestellungen von ihnen stets bis 100000 Stück. Leider trat in den 1890er Jahren eine Krankheit, der Schwamm, ein, gegen die alle Mittel vergeblich waren. Die Scillakultur mußte deshalb um die Jahrhundertwende gänzlich aufgegeben werden.

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Nachrichten Wilhelm Borchert las Luthertexte Aus der Fülle von Lutherveranstaltungen dieses Jahres hebt sich die der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hervor, die am 11. November 1983, Luthers 500. Geburtstag, stattfand. Im Rahmen eines Gottesdienstes las Staatsschauspieler Wilhelm Borchert ausgewählte Luthertexte und tastete sich von seiner ursprünglichen Sprache her zum Kern des evangelischen Wortes vor. Mit seiner Einstimmung auf das „Ich bin der Herr, dein Gott!" und die Auslegung aus dem Großen Katechismus „Gott im Herzen glauben" traute er der Gewalt der reformatorischen Lehre wieder die ungebrochene Wirkungskraft zu. Es waren die Kernsätze des Lutherverständnisses zu hören, sein Appell an die Ehre des Christseins, wenn er den Sohn Gottes annimmt, und die Freiheit des Christen im weltüberwindenden Vertrauen. Der Bogen der Lutherthemen zog sich hin über Frieden und weltliche Obrigkeit bis zum Trost in der letzten Einsamkeit. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war gut beraten, an der Stelle preußisch-hohenzollerischer Luthersuche statt eines „Stadtfestes" das Wort vom eindringlichsten Sprecher Berlins laut werden zu lassen. Christiane Knop

Auswärtige Tätigkeit des Märkischen Museums Das Märkische Museum bemüht sich, seine Schätze auch unmittelbar an die interessierte Bevölkerung heranzutragen. So wurde im Oktober 1983 im Kulturhaus des VEB Bergmann-Borsig eine Ausstellung „Berliner Brücken auf historischen Fotografien" eröffnet, in der etwa 80 Aufnahmen von der alten Schmöckwitzer Zugbrücke bis zur heutigen Stadtbahnbrücke gezeigt wurden. Historische Berliner Fotos aus der Sammlung des Märkischen Museums waren gleichzeitig auch im Schaufenster des Fotoantiquariats im Zeiss-Industrieladen am Alexanderplatz zu sehen. * Im Oktober wurde im Märkischen Museum aus Anlaß des 300. Geburtstages des bedeutenden Berliner Hofmalers Antoine Pesne (1683 bis 1757) eine umfangreiche Sonderausstellung mit etwa 80 Ölgemälden und Handzeichnungen eröffnet, darunter neben Porträts aus dem Kreis um Friedrich den Großen der „Kietz von Freienwalde" als einziges Landschaftsbild. Pesne arbeitete von 1711 an fast ein halbes Jahrhundert am Berliner Hof und schuf unter anderem die Decken- und Wandmalereien in den Schlössern Charlottenburg und Rheinsberg. SchB.

Herbsttagung der Otolaryngologischen Gesellschaft zu Berlin vom 18. bis 20. November 1983 Diese Tagung erwies sich über ihre fachspezifische Bedeutung hinaus als ein nachdenklich stimmendes Politikum. Vor dem brisanten Hintergrund der Bundestagsdebatte über den Nachrüstungsbeschluß färbte sich auch die Besinnung über interdisziplinäres Denken und Zusammenarbeiten in der Medizin zur Sache hoher Besorgnis. Das Thema war angeregt worden von Dr. rer. nat. Anthony Michaelis, einem nach London emigrierten Deutschen. Er spitzte das Problem zu auf Angst vor einem Atomkrieg und Beherrschung der Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt. So atemberaubend auch ihre Dimensionen im nächsten Jahrzehnt sein werden, so sei doch ihre technische Beherrschung möglich, vor allem als „Bringeschuld der Wissenschaftler und als Holschuld der Politiker", die beide im Verantwortungsbewußtsein einer Elite verbunden sind. Dem Mediziner wies Prof. Dr. Gustav-Adolf von Harnack, Enkel des Berliner Theologen, den Platz zu, wenn er dem Abrücken vom alten Arztleitbild zum Ideal des Allroundmediziners das Wort redete. Die scheinbar bloße Routinetagung hat etwas vom Aspekt Berlins als wegweisender Medizinstadt aufgezeigt. Christiane Knop 141

Der Verein für die Geschichte Berlins steht nach wie vor allen Mitgliedern und darüber hinaus allen in der Berlinforschung Tätigen zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse offen und bietet ebenfalls das Forum, in Vorträgen und Diskussionen die Resultate Fachleuten und interessierten Hörern bekanntzumachen. Hiervon sind auch nicht die Geschichte der Bezirke und eingemeindeten Vororte, Stadt- und Gartenplanungen, Biographien bekannter Berliner oder Arbeiten über Einzelobjekte aller Gebiete ausgenommen. Der Vorstand fühlt sich im Hinblick auf die bevorstehende 750-Jahr-Feier veranlaßt, noch einmal daraufhinzuweisen. Interessierte wollen sich bitte in dieser Angelegenheit mit Herrn Günter Wollschlaeger, 1000 Berlin 41, Niedstraße 14, Telefon 8 5127 39, in Verbindung setzen.

Göttingen ist eine kleine Stadt... Als normale Reisende waren die 50 Teilnehmer an der Studienfahrt nach Göttingen vom 16. bis 18. September 1983 aufgebrochen, als Ellermeier-Fans und als Bhagwan-Jünger kehrten sie heim. Daß überdies auch noch zwei Vorstandsmitgliedern die Ohren geklungen haben werden, nämlich Professor Dr. H. Engel während unseres Besuches auf dem Burgmannshof Hardegsen bei Dr. Friedrich Eilermeier und Professor Dr. M. Sperlich zum Zeitpunkt unseres Rundgangs durch die Klosterkirche Fredelsloh gemeinsam mit Pastori. R. F. Both, gab dieser Exkursion einen besonderen Reiz. Doch es ist der Reihe nach zu berichten. Schon der Auftakt, das Mittagessen im Gasthaus „Zum stillen Winkel" in Großenrode, war verheißungsvoll. Beeindruckend waren bei der Sartorius GmbH in Göttingen der Empfang durch Dr. Chr. Sartorius und der Rundgang durch das Werk mit seinen verschiedenen Abteilungen, vor allem der Abteilung der Präzisions- und Analysenwaagen sowie der der Membranfiltration - alles nach dem Motto präzise und modern. In der dem gemeinsamen Hotel vorgelagerten „Eisenpfanne" fand sich am Abend dann noch eine nette Runde ein. Am Sonnabend, 17. September 1983, verstand es Kustos Dr. J.-U. Brinkmann im Städtischen Museum in hervorragender Weise, mit einem Diavortrag in die Historie Göttingens einzuführen. Der anschließende Rundgang durch die Stadtgeschichtliche Abteilung zeigte ein nach Gestaltung und Inhalt vorzügliches Museum, das zu durchstreifen Freude macht. Hier hatten sich bereits Herren des Göttinger Geschichtsvereins eingefunden, die sich dann auch die Führung durch die Stadt bis zum Alten Rathaus teilten, wo 1. Bürgermeister Eckoldt ein Wort herzlichen Willkomms an die Berliner Gäste richtete. Am Nachmittag war der Burgmannshof in Hardegsen das erste Ziel, und der Burgmann Dr. F. Eilermeier wußte mit seiner Begeisterung seine Gäste für sein Werk, die Rettung und Restaurierung des Burgmannshof, einzunehmen und diesen auch in einen Zusammenhang zu bringen mit der Reformation in Niedersachsen. Das Muthaus in Hardegsen führte Stadtarchivar L. Simon vor. Pfarrer i. R. F. Both verstand es dann in der romanischen Klosterkirche des Töpferdorfes Fredelsloh, seine Zuhörer mit der Geschichte der Restaurierung dieses Bauwerks und der dabei eingeschlagenen Schritte mit seinem ostpreußischen spröden Charme so sehr in den Bann zu schlagen, daß Dr. M. Last vom Verein „Freunde der Burg Plesse e.V." fast schon seine Position auf der windigen Plesse geräumt hätte. So fand dieser Tag an historischer Stätte seinen gebührenden Ausklang. Sehr eindrucksvoll war am Sonntag morgen der Rundgang durch das Grenzdurchgangslager Friedland, dessen Leiter Marquardt in einem Brief vom 28. September 1983 daraufhinwies, „daß in Berlin-Marienfelde ebenfalls ein Lager existiert, in dem wie hier Opfer unserer neuesten Zeit ankommen, die auf das Entgegenkommen ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Es würde mich freuen, wenn es sich das eine oder andere ihrer Mitglieder zur Aufgabe machte, dort mit Rat und Tat hilfsbedürftigen Menschen zur Seite zu stehen." Das Europäische Brotmuseum in Molenfelde, dessen Leiterin Gerda Kunkel die Führung übernommen hatte, war schon zum zweiten Mal Ziel eines Besuches. Die Fülle der Gegenstände sprengt jetzt schier den Raum, vielleicht könnte der Gestalter des Städtischen Museums Göttingen hier mithelfen, moderne Museumsdidaktik zur Anwendung zu bringen und Spreu vom Weizen zu trennen. Amüsant war auf Schloß Berlepsch das vegetarische Mittagessen, das von Dr. Sieglinde Reichert und ihren jungen Mitarbeitern liebenswürdig gereicht wurde. Ein Gang rund um das Schloß gab Gelegenheit, etwas von der Bhagwan-Gemeinschaft dieser freundlichen Menschen zu erfahren. Die Kaffeetafel in Königslutter war der letzte offizielle Programmpunkt dieser harmonischen Studienreise nach Göttingen, die nach Theodor Heuss „eine kleine Stadt (ist), durch die aber die Ströme der Welt gehen". 142

Auf die Frage nach dem Ziel der Exkursion 1984 gab der Chronist ein Rätsel auf: von 1772 bis 1775 lebte im Abel-Bornemann-Haus in Göttingen eine Persönlichkeit, die mit dem nächsten Ort in Verbindung steht. Überraschend schnell kam die Antwort: Johann Heinrich Voss und Eutin. H. G. Schultze-Berndt

Bayern - Preußen. Preußen - Bayern Eine gemeinsame Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (Berlin), der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen sowie der Bayerischen Vereinsbank in München fand ihren Niederschlag in einer Schrift, deren von Werner Vogel und Lorenz Seelig besorgter Katalogteil 34 Seiten umfaßt, wohingegen die schön bebilderte Einleitung 92 Seiten ausmacht. Werner Knopp, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, steuert einen Aufsatz „Adler und Rauten. Bayerns und Preußens Weg durch die deutsche Geschichte" bei. Werner Vogel, Archivdirektor am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, berichtet über „Bayern und Preußen. Zeugnisse aus sechs Jahrhunderten". Lorenz Seelig, Referent in der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, geht auf „Künstlerische Beziehungen zwischen Brandenburg-Preußen und Bayern. Von der Renaissance bis zum Ende der Monarchie" ein. Elfi M. Haller, der auch Redaktion und Gestaltung dieser Schrift anvertraut waren, ist in der Bayerischen Vereinsbank, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Volkswirtschaft, tätig. Sie stellt zwei Porträts einander gegenüber: „Königin Elisabeth. Eine bayerische Prinzessin auf dem preußischen Königsthron" und „Königin Marie. Eine preußische Prinzessin auf dem bayerischen Königsthron", wobei sie sich bei Königin Elisabeth auch auf das Heft 60 der Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, die Monographie von Bissing über diese Monarchin, stützen konnte. Die Bayerische Vereinsbank, die auch in Berlin über eine Zweigniederlassung verfügt, hat dankenswerterweise Interessenten an diesem Gegenstand eine begrenzte Zahl dieser Schrift zur Verfügung gestellt. Beim Schriftführer können sie angefordert werden. SchB.

Alte Ratswaage in Friedrichshagen restauriert Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Ratswaage in Friedrichshagen, Aßmannstraße, Ecke PeterHille-Straße, mit ihren unterirdischen technischen Vorrichtungen ein geschütztes Denkmal des Stadtbezirks Köpenick, wird restauriert. Für die Rekonstruktion der Waage, von der auch eine Zeichnung von Schinkel existiert, sind Mitglieder der Interessengemeinschaft Denkmalpflege des Kulturbundes Köpenick in Zusammenarbeit mit einer Waagenbaufirma zuständig. SchB.

Buchbesprechungen Bauten unter Denkmalschutz. Hrsg. vom Autorenteam Dieter Bolduan, Laurenz Demps, Peter Goralczyk, Heinz Mehlau, Horst Weiß. In: Berlin-Information 1982, Berlin (Ost). Mit einem Vorwort von Prof. Dr.-Ing. Ludwig Deiters, Generalkonservator der DDR. 286 Seiten. Mit einem Künstlerverzeichnis, 365 Farbtafeln, 1 Lithographie und 1 Faksimile des Plans von Berlin 1710. 55 M. Mit Blick auf die 750-Jahr-Feier Berlins hat die Berlin-Information der DDR ein Prachtwerk herausgebracht, das den Westberliner entzückt. Findet er doch alle architektonischen und kunstgewerblichen Gegebenheiten, an denen sein Herz hängt, in einer sorgsam zusammengedachten Schau bei der Hand, oder anders gesagt, er schaut die Orte historischen Geschehens und erlebt sie im Bild wieder persönlich. Joachim Fieguth besorgte ausgezeichnete Fotos, die den Leser glauben lassen, er wandere durch die eben restaurierte mittelalterliche, barocke und klassizistische Stadt. Es geht ein so mächtiger Eindruck des Schönen davon aus - u. a. von Bildausschnitten ornamentalischer Details in Großaufnahme, die völlig ungewohnte Perspektiven herstellen, daß alles Graue und Ärmliche im Stadtbild Ost-Berlins versinkt. 143

Zwar muß er schmerzlich feststellen, daß das historische West-Berlin mit seinem Denkmalsbestand restlos ausgeschlossen ist, ja daß es nicht einmal Hinweise gibt, wo z. B. Stadtplaner und Architekten in Ost- und West-Berlin gleichermaßen gewirkt haben - wie an den Hohenzollernschlössern, den Gutshäusern und Dorfkirchen, an Bürgerbauten des 19. Jahrhunderts, an der Gartenstadtidee oder dem Wirken von Taut oder Behrens. Es ist, als habe Schinkel nur in Ost-Berlin gebaut. Und er muß es auch hinnehmen, daß der Generalkonservator der DDR von einem ideologisch geschlossenen Konzept der Denkmalpflege ausgeht und unter dem Sammelstichwort „nationales Kulturerbe" so tut, als sei die historische und künstlerische Entwicklung Berlins und ihre gegenwärtige Bewußtwerdung ausschließlich eine Sache der DDR und ihrer Hauptstadt. „... ist dem reichen Erbe verpflichtet, das in der gesamten Geschichte des deutschen Volkes geschaffen wurde. Alles Große und Edle, Humanistische und Revolutionäre wird in der Deutschen Demokratischen Republik in Ehren bewahrt und weitergeführt, indem es zu den Aufgaben der Gegenwart in eine lebendige Beziehung gesetzt wird." Zitiert nach dem Programm der SED, IX. Parteitag der SED 1976. Die Reihe der abgebildeten Denkmäler reicht von frühgeschichtlichen slawischen Fundorten über die mittelalterliche Stadtgeschichte bis zu den modernen Hochhausbauten an der Weberwiese in der Leipziger Straße und am neuen Alexanderplatz. Doch der westliche Leser begegnet, sofern er sich bei seinen gelegentlichen Besuchen meist nur in der Friedrichstadt und Unter den Linden bewegt hat, dem einzigartig schönen Chorpolygon der Klosterkirchenruine - in seiner Ruinenschönheit besser erkennbar als vor seiner Zerstörung -, dem Schloß Köpenick mit seinem Wappensaal, den lange nicht mehr gesehenen Spittelkolonnaden, der Alten Anatomie, den Bürgerbauten in der Marienstraße, dem neugotischen Treppenhaus des einstigen Landgerichts in der Littenstraße und - unbetretbar - den flämisch anmutenden Höfen des Hufeland-Krankenhauses in Buch mit seinen beschaulichen Dachgauben, um nur einiges herauszugreifen. Auch sonst Selbstverständliches ist inzwischen denkmalwürdig geworden, wie etwa gotisierende Fenster in den Charitegebäuden mit ihrer herbstlichen Weinlaubberankung oder der Figurenschmuck am Altartisch der Schloß- und Dorfkirche in Buch, die Märchenfiguren im Friedrichshain, sogar das Stadtbad Mitte in der früher so ärmlichen Gartenstraße oder der alte Wasserturm an der Rykestraße von 1855. Aufzuzählen wäre noch vieles, erwähnt seien noch die Tritonen und Fischleiber im eisernen Brüstungsfeld der Schloßbrücke, das Kettenrad der Jungfernbrücke, Rosetten als Schmuckzeichen über Haustoren, alte Treppengeländerbaluster, die Dachbekrönung über den Torhäusern am Eingang zur Universität - alle diese Details in Großaufnahmen. Die beigegebenen Texte sind sachkundig gearbeitet und stellen die historischen Zusammenhänge exakt her; allerdings muß man über ihre ideologische Bezogenheit hinwegesehen. Es fehlt, wie bei jeder Auswahl unvermeidlich, einiges, so z. B. die Grabmalkunst. Dennoch ein Werk, das man trotz aller geschichtlichen Vorbehalte begierig beschaut. Und es weckt die Sehnsucht. - Welches Glück, könnte man ihm ein gleich gut bebildertes Kompendium der Denkmalsgüter in West-Berlin in so handlicher Form anschließen! . Christiane Knop C. von Kertbeny, Berlin, wie es ist. Ein Gemälde des Lebens dieser Residenzstadt und ihrer Bewohner, dargestellt in genauer Verbindung mit Geschichte und Topographie, d. i. die einzigartige Beschreibung Berlins von 1831. 337 Seiten, mit einem Stadtplan (Faksimile von 1831), 6 Bildtafeln zeitgenössischer Stiche und einem Register. Reprintausgabe 1981, arani-Verlag. Schon der Untertitel deutet es an: Es ist etwas Neues hinzugekommen. Seit Nicolais Beschreibung vor damals zwei Menschenaltern waren das Residenzstädtische und geistig Aufstrebende Berlins, sein Anspruch auf europäische Geltung ins Selbstbewußtsein des Berlinischen eingeflossen. Die damaligen Stadtführer hatten seinen Zustand deskriptiv abgehandelt und waren eine vorzügliche Informationsquelle gewesen. Vergleicht man nun die vorliegende Abhandlung mit der um 10 Jahre jüngeren von Valentin Heinrich Schmidt (Wegweiser für Fremde und Einheimische durch Berlin und Potsdam. Nicolaische Buchhandlung 1821), so wird deutlich, daß ein historisches Denken inzwischen Allgemeingut geworden ist. Der Verfasser beschreibt nicht nur eine Residenz, sondern ein politisches Gemeinwesen in seiner Entstehung, zuerst als Stadt, später als preußische Residenz. Zwar spricht Kertbeny (d. i. Carl Maria Benkert) patriotisch und oft geschwollen und ist uneingeschränkt hohenzollerntreu, mehr als der kritische Nicolai, und es spricht daraus ein starker Fortschrittsglaube. Er ist getragen von hohem Nationalgefühl aus der Zeit der Steinschen Reformen, obwohl diese nicht als epochemachendes Ereignis hervorgehoben werden, wie wir heute überhaupt Epochen und Geister anders artikulieren. Doch es geht nicht darum, wieweit ein Buch nach gut 150 Jahren überholt ist, sondern die 144

Lektüre empfängt ihren Reiz als Momentaufnahme, die der spätere Kenner danach befragt, welche künftigen Züge es in sich trägt und in welcher Weise der Damalige sich im Strom der Überlieferung weiß. Aber die Schilderung der städtischen Verfassung und ihrer Organe spiegelt den Zustand nach der Städteordnung wider. So fängt z. B. alles über die Wirtschaft Gesagte den Augenblick des Übergangs vom Merkantilismus zur freihändlerisch bestimmten Manufaktur ein, ehe die Industrialisierung einsetzt. Da der Verfasser auch ein Lebensbild zu geben sucht, tut er es modern und betrachtet die Gesellschaft eindringlich. Moralisierend kennzeichnet er die Berliner als modesüchtig und nachahmerisch. Er konstatiert ihre Kritiksucht, ihre Neugier und ihren Bildungseifer ä la mode. Doch weist er auch auf Berlin als Umschlagplatz vieler geistiger Impulse hin. Der Sachverhalt des Spree-Athens ist schon gegeben. Aber noch - im Vormärz - wird eine ständische Kultur geschildert, wobei das Positive bei Hof, Adel und Gelehrtentum gesehen wird; dem Berliner Kleinbürger wird die echte Bildung abgesprochen. Das mittlere Bürgertum wird als anspruchslos gelobt, sein Familiensinn hervorgehoben. Es findet sich am echtesten in der Biedermeierposse wieder. So beschreibt er auch das Eigenleben der Juden und der französischen Kolonie, hebt deren Toleranz und ihren Wohltätigkeitssinn hervor, ferner ihren Gewerbefleiß und hohen Bildungsstand. Im Vergleich zum Stadtführer von 1821 zeigt der beigegebene Stadtplan keine erhebliche Stadterweiterung. Der Einwandererzustrom nach den Friderizianischen Kriegen hat bereits stattgefunden und stagniert nun, ehe die industrielle Zuwanderung erfolgen wird. Im Vergleich zu früheren Stadtführern gibt der Verfasser ein genaueres Bild von der Kolonisation der mittelalterlichen Doppelstadt, ja, es scheint hier erstmalig eine modern anmutende Anschauung von der mittelalterlichen Stadt als historischem Phänomen faßbar. Danach beschreibt er das Entstehen jeder Teilstadt mit ihren charakteristischen baulichen Ensembles, wie sie sich aus sachlichen Gegebenheiten geformt haben, so der Friedrichswerder als Ausbau der Bastion, die Sophienstadt als früher Gewerbestadtteil. So erhält Berlin ein gewachsenes Gesicht. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wird vorbereitet, indem er den Ausbau Berlins zur Zeit des Großen Kurfürsten unter den Leitgedanken seiner Außenpolitik stellt. Sein Staatsgedanke liegt überhaupt als Gestaltungskriterium seinem politischen Urteil zugrunde. „Das tatenreiche Leben dieses Fürsten, der wie mit Zauberkraft aus einem wüsten und verödeten Lande, unter unaufhörlichen Kriegen mit feindlichen Nachbarn, in noch nicht einem halben Jahrhundert einen blühenden Staat schuf, in seiner ganzen Wirksamkeit zu entwickeln ..." In den Ausführungen über das Bildungswesen, zeigt er umfassende Kenntnisse über den Stand aller Wissenschaften und Künste, vor allem die Universität wird als gegliedertes Ganzes begriffen. Auch Wilhelm von Humboldts Anschauungen sind schon verwurzelt; der Verfasser läßt sich über die deutsche Sprachpflege an der Universität aus, obwohl sich das Zeitalter der Germanistik noch nicht entfaltet hat. Aber er erkennt Bopps Sprachforschung auf dem Gebiet des Indogermanischen als epochemachend. Unter den Gelehrten von außerordentlichem Ruf nennt er Alexander von Humboldt, Ritter, Link, Raumer und von der Hagen, den Erforscher des Sanskrit, Bopp, den Altphilologen Böckh, die Theologen Neander und Schleiermacher, den Philosophen Hegel, den Juristen Savigny. Durch seine Auswahl nimmt er, anders als seine Vorgänger, eine Wertung vor. Das Schwergewicht mißt er der Medizin zu. Sie nimmt den breitesten Raum ein. Er gibt ein Verzeichnis der bereits fachspezifisch verzweigten medizinischen Institute und Krankenhäuser; er zählt die Namen der bedeutenden Ärzte auf, die Berlin den hohen Rang einer Medizinstadt gaben, u. a. Hufeland, Heim, Osann, Graefe, Goercke, Rust und Jüngken. Auch in den Medizinalanstalten des Heeres sieht er Orte des Fortschritts. Die naturwissenschaftlichen Museen stehen noch in ihren Anfängen. Bei den bildenden Künstlern nennt er alle bedeutenden Namen, doch fehlt die bei uns gängige Einteilung in Stilrichtungen. Wir erkennen, daß im Urteil der Zeitgenossen Schinkel an überragender Stelle steht, ihm folgen Blechen und Gropius. Neben den staatlichen Institutionen von Universität und Akademie und Bauakademie beginnt das Zeitalter privater Kunstschulen und -vereine. Wie das wirtschaftliche und gewerbliche Wesen sich vielseitig frei entfaltet, seit es von merkantilistischer Begrenzung mündig geworden ist, so zeigt der Verfasser dies auch für die geistigen Tätigkeiten, die auf der Basis privater Impulse Berlin das Bewegliche geben. Dasselbe gilt für das städtische Armenwesen. Es liest sich gleichfalls reizvoll, wie der Verfasser die Berliner Gewerbe und die preußische Finanz in ihrem Entstehungswachstum schildert. Das tatsächliche Schwergewicht des Gewerbeedikts wird erkennbar. Man erkennt auch die Grundfigur einer Nationalanschauung in den Ausführungen über die Zusammenhänge des Handels und seiner Organisation im Zeitalter beginnender Industrialisierung. Der Handel sei gesellschaftsformend. Darauf verweist auch die Beobachtung, daß Berlin ursprünglich ein Handelsplatz 145

zweiter Ordnung war, der durch die Ansiedlung von Manufakturen und die Ausbildung der preußischen Staatsbanken einen Handelsaufschwung bekam, der Berlin der Amsterdamer Börse gleichmachte, ja, daß es überhaupt den Vergleich mit London und Paris wagen konnte. Gerade wer das Ausklingen des Vormärz insgeheim schon sucht, findet das Berliner Gewerbe ausführlich abgehandelt. An seiner Spitze nennt der Verfasser seine Eisengießereien - Borsig allerdings fehlt noch -, die Porzellanmanufaktur und die Textilspinnereien für Wolle, Baumwolle und Seide. Noch läßt sich keine Standortballung der einzelnen Gewerbe in bestimmten Stadtvierteln feststellen, es sei denn, man nimmt den Standort der Eisengießereien vorm Oranienburger Tor als ihren Anfang. Die Bedeutung der Dampfmaschine, in die Wolltuchproduktion bereits eingeführt, wird noch nicht erkannt. Abschließend liest man wehmütig die Beschreibung des prächtigen und geschäftigen Lebens auf der Königstraße, der Breiten und Brüderstraße. Doch das „Nachtleben" ist noch die brave Ruhe des Biedermanns. Reizvoll auch die Schilderung der wenigen damals neuen Kirchhöfe vor den Stadttoren mit der modischen Grabmalkunst des Eisengusses. Vor dem geistigen Auge des Lesers entsteht der idyllische Garnisonfriedhof in der Linienstraße mit Fouques Grabkreuz. Friedhofsgestaltung als Erholungsparke ist damals neu. Christiane Knop Werner Schwipps, Lilienthal, arani-Verlag, Berlin 1979, 39,80 DM. Der Verfasser ist immens fleißig gewesen und hat aus allen Himmelsrichtungen über die Brüder Otto und Gustav Lilienthal zusammengetragen, was an Aufzeichnungen, Briefen usw. noch vorhanden ist. Dieses Material breitet er mehr oder weniger ohne Weglassungen und Hinzufügungen aus. Etwas Wichtung und Sichtung wäre besser gewesen, denn ist es wirklich wichtig, wer der Baumeister der Kirche war, in der Lilienthals Urgroßeltern 1730 geheiratet haben, oder wie sich der Lebenslaufseiner Schwester in Neuseeland gestaltet hat? Aber inmitten dieser Fülle kommt doch auch manches interessante Detail hervor, das die verschrieenen Fabrikanten der späten Gründerjahre in einem anderen Licht erscheinen läßt als gemeinhin üblich. So führten die Lilienthalbrüder schon 1890 eine Gewinnbeteiligung für ihre Arbeiter ein, gründeten 1895 eine gemeinnützige Baugenossenschaft „Freie Scholle" und waren Mäzene eines Theaters (des späteren RoseTheaters). Alles wurde mit einer fast fanatischen Begeisterungsfähigkeit angegangen, hinter der weniger materielle Interessen standen als vielmehr die reine Lust am Erfinden und Verbessern. Der Ingenieur bedauert die ungenaue Beschreibung der Erfindungen, die niemals richtig erkennen läßt, worin denn nun das eigentlich Neuartige gelegen hat (z. B. bei der kleinen Dampfmaschine, die das Fundament des relativen Wohlstands der Familie bildete). Der allein heimatgeschichtlich Interessierte dagegen wird das schön ausgestaltete Buch mit Gewinn lesen. Bernd Illigner Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, Bericht über die Situation der Frauen in Berlin. 411 Seiten, 102 Tab., 1981. Im Juni 1980 forderte das Abgeordnetenhaus von Berlin den zuständigen Senator auf, einen Bericht über die Situation der Frauen in der Stadt vorzulegen. Am 9. Februar 1982 wurde er vom Senat beschlossen. Der Bericht enthält umfangreiches statistisches Material, gegliedert nach - Erziehung und Bildung - Mädchen in der Jugendhilfe - Frauen im Beruf - Frau in der Familie - Wiedereingliederung von Müttern in das Erwerbsleben - Frauen in Politik und Gesellschaft - Frauen im Seniorenalter - Soziale Infrastruktur, Unterhaltssicherung - Besondere Zielgruppen (Ausländer, Suchtabhängige, Behinderte, Straffällige) Die (anonymen) Verfasser sind empört über die Benachteiligung der Frau. Dieses Engagement spricht aus jedem Satz und erschwen demjenigen, der sich nur sachlich informieren will, die Lektüre erheblich. Der Rezensent hat sich an die reichhaltigen Statistiken gehalten und fand bemerkenswert: Weiblich sind in Berlin 55 % der Bevölkerung, 49 % der Schüler, 52 % der Gymnasiasten, 61 % der Lehrer, 45 % der Erwerbspersonen (Bundesrepublik 38%), 29% der Gewerkschaftsmitglieder (Bundesrepublik 20%), 45 % der Arbeitslosen (Bundesrepublik 52 %), 69 % der über 60jährigen (Bundesrepublik 63 %). Es kommt in dem Bericht zwar nicht zum Ausdruck, aber insgesamt scheinen die Frauen sich in Berlin ganz gut durchzusetzen. Bernd Illigner 146

Die Berliner S-Bahn. Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels. Herausgegeben von der Arbeitsgruppe Berliner S-Bahn. Verlag Ästhetik und Kommunikation. Berlin 1982. 383 Seiten, 40 ganzseitige Reproduktionen, 446 Textfotos, 62 Aufrisse und 25 Planskizzen, 38 DM. „Gesellschaftsgeschichte eines industriellen Verkehrsmittels" betitelt der Verlag seinen allumfassenden Bericht über die Berliner S-Bahn, der auf 383 großformatigen Seiten (22,5 x 24 cm) dem Leser zu diesem nunmehr fast schon überstrapazierten Thema eine wahrhaft phänomenale Fülle von Informationen in Wort und Bild bietet. Im Rahmen eines Referates über die historischen Bedingungen des Berliner Nahverkehrs und eines Rückblicks auf eine historisch gewordene Technik diagnostiziert Eberhard Knödler-Bunte „die tödlichen Nebenwirkungen der Autogesellschaft, die längst zu herrschender Realität geworden sind". Dieter Hoffmann-Axthelm referiert in geschliffenem Stil über die historischen Voraussetzungen der Eisenbahnstadt Berlin - „der eigentliche Zentralbahnhof Berlins war und ist die Stadtbahn als ganze" - und erkennt, daß Stadtplaner und Eisenbahningenieure erst um 1910 zu gemeinsamen Zielvorstellungen hinsichtlich gesteigerter Zentralisierungsprojekte der Stadt gelangten. Wer sein Wissen über Konzipierung und Planung der Streckenführung der Stadtbahn „von allem Anfang an" erweitern will, der begleite Erika Schachinger auf ihrem Gang durch die Abrißlandschaften um die alte Herkulesbrücke, den Königsgraben und die Neuanlage der Kaiser-Wilhelm-Straße vor rund hundert Jahren. Die bemerkenswerte Reportage von 20 Seiten wird durch 75 textbezogene, hochinformative Anmerkungen ergänzt, deren Sonderstudium ich Berliner Eisenbahnfans wärmstens empfehle. Rolf Külz schildert die Gesamtentwicklung des Berliner städtischen Nahverkehrs mit besonderer Berücksichtigung der sukzessiven Streckenentwicklung der Stadt- und Ringbahn anhand übersichtlicher Planskizzen, die dem Standardwerk „Berlin und seine Eisenbahnen, 1896" entstammen. Sein Bericht erstreckt sich bis in unsere Tage. Die Autoren Bock, Dittfurth, Eilhardt, Hilbers, Peschken und Suermann befassen sich in der Folge mit den Ingenieurbauwerken der Bahn. Zahlreiche Grundrißskizzen zeigen Details architektonischer Besonderheiten von Bahnhöfen und deren Dachkonstruktionen in der Innenstadt und den Vororten sowie alte und moderne Brücken und Straßenüberführungen. Natürlich ist auch der „Stadtbahnbögen" und ihrer kommerziellen Bedeutung gedacht. Der Anlegung der Nord-Süd-Bahn und den tragischen Folgen des Tunneleinsturzes während der Bauzeit im August 1935 ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Auf den Seiten 148 bis 150 gibt sich Ingeborg Drewitz elegisch im Gedenken an die Rolle, die die S-Bahn in ihrer Jugendzeit für sie gespielt hat. Mittlerweile gelangt der unverdrossene Leser nun in die Gegend, die uns Berlinern als „die Plumpe" wohlbekannt und wohlvertraut ist. Lothar Binger und die Autorin Hellemann schildern in Wort und Bild, wie es am Gesundbrunnen in ferner und näherer Vergangenheit zugegangen ist und heute zugeht. Zu Wort kommen 75- und 82jährige „Laubenpieper", die nicht „in plumpem Jargon", sondern „im Plumpenjargon" in Dampfbahnreminiszenzen schwelgen. Eine Reihe Fotos von geradezu grandioser Aussagekraft (von Seidenstücker, Pragher und anderen) rahmt die lebensnahe Schilderung dieser Stadtgegend. „Stadtwahrnehmung und Kunst" sind die Rubriken, die milieubezogene Reproduktionen von Werken einzelner Maler und Fotografen bringen. Die „literarische Stadtbahn" kommt mit Poesie in Metaphern und Visionen anschließend zu Wort. Die letzte sachbezogene Reportage von Wittgen und Krznar befaßt sich mit „Bahnanlagen, Fahrzeugen und Signalen" aus der Dampfzeit, der Frühzeit der Elektrifizierung und der Modernisierung alter Baureihen des rollenden Materials. Über das zur Streckenausrüstung gehörende Signalwesen mit der automatischen Zugsicherung wird ebenfalls berichtet. Depressive Gefühle beschleichen den Betrachter der Fotos auf den Seiten 211 bis 213, auf denen dichtes Strauchwerk restliche Schienenstumpen demontierter Gleisanlagen überwuchert als Direktfolge dessen, was wir noch heute „dem Führer verdanken". Erfreulich die Zusammenstellung eines kleinen Lexikons der Autoren Buchmann und Wittgen, das auf drei Seiten das „Fach-Chinesisch der Leute vom Bahnbereich" begreiflich macht. Ein weiteres Kapitel ist dem Eisenbahner und dem Eisenbahnarbeiter, ihrem Dasein auf der Strecke und im Bahnbetriebswerk gewidmet. Gedanken zu einer neuen Verkehrspolitik, die die S-Bahn und ihre künftige Rolle als Verkehrsträger auch in West-Berlin betreffen, beschließen das fachliterarisch nunmehr wahrlich erschöpfend behandelte Thema der Berliner S-Bahn. Zu den Ungereimtheiten, die den Wert des Werkes jedoch in keiner Weise beeinträchtigen, gehört das Foto auf Seite 26, das einen modernen Wagentyp zeigt, der unmöglich schon 1883 in Betrieb gewesen sein kann. Der Situationsplan des Bahnhofs Königsbrücke (S. 47) weist die Königstraße irreführend als Verlängerung der Alexanderstraße aus. Siemens & Halske hatten 1879 auf der Gewerbeausstellung noch keine „elektrische Straßenbahn vorgestellt" (S. 61), sondern lediglich den gelungenen Versuch gezeigt, einen Elektromotor auch als Antriebsmittel für die Zugförderung entwickeln zu können. Der auf Seite 82 reproduzierte 147

Streckenplan stammt nicht vom Ende des 19. Jahrhunderts, da Rixdorf erst im Januar 1912 in Neukölln umbenannt worden ist. Was den Maler W. Giese veranlaßt haben mag, den gesamten Fuhrwerks- und Straßenbahnverkehr in der Königstraße als Linksverkehr aufzuzäumen (S. 271), bleibt unerfindlich. Obwohl ich die Einverleibung des vorliegenden Werkes in die Bücherreihe eines jeden Berliner Verkehrsinteressenten und Eisenbahnenthusiasten vom Inhalt her intensiv befürworte, möchte ich nicht verschweigen, daß der Prachtband mit seinem stattlichen Eigengewicht von 1,2 kg bereits nach wenigen Malen behutsamen Umblätterns in seine Einzelteile zerfällt. Der Verlag wäre gut beraten, dem Hause, das für die Gesamtherstellung verantwortlich ist, die Anwendung eines Einbindeverfahrens zur Auflage zu machen, das den dickleibigen Wälzer zumindest während einer gewissen Anstandsfrist im Zaum hält. Hans Schiller / Reihe „... in alten Ansichten" von Dr. Gustav Sichelschmidt. Europäische Bibliothek, Zaltbommel (Nieder/, lande), gebunden, Querformat 21 x 15 cm: „Das historische Berlin" 26,80 DM f^Nordberlin", „Ostberlin", *J^*> •-! „Kreuzberg, Neukölln und TempelhofViSchöneberg und Wilmersdorf' (je 21,80 DM); „Tiergarten" (19,80 DM); „Berliner Denkmäler" (26,80 DM); „Potsdam" (19,80 DM). Man ist überrascht von der Vielfalt der immer neu variierten klugen Vorworte des Autors sowie über die sachlich zuverlässigen, ausführlichen Bildunterschriften. Da diese für Ost-Berlin topographischen Werken ihrer Entstehungszeit entnommen sind, kann man Zeitprobleme umgehen, wie sie sich etwa aus der Bezeichnung „Ostberlins" als selbständigem politischem Gebilde ergeben, wo es sich doch um den Bezirk Mitte und andere Bezirke handelt. Welche Fülle von alten Ansichtskarten breitet sich vor dem Betrachter aus, wo heute stupide immer nur die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche abgelichtet und als Ansichtskarte verkauft wird! Die Qualität der Abbildungen leidet gelegentlich unter ihrer Verkleinerung und Druckart. Auch hier wäre die Angabe von Jahreszahlen zu den Ansichten wünschenswert gewesen. Etliche Druckfehler sind wohl mehr dem Korrektor anzulasten, Ausdrücke wie „pejorative Argumente" dem Verfasser. Der Interessent und Liebhaber wird an diesen Ansichtskartenalben aus dem Berlin der Jahrhundertwende (Verlagsankündigung), worunter in der Tat die Zeitspanne 1880 bis 1930 zu verstehen ist, seine Freude haben. H. G. Schultze-Berndt

Dieter Hildebrandt: Christlob Mylius/Ein Genie des Ärgernisses. Stapp Verlag Berlin 1981,164 Seiten mit 26 Abbildungen. Sicherlich empfindet Dieter Hildebrandt, der Journalist, Kabarettist und „Satiriker", eine gewisse geistige Affinität zu Christlob Mylius (1722-1754), dem sächsischen Pastorensohn, Vetter und Freund Lessings, als Journalisten, Kritiker, Dichter (und Naturforscher), den er hier mit ein paar Leseproben vorstellt und dem er einen biographischen Essay widmet. Jugendlich selbstbewußt verstand sich Mylius auf Prägnanz und Pointe des Ausdrucks. Kind der Aufklärung, war er ein vielseitig interessierter junger Mann, der freilich der Fasson, der geistigen Disziplin, ermangelte, um mit seinem Wirken der Nachwelt mehr geben zu können und in ihrem Gedächtnis zu bleiben. Gerhard Kutzsch

dtv Merian Reiseführer „Berlin". dtv-Taschenbuch vom Mai 1982, hrsg. von Christa und Joachim Nawrocki, Günter Kunert, Jens Fleming, Barbara Effenberger, Marlies Menge. 344 Seiten, mit einem Register, Straßenskizzen, TJ- und S-Bahn-Übersichten. Unter der großen Zahl von Einführungen ins gegenwärtige Berlin für Fremde vermittelt der Name „Merian" von vornherein eine bestimmte Vorstellung des Sichannäherns an eine Stadt oder Landschaft als Kulturraum in Vergangenheit und Gegenwart. Der vorliegende Band erfüllt alle Notwendigkeiten eines Taschenbuchs in seinem Wortsinn. Es ist ein Nachschlagewerk für den Wenige-Tage-Besucher, der sich anhand von Verweis- und Sammelstichworten schnell orientieren kann. Sein Vorzug ist intensive Detailkenntnis von Autoren aus Ost und West. Die schwierige Aufgabe, die geteilte Stadt mit ihren unterschiedlichen Welten Fremden bündig nahezubringen, ist geschickt gelöst worden dank der sprachlichen Könnerschaft der beiden Autoren J. Nawrocki und G. Kunert, die im Kapitel „Erste Begegnung mit Berlin" einander glänzend ergänzen. Der Einleitungstext spricht zu Recht von „geballten Informationen, aber zugleich gewichtet und sortiert"; zu ergänzen ist: praktikabel gemacht in der Schwierigkeit des Passierens von West nach Ost. Es kommt gerade das Doppelgesicht der einstmals einen Stadt gut heraus. Anders als Berlinführer des 19. Jahrhunderts stellt hier das Verfasserteam den historischen Inhalt pointiert-spritzig und auf ausge148

wählte Bereiche für Junggebliebene heraus. Dabei ist das Unausschöpfliche, Quirlige, Vielgesichtige des Berliner Lebens und der Berliner Geistigkeit eingefangen - so z. B. in Wortkaskaden lebensvoller Schilderungen der Wald- und Seenlandschaft um Berlin. Vor allem Kunert brilliert mit fast distichonartiger Diktion. Beide Autoren leitet die gleiche Liebe zum Kleinbürgerlichen, glanzlos Echten und Inhaltreichen der kleinen Leute in Kiez und Kneipe, in der Sommerlaube und bei Herdwärme. Da Kunert, der einstige Ostberliner, das ältere Berlin zum Gegenstand hat, das geliebte und noch immer oder wieder vorzeigbare, spitzt er seine Betroffenheit zu in dem Gegensatz von „Magistrale" der Frankfurter Allee und den alten Höfen des Nordostens; er preist den verträumten Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee: „... so separiert wie so vieles in Berlin, das niemals wieder zu seiner einstigen Dynamik zurückgefunden hat" (S. 29). Beide Verfasser beklagen, wo sie den hastigen Wiederaufbau berühren, in Ost und West die gleiche Einfallslosigkeit, das geistige Abseits in der Sterilität der Betonwelt. Das Kapital „Der gute Tip von Merian" ist eine profilierte Information, die das Liebenswerte hervorhebt und zum Wiederkommen verlockt. Es beglückt aber auch die Berliner; sie entdecken manches Neue, das es z. B. in Ost-Berlin schon wieder gibt, aber auch Überholtes (wie z. B. Einkaufstips in West-Berlin) und Fehler. So existiert an der Invalidenstraße (Naturkundemuseum) kein U-Bahnhof Zinnowitzstraße (S. 140). Christiane Knop

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'ne Menge Arbeit. Ungewöhnliche Berufe in einer Großstadt. Ein Berliner Fotobuch von Hemme, Hermann, Tietze. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1981, 124 Seiten, 120 Abb., 29,80 DM. Angesichts der Flut von Berlinbüchern, in denen alte Läden, alte Treppenhäuser, alte Hauseingänge usw. abgebildet sind, könnte man meinen, es gäbe wirklich nichts Nostalgisches mehr zu entdecken. Aber in einer Stadt mit so vielen Hinterhöfen wird es doch wohl auch genügend Hinterhofbetriebe geben, um damit einen weiteren Band zu füllen! Allzulange haben die Herausgeber allerdings nicht gesucht, und daher mußten bei 21 dargestellten Betrieben einige dazwischengeschmuggelt werden, die nicht so ungewöhnlich sind, daß sie dem Berlinbild eine neue Facette hinzufügen könnten (Konditor, Fischer, Uhrmacher, Goldschmied, Maßschneider. Bootsbauer, Schädlingsbekämpfer). Da muß dann die Selbstdarstellung der Meister mit vielen „ick" und .jenau" für das Lokalkolorit sorgen. Immerhin macht es Spaß, das Buch zu durchblättern und z. B. einem Tierpräparator, einem Hersteller von künstlichen Augen oder einem Bleiglaser bei der Arbeit zuzusehen. Die Einleitung von Barbara Tietze stilisiert dann allerdings diese Kleinbetriebe zu Vorbildern für menschengerechte Arbeitsplätze hoch und stellt ihnen die krankmachenden, „unmenschlichen" Arbeitsplätze der Industrie gegenüber. Dabei übersieht sie freilich, daß der hochqualifizierte Handwerker auch in der Industrie einen abwechslungsreichen Arbeitsplatz finden würde, auf dem er sich „verwirklichen" kann, zum anderen, daß die beschriebenen Betriebe zumeist schöne Einzelstücke für eine zahlungskräftige Kundschaft herstellen. Würde ein Industriebetrieb die Arbeitsplätze ähnlich liebenswert verkramt einrichten, würde ihm der Wettbewerb schnell das Lebenslicht ausblasen. Bernd Illigner

/S"Vfo& Große Berliner Straßenbahn und ihre Nebenbahnen 1902-1911. Reprint des Originals 1982. Hans J Feulner, Verlagsauslieferungen, Lindenallee 25,1000 Berlin 19. 246 Seiten, 5 Karten und Pläne. Format: ^ 22 X28 cm, Preis 58 DM. Rund hundert Jahre währte das Straßenbahnzeitalter im Bereich des heutigen West-Berlins. Die ersten dreißig Jahre waren vom Pferdebetrieb geprägt, die restlichen siebzig Jahre gehörten dem elektrischen Betrieb. Während dieser Epoche wurde die Wortneuschöpfung der „Elektrischen" zu einer in Berlin allgemeinen Begriffsbezeichnung, unter der die Straßenbahn verstanden wurde. Die Bezeichnung „Tram" oder „Trambahn" ist im Berliner Bereich niemals üblich gewesen. Unter der Vielzahl der kleinen, teils gemeindeeigenen, teils privaten Unternehmen ragte die „Große Berliner Straßenbahn" mit weitem Abstand heraus. Im Jahre 1902 erschien die erste Denkschrift der Gesellschaft, die die Epoche von ihrer Gründung als „Große Berliner Pferde-Eisenbahn-Aktiengesellschaft" (1871) bis zum Abschluß der Einführung des elektrischen Betriebes (1902) umfaßt und den „ruhigen Zeiten des Pferdebetriebes" gewidmet war. Der zweite Band schildert den enormen Aufschwung und die Ausbreitung des Unternehmens während des ersten Dezenniums des elektrischen Betriebes. Da diese Denkschriften nur einem begrenzten Interessentenkreis aus dem Bereich deutscher Straßenbahn- und 149

Kleinbahnverwaltungen zugedacht war, wurde die Druckauflage in engen Grenzen gehalten, so daß das Werk heute selbst in Bibliotheken nur selten zu finden und in Antiquariaten so gut wie gar nicht mehr aufzutreiben ist. Der Berliner Verlagsvertreter Hans Feulner hatte 1982 den begrüßenswerten Einfall, einen Nachdruck des zweiten Bandes der Denkschrift herauszugeben. Das Werk ist kein trockener Geschäftsbericht einer privaten Aktiengesellschaft, sondern bietet weiten Kreisen von Interessenten für die Geschichte Berlins einen umfassenden Überblick über die rasante Entwicklung des innerstädtischen öffentlichen Nahverkehrs. Auf den technischen Bereich, wie die Entwicklung des Wagenparks, des Oberbaus, der Ausbildung des Fahrpersonals und des Unfallwesens, wird ebenso eingegangen wie auf die Rechtsverhältnisse, die Finanzen, die Verwaltung sowie die Entwicklung des Liniennetzes. Der Bericht enthält eine Vielzahl zumeist wohlgelungener fotografischer Reproduktionen und in den Text integrierter Zeichnungen und statistischer Angaben, die auch dem nicht einschlägig versierten Leser Einblick in „entlegenere" verkehrstechnische Sektoren gewährt. Dem Reprint liegen fünf zusätzliche Karten und Pläne bei, aus denen Verkehrsumfang und -dichte des Liniennetzes ersichtlich sind. Der Rezensent gehört zu der Generation, die diese Epoche noch miterlebt hat, und bewahrt die Szenerien aus jenen fernen Tagen, in denen ein Nicht-mehr-Vorhandensein der Straßenbahn in Berlin einfach unvorstellbar gewesen wäre, in hellster Erinnerung. Unschwer selbst für phantasiearme Zeitgenossen von heute, sich die Länge des Staus schienengebundener Fahrzeuge vorzustellen, der sich zwischen der Bülowstraße und dem Spittelmarkt in Minutenschnelle bildete, wenn ein Verkehrshindernis wie der Radbruch eines pferdebespannten Leichenwagens zur Mittagszeit die Potsdamer Brücke blockierte, die 1913 von 34 verschiedenen Straßenbahnlinien überquert wurde. Dem auch drucktechnisch einwandfreien Feulnerschen Reprint ist weite Verbreitung zu wünschen. Hans Schiller

Gräfin Malve Rothkirch: Prinz Carl von Preußen. Kenner und Beschützer des Schönen. Biblio Verlag, Osnabrück 1981,288 Seiten mit einem Personenregister, Stammtafeln, mehreren Skizzen und reichhaltigem zeitgemäßem Bildwerk, 88 DM. Das Buch liest sich am meisten aufschlußreich, wenn man es bewußt einspannt in den Zeitabschnitt zwischen dem Alter des Prinzen Carl, als er sich nach dem Tode der Gattin selbst von Geist und Form der Schinkelzeit in Glienicke abgewendet hat, und dem Anbringen der Gedenktafel durch den JohanniterOrden 1981 in der Kirche von St. Peter und Paul in Nikolskoe in Erinnerung an den Herrenmeister der Balley Brandenburg. Dazwischen liegt als schmerzlichstes Ereignis die Zerstörung seines Stadtpalais „Prinz Carl am Wilhelmplatz" als Goebbelssches Reichspropagandaministerium. Es wird ein wesentliches Stück preußischer Geschichte, tragischer hohenzollernscher Familiengeschichte und das Kernstück der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts sichtbar. Vfn. will dem Prinzen Carl, Sohn der Königin Luise, das fehlende Standbild setzen und tut dies auf mutige und schöne Weise zugleich. Sie bekennt sich zu subjektiver Erschließung des kunstwissenschaftlichen Phänomens Glienicke, indem sie über wissenschaftsmethodische stilkritische Betrachtungsweise hinaus Glienicke und das Ensemble der Havelschlösser als „Dinge von innen her" erfaßt. „Nur ein Ich kann erspüren, was ein Ich beim Schaffen bewegte", bekennt sie. Sie legt aufgrund ausgedehnter neuer Quellenforschung im Entstehen des Ambientes Glienicke den Lebenssinn des Prinzen Carl dar, den sie, dem Fürsten Pückler folgend, „Kenner und Beschützer des Schönen" nennt. Der Lebensbogen dieses Mannes könnte auch bezeichnet werden mit dem Wandel, der sich in Briefäußerungen niederschlägt wie „... eine Welt im Herzen..." zu „einer Welt aus dem Herzen (schaffen)". Der Leser versteht, wie bedeutsam in entwicklungspsychologischem Licht die bürgerliche, warmherzige Atmosphäre in der Königsfamilie Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise war, in der jeder der Preußenprinzen seine Individualität gewann. - Für den künstlerisch veranlagten Carl sind sein Erzieher Minutoli, der Baron de la Motte-Fouque und die Zauberfeste „Lallah Roukh" und die Undine-Aufführungen mit Schinkels Dekorationen und das Verlebendigen der Ritterzeit in Eichendorffs Dichtung relevant für sein späteres Kunstwirken. Sie klingen an verwandte Saiten der eigenen Ritterlichkeit an und die wachsende Gabe, sich die Herzen bedeutsamer Geister wie Pückler, Schinkel, Rauch und Humboldt zu gewinnen. 150

Die Verflechtung seiner militärischen und staatsmännischen Laufbahn mit seiner künstlerischen in Anlehnung an seine Italienreisen und Rußlanderfahrungen zieht sich wie ein roter Faden durch das Lebensgeflecht als Herr auf Glienicke. Vfn. hätte als Untertitel auch „Sir Charles Glienicke" wählen können, wie er sich selbst bezeichnete; doch greift das Epitheton „Kenner und Beschützer des Schönen" tiefer. Sie verfolgt in jährlich fortgesetzten Berichten sein Leben. Seit Prinz Carl 1824 Glienicke erwirbt, entsteht ein Bild, wie Schloß und Park allmählich seine einmalige Gestalt annehmen, bis das Gesamtkunstwerk dasteht und dem Prinzen im hohen Mannesalter und in seiner Alterszeit mit seiner Blütenfülle eine Oase des zeitlos Schönen wird. Gleichermaßen ersteht vor dem Auge des Lesers das romantische und klassizistische Berlin und das Miteinander der Geisteswirksamkeiten wie Aufführung der Matthäuspassion durch MendelssohnBartholdy, die Rolle des Hofmalers Hensel, das Sichzurückträumen in die Ritterzeit mit der Vollendung des Kölner Doms und dem Erwerb von Burgen am Rhein, das erste Sichaneignen byzantinischer Kunst und die Anfänge der Ägyptologie, der mittelalterlichen Altertumswissenschaften in Germanistik und Historie, das Bekanntwerden der Funde von Troja, dem Aufschwung der Kunstwissenschaften in Akademie und Museum. Der in immer weitere Gebiete ausgreifende Mäzen Prinz Carl führt damit das Zeitalter Goethes ins Eisenbahn- und Industriezeitalter über und gibt ihm die geistige Begründung unter Bewahrung des Altpreußischen. Für des Prinzen Carl Bedeutung als Mitglied des königlichen Hauses und seinen staatsmännischen Rang ist das Kapitel „Freund seines Bruders, des Königs Friedrich Wilhelm IV." ein Kernstück. Sie ist die seine Persönlichkeit prägende Epoche. Neu ist dabei der Blick auf seine Rolle in den Revolutionstagen von 1848. Sie involviert einen Bruderzwist im Hause HohenzoUern, eine Entfremdung zwischen den Prinzen Carl und Wilhelm, dem späteren Kaiser. Carl stellt sich mit seiner ganzen Existenz auf die Seite der Friedenspolitik seines königlichen Bruders. Und damit wird vom angeblichen „Romantiker auf dem Thron" ein neues, ein realistisches Bild gezeichnet, das geeignet ist, dem Urteil über die Geschichte Preußens im 19. Jahrhundert neue Akzente zu geben. Der unbedingte Friedenswille Friedrich Wilhelms IV. gewinnt im Licht der Friedensforschung unserer Tage neue Dimensionen; eine Parallelität zur Gestalt des späteren Kaisers Friedrich III. liegt auf der Hand. Prinz Carl hatte deshalb auch eine abweichende Einstellung zu den drei preußischen Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71. Man wagt kaum zu ermessen, wie anders die preußische und deutsche Geschichte hätte verlaufen können. Tapfer beugt sich Prinz Carl, der eine Zeitlang als Thronprätendent vorgesehen war, „dem Unerforschlichen des menschlichen Daseins". Ein eigener Lebensbereich ist seine Wirksamkeit als Wiederbegründer und Herrenmeister des Johanniterordens, der sich dann in den preußischen Kriegen als segensreich erweisen sollte, so wie sein königlicher Bruder dessen Aufgabe umschreibt: „Die Spitäler ... sollen helfen ... das persönliche Aufopfern eines ganzen Lebens zu Zwecken christlicher Liebeswerke den Augen des Landvolkes näher zu rücken" (S. 153). Vfn. hat ihre Absicht erreicht und den Prinzen „seiner schicksalhaften Vergessenheit" entrissen (S. 236), ihn in seine eichendorffisch anmutende Garten- und Kunstwelt hineingestellt. Das In-Beziehung-Setzen geistiger Ereignisse durch wechselseitige Erhellung der Künste wird heute nur noch wenig beherrscht. Um so mehr ist dies ein sauber gearbeitetes, ein profundes und ein schönes Buch. Christiane Knop

Berliner Illustrirte Zeitung. Zeitbild, Chronik, Moritat für jedermann 1892-1945. Zusammengestellt und herausgegeben von Christian Ferber. Ullstein Verlag Berlin 1982. 400 Seiten. Es gab in den zwanziger Jahren unseres Säkulums eine Reihe von Illustrierten an den Kiosken; die Münchner, die Kölner, die Hamburger, Hackebeils - aber weit vor ihnen allen rangierte, was Aktualität und interessierenden Gehalt, Beliebtheit und Verbreitung im ganzen Deutschen Reich anbelangte, die „Berliner Illustrirte Zeitung". Sie war die Illustrierte schlechthin, die jeden Donnerstag für 20 Pfje Heft von zwei Millionen Lesern gekauft wurde und ihnen die große und kleine Welt mit Hilfe „moderner" Technik wie Momentfotografie und Rotationsdruck ins Wohnzimmer brachte. Im Politischen enthielt sich das Blatt jeglicher Stellungnahme. Seine Romane stammten von Clara Viebig, Thea v. Harbou, Vicki Baum und anderen Unterhaltungsschriftstellern, die den Zeitgeschmack so gut trafen, wie es der Illustrierten im ganzen gelang. Einen gewissen Eindruck von 53 Jahren Zeitgeschehen (1892 bis 1945) vermittelt denn auch das vorliegende Buch mit seinen Bildproben und Textfragmenten. Die Älteren, die sich noch des Ullstein-Blattes erinnern, werden gern darin blättern, den Jüngeren wird es wohl kaum Interesse abnötigen können. Gerhard Kutzsch 151

Veranstaltungen im I. Quartal 1984 1. Sonnabend, den 14. Januar 1984, 15.00 Uhr: Führung durch die Ausstellung zum 250. Geburtstag „Friedrich Nicolai - Leben und Werk" in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Potsdamer Straße 33, Berlin 30. Leitung: Frau Dr. Ingeborg Stolzenberg. Treffpunkt im Foyer. 2. Donnerstag, den 19. Januar 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Klaus von Krosigk, dem Referenten für Gartendenkmalpflege beim Senator für Umweltschutz, „Aufgaben und Ziele der Gartendenkmalpflege in Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Donnerstag, den 9. Februar 1984,19.30 Uhr: „Berlin halt ein..." Aus dem Leben und Werk von Paul Zech. Es liest Siegfried Haertel. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Freitag, den 17. Februar 1984, 19.00 Uhr: Eisbeinessen anläßlich des 119. Jahrestages der Gründung unseres Vereins im Restaurant und den Festsälen der Hochschul-Brauerei, Amrumer Straße 31, Ecke Seestraße, Berlin 65. Telefonische Anmeldungen bis zum 7. Februar unter 8 5127 39. 5. Donnerstag, den 23. Februar 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Notizen zum Berliner Dom." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 6. Donnerstag, den 8. März 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Manfred Motel: „Das böhmische Dorf in Berlin." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 7. Donnerstag, den 22. März 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer: „Die Berliner Siegesallee - einst und jetzt." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.

Im IV. Vierteljahr 1983 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Konrad Beck, Journalist Müllerstraße 138 c, 1000 Berlin 65 Tel. 4617083 (Grave) Dr. Jan-Günter Frenzel, Zahnarzt Branitzer Platz 6, 1000 Berlin 19 Tel. 30593 24 (Schriftführer) Harand Giray Otto-Suhr-Allee 53, 1000 Berlin 10 Tel. 3412682 (Bibliothek)

Dr. Wolfgang Kramer, Journalist Potsdamer Straße 93, 1000 Berlin 30 Tel. 2616555 (Prof. Dr. Kiersch) Martin Lippold, Rentner Alemannenstraße 11,1000 Berlin 28 Tel. 4017540 (Dr. Schultze-Berndt) Prof. Dr. Christoph Rueger, Musikwissenschaftler Xantener Straße 20,1000 Berün 15 Tel. 8 813922 (Ueberlein)

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 323 28 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postscheckamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 3022 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 152

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 80. Jahrgang

Heft 2

April 1984

Der Druckfehlerteufel hat uns im Januarheft 1984 einen argen Streich gespielt: Es ging als Heft 5 hinaus, während es doch in der Tat Heft 1 (1984) war. Wir bitten unsere Mitglieder und alle Bezieher der „Mitteilungen", die kleine Korrektur auf der Frontseite des Heftes selbst vorzunehmen.

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Harry Maitey von Gottfried Schadow

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Der Sandwich-Insulaner Maitey von der Pfaueninsel Die Lebensgeschichte eines hawaiischen Einwanderers in Berlin und bei Potsdam von 1824 bis 1872* Von Wilfried M. Heidemann Meiner Mutter Irmgard Heidemann geb. Raeder zu ihrem 70. Geburtstag gewidmet I. Polynesien und Preußen Auf dem kleinen Friedhof der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe in Berlin-Wannsee steht ein Steinkreuz mit der Inschrift „Hier ruht in Gott der Sandwichinsulaner Maitey 1872". Dieser Satz in versenkten Goldbuchstaben macht manchen Leser ratlos, bei anderen läßt er die Phantasie wuchern, und wieder andere macht er neugierig. Es ist schwierig, die Sandwich-Inseln auf der Karte zu finden. Sie wurden von Kapitän James Cook 1778/79 auf seiner dritten Reise für Europa entdeckt.' Es war die letzte Entdeckung einer bewohnbaren größeren Erdmasse. Chef der britischen Admiralität war damals John Montagu, der vierte Graf von Sandwich, den sein Zeitgenosse Johann Reinhold Forster 1781 als „einen in allen Lüsten versoffenen und schandlosen Mann" beschrieb.2 Es wird von ihm erzählt, er habe das Spiel so ungern unterbrochen, daß er sich Klappbutterbrote an den Tisch bringen ließ. Nach diesem Gönner benannte Kapitän Cook den von ihm entdeckten Hawaii-Archipel „Sandwich Islands". James Cook wurde am 14. Februar 17793 in der Kealakekua-Bucht das Opfer einer durch polynesische Riten und europäisches Auftreten bedingten Ereigniskette. Dieser Zwischenfall wurde der lesenden Weltöffentlichkeit zuerst von Anton Friedrich Büsching am 10. Januar 1780 in Berlin bekannt gegeben. Er ließ den Druck seiner „Wöchentlichen Nachrichten von neuen Landcharten, geographischen, statistischen und historischen Büchern und Sachen" anhalten, um diese bei ihm über Land aus dem russischen St. Petersburg eingetroffene Nachricht einem anderen Artikel vorzuziehen. Büsching war ein ungewöhnlich vielseitiger evangelischer Theologe.4 Er hatte in der vom Pietismus August Hermann Franckes geprägten preußischen Universitätsstadt Halle studiert. Der hallesche Pietismus war die treibende Kraft der „ersten Missionstat seitens des protestantischen Deutschlands"5 gewesen. Die beiden ersten deutschen lutherischen Missionare Ziegenbalg und Plütschau waren vor ihrer Ausreise in die dänische Kolonie Trankebar/Indien 1705 vom Rektor des Berliner Werderschen Gymnasiums Joachim Lange vermittelt worden.6 Büsching hatte an einer für damalige europäische Verhältnisse weltoffenen Universität studiert. Als er seine „Wöchentlichen Nachrichten" herausgab, war er Oberkonsistorialrat und Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin. „Er wagte es zuerst, genauere Nachrichten über den Zustand mancher Länder bekannt zu machen, die bisher als Staatsgeheimnisse verborgen gehalten wurden."7 Das mag für einen Berliner Schulbeamten und ein Mitglied einer geistlichen Behörde im spätfriderizianischen Preußen beachtlich sein, wurden doch zu jener Zeit auf königliche Anordnung in diesem Staat die Ergebnisse der Landvermessung aus militärischen Gründen möglichst geheim gehalten.8 Durch das Öffentlichkeitsbewußtsein Büschings erfuhren die Berliner vom gewaltsamen Tod des Entdeckers der Hawaii-Inseln einen Tag vor seinen Landsleuten, die diese Nachricht erst * Für den Druck überarbeiteter Vortrag, der am 16. November 1983 in der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe gehalten wurde. 154

am 11. Januar 1780 in einer Meldung der Admiralität und einem Nachruf in der „London Gazette" lasen.9 Der gewaltsame Tod von James Cook wurde trotz des Schreibverbots der britischen Admiralität von einem seiner beiden deutschen Seeleute 1781 in seinem in Mannheim gedruckten Werk „Heinrich Zimmermanns von Wißloch in der Pfalz Reise um die Welt mit Capitain Cook" einer interessierten Öffentlichkeit bekannt gemacht.10 Dieses Ende des Entdeckers hatte eine nachhaltige Wirkung, weil es das bis dahin in Europa vorherrschende Bild vom „edlen Wilden" gründlich zerstörte." Der französische Reisende de Bougainville hatte der Insel Tahiti noch wegen der von Europäern ungewohnten sexuellen Freizügigkeit der weiblichen Bevölkerung in Anspielung auf die Liebesgöttin Venus den Namen „Nouvelle Cythere" gegeben.12 Solches Verhalten ließ sich auch bei den hawaiischen Frauen beobachten, aber dahinter steckte je länger, je mehr auch ein Mann, der sich dadurch von den Seeleuten die materiellen Mittel, vor allem Feuerwaffen, beschaffen ließ, um schließlich unter seiner Oberherrschaft die ganze Inselgruppe zu vereinen. Es war der spätere König Kamehameha I. Ihm begegnete der erste Berliner auf Hawaii am 24. November 1816 und dann wieder am 28. September 1817 persönlich. Es war der Schriftsteller und Botaniker Adelbert von Chamisso. Der alte Held muß ihn ziemlich beeindruckt haben, schrieb er doch in sein Tagebuch: „Drei der hervorragenden Männer der alten Zeit, ich rühme mich der Ehre, haben mir die Hand gedrückt: Tameiameia, Sir Joseph Banks und Lafayette." Chamisso war bei einer der dreißig russischen Expeditionen, die von 1803 bis 1833 in den Pazifik segelten, mitgefahren.13 Sein Schiff war die Brigg „Rurik"; sie fuhr unter dem Kommando des Kapitäns Otto von Kotzebue, einem Sohn des Schriftstellers August von Kotzebue, dessen Ermordung am 23. März 1819 durch den Jenenser evangelischen Theologiestudenten Karl Ludwig Sand in Mannheim die politische Szene in Deutschland nachhaltig - vor allem durch Zensurbestimmungen - beeinflußt hat. Im Winter 1818/19 saß Chamisso in Berlin an seinem Bericht über die Expedition. Sein Freund E. T. A. Hoffmann griff verschiedene Ideen und Einzelheiten für seine phantastische Erzählung „Haimatochare" auf, die in „Hana-ruru auf O-Wahu" „unfern König Teimotus Residenz" spielt. Diese 1819 in Berlin veröffentlichte phantastische Erzählung ist das erste Stück Prosadichtung der Weltliteratur, das Hawaii als Schauplatz hat.14

II. Von Hawaii nach Berlin In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Hawaii-Inseln zu einem sehr bedeutenden Zentrum des Walfangs entwickelt. Am 27. November 1823 verließ der hawaiische König Kamehameha II. (Liholiho) an Bord des englischen Walfängers „L'Aigle" sein Königreich in Richtung England.15 Es war die erste Auslandsreise eines hawaiischen Monarchen. Für den gleichen Tag notiert das Journal der unter Kapitän Harmssen fahrenden bremischen Fregatte „Mentor": „ . . . 2 Uhr Nachmittags erblickten Land (die Insel Owyhee) . . . um 9 Uhr die nördliche Spitze von Owyhee und die südliche von Mowee", und am nächsten Tag um 9 Uhr liefen (auf der Rhede) in den Bay von Hanäorora auf d. I. Waahoo und ankerten in 14 Faden Wasser. Bis zum 3 ten Dec. Morgens 10 Uhr lagen wir Anker, hatten unsere Wasserfässer gefüllt und einige Erfrischungen eingekauft."16 Die Reise dieses Schiffes um die Erde war die Verwirklichung eines lang gehegten Plans der „Königlich Preußischen Seehandlung" in Berlin. Es war die erste deutsche Weltumseglung. Die Seehandlung hatte das in Vegesack gebaute und 1817 von Kiel auf neu verzimmerte Schiff der Gebrüder Delius aus Bremen17 zu diesem Zweck gechartert und mit dem Hamburger Kauf155

mann Wilhelm Oswald als Supercargo (Frachtoffizier) auf die Fahrt geschickt. Er ließ sich in Honululu an Land rudern, um die geplanten Einkäufe zu arrangieren. Dort machte er die Bekanntschaft des amerikanischen „Konsuls und Agenten" John Coffin Jones jun., der ihm über die politischen Zusammenhänge, die zur Abreise des Königs nach England geführt hatten, „seine Hoffnung auf englischen Schutz und Stärkung angesichts der Subversion einiger Häuptlinge"18 Mitteilung machte. Aus anderen Quellen erfuhr Oswald, daß die Reise des Königs „durch Furcht vor einer russischen Invasion" motiviert worden war. Oswald spürte, daß auf Hawaii eine Zeit politischer Unruhe war. Für einen englischen Missionar und seine erkrankte Frau, der versuchte Honululu zu verlassen und dem vor drei Wochen die Erlaubnis verweigert worden war, mit dem König und seiner Reisegesellschaft auf der „L'Aigle" nach London zu segeln, fand sich auf der „Mentor" kein Platz. Auf der Weiterfahrt hatte die „Mentor" aus dem chinesischen Hafen Kanton vor allem Tee mitgenommen, von den anderen Stationen der Reise aber „auch einen schönen Vorrath von Naturseltenheiten und Kunstgegenständen aus den drei Weltteilen, die er besuchte, mitgebracht", wie die „Vossische Zeitung" vom 18. Oktober 1824 unter der Überschrift „Unser Chinafahrer" festhält. Zu einer Ausstellung in den Räumen des Seehandlungsgebäudes in der Jägerstraße am Gendarmenmarkt bemerkt die Zeitung weiter: „Auch für ein ethnographisches Museum, deren (!) Einrichtung wir noch immer entgegensehen, ist so manches Merkwürdige mitgekommen ... Zeug aus Baumrinde von den Sandwich-Inseln... Und damit dem künftigen Museum der Aufseher nicht fehlt, ist auch ein Freiwilliger von den Sandwich-Inseln mit eingetroffen. Henry, so wird er gerufen, oder vielmehr: so nennt er sich, kam als der Mentor dort anlegte, an Bord, und bat flehentlich, daß man ihn mitnehmen möchte. Man erkundigte sich nach seinen Familien-Verhältnissen, er hatte weder Vater noch Mutter, noch sonst jemanden, der Ansprüche an ihn machte; so ging er mit nach China, und hat sich nun schon ganz an die Europäische Lebensweise gewöhnt. Henry mag ungefähr 15 bis 18 Jahr alt sein, die Menschenrace, von der er stammt, gehört nicht zu den Negern, steht ihnen jedoch durch die schwärzliche Hautfarbe u. etwas platte Nase ziemlich nah, unterscheidet sich jedoch durch wohlgebildete Lippen und glattes, langwachsendes, weiches Haar; sein Teint scheint etwas brouillirt, am Arm und im Gesicht ist er tattowiert. Er ist sehr gelehrig, freundlich, munter, arbeitssam. Deutsche Worte spricht er geläufig nach, wenn sie nicht zu viel Consonanten haben, besonders scheint ihm das r ganz zu fehlen. Wenn er zum Singen eingeladen wird, ziert er sich fast eben so sehr, wie unsere jungen Damen, und hat auch die andere böse Gewohnheit, daß man ihn, wenn er erst angefangen hat zu singen, gute Worte geben muß, ehe er aufhört. Beim Singen setzt er sich auf einen Stuhl, u. macht mit seinen Händen lebhafte Bewegungen, wobei es mir bemerkenswerth schien, daß er mit der rechten Hand sich oft an das Herz schlug, während er mit der Linken die rechte Seite nie berührte. Sein Gesang beschränkte sich auf vier bis fünf Töne, und die Worte schienen vornehmlich aus den Lauten ae, i, und o zu bestehen, seine Stimme hat nichts Schnarrendes, man könnte sie eine angenehme Tenorstimme nennen, doch machte der Vortrag des Gesanges mit diesen sonderbaren Bewegungen ganz den Eindruck, als ob man einen Irren sah. - Eine ganz besondere Freude äußerte der Insulaner über einen Herrn von ziemlich starken Embonpoint, er lief auf ihn zu und umfaßte ihn mehrmals, so daß man wirklich besorgt war, es möchte sich der jenen Insulanern eigenthümliche Appetit, der einst Cook das Leben kostete, bei dem jungen Freiwilligen zu regen anfangen."19 Man darf sich das zeitgenössische Berliner Ausstellungspublikum allerdings auch nicht allzu zartfühlend vorstellen.20 In den hawaiischen Quellen gibt es keinerlei Erwähnung dieses jungen Mannes. Vielleicht gehörte er zu denen, die durch die Ereignisse bei der Abreise seines Königs nach Honululu 156

gekommen waren und die jetzt nicht wußten, was sie machen sollten. Henry hörte auch auf einen Spitznamen, von dem die Deutschen annahmen, daß er sein Familienname sei: Maitey („offensichtlich war dieser Name vom hawaiischen maika'i oder matai'i abgeleitet, das ,gut' bedeutet und die fröhliche, willige Veranlagung des Jugendlichen widerspiegelt"21). Henry hatte auf dem ersten deutschen Schiff, das die Welt umsegelte, und zwar aufgrund einer in der preußischen Hauptstadt Berlin von einer staatlichen Einrichtung begonnenen und geplanten Unternehmung, Asyl gesucht und auch gefunden. Am 25. August 1824 notiert das Journal der „Mentor": „Erhielten Order von ... Delius in Bremen unseren Cours nach Swinemünde die Rhede von Stettin zu richten p. Dover boat." Hier deutet sich an, daß das Schiff inzwischen an die Seehandlung verkauft worden war. Am 7. September 1824 wird im Journal festgehalten: „Nachmittags 12 Uhr kamen in Sund bei Elsingeur vor Anker gleich darauf kam H. Holm konigl. Preuß. Consul an Bord, brachte uns eine Preuß. Flagge, welche gleich daraufgehißt wurde." Als die „Mentor" im Englischen Kanal lag, war im nahen Woolwich die Mannschaft von „H.M.S. Blonde" dabei, dieses Schiff zum Auslaufen nach Hawaii vorzubereiten. Der König Kamehameha II. und seine Königin Kamamalu waren im Mai 1824 in England eingetroffen und Mitte Juli an Masern gestorben. Die sterblichen Überreste des Königspaares wurden von der „Blonde" unter dem Kommando von Kapitän George Byron, einem Neffen des ebenfalls 1824 verstorbenen Dichters Lord Byron, der damals am griechischen Freiheitskampf teilnahm, überführt. Das Fernweh lag in dieser Familie, denn der Urgroßvater des Kapitäns und Großvater des Dichters John Byron war bereits 1764 in der Südsee gewesen.22 Die Seehandlung war eine königliche Gründung, bei der damals die letztgültigen Entscheidungen beim preußischen Monarchen lagen. „Maitey hatte seinen hawaiischen König verloren und war unter die Hoheit eines fremden geraten, ohne daß er sich einer dieser beiden Tatsachen bewußt war."23 Nach der Ankunft und dem Löschen der Ladung in Swinemünde ergab sich die Frage, was mit Maitey geschehen solle. Swinemünde war ein kleiner, soeben neu eröffneter Hafen. Der Kapitän Harmssen, Supercargo Oswald und die Schiffsoffiziere wurden in Berlin erwartet, um dem König Friedrich Wilhelm III. nach der erfolgreichen Weltumseglung vorgestellt zu werden. Maitey wurde, wohl auch weil man nicht wußte, was mit ihm zu tun sei, erst einmal mit nach Berlin genommen, wo der neue Reeder entscheiden mochte, was mit ihm geschehen solle. In Berlin wurde sogleich eine „Acta den durch das Seehandlungs-Schiff Mentor mitgebrachten Sandwich-Insulaner Harry Maitey betreffend"24 angelegt. Ihr erstes Blatt datiert vom 22. September 1824. Der Präsident der Seehandlung Christian Rother zeigt in diesem Schreiben dem König die Ankunft Maiteys an und bittet um Entscheidung. Friedrich Wilhelm III. war nicht gerade für rasche Entscheidungen bekannt. Außerdem war er gerade nicht in Berlin, sondern dachte in Paretz über eine persönliche Entscheidung nach: über seine Wiederheirat mit der dreißig Jahre jüngeren schlesischen Gräfin Harrach. Am 13. Oktober 1824 schreibt Rother erneut an den König: „Der Sandwichs-Insulaner, ein äußerst gutmütiger Mensch, der schon etwas Deutsch versteht, bis jetzt aber noch nichts weiter als seine Sandwichs-Sprache spricht, ist auch hier angelangt; ich habe solchen in meiner Wohnung und bitte Ew. Majestät devotest, die weitere Bestimmung über ihn mir huldreichst zugehen zu lassen."25 Der König schrieb bereits zwei Tage später aus Paretz nach Berlin zurück, erwähnte aber nur kurz die Angelegenheit des Polynesiers: „Wegen des mitgekommenen Sandwichs-Insulaners, werde ich Ihnen Meine Bestimmung des nächsten eröffnen." Sein Berater, der Geh. Kabinettsrat Albrecht fügt seinem Brief an den Präsidenten der Seehandlung noch ein Besprechungsergebnis zu: „Wegen des Sandwichs-Insulaners soll ich mit Ihnen 157

Rücksprache nehmen, was mit ihm anzufangen sey, namentlich, wie und wo er behufs seines Unterrichts in der deutschen Sprache und im Christentum unterzubringen sey." So blieb Maitey erst einmal in der Dienstwohnung der Familie Rother im Obergeschoß des Seehandlungsgebäudes und belebte auf seine Weise die naturkundliche und völkerkundliche Ausstellung im gleichen Haus.26 Einige Dinge fallen in dem Bericht der Vossischen Zeitung auf: 1. Es wird betont, daß Maitey freiwillig gekommen sei. Um 1820 waren „Owyhee-Chiefs" auf den Inseln entführt worden, um sie später in London als menschliche Rarität auszustellen. Sie sind wie alle anderen Hawaiianer, die vor Maitey die Inseln verlassen hatten, spurlos in der Hafenbevölkerung verschwunden.27 2. Es wird betont, daß Maitey niemanden gehabt habe, der auf ihn Ansprüche stellen konnte. Als er in Berlin ankam, galten dort noch die Sklavenbestimmungen des preußischen Landrechts. Sie wurden erst später unter dem Einfluß Alexander von Humboldts, der Maitey wohl gekannt hat, geändert. Humboldt schrieb an August Boeckh: 29. Dezember 1857 „... Ich habe zu Stande gebracht, was mir am meisten am Herzen lag, das von mir lang geforderte Negergesetz: jeder Schwarze wird frei werden, sobald er preußischen Boden berührt.. Z'28 3. Auch wenn die Bemerkung über den Mann mit dem Embonpoint, den Maitey umarmte, scherzhaft gemeint gewesen sein könnte, drückt sich darin doch gleichzeitig ein Mißtrauen gegenüber diesem dunklen Wilden aus, denn die Zeit des „edlen Wilden" in Europa war vorbei, und die Südseeinsulaner waren seit Cooks Tod eben auch mögliche Kannibalen. Im übrigen liegt diesem Zwischenfall auf der Berliner Ausstellung wohl ein europäisches Mißverständnis zugrunde: In Polynesien gilt der beleibte Mensch nicht nur als schön, sondern gleichzeitig auch als mächtig.29 4. Zu Maiteys Gesang ist zu sagen, daß seine Bestauner wohl ein deutsches Volkslied hören wollten und ihm mit dem heute noch üblichen Unverständnis der Menschen einer alphabetisierten Gesellschaft begegneten. Maitey dürfte ihnen wohl eine Ballade vorgetragen haben, wie sie in der Geschichtsüberlieferung der mündlichen Kulturen eine wichtige und stabilisierende Rolle spielen. Er gab etwas preis, und daraus erklärt sich wohl auch seine Scheu. Seine Besichtiger verstanden seine Sprache nicht und konnten daher auch seine Gebärden nicht begreifen. So erklärt sich ihr Werturteil „doch machte der Vortrag des Gesanges mit diesen sonderbaren Bewegungen ganz den Eindruck, als ob man einen Irren sah." Nach der Anordnung des Königs sollte Maitey nicht nur in der deutschen Sprache unterrichtet werden, sondern auch Religionsunterricht erhalten. Friedrich Wilhelm III. war als Oberhaupt der Evangelischen Landeskirche und als Stifter der Union zwischen lutherischer und reformierter Kirche in dieser Frage stark engagiert. Außerdem war es eine Zeit, in der sich in Europa christliche Kreise mehr und mehr für die Mission unter den Menschen in Übersee einsetzten. In Berlin war am 29. Februar 1824 in der Studierstube des Professors der Rechtswissenschaften Moritz August vor. Hollweg, Am Holzmarkt 1, unmittelbar hinter der Universität die „Gesellschaft zur Beförderung der Evangelischen Missionen unter den Heiden" gegründet worden, die heute bei uns und in Übersee im Berliner Missionswerk wirkt.30 Außerdem war die Taufe Maiteys für seine rechtliche Stellung sehr wichtig. Die preußischen Behörden haben z. B. einmal westfälischen Quäkern, die ihre Kinder nicht taufen ließen und dazu als Pazifisten sich auch weigerten, ein Gewehr für ihren König in die Hand zu nehmen, ihre Kinder zwangsweise weggenommen. Bittsteller aus diesen Familien wurden in Potsdam bei Friedrich Wilhelm III. nicht vorgelassen.3' Heinrich Heine schrieb als Student eineinhalb Jahre, bevor Maitey in diese 158

Stadt kam, am 1. April 1823 in Berlin das Bekenntnis nieder: „Auch ich habe nicht die Kraft einen Bart zu tragen, und mir Judenmauschel nachrufen zu lassen."32 Zwei Jahre später, am 28. Juni 1825, ließ sich dieser Dichter von Göttingen aus im nahen preußischen Heiligenstadt taufen.33 III. Der Sandwich-Insulaner wird zum königlichen Pflegling Heinrich Wilhelm Maitey Besonderes Glück hatte Maitey, daß er in der Familie des Präsidenten Rother aufgenommen wurde. Rother leitete die wirtschaftlichen Unternehmungen der Seehandlung außerordentlich erfolgreich. Sie betrafen unter anderem die Ausgabe von Anleihen, Straßenbau in den Provinzen, Bewirtschaftung eigener Güter, Betrieb eigener Fabriken sowie Import- und Exportgeschäfte zur Ausfuhr preußischen Leinens nach Übersee. Das Unternehmen war ein Motor der Industriealisierung Preußens. Er stammte nicht aus einer adeligen Familie, was ihm seine Karriere möglicherweise erleichtert hätte, sondern verdankte seine Laufbahn eigener Tüchtigkeit. Er kam aus einfachen Verhältnissen in Schlesien. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war er nicht nur Präsident der Seehandlung, sondern auch preußischer Finanzminister. Er wurde für Maitey eine Respekts- und Bezugsperson. Maitey war aus seiner hawaiischen Kultur eine „hanai" bzw. Adoptionsbeziehung vertraut. Mit Rothers Sohn entwickelte sich eine Freundschaft, und Frau Rother wurde später die Patin seines ersten Kindes.34 Im übrigen war Maitey in Berlin in der besten der möglichen Welten untergebracht; wenigstens von einem europäischen Standpunkt aus gesehen. Das Seehandlungsgebäude lag am Gendarmenmarkt, dessen Schauspielhaus gerade vom Staatsarchitekten Schinkel vollendet worden war. Dort gab es auch die Weinstube von Lutter und Wegener, die durch Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen" weltbekannt geworden ist. Nahebei lag das Cafe Stehely, dort wurden wie auch in anderen Kaffeehäusern fleißig die - freilich zensierten - Zeitungen gelesen. Auf dem Gendarmenmarkt wurde einige Male in der Woche Markt abgehalten. E. T. A. Hoffmann hat das in der Erzählung „Des Vetters Eckfenster" überaus lebendig beschrieben.35 Wenige Schritte entfernt lag die Straße Unter den Linden, wo es immer etwas zu sehen und zu beklatschen gab. Maitey hatte sich sehr schnell an die europäische Kleidung gewöhnt, ja, er entwickelte eine besondere Vorliebe für sie, vor allem für blankgeputzte Stiefel. Rother bildete ihn als Tischdiener aus, und seine Freunde steckten Maitey gern reichliche Trinkgelder zu, die er bald für Kleidungsstücke ausgab. Er fuhr auch einige Sommer mit der Familie auf ihren Landsitz in Schlesien. Nach den Rechnungen der dortigen Schuster scheint er recht viel durch die Wälder und Felder gestreift zu sein. Aber selbst bei einer so verständnisvollen Familie wie Rother gab es Mißverständnisse. Maitey badete gern und häufig. Rother deutete das als einen Versuch seines Schützlings, die dunkle Hautfarbe loszuwerden, und erkannte nicht, daß zur polynesischen Kultur und dem dortigen Klima häufiges Baden und Schwimmen gehören.36 Kurz vor Maiteys Ankunft war Rother Vorsitzender des „Berliner Vereins zur Erziehung sittlich verwahrloster Kinder" geworden. Er sah die Folgen der von ihm mit betriebenen Industrialisierung und unterstützte diesen Verein auch über die Seehandlung finanziell. 1825 wurde das „Erziehungshaus vor dem Halleschen Tor" eröffnet. Zum Leiter wurde ein Pädagoge von gutem Ruf, der Erziehungsinspektor D. T. Kopf berufen, der aus pietistischer Tradition stammte. Das Ziel dieses Erziehungshauses war aber nicht etwa nur die Rettung verlorener Seelen, sondern eine gute Berufsausbildung der Jungen, um sie der Zwangsgemeinschaft hartgesottener Krimineller fernzuhalten. 159

Das Erziehungshaus wurde als Schule für Maitey bestimmt. Er hatte dort aber nur Lese-, Schreib-, Rechen- und Religionsunterricht. An der Werkausbildung der anderen Jungen nahm Maitey nicht teil. Er brauchte auch nicht ihre graue Uniform mit den gelben Knöpfen und der blauen Mütze zu tragen, sondern behielt seine elegante Kleidung. Außerdem aß er am Tisch Kopfs und bekam eine bessere Verpflegung als die anderen Zöglinge. Anfang 1827 empfahl Rother dem König Maitey als Diener für den Hof, lobte seine Sauberkeit und verwies auf seine Servierfähigkeiten, die er in seinem Haus gelernt habe. Der König antwortete gleich und versprach eine Entscheidung nach Maiteys Taufe und Konfirmation. Bis dahin sollte er seine Schulausbildung vor allem in Deutsch und Religion fortsetzen.37 Rother stand also weiter vor dem Problem, was er mit dem polynesischen Burschen in seinem Haushalt machen sollte. Er holte erst einmal eine Auskunft von Erziehungsinspektor Kopf ein, die nicht allzu ermutigend war. Seine Kenntnisse in Religion seien nur vage, und sein unzureichendes Deutsch hindere ihn an der Kommunkation mit den anderen Schülern.38 Wie alle Väter besprach Rother die Lernschwierigkeiten seines Pfleglings mit seinen Freunden. In diesem Fall war der Freund Wilhelm von Humboldt. In der Akte Maitey existiert ein Handzettel Humboldts vom 15. April 1827: „Wollten mir Ew. Hochwohlgeboren heute Nachmittag um 6 Uhr Ihren Harry schicken, so möchte ich meine Kunst an ihm versuchen. Ginge es heute nicht, so bitte ich ihn um die gleiche Stunde nächsten Dienstag."39 Humboldt vergaß im Lauf der Begegnungen mit Maitey wohl sein freundlich gemeintes ursprüngliches Angebot des Nachhilfeunterrichts, vielmehr befragte er ihn eingehend über die hawaiische Sprache und trug seine Forschungsergebnisse auf der Akademiesitzung am 24. Januar 1828 vor. Dabei erwähnte er Maitey mehrere Male.40 Von Juni bis Oktober 1827 war Maitey ständig im Erziehungshaus, und im Herbst 1828 wurde er nicht wieder eingeladen, in Rothers Haushalt zurückzukommen. Rothers Geduld war wohl erschöpft. Maitey hatte nicht nur Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Wegen dieser Schwierigkeiten entließ ihn der Waisenhauspfarrer Rötscher auch aus dem Konfirmandenunterricht. Rötscher war ein vorsichtiger Geistlicher, der mit seinem Konfirmanden kein Risiko eingehen wollte. Der Konfirmandenunterricht stand in jenen Jahren aufgrund der Spannungen, die mit der Durchführung der staatlich angeordneten Kirchenunion zusammenhingen, besonders unter dem Zeichen dogmatischer Unterweisung. Rötscher wollte besonders bei einem Konfirmanden, der möglicherweise bald in der Nähe des Königs arbeiten würde, alles richtig gemacht haben.41 Für Maitey bedeutete Taufe und Konfirmation die Rückkehr zu Rothers. Das jedenfalls spricht aus seinem Neujahrsschreiben vom 1. Januar 1829: „Hochwohlgeborener Herr, Gnädiger Herr Präsident. Euer Hochwohlgeboren wünsche ich zum neuen Jahre viel Glück und Segen, Gesundheit und Freude. Ich werde recht gut seyn und fleißig lernen, damit ich bald getauft werden kann; und bleibe ich immer bei meinem lieben Herrn Präsident; und bediene ihn treu, und mein Herr Präsident wird mich lieb behalten. Harry Maitey ein Sandwich Insulaner."42 Am 15. April 1829 konnte Kopf Rother mitteilen, daß Pastor Hoßbach bereit sei, Maitey mit den anderen Jungen des Erziehungshauses in den Konfirmandenunterricht aufzunehmen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß Hoßbach der Pfarrer war, den Rother selbst ursprünglich vorgeschlagen hatte. Er war Frühprediger an der Neuen Kirche, die auch Deutscher Dom 160

genannt wurde und an der Südseite des Gendarmenmarktes lag. Er war nicht nur jünger als Rötscher, seine offene Art war auch seiner Laufbahn nicht hinderlich. Später wurde er Superintendent und Konsistorialrat. Er erhielt auch ein theologisches Ehrendoktorat.43 Vor der Taufe und der Konfirmation kam es im Hause Rother aber noch zu einem Zwischenfall mit Maitey. Ende 1829 wurde er aufgefordert, bei einem Diner in der Wohnung Rothers zu servieren. Es wurde Wein aufgetragen, und Maitey trank dabei mehr, als ihm gut tat. Ein anderer Diener versuchte, ihn um einen Taler Trinkgeld zu betrügen, und Maitey stellte ihn lautstark. Rother wurde herausgerufen, konnte ihn aber nicht besänftigen, und Maitey ließ sich zu einem Wutanfall hinreißen, der für sich sprach.44 Neben Maiteys Enttäuschung über die anscheinend zerschnittene „hanai"-Beziehung zu seinem Beschützer Rother und der Ungewißheit über seine Zukunft kam noch etwas anderes, das zu seinem Gefühlsausbruch geführt hatte. Die Vossische Zeitung berichtet am 2. Oktober 1829 über „Die glückliche Rückkehr des preußischen Handelsschiffes Prinzessin Louise" von einer Reise um die Erde und weist auf eine Ausstellung „in einigen Zimmern des Seehandlungsgebäudes" hin. „Endlich müssen wir noch einer mehr historischen Curiosität mit erwähnen. Unter den mancherlei Gewändern und Trachten fremder Völkerschaften, sehen wir nämlich auch einen Kriegsmantel des Königs der Sandwichinseln. Die rothen und gelben Federn, aus denen er verfertigt ist, sind ein Regal der Krone; der Mantel hat aber auch noch besonderen Werth dadurch, daß ihn ein berühmter Vorfahr des jetzigen Königs in den vielen Schlachten, durch die er die Herrschaft über die Inseln errang, getragen hat."45 Der Mantel ist heute noch ein Prachtstück der Sammlung des Völkerkundemuseums in Berlin-Dahlem.46 Zur Herstellung eines solchen Mantels werden die Federn von bis zu 80 000 Vögeln benötigt. Durch Zufall ist auf der Insel Kauai vor einigen Jahren eine kleine Population dieser Vögel wiederentdeckt worden. Von einem Vogel können jeweils nur ein bis zwei Federn für einen solchen Mantel verwendet werden. Das Bishop-Museum in Honululu hat vor einigen Jahren aus irischem Privatbesitz einen solchen Mantel nach Hawaii zurückgekauft.47 Maitey war auf der „Mentor" aus Hawaii geflohen und hatte in Preußen Asyl gefunden. Für ihn ergab sich beim Anblick des Federmantels möglicherweise der Eindruck, daß sein bisheriger Beschützer Rother jetzt gemeinsame Sache mit den Machthabern seiner Heimat mache. Rother ordnete bei Kopf ein ausführliches Strafprogramm für Maitey an, das nach Einwänden des Erziehungsinspektors jedoch gemildert wurde.48 Am Freitag, dem 23. April 1830, wurde Maitey in einem privaten Gottesdienst von Hoßbach getauft und konfirmiert. Seine Paten waren Rother, Stadtrat Hollmann und Kopf. Henry oder Harry Maitey bekam den Namen Heinrich Wilhelm. Hinterher nahm er mit den anderen Konfirmanden des Erziehungshauses am Abendmahl teil. Von seinen Paten bekam er „15 Taler, die für ihn auf ein Sparkassenbuch eingezahlt wurden".49 Dann ging es zurück ins Erziehungshaus. Maiteys Traum „dann bleibe ich immer bei meinem lieben Herrn Präsident" hatte sich nicht verwirklicht. Nach Maiteys Konfirmation sicherte der König Friedrich Wilhelm III. Rother ab 1. Juli 1830 für seinen Schützling eine Stelle mit 300 Taler Jahresgehalt am Hof zu. Der Hofmarschall von Maltzahn sollte das Einstellungsgespräch führen. In Begleitung von Kopf stellte sich Maitey vor, aber der Hofmarschall war nicht da, und sie wurden von seinem Stellvertreter Hofrat Bußler empfangen.50 Es begann ein etwas merkwürdiges Beamtenexamen. Zunächst befragte Bußler Maitey über preußische Ränge und Beamtenbezeichnungen. Es gab da wohl mehr als hundert verschiedene Berufsbezeichnungen in fünf Rängen. Maitey kannte so etwas zwar aus seiner heimatlichen Gesellschaft, die sehr hierarchisch aufgebaut war, aber die meisten preußischen Rangbezeich161

nungen hatte er noch nie gehört. Der Kandidat versagte.51 Dann wurde ihm ein Stapel handgekritzelter Benachrichtigungen und Anordnungen vorgelegt. Er sollte Adressen und unleserliche Unterschriften entziffern. Maitey hatte zwar im Erziehungshaus Schönschreiben gelernt, hatte aber bisher noch keine Gelegenheit gehabt, Buchstabenansammlungen von der Güte einer Ärztehandschrift zu enträtseln. Der Kandidat versagte auch hier vollständig. Nach Abschluß dieses Examens stellte Bußler fest, daß der Kandidat für die Hofstellung ungeeignet sei. Der stets eifrige Erziehungsinspektor Kopf versprach weitere Ausbildung seines Schülers. Bußler ging darauf nicht ein, sondern hatte eine ihm glänzend erscheinende Idee. Maitey war doch ein Insulaner, und so paßte er am besten auf eine Insel, und die königliche Pfaueninsel, in der Havel zwischen Potsdam und Berlin gelegen, brauchte gerade einen Fährmann.52 Vielleicht besteht Interesse zu wissen, wie Henry Harry oder Heinrich Wilhelm Maitey ausgesehen hat. Gottfried Schadow hat ihn einmal gezeichnet und dazu geschrieben: „Da derselbe unter uns geblieben, so zeigt der Augenschein einem Jeden, daß in dessen Gesichtszügen nichts Abweichendes von den unsrigen wahrzunehmen ist. Die breiten Wangenbeine finden sich auch bei uns, und, obgleich sein Schädel schmäler, wird dieser doch durch die starken und dicken Haare versteckt; was ihn einigermaßen unterscheidet ist die dunklere Hautfarbe. Zu einer feineren Geistesbildung fand er sich nicht geeignet."53 In Berlin hatte man festgestellt, daß der dunkle Mann aus der Südsee weder ein edler Wilder noch ein Menschenfresser war, sondern ein Mitmensch, allerdings eben auch kein Mann, der über ein unerschöpfliches Bildungsreservoir verfügt hätte. Maitey war inzwischen zu einem evangelischen preußischen Untertanen und kleinen königlichen Hofbeamten geworden. IV. Die langen Jahre auf der Pfaueninsel und in Klein-Glienicke Die Pfaueninsel54 war so etwas wie ein preußisches Utopia. Ein schmaler Streifen Wasser, der mit einer Fähre überquert wird, trennt sie vom Festland. Auf dem Weg zum ruinenartigen Schlößchen liegen Walkieferknochen, die möglicherweise aus Maiteys hawaiischer Heimat stammen. 1769 hatte der französische Entdeckungsreisende Louis Antoine de Bougainville aus Tahiti einen jugendlichen Eingeborenen namens Aotourou mit nach Paris gebracht. James Cook brachte 1775 von seiner zweiten Reise dessen Landsmann Omai nach London. Beide wurden in gelehrte und aristokratische Zirkel eingeführt und waren Mittelpunkt amüsierter Neugierde.55 Im Zusammenhang damit entstand in Europa eine Südseemode. Ein Ausdruck davon ist auch das otaheitische Kabinett im Pfaueninselschloß, das das Innere einer Südseehütte vortäuschen soll, wo man die Menschen in paradiesischen Zuständen vermutete.56 Auf der Pfaueninsel gab es auch ein Palmenhaus, das etwa zur Zeit, als Maitey dort ankam, von Carl Blechen gemalt worden ist.57 Maitey wurde dem Maschinenmeister Friedrich zugeteilt und empfing von ihm eine vielseitige handwerkliche Ausbildung. Dabei kam er auf der ganzen Insel herum: Von der Meierei im Norden bis zum Schloß im Süden. Er erledigte Holzschnitz-, Möbeltischler- und Schlosserarbeiten. Auf der Insel gab es für die Pumparbeiten des Bewässerungssystems eine der ersten Dampfmaschinen in Deutschland. Es muß für die preußische Hofgesellschaft ein ganz besonderes Vergnügen gewesen sein, dieses in England erfundene technische Wunderwerk von einem europäisch-elegant gekleideten Mann aus der Südsee bedient zu sehen. An zwei bis drei Tagen in der Woche stand die Insel auch dem allgemeinen Publikum offen, das zunächst in Kremsern und dann mit der Eisenbahn in ziemlich großen Scharen zu Besuch kam.58 162

Auf der Insel gab es nämlich nicht nur Park, Schloßbauten und Pfauen zu besehen, sondern es entwickelte sich dort auch ein Vorläufer des heutigen Berliner Zoos. Die überseeischen Tiere wurden zumeist von der Seehandlung geliefert. Deren „Acta betreffend die Ablieferung von lebendigen Tieren pp an die königliche Menagerie auf der Pfaueninsel 11. July 1834-1849" beginnt auf Blatt 1, Nr. 1, mit folgendem Text: „Mit dem Schiffe Prinzessin Louise 2 große Enten, welche nur sehr selten in der Nähe des Vulkans Owhyhie gesehen werden, angekauft durch Capt. Wendt für 10 Span. Thaler. Von diesen Thieren existiert nach der Äußerung von Herrn Liechtenstein bloß in London vielleicht 1 Exemplar oder doch nur wenige, und schien ihm diese Nachricht ganz besondere Freude zu gewähren." Dazu die Randnotiz: „Die beiden Enten ad 1, sind bereits auf der Pfaueninsel angekommen."59 Es handelt sich bei diesen seltenen Vögeln um die Hawaiigans oder Nene.60 Sie wurden wohl in dem Haus für Wassergeflügel untergebracht inmitten eines Teiches, der von einem malerischen Wasserfall gespeist wurde.61 Es ist wahrscheinlich, daß die Tiere nicht nur als zoologische Rarität auf die Pfaueninsel gebracht worden sind. Seeleute haben zwar immer gern zur Aufbesserung ihrer Heuer Kleintiere aus Übersee nach Europa mitgebracht, aber zwischen Wendt und Maitey bestand offensichtlich eine enge menschliche Beziehung. Sein Onkel war der Kapitän J. H. Harmssen gewesen. Er hatte unter seinem Kommando als Untersteuermann an der ersten Weltumseglung auf der „Mentor" teilgenommen.62 Johann Wilhelm Wendt und Maitey waren auch zusammen auf zwei Wagen mit den Ausstellungsstücken von Swinemünde nach Berlin gefahren.63 Vielleicht hatten Wendt und Rother ihrem früheren Schützling mit dem raschen Transport der Hawaiigänse auf die Pfaueninsel einen Gefallen tun wollen. Nach mündlicher Überlieferung soll sich Maitey am Wassergeflügelteich in Charlotte Dorothee Becker, die Tochter des Tierwärtergehilfen Becker aus Stolpe verliebt haben, als sie dort die Enten und Gänse fütterte. Maiteys Heirat hatte sich durch das Fehlen eines wichtigen Dokuments verzögert. Als königlicher Beamter brauchte er einen Heiratskonsens. Er wurde immer wieder vertröstet. Schließlich wandte er sich an seinen alten Beschützer Rother, der ihm zügig half. Sein Jahreseinkommen erhöhte sich gleichzeitig auf 350 Thaler.64 Die beiden hatten am 25. August 1833 in der Kirche am Stölpchensee geheiratet65, einem schlichten Fachwerkbau, der später durch einen Neubau ersetzt wurde.66 Nach seiner Hochzeit wurde das Paar auch einmal auf der Pfaueninsel dem König vorgestellt. Es entwickelte sich aber kein besonders lebhaftes Gespräch.67 Das muß nicht unbedingt an den jungen Leuten gelegen haben, wird von Friedrich Wilhelm III. doch erzählt, daß seine bevorzugte Verbform der Infinitiv gewesen sei. Da auf der Pfaueninsel Wohnungen knapp sind, zog das junge Paar nach Klein-Glienicke, und zwar neben das dort gerade im Bau befindliche Pfarrhaus. Am 2. Dezember 1837 wurde ein Sohn Heinrich Wilhelm Otto geboren. Als er von seinem Nachbarn Pfarrer Fintelmann in St. Peter und Paul auf Nikolskoe getauft wurde, umstanden den Taufstein nicht weniger als acht Paten, darunter Frau Rother. Der kleine Junge starb wie seine 1846 geborene Schwester Friederike Wilhelmine leider als Kind. Der zweite Sohn Heinrich Wilhelm Eduard, der am 8. Dezember 1839 geboren wurde, überlebte seine Eltern.68 Maitey arbeitete weiterhin auf der Pfaueninsel. Auch zum Besuch seiner Schwiegereltern kam er auf die Insel. Von seinem Wohnort Klein-Glienicke gab es eine direkte Straße, die 1840 nach dem Tod König Friedrich Wilhelms III. aufgehoben wurde. Dessen Sohn, Friedrich Wilhelm IV, wollte damit seinem Bruder Prinz Carl einen Gefallen tun, weil der seinen Landschaftspark nicht mehr länger durch einen Fahrweg getrennt sehen wollte. Danach gab es den heute noch existierenden Uferweg, der am Schloß Klein-Glienicke vorbeiführte.69 Dort konnte Maitey einem anderen dunkelhäutigen Menschen begegnen, dem Diener Achmed des Prinzen Carl.70 163

Ein Mann war sehr ärgerlich, daß Maitey nicht mehr ohne Unterbrechung auf der Insel lebte: der Maschinenmeister Friedrich. Zehn Jahre nach Maiteys Umzug machte er eine Eingabe und verlangte den Umzug des „Neuseeländers" (!) Maitey in eine leerstehende Wohnung auf der Pfaueninsel. Maitey wurde nach diesen offenen und verhüllten Beschwerden Friedrichs, der eine Oberaufsicht über ihn beanspruchen wollte, offiziell dem Garteninspektor Fintelmann unterstellt.71 Es gab einen Grund für Friedrichs Verhalten. In Potsdam werden einige sehr schöne Elfenbeinmodelle aus dem Pfaueninselschloß verwahrt72, die nach den Akten Friedrich angefertigt hat. Für diese Sammlerstücke, die vom König Friedrich Wilhelm III. und der Zarenfamilie sehr geschätzt wurden, erntete Friedrich Lob und finanzielle Anerkennung. Eigenartigerweise begann Friedrich mit der Herstellung dieser schönen Dinge nach Maiteys Ankunft und hörte schlagartig nach seinem Umzug damit auf. Pro Modell waren etwa 12 000 Stücke aus Elfenbein bzw. Perlmutter zu schneiden.73 Kinder in Hawaii schnitzten dort aus Muscheln und Knochen Speerspitzen und Angelhaken. Seeleute schnitten auf den langen Segeltouren während ihrer Frei wachen aus Walroß zahnen.74 Die Vossische Zeitung berichtet zur Ausstellung, auf der sie Maitey ihrer Leserschaft vorstellte, über chinesische Kunstgegenstände, die von dem Schiff „Mentor" mit nach Berlin gebracht worden waren: „Man erstaunt über die Geschicklichkeit, mit welcher Chinesen in Perlmutter, Elfenbein und Schildpatte zu arbeiten verstehen, sie schneiden die Figürchen auf Tabaksdosen, zu Schachspielen u.s.w. so sauber aus, wie es die Nürnberger Künstler in ihrer besten Zeit nicht verstanden..." Maitey besaß also durchaus eine entsprechende Vorbildung und Vorwissen zur Durchführung solcher Arbeiten. Im Pfaueninselschloß gibt es einen gelben Raumteiler, von dem bei den Führungen erzählt wird, er sei von den Kindern der Königin Louise mit ausgeschnittenen Figuren beklebt worden. Aus den Akten ging jedoch hervor, daß Friedrich der Künstler war. Auch hier läßt sich gut denken, daß die Feinarbeit von Maitey geleistet wurde.75 In den Tagen der Revolution von 1848 hielt es der König Friedrich Wilhelm IV. für angeraten, seinen Bruder und Thronfolger Wilhelm nach England ins Exil zu schicken. Er verbarg sich bei seiner Reise nach Hamburg auf der Pfaueninsel.76 In der Hansestadt half ihm ein Kaufmann zur Weiterreise nach England, der sich inzwischen William O'Swald nannte. Es war jener Supercargo Wilhelm Oswald, der dem jungen Hawaiianer Henry 1823 auf der „Mentor" bei der ersten deutschen Weltumseglung Asyl gewährt hatte.77 Auch Maiteys ersten deutschen Beschützer in Berlin traf das Jahr 1848. Die Seehandlung, die bisher an den preußischen König unter Rother Gewinne abgeführt hatte, geriet in den Sog der Wirtschaftskrise und mußte aus Staatsmitteln einen Vorschuß von 1 Mio. Taler aufnehmen. Nach Rothers Ablösung als Finanzminister und Präsident des Unternehmens geriet die staatliche Seehandlung unter einen politisch bedingten Privatisierungsdruck, von dem sie sich nie wieder erholt hat.78 Prinz Wilhelm kehrte aus London nach Deutschland zurück und wohnte wieder Maitey gegenüber im Schloß Babelsberg. In Sichtweite seines Wohnhauses war dort 1843-45 ein Maschinenhaus entstanden, das ihn an seine ersten Jahre auf der Pfaueninsel erinnerte. Der Prinz wurde Regent und als Wilhelm I. König von Preußen und deutscher Kaiser. Bei seinen Wegen zur Insel sah Maitey manchmal eine Miniaturfregatte aus dem für sie gebauten Bootsschuppen segeln. Die „Royal Louise" war ein Geschenk des britischen Königs.79 Dieses englische Schiffsgeschenk mochte Maitey daran erinnern, daß George IV. seinem König 1822 einen kleinen Schoner, die „Prince Regent", als Geschenk hatte überreichen lassen. Sein König war darüber so begeistert gewesen, daß er sich auf den Weg nach England gemacht hatte.80 Ein paar Tage später hatte Maiteys Reise nach Preußen begonnen. 164

Die Miniaturfregatte „Royal Louise" auf der Werft von E. Kluge in Sacrow Preußen wurde immer größer und setzte sich Siegessäulen. Nach 1870 gab es in Berlin französische Kriegsgefangene, die Prinz Friedrich-Karl zur Aufforstung seines nahegelegenen Forstes Dreilinden heranzog.81 Unter den Gefangenen kam es zu einem Pockenausbruch. Die Pocken wurden Maiteys Krankheit zum Tod. Er starb am 26. Februar 1872 in seinem KleinGlienicker Haus Kurfürstenstraße 10.82 Heinrich Wilhelm Maitey wurde auf dem kleinen Friedhof der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe wie alle anderen Einwohner der Pfaueninsel bestattet. Nach der Einschätzung von Anneliese Moore ist sein Grabkreuz der am besten erhaltene Grabstein eines Hawaiianers in Übersee.83 V. Maitey im Spiegel und Zerrbild europäisch-überseeischer Beziehungen Den Entdeckungsreisenden de Bougainville und Cook sind von europäischen Intellektuellen Vorwürfe gemacht worden, weil sie die beiden Südseeinsulaner Aotourou und Omai von Tahiti mit nach Frankreich und England gebracht hatten. „War es nicht unverantwortlich, daß man einen jungen Mann, der das Vorrecht genossen hatte, in paradiesischer Umgebung aufgewachsen zu sein, sorglos frei und glücklich, seiner angestammten Heimat entriß und den korrumpierenden Sitten einer europäischen Großstadt aussetzte? War es erlaubt, um der Zerstreuung der breiten Menge willen die Glückseligkeit eines unschuldigen Naturkindes aufs Spiel zu setzen?"84 Was ist nun zu dieser aus der Schule Rousseaus, des frühen Gegners der Sklaverei und des Kolonialismus, stammenden Kritik im Zusammenhang mit dem Hawaiianer Maitey in Berlin zu sagen? 165

Die ferne Heimatinsel Maiteys ist unumkehrbar in ein Beziehungsnetz zur europäisch-nordamerikanischen Zivilisation geraten, an dessen Anfang das folgenreiche Wirken amerikanischer Missionare aus Boston stand. So ähnelt z. B. die Grabstätte der Königsfamilie in Honululu durchaus dem, was sich reiche Berliner zur gleichen Zeit etwa auf Kreuzberger Friedhöfe stellen ließen. Die 2-Cent-Briefmarke, mit der ein Missionar seine Post frankierte, läßt heute das Herz eines Sammlers intensiver schlagen.851881 besuchte der hawaiische König Kalakaua u.a. auch Berlin und Potsdam. In einem schnell geschriebenen Brief teilt er seiner Schwester Liliuokalani mit: „Meine liebe Schwester, vergangenen Freitag sind wir hier angekommen und seitdem Tag und Nacht unterwegs gewesen: Besuche in kaiserlichen Schlössern und Museen; bei Exerzierübungen der deutschen Artillerie-, Infanterie- und Kavallerietruppen. Vergangenen Sonntag waren wir beim Prinzen Wilhelm und seiner Frau, er ist ein Bruder des Prinzen Heinrich von Preußen, der in Hawaii gewesen ist. Außerdem haben wir den Prinzen Karl - Bruder des Kaisers - besucht und den Prinzen Friedrich-Karl. Großkreuz des Kalakaua-Ordens für Prinz Wilhelm und Prinz Friedrich-Karl, Kamehameha-Orden für Prinz Karl. Der Kalakaua-Orden ist hier in Deutschland und England sehr beliebt, besonders beim Prince of Wales und auch beim Prinzen Wilhelm, dessen Frau voller Freude aufsprang, als wir zusammen von einer Gesellschaft heimkehrten. Am nächsten Tag, als wir beim Prinzen Carl wieder zusammenkamen, waren alle wieder so vergnügt. Wir sind hier in Deutschland mit Herzlichkeit aufgenommen worden .. ."86 Seit 1872, Maiteys Todesjahr, lebte in Hawaii ein gebürtiger Potsdamer, der den gleichen Taufnamen trug wie er: Heinrich Wilhelm Berger. Er war ein unermüdlicher Dirigent der Hofkapelle und gilt als Entwickler der Hawaiimusik.87 Deshalb interessierte sich der König auch für rangniedere Personen: „Ich habe Bergers Mutter und Schwester gesprochen, und ich schicke Dir ein Programm der Militärkapelle, der er früher angehört hat. Vielleicht kann er die Noten besorgen und die Stücke bei meiner Rückkehr spielen .. ,"88 Die einheimische Bevölkerung Hawaiis ist zu Maiteys Lebzeiten aus verschiedenen Gründen erheblich dezimiert worden. Die Geschichte der Inselgruppe ist in etwa nach dem Schema der drei „M" verlaufen: „First the missionaries, then the merchants and then the marines!" (Erst die Missionare, dann die Kaufleute und dann die Marineinfanteristen.) Die letzte Königin Liliuokalani wurde 1893 nach einer von amerikanischen Kaufleuten veranlaßten Intervention von US-Marinesoldaten abgesetzt.89 Als Prinzessin war sie wenige Jahre vorher bei den Feierlichkeiten zum 50jährigen Regierungsjubiläum der Königin Victoria in England Tischdame von deren ältestem Schwiegersohn gewesen und hatte sich mit diesem Preußenprinzen, der im Jahr darauf für 99 Tage deutscher Kaiser wurde, angeregt unterhalten.90 Hawaii wurde Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika. Es geriet schnell in Vergessenheit, daß die preußische und die hawaiische Königsfamilie von einem dritten Königshof protokollarisch gleichwertig behandelt wurde, wie sich das am Beispiel dieses Jubiläums und den jeweils vom englischen Monarchen geschenkten Schiffen deutlich geworden war. Auch die Bewertung Maiteys in Berlin und Potsdam geriet nach seinem Tod unter den Einfluß kolonialistischen Denkens. Caesar v. d. Ahe war im Zusammenhang des Hawaiianers von der Pfaueninsel der beste Kenner der damals noch unzerrissenen Archive und konnte auch noch auf mündliche Überlieferungen zurückgreifen. Er schließt im Jahre 1933 seinen Aufsatz über Maitey mit dem Satz: „Maitey war zweifellos nicht, wie man annimmt, ein auf der Pfaueninsel als Sehenswürdigkeit benutzter Wilder, sondern ein gesitteter Mensch, der sich der besonderen Fürsorge mancher 166

Das Grab Maiteys auf dem Friedhof von St. Peter und Paul auf Nikolskoe, Aufnahme W. E. Werner hochstehenden Persönlichkeiten in Berlin und Potsdam erfreuen konnte."91 Der apologetische Charakter dieser unter dem Eindruck der Hitlerschen Machtübernahme geschriebenen Gedankens ist unverkennbar. Es war wohl auch nötig, den Sandwichinsulaner von der Pfaueninsel in Schutz zu nehmen, denn nur wenige Jahre später schreibt 1937 der in Klein-Glienicke als Pfarrer in unmittelbarer Nähe von Maiteys Wohnung lebende Fritz Schmidt: „Wahrscheinlich ist Maitey mit einem Tiertransport nach der Pfaueninsel gekommen."92 Diese Version wurde für einen 1983 gesendeten Unterhaltungsfilm „Über die Schwierigkeiten des Zusammenlebens" des Senders Freies Berlin übernommen. Wie war es innerhalb weniger Jahre zu dieser Maitey abwertenden Einschätzung gekommen? Es ist wohl anzunehmen, daß die Kolonialzeit hier ihre kräftige Nachwirkung im allgemeinen Bewußtsein zeigt. Die britische Flotte war in den Friedensperioden des 19. Jahrhunderts aufgrund des Drucks der englischen Öffentlichkeit ausgeschickt worden, um den Sklavenhandel auf den Weltmeeren wirkungsvoll zu bekämpfen. Das gelang, doch am Ende dieser Maßnahmen stand die koloniale Aufteilung der Welt unter die Mächte Europas, bei der 1884/85 die Berliner Kongokonferenz eine wichtige Etappe war. Hawaii war das erste in diesem Zusammenhang von den Vereinigten Staaten übernommene außeramerikanische Gebiet. Für die Verbreitung des „Kolonialgedankens" unter den breiten Bevölkerungsschichten waren die Kolonialausstellungen von großer Bedeutung. In den zoologischen Gärten und an anderen Örtlichkeiten fanden sogenannte Völkerschauen statt. Der Berliner Zoo begann im Jahre 1878 mit solchen Veranstaltungen. Im Sommer wurden „17 dunkelhäutige Nubier vom Blauen Nil mit Kamelen, fünf Elefanten, vier jungen Nashörnern und acht Giraffen" den Berlinern gezeigt. 167

Allein am 6. Oktober 1878 zählte der Zoo 62 000 Besucher bei dieser Sonderschau.93 Diese massenwirksamen Zurschaustellungen von Menschen überseeischer Völker wurden zumeist von der Hamburger Tierhandelsfirma Hagenbeck veranstaltet. Sie hatten 1874 mit einer lappländischen Familie begonnen, die zusammen mit einem Rentiertransport aus Norwegen in die Hansestadt geholt worden war. Carl Hagenbeck teilt in seinen Erinnerungen seine Eindrücke mit: „Diese erste Völkerschau wurde zu einem großen Erfolg, weil das ganze Unternehmen mit einer gewissen Naivität und Unverfälschtheit ins Leben getreten war und auch so vorgeführt wurde."94 Diese „Unschuld" scheint auf beiden Seiten im Lauf der Jahre verloren gegangen zu sein. Die letzte Völkerschau veranstaltete Hagenbeck 1931 mit „Südsee-Kanaken von Neu-Kaledonien".95 Die europäische Enttäuschung hallt noch Jahrzehnte später in der Wertung des offiziellen Geschichtsschreibers der Firma nach: „Schon ihre Ankunft enttäuschte. In ihren europäischen Anzügen fielen die Südseeinsulaner kaum im Hamburger Straßenbild auf, so daß in aller Eile erst nach Mustern aus dem Völkerkunde-Museum für sie ,Originalkostüme' angefertigt werden mußten. Tagsüber tanzten sie zwar den obligaten HulaHula, abends scherbelten sie Foxtrott und Shimmy auf der Reeperbahn. Das Auslegerboot, das sie kontraktlich mit heimischen Werkzeugen anfertigen sollten, kenterte beim Stapellauf. Vom Bootsbau hatten diese Herren aus der Südsee keinen blassen Schimmer. Am 21. Juni wurden sie vorzeitig heimgeschickt."96 Am 7. Dezember 1941 wurde der hawaiische Perlenhafen, der Marinestützpunkt Pearl Harbour der US-Flotte, von japanischen Flugzeugen bombardiert. Der deutsche Machthaber Adolf Hitler erklärte danach den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg. Er endete mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, zu dessen erstem Staatsoberhaupt Maiteys Babelsberger Nachbar Wilhelm I. ausgerufen worden war. Die Sieger trafen sich im Sommer 1945 zur Potsdamer Konferenz. Eines ihrer Ergebnisse war, daß die Pfaueninsel dem amerikanischen Sektor von Berlin zugeschlagen wurde. Maiteys Geburtsinsel Hawaii wurde am 21. August 1959 von Präsident Eisenhower als gleichberechtigter 50. Staat in die Union aufgenommen.97

Anmerkungen 1 2 3 4

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Popp, Klaus-Georg (Hrsg.): Cook der Entdecker, Schriften über James Cook von Georg Forster und Georg Christoph Lichtenberg, Leipzig 31981. Zitiert nach: Bitterli, Urs: Die „Wilden" und die „Zivilisierten", Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976, S. 387. So Lichtenberg in der ersten deutschen Monographie über Cook, Popp, S. 166. Zur Bedeutung Büschings als Vertreter einer „biblischen Theologie" vgl. Kraus, Hans-Joachim: Die biblische Theologie, Ihre Geschichte und Problematik, Neukirchen-Vluyn 1970, S. 25. Auf die Begrenztheiten Büschings auf dem Gebiet der Theorie einer biblischen Theologie in den Augen seiner Zeitgenossen weist Hans-Eberhard Heß hin in: Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler, ein Beitrag zur Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, Augsburg 1974 (S.354, Anm.98; S. 143-356, Anm. 106; S. 371, Anm. 189). Vgl. auch Bitterli, S. 265/266. Warneck, Gustav: Abriß einer Geschichte der protestantischen Missionen von der Reformation bis auf die Gegenwart, hrsg. von Joh(annes) Warneck, Berlin l01913, S. 41. Warneck, S. 56. Artikel: Büsching, Anton Friedrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Dritter Band, Leipzig 1876, S. 644-655. Scharfe, Wolfgang: Abriß der Kartographie Brandenburgs 1771-1821, Veröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Band 35, Berlin - New York 1972, S. 43-47. Scharfe erwähnt dabei auch Büschings Argumentation, der Beispiele anführt, „daß Mangel an Karten zu unnötigen Bedrückungen der Landesbewohner durch einen desinformierten Feind führen kann". Ebd., S. 46, Anm. 42. Interes-

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sant ist in diesem Zusammenhang, daß Büsching 1787 im Jahr nach dem Tod Friedrichs des Großen auch eine theologische Begründung seiner Geographie vorgelegt hat: „Der Nutzen der Erdbeschreibung ist wichtig und verdienet eine eigene Abhandlung, die aber nach meinem Zweck nicht weitläufig sein darf. Ihr Hauptnutzen, den ich am ausführlichsten abhandeln will, ist, daß dadurch die Erkenntnis Gottes, des Schöpfers und Erhalters aller Dinge, ansehnlich befördert wird. Unser Erdboden ist zwar nur ein kleiner, aber für uns der merkwürdigste Teil seiner herrlichen Werke; und wie die ganze Welt zeuget, daß ein Gott sei, so enthält insonderheit unsere Erde davon die unwidersprechlichsten Beweisthümer. Wir mögen uns hinwenden, wohin wir wollen, so können wir deutlich Spuren der göttlichen Macht, Weisheit und Güte bemerken" (zitiert nach Bitterli, S. 265). Popp, S. 252, Anm. 191. - „... schnellere deutsche als englische Veröffentlichung in Sachen Cook: es soll ein Werkchen existieren - allerdings kann man nur noch der Photokopien handhaft werden -, das 1780 in Reval und Leipzig erschienen ist: anonymer Autor: .Nachrichten von dem Leben und den Seereisen des berühmten Capitain'." (Briefliche Mitteilung von Prof. Anneliese Moore, Kailua, Hawaii, vom 16.2.1984 an den Verfasser.) Moore, Anneliese W.: Beziehungen zwischen Hawaii und Berlin, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte. 31. Band, Berlin 1980, S. 74-102, S. 74. Bitterli, S. 391 f. Ebd., S. 387. Moore, Beziehungen, S. 75 f. Hoffmann, E.T. A.: Sämtliche poetischen Werke, 3. Band, S.515-527. Moore, Anneliese: Harrv Maitey: from Polynesia to Prussia, in: The Hawaiian Journal of History, Volume XI, Honululu 1977, S. 125-161, S. 126. Journal des Schiffes Mentor auf der Reise von Bremen nach Canton und von da zurück nach Swinemünde in den Jahren 1822-1824. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem (GStA), 1109, Nr. 3523, S.43. Übersicht der sämtlichen Reisen des königl. Seehandlungs-Schiffes Mentor..., GStA I HA Rep. 109, Nr. 977. Moore, Harry Maitey, S. 126. Königlich priviligierte Berlinische Zeitung von Staats und gelehrten Sachen, Im Verlage Vossischer Erben. 245stes Stück. Montag, den 18ten Oktober 1824. „... und abends in Verein", Johann Gottfried Schadow und der Berlinische Künstler-Verein 1814-1840, Katalog der Ausstellung im Berlin-Museum, führt unter Nr. 130 eine Zeichnung Schadows auf, die Vorlage für den Zinkdruck „Das Publikum auf der Kunstausstellung" (Nr. 130 a) wurde. Die Darstellung dürfte auch in ihrer satirischen Übertreibung nicht unzutreffend sein. Moore, Harry Maitey, S. 127. Das Wort Maitey begegnet auch heute noch in Deutschland. Hingewiesen sei auf den „Mai Tai"-Begrüßungs-Cocktail, mit dem die Speisekarte des Kieler Restaurants „Polynesien" beginnt, dessen Einrichtung nicht nur die fachliche Aufmerksamkeit des Ethnologen verdient. Moore, Harry Maitey, S. 129. Vgl. auch: hawaii, hrsg. von Leonhard Lueras, München 1983, S. 53. Moore, Harry Maitey, S. 129. Ebd., S. 157, Anm. 22. Die Akte lagert jetzt im Deutschen Zentralarchiv, Historische Abteilung II, Merseburg. Wie die folgenden Dokumente zitiert nach: v. d. Ahe, Caesar: Der Hawaiianer auf der Pfaueninsel, in: Potsdamer Jahresschau 1933, S. 19-31, S.21. Eine umfassende Information über dieses abgerissene Haus und die Unternehmungen der Seehandlung gibt: Kern, W.: Dienstgebäude der Königl. Seehandlungs-Sozietät in Berlin, Jägerstr. 21, in: Zeitschrift für Bauwesen LH, 1902; vgl. besonders die Abbildungen Spalte 365/366. Moore, Harry Maitey, S. 132; vgl. auch v. d. Ahe, S. 21. v. Humboldt, Alexander: Eine Auswahl, hrsg. von Gerhard Harig, Leipzig - Jena 1959, S. 348. Bis dahin galt der § 198 des Allgemeinen Preußischen Landrechts: „Fremde, die sich nur eine Zeitlang in Königlichen Landen befinden, behalten ihre Rechte über die mitgebrachten Sklaven." Freundlicher Hinweis von Herrn Dieter Eggers, Kiel. Vgl. Lehmann, Hellmut: 150 Jahre Berliner Mission, Erlangen 1974. Fabricius, Cajus: Carl von Tschirschky-Boegendorff. Ein Beitrag zur Geschichte der Erweckung in Minden-Ravensberg und zur Familiengeschichte des Reichskanzlers Michaelis. In: Jahrbuch des Vereins für Evangelische Kirchengeschichte Westfalens, 20. Jahrgang 1918. Gütersloh, S. 1-91. vgl. S.48. 169

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Mende, Fritz: Heinrich Heine, Chronik seines Lebens und Werkes, 2., bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1981, S. 33. Ebd., S. 50. Kern, Dienstgebäude, Sp. 362/363. Meuß, Johann-Friedrich: Die Unternehmungen des Königlichen Seehandlungs-Instituts zur Emporbringung des preußischen Handels zur See, in: Veröffentlichungen des Instituts für Meereskunde an der Universität Berlin, Neue Folge, B. Historisch-volkswirtschaftliche Reihe, Heft 2, Berlin 1913, S. 19 ff. Moore, Harry Maitey, S. 139. Hoffmann, S. 865-889. v. d. Ahe, S. 23, Brief Rothers an den König vom 14. März 1827: „... liebt die Reinlichkeit sehr, weil er immer noch glaubt, durch öfteres Waschen seine schwärzliche Farbe zu verlieren und hat sonst keinen Fehler, als daß er das Geld liebt, um sich Sachen, besonders aber feine und nette Kleider dafür anschaffen zu können." Ebd. Antwortbrief Friedrich Wilhelms III. an Rother vom 18. März 1827: „Auf Ihren Bericht vom 14. d. Mts. will Ich erst nach vollzogener Taufe und Einsegnung des Sandwichs-Insulaners Harry Maitey disponieren, und soll bis dahin der Unterricht desselben in den Elementarkenntnissen, in der deutschen Sprache und in der Religion fortgesetzt werden. Eine Veränderung seines Namens bei der Taufe, wenn Harry in Heinrich geändert wird, finde ich nicht angemessen." Ebd., S. 24. Moore, Beziehungen, S. 89. Moore, Harry Maitey, S. 138/139. v. d. Ahe, S. 24: „Harry hat seit Jahr und Tag an Einsicht und Verstand, vorzüglich aber an Herzensbildung sehr gewonnen; eine Gewandheit in der deutschen Sprache wird er jedoch schwerlich erzielen, weil seine Sprachwerkzeuge schwerfällig und ungelenkig sind." Maiteys Schwierigkeiten dürften vermutlich nicht an einer anatomischen Unzulänglichkeit seiner „Sprachwerkzeuge" gelegen haben, sondern wie bei jedem Menschen in einer neuen sprachlichen Umwelt in der ungewohnten Phonetik der anderen Sprache begründet gewesen sein. Vgl. auch den Art. Rötscher, Gottlieb, in: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hrsg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband, II. Band, 2. Teil, Berlin 1941, S. 717. Rötscher hatte ein Spezialpfarramt für Waisenhauskinder. Abgebildet bei Moore, Harry Maitey, nach S. 128. Evangelisches Pfarrerbuch, II. Band, 1. Teil, S. 359. v.d.Ahe, S.24. Vossische Zeitung, 2. Oktober 1829. Nr. 230. Vgl. das Sammelblatt Nr. 106 des Museums für Völkerkunde der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Südsee. Freundliche Auskunft von Herrn Dieter Eggers, Kiel. v.d.Ahe, S.24 Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Über die komplizierte Hof- und Beamtenhierarchie mag dem Interessenten Auskunft geben: Lorenz, H.: Die Amtstitel und Rangverhältnisse ..., Berlin-Plötzensee 1907, bes. S. 16 ff. „Preußisches Hofrangreglement 1878, basierend auf vorherigen Reglements". v.d.Ahe, S. 25. Schadow, Gottfried: Polyklet oder von den Maasen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter mit Angabe der wirklichen Naturgröße nach dem rheinländischen Zollstocke und Abhandlung von dem Unterschiede der Gesichtszüge und Kopfbildung der Völker des Erdboden, als Fortsetzung des hierüber von Peter Camper ausgegangenen von Gottfried Schadow, Berlin 1834, S. 26/27. Die Pfaueninsel, Führer, hrsg. von der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, 8., neu bearbeitete Auflage, Berlin 1971. Bitterli, S. 185 ff. Die Pfaueninsel, S. 4. Clemens Alexander Wimmer hat kürzlich darauf hingewiesen, wieviel auch die Gestaltung der Pfaueninsel diesen Idealvorstellungen verdankt. Vgl. seinen Aufsatz: Preußische Gärten als Verwirklichung Watteauscher Visionen, in: Das Gartenamt, 32. Jahrgang, 1983, S. 733-736. Zum Ganzen siehe auch: Bilder vom irdischen Glück, Giorgione - Tizian - Rubens - Watteau Fragonard, Katalog zur Ausstellung im Weißen Saal des Charlottenburger Schlosses, Berlin 1983. Vgl. den Aufsatz von Michael Seiler: Das Palmenhaus auf der Pfaueninsel (1831-1880), in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 32, 1981, S. 98-120.

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Kourist, Werner: 400 Jahre Zoo, Im Spiegel der Sammlung Werner Kourist/Bonn, Köln - Bonn 1976 (Kunst und Altertum am Rhein, Führer des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, hrsg. im Auftrag des Landschaftsverbandes Rheinland Nr. 71), S.97f. 59 GStA, I. 109 Nr. 3065, S.l. m Vgl. Grzimek, Bernhard: Grzimeks Tierleben, Enzyklopädie des Tierreichs, München 1980, unveränderter Nachdruck der 1975 bis 1977 erschienenen Auflage, Band 7, Vögel 1, S. 288/289, Abb. 1, S. 284. 61 Abgebildet bei Kourist, S. 87, auf einem Aquarell von Carl Wilhelm Pohlke, 1830. Der Wasserfall ist 1983 von den Mitarbeitern der Staatlichen Schlösser und Gärten wieder freigelegt und auch zeitweise wieder zur Auffüllung des alten Wasservogelteichs in Betrieb genommen worden. Der Berliner Zoo hat eine Zuchtgruppe von Hawaiigänsen, die inzwischen recht zahlreich geworden ist. Es erscheint wünschenswert, sie wieder auf dem Wassergeflügelteich auf der Pfaueninsel zu halten, dem Platz, an dem sie außerhalb von Hawaii zum ersten Mal gehalten worden sind. 62 Focke, Joh.: Art. Wendt, Johann Wilhelm, in: Bremische Biographie des 19. Jahrhunderts, hrsg. von der Historischen Gesellschaft des Künstlervereins, Bremen 1912. 63 v.d.Ahe, S.20. 64 Ebd., S.27f. Die dort abgedruckte ausführliche Bittschrift scheint nicht eigenhändig von Maitey abgefaßt zu sein. Vgl. Moore, Harry Maitey, S. 150. 65 Kirchenbuch Stolpe 1833, Nr. 2. 66 Wolff, Karl: Wannsee, 4., erweiterte und neu bearbeitete Auflage, Berlin 1974, S. 83f. 67 v.d.Ahe, S.29. » Ebd., S. 29 f. Maitey scheint keine heute noch lebenden Nachkommen zu haben. - Auch der Grabstein von Eduard Maitey ist auf dem Nikolskoer Friedhof erhalten. 69 Mündliche Auskunft von Herrn Alfred Gobert, Schloß Glienicke. 70 Gräfin Rothkirch, Malve: Prinz Carl von Preußen, Osnabrück 1981, S. 157,193f., Abb. 124, 208. 71 v.d.Ahe,S.26. 72 Ausstellungskatalog Schinkel in Potsdam, Potsdam, 1981, Nr. 23, S. 44 f. 73 a.a.O., S. 45. 74 Moore, Harry Maitey, S. 152. 75 v.d.Ahe, S. 27: „Die Enkelin Mayteys bewahrt noch das Buchenholzstück, auf dem Maytey die Figuren alle ,mit himmlischer Geduld' ausgeschnitten hat." 76 Wolff, S. 72 f. 77 Moore, Harrv Maitey, S. 153. 78 Kern, Sp. 364. Meuß, S. 274ff. 79 Bohrdt, Hans: Lustjachten der Hohenzollern, in: Hohenzollern Jahrbuch, 3. Jahrgang, 1899, S. 164. 80 hawaü,S.52. 81 Fontane, Theodor: Fünf Schlösser, Altes und Neues aus der Mark Brandenburg, vollständige Ausgabe, Berlin, o. J., S. 388/389. 82 v. d. Ahe, S. 30; vgl. Moore, Harry Maitey, Anm. 127. Sie weist auf die hohe Anfälligkeit der Hawaiianer gegenüber Pocken hin. 83 Moore, Harry Maitey, Anm. 129. Das Grabkreuzist 1983 von der Gartendenkmalpflege restauriert und wieder aufgestellt worden. 84 Bitterli, S. 186. 85 hawaii, S. 180. 86 Moore, Beziehungen, S.98. Zu den Orden siehe: Gritzner, Maximilian: Handbuch der Ritter- und Verdienstorden aller Kulturstaaten der Welt innerhalb des XIX.Jahrhunderts, Leipzig 1893, S. 131-140. 87 hawaii, S. 330-332. 88 Moore, Beziehungen, S. 98/99. 89 hawaii, S. 69 f. 90 Moore. Beziehungen, S. 97, Anm. 78. 91 v.d.Ahe, S. 31. 92 Schmidt, Fritz: 100 Jahre Peter und Paul auf Nikolskoe, Berlin 1937, S. 134 (Es war umgekehrt. Maitey zuliebe kamen die ersten Tiere aus Hawaii auf die Pfaueninsel! - s.o. Anm. 59-63). 93 Klös, Heinz-Georg: Von der Menagerie zum Tierparadies, 125 Jahre Zoo Berlin, Berlin 1969. Es verdient indes festgehalten zu werden, daß sich Berlin bei dieser neuen Unterhaltungsgattung, verglichen mit anderen deutschen Großstädten und europäischen Metropolen, sehr zurückhielt: „Nur Dr. Bodenius (!) lehnte immer noch kühl ab, seinen Berliner Zoo für derartige Schaustellungen zu 171

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öffnen." Niemeyer, Günter H. W.: Hagenbeck, Geschichte und Geschichten, Hamburg 1972 S.216/217. Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen, Erlebnisse und Erfahrungen, Leipzig 1957 (5. Auflage der Neuausgabe), S. 47. Niemeyer, S. 217. Es waren Melanesier, vgl. a.a.O., S. 220. Ebd., S. 220. hawaii, S.81. Anschrift des Verfassers: Pfarrer Wilfried M. Heidemann, Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe, 1000 Berlin 39 (Wannsee)

Blattzierpflanzen und Rankgewächse auf der Pfaueninsel ein Ausdruck der Tropensehnsucht zu Anfang des 19. Jahrhunderts Von Michael Seiler Wenn in den letzten Jahren Bananenpflanzen und Rizinus in die Schmuckgruppen auf der Pfaueninsel Eingang fanden und in diesem Jahr sich Mangold dazugesellen wird, so soll damit eine Komponente ihrer gärtnerischen Tradition wieder sichtbar werden. Die Pfaueninsel gilt durch die Tätigkeit des Hofgärtners Ferdinand Fintelmann (1774-1863) und seines Neffen Gustav Adolph Fintelmann (1803-1871) als die Wiege der Blattpflanzenmode des 19. Jahrhunderts. In dem in der Wochenschrift für Gärtnerei und Pflanzenkunde 1864 erschienenen Nachruf auf Ferdinand Fintelmann heißt es (S. 6 und 7): „Ein besseres Schicksal hat ein anderer Gedanke gehabt, der noch fortlebt und auf der Pfaueninsel zuerst, und zwar schon um 1810, thatsächlich ausgeführt wurde. Um diese Zeit nämlich wurde die Kastellanschaft mit der Hofgärtnerstelle vereint; Fintelmann bekam damit die Meierei-Verwaltung und zugleich mehr Arbeitskräfte, auch seine Wohnung in der Nähe des Schlosses. Eine neue Saumpflanzung in der Umgebung desselben wurde aus Feigen und wohlriechenden Brombeeren (Rubus odoratus) gebildet, die Ufer an der Ueberfahrt mit grossen Feldsteinen gegen Beschädigung gewahrt, dazwischen aber die gemeine Pestilenzwurz (Petasites vulgaris) gepflanzt, nicht nur, um die Steine zu verdecken, sondern auch um mit ihren Blättern zu prangen. Dahinter reckten Onopordon und Delphinium sich empor. Unausgesetzt hat F. Fintelmann die Blattpflanzen im Auge gehabt und behalten: 1817 waren schon Ricinus, Zea, Arundo Donax, Heracleum asperum u. dergl. in Verwendung und 1823 oder 24 prangten die ersten Canna's auf erwärmter Unterlage als Gruppen im Freien, inmitten des reichen Blumenschmuckes des Gartens. Von jener Zeit ab haben Blattpflanzen sich Bahn gebrochen, so weit Gärten gepflegt werden." (Die Erklärung der botanischen Pflanzennamen findet sich im Anhang zu dem weiter unten folgenden Aufsatz von G. A. Fintelmann.) Eine Saumpflanzung aus wohlriechenden Himbeeren wurde 1979 östlich vom Schloß neu angelegt. Diese nordamerikanische Himbeere zeichnet sich durch besonders schöne Blattform und Blattstellung aus. Noch 1896 berichtet der Landschaftsgärtner E. Klaeber in der Zeitschrift für Gartenbau und Gartenkunst von starken Feigen zu Seiten der kleinen Laube im Runden Garten der Pfaueninsel. Für diese Stelle sind inzwischen neue Exemplare herangezogen worden. Nachdem im Laufe des vergangenen Jahrhunderts die Blattpflanzenmode sich zu Übertreibungen entwickelte und dann von der Teppichgärtnerei abgelöst wurde, ist uns heute diese Gestaltungsweise für Freilandgruppen fremd geworden, ihre Motive sind vergessen. Wir 172

müssen uns in die Ästhetik einer Zeit, die Blattform, Blattgröße und Blattstellung über Blütenfarbe und -große setzte, erst wieder einstimmen. Dazu ist ein aus der Feder Gustav Adolph Fintelmanns stammender Text wie kein zweiter geeignet. Aus ihm spricht die morgenfrische Begeisterung für die Formen und die Vielfalt der nun wissenschaftlich entdeckten und durchforschten Tropenfernen, die Namen Georg Forster und Alexander von Humboldt seien da stellvertretend für die vielen anderen aufgerufen. Alexander von Humboldt bezeichnet in seinen „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse" die Palmen als die „höchsten und edelsten aller Pflanzengestalten" und setzt sie an die erste Stelle seines Systems der Pflanzenformen, gefolgt von der „Pisang- oder Bananen-Form", von der er schreibt: „Wenn die ficulischen Früchte der Ceres, durch die Kultur über die nördliche Erde verbreitet, einförmige, weitgedehnte Grasfluren bildend, wenig den Anblick der Natur verschönern, so vervielfacht dagegen der sich ansiedelnde Tropenbewohner durch Pisangpflanzungen eine der herrlichsten und edelsten Gestalten."

Die Fasanerie im Parkteil Charlottenhof, Potsdam-Sanssouci, Bleistiftzeichnung von J. Rabe 1845. Das Bild zeigt Gruppen aus Blattpflanzen und in die Bäume steigende Schlinger. Am 1. Dezember 1833 auf der 125. Versammlung des Vereins zur Beförderung des Gartenbaus in den königlich preußischen Staaten sprach der Gartendirektor Lenne über den Inhalt einer Abhandlung, die G. A. Fintelmann, Hofgärtner in Paretz, eingereicht hatte, und bestimmte diesen „dankenswerten Beitrag" zur Veröffentlichung im Organ des Vereins, den „Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des ..." Als dieser Beitrag mit dem Titel „Über Anwendung und Behandlung von Blattzierpflanzen und deren Verbindung mit Rankgewächsen für Schmuckgruppen" im 10. Band der „Verhandlungen" 1834 auf den Seiten 359 bis 371 erschien, 173

hatte G. A. Fintelmann inzwischen die Hofgärtnerstelle auf der Pfaueninsel seines nach Charlottenburg versetzten Onkels Ferdinand Fintelmann eingenommen. Er hatte bei ihm bereits 1819 bis 1822 auf der Pfaueninsel gelernt und war während des Baues und der Einrichtung des großen Palmenhauses 1829 bis 1831 dort ebenfalls tätig. In seinem Nachruf auf G. A. Fintelmann bescheinigt der Botaniker Professor Karl Koch (Wochenschrift für Gärtnerei und Pflanzenkunde, 1871, S. 188), daß diese Abhandlung auf die ganze damalige Zeit großen Einfluß ausgeübt hat. Dieser Text gibt so vorzüglich und charakteristisch allgemeine und gärtnerische Vorstellungen wieder, daß jeder Versuch, ihn zu referieren, eine Minderung seines Aussagewertes bedeuten würde. Er wird deshalb im Original wiedergegeben, lediglich um die drei letzten, gärtnerische Kulturanweisungen enthaltenden Seiten gekürzt. Die häufigen Entstellungen der botanischen Pflanzennamen darin wurden berichtigt. Merkwürdigerweise sind diese Entstellungen in den Verhandlungen die Regel und wurden damals nicht berichtigt. Ich habe die damalige Benennung der Pflanzen belassen, schon um Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Werken zu ermöglichen, und durch eine angehängte Zahl die Verbindung zu dem 160 Nummern umfassenden Anhang hergestellt. Für diesen Anhang habe ich mich der nicht geringen Mühe unterzogen, die Identität der genannten Pflanzen mit den nach den heute gültigen Regeln benannten zu bestimmen und, wo es möglich war, den deutschen Namen zu geben. Dazu wurden mehrere zeitgenössische Werke, wie Peter Friedrich Bouche, Die Blumenzucht in ihrem ganzen Umfange, Berlin 1837/38, und moderne gärtnerische und botanische Werke benutzt. Da der Anhang einen angemessenen Umfang erhalten sollte, mußte der Versuchung widerstanden werden, auf die Persönlichkeiten, nach denen die Pflanzen benannt wurden, und die, die sie benannten, und die Einführungsgeschichte der Pflanzen selbst einzugehen. Dies ist nur gelegentlich geschehen. Die Aufgabe der Pfaueninsel-Gärtnerei wird es sein, einen Teil der von Fintelmann genannten Pflanzen zu kultivieren und zu Schmuckgruppen an den historischen Plätzen zusammenzustellen. Heikle „Tropenkinder" gehören dazu ebenso wie gärtnerisch verachtete Pflanzen der Ruderalgesellschaften: Eselsdisteln, Kletten, deren Schönheit und Nutzen die ökologische Bewegung erst wieder zum zweiten Male entdeckt hat. Rizinus soll von Maurandien durchschlungen werden, „Lianen" müssen in die Sträucher und Bäume geworfen werden. Hier liegt ein weites Feld wiederzugewinnender praktischer und ästhetischer Erfahrung. Doch hören wir nun Fintelmann: „Sprechen Schönheit und Mannigfaltigkeit der Blumen zu uns von dem unerschöpflichen Reichthum der Natur, so erinnert die Üppigkeit und Größe der Blätter an ihre Kraft und Fülle; sie mahnen uns an die fernen Tropen, wohin uns unsere Wünsche so oft tragen, dort wo die Vegetation in ihrer ganzen Macht herrscht. Wenn wir unsere Gärten mit solchen Formen zieren, müssen sie uns nicht noch weither werden als sie uns waren? Wird der geläuterte Geschmack sie je verwerfen können? Erinnern wir an den Genuß, den der Anblick einer blumenreichen Landschaft gewährt, und stellen wir daneben die Freude, welche eine bunt geschmückte Wiese hervorruft, so sehen wir auch hier uns mehr von der Form, als von dem reichen Gewirr der Farbe angezogen. Das spielende Kind pflückt sich Blumen auf der Wiese, und jagt dem Schmetterlinge nach; der Mann betrachtet die schönen Gruppen, bei denen nur Form, ungestört durch bunte Farben, ergötzt. Wir wollen nicht weiter die Vorzüge eines Landschaftsgartens vor dem Blumengarten verfolgen, sondern nur sehen, wie wir beide noch schöner ausschmücken können. Oder sollten sich etwa nicht für beide die Blattzierpflanzen eignen? 174

Der klassische Acanthus, die hohe Zierlichkeit der Cynara Cardunculus 1 , die ernste Ruhe der Cynara Scolymus2, die glänzende Fülle der Ricinus, die prächtige Beta brasiliensis3, die fröhliche Nicotiana glauca4, die schlanke Typha latifolia5, die behaglich Canna, das zierliche Panicum plicatum6, das edle Arundo Donax 7 , ja das bizarre Onopordon 8 , und die steife Iris, können nie den Eindruck verfehlen, den sie machen sollen, sie mögen um sich her die Blumenbeete sehen, oder neben Gruppen hoher Bäume stehen. Bringt uns der Maler nicht Tushilago Petasites9, Rumex Hydrolapathum10 und so manche Pflanze seiner Phantasie in den Vordergrund der Landschaft? Sollte nun der Gärtner sie nicht, und so manche schönere noch dahin pflanzen dürfen? Für die Anordnung der Gruppen ist es durchaus noth wendig, daß man die Ausmessungen der Pflanze kennt, besonders aber die Höhe berücksichtigt. Danach ließen sich, wenn man nicht auf die wieder verschwindenden Blüthenstände, sondern nur auf die Blatt- und Zweigverbreitung achtet, folgende 4 Stufen aufstellen: Erste Stufe: Acanthus mollis". Begonia discolor12. Beta brasiliensis3. Canna indica'3. Iris sp. (z.B. germanica14, plicata15, bicolor16 etc.). Cucurbita sp.17 besonders der schwarzkörnige Angurea-Kürbis*. Helianthus annuus nanus18. Die teutschen Farm und die des freien Landes überhaupt. Veltheimia Uvaria19. Cyperus alternifolius20 für Sumpf. Nuphar21, Nymphaca22 (für Wasserflächen). Rumex Hydrolapathum 10 , ~ Nemolapathum 23 , - Sanguineus24, für Sumpf oder feuchten Boden. Zweite Stufe: Cynara Cardunculus1, - Scolymus2. Hemerocallis fulva25. Cucurbita Melopepo26 und der italienische ohne Ranken. Iris sp. (z. B. florentina27, Güldenstaedtiana28 etc.). Rheum Emodi29, ~ palmatum 30 , ~ Rhaponicum31, ~ Ribes32, - undulatum33. Tussilago Petasites9. Dritte Stufe: Arctium Bardana34, - majus35. Atriplex hortensis rubrifolia36. Aralia spinosa37. Calla aethiopica38 für Sumpf und Wasser. Canna sp. (z. B. flaccida39, lutea40, stolonifera41, nepalensis42, glauca43 etc.). Cyperus Papyrus44 für Sumpf. Datura ceratocaula45, ~ quercifolia46, ~ Tatula47. Heracleum pyrenaicum48. Onopordon Acanthium49, ~ macracanthum 50 , - tauricum51 etc.. Pteris aquilina52. Solanum pyracanthum53, ~ marginatum54. Symphytum asperrimum". Zea Mays56. Vierte Stufe mit den Uebergängen von der vorigen: Angelica Archangelica57. Arundo Donax et var. fol. varieg7. Bocconia cordata58. Canna, z. B. patens59, speciosa60, Sellouii61, rubricaulis62 etc. Datura Tatula gigantea63, ~ arborea64. Helianthus annuus major45. Heraclum pubescens giganteum66. Malva crispa67. Nicotiana glauca4, - Tabacum68. Phytolacca decandra69. Polygonum Orientale70. Polymnia Uvedalia71. Ricinus communis et varietatis72. Solanum laciniatum73. Sylphium connatum 74 , ~ perfoliatum75. Sorghum saccharatum76. Tithonia tagetiflora77. Zea Mays gigantea et mexicana56. Leicht wäre das Verzeichnis durch Anführung zierlicher Blattformen zu verdoppeln und mehr, doch heben wir nur die edeleren hervor. Lauter längst bekannte Pflanzen, von denen jedoch nur wenige so benutzt worden sind, wie sie es verdienen. Wie lange leben manche schon in den botanischen Gärten, ihre Schönheit blieb unbeachtet, unbewundert. Beinahe 3 Jahrhunderte haben wir in den Küchengärten Cynara Scolymus2, 2 Jahrhunderte die prächtige Cynara Cardunculus 1 . Wie lange standen sie dort, und wie lange zieren sie unsere Vordergrunds- oder Blumengruppen? - drei Jahre - Viele Gärten habe ich gesehen, schon lange die Ricinus, vor 10 Jahren die Canna im freien Lande, nirgends die beiden eben genannten Prachtpflanzen; erst in Sanssouci wurden sie 1832 benutzt. * Er wurde durch den Hofgärtner Herrn Sello junior aus Italien eingeführt, und wird auf Charlottenburg zur Bekleidung von Laubengängen benutzt 175

Ist die Idee, solche Blattzierpflanzen für beabsichtigte Effekte zu benutzen, nicht neu, so scheint es doch, als bedürfe sie unbegreiflicher Weise noch der Anregung. Oder sollte die nothwendige Pflege dieser Pflanzen so gescheut werden, daß man sie vernachlässigt sieht? Der emsige Gärtner aber verwendet oft viel mehr Mühe auf die Blumen seiner Beete, ohne eine so großartige Belohnung zu erhalten wie ihm die Gruppen solcher tropischen Formen gewähren würden. Ihre Anwendung würde uns, nach und nach freilich nur, denn die Gewohnheit beherrscht die beinahe allmächtige Mode, von den Linien der Einfassungen, von der beinahe störenden Symmetrie der Blumenbeete neben der schönen Freiheit der Baum- und Strauchgruppen befreien. Wir würden die ununterbrochenen Zirkelstücke verlieren, denn diese Pflanzen breiten sich da und dorthin, ohne daß wir sie zwingen können, in den vorgeschriebenen Linien zu bleiben. Betrachten wir die Dauer der aufgeführten Pflanzen, so erleben die meisten die ersten Fröste des Herbstes, nur die folgenden nicht: Die Rheum, Angelica, Onopordon, Heracleum und Atriplex verschwinden schon im Sommer, die Tussilago, Sorghium, Polygonum, Curcurbita, Helianthus65, Malva, Zea56, verlieren oft schon vor den Frösten ihre Schönheit zum Theil. Wir müssen bei deren Anwendung darauf achten. Die Stauden sind in dieser Hinsicht, allgemein genommen, viel beständiger. Die Biennen spät im Sommer (Ende September) gesäet, entwickeln im nächsten Jahre sich etwas später und dauern somit weiter hinaus. Von den Sommergewächsen können wir immer Folgepflanzen haben, doch mit einiger Schwierigkeit auf derselben Stelle, aber ihre Mannigfaltigkeit braucht nie ganz aus dem Garten zu verschwinden, wir lassen sie bald hier bald dort hervortreten, und vermehren so das rege Leben unserer Vordergemälde oder Schmuckgruppen, indem der Wechsel in ihren Gestaltungen mannigfaltiger wird. Da wo die hierher gehörenden Pflanzen der ersten Stufe stehen, ersetzen wir sie nachher durch Ende Mai gelegte Riesenkürbis. Wir lenken die weithin laufenden Ranken nach unserem Gefallen, zwischen den Pflanzen hindurch. Die absterbenden Blätter werden abgeschnitten, die des Kürbis suchen begierig das Licht, und stören so nicht die etwa verlangte Abstufung, indem die hintersten immer die vordersten überwachsen. Die der zweiten Stufe stehen neben und zwischen denen, welche bis zum Herbste dauern in derselben Höhe, und ihr Verschwinden wird keine Lücken machen, sondern die Leichtigkeit der Gruppirung erhöhen, oder die spät gesäeten Sommergewächse werden so lange wie jene grünen. Oder wir weisen ihnen ihre Stelle gesondert an, die sie nachher den schönen Salvia splendens78, involucara81 etc. dem duftenden Heliotropium80, der Volkameria81, den prangenden Pelargonien, oder überhaupt solchen Pflanzen einräumen, die wir bis dahin in Töpfen oder Fenster-Kasten hielten. Wer ohne geräumige Gewächshäuser, sich jährlich Anagallis82, Fuchsia, Calceolaria83 u. dgl. für das freie Land im Frühjahr anziehen muß, wird den Platz den die mächtigen Heracleum48 oder andere einnahmen, nur erst zur gelegenen Zeit frei sehen. Wir dürfen solche Gruppen also nicht weit von den Wegen legen, damit uns nichts von dem zweiten Schmucke verloren gehe. Ferner liegende besetzen wir mit Riesenbaisaminen oder Aster chinensis84, Tagetes85 etc. die leicht mit Ballen, wohin man nur will, getragen werden können oder die Blattzierer der 4ten Stufe, weitläufig zwischen den früh absterbenden niedrigerer Art ausgepflanzt, überwachsen die falbenden Blätter und erhalten die beabsichtigte Wirkung. Sommergewächse dieser Art, die man spät gesäet hätte, in angemessener Größe zu versetzen, wo sie doch erst Wirkung thun könnten, ist ein mühsames undankbares Geschäft, aber ausführbar. Sehen wir ungern bis zur Zeit wo unsre Vordergrundspflanzen ihre wirkungsreiche Entwickelung erlangt haben, die Stellen leer, und wollen die kahle Erde verdecken, so breiten wir darüber 176

einen Flor von im Sommer Schatten liebenden Frühlingspflanzen aus. Die Primula86, Viola87, Hepatica88, Galanthus89, Anemone (sylvatica90, arvensis91 und apennina92) Helleborus93, die Zwiebelblumen: Hyacinthus belgicus (non scriptus auctorum)94 Muscari racemosum95 etc. Scilla, Fritillaria96, Tulipa, Erythronium97 u. s. w. gehören hierher. Sie können einige Jahre auf derselben Stelle im Sommer unter dem Drucke anderer Pflanzen stehen. Nach Verlauf dieser Zeit muß die ganze Gruppe im Herbste angelegt, der Boden erneut werden, weil er die Kraft verloren hat. Jährlich aber bekommen die Stellen, mit denen man auch durch theilweises Verlegen der Frühlingsblumen im Herbste, wechseln kann, wohin für den Sommer die Blattzierer gepflanzt werden sollen, einen Guß mit flüssigem Dung, und soweit wir uns mit dem Spaten zu arbeiten erlauben dürfen, kräftigen alten Mist im Herbste. Stören uns auch diese freien Stellen noch bis nach den Maifrösten, so haben wir bunten Federkohl oder Frühpflanzen der rothen Melde dahin zu setzen, deren ganz abweichende Blattfärbung hier gewiß Wirkung thut. Auch können Acanthus in Töpfen, Phormium tenax98, Agapanthus umbellatus99, wenn sie sonst nicht verzärtelt sind, vom April an im Freien stehen, so hierher gestellt werden. Wir haben die in Rede stehenden Pflanzen schon mehreremale Vordergrudspflanzen genannt, in Folge der Ansicht, daß sie weiter in die Landschaft hineingeschoben, wirkungslos erscheinen würden. Mehr braucht wohl nicht für den Ort, den sie in einer Anlage einnehmen sollen, gesagt zu werden. Es gilt dies von allen Stufen der Höhe, doch gewähren die letzten den Vortheil, daß wir sie schon mehr vom Standpunkte einer Ansicht enfernen dürfen. Je nachdem wir den Eindruck für das Erhabene, Heitere, Bestehende oder Zierliche u.s. w. abmessen wollen, lassen wir die größeren Formen allein für sich, in Verbindung unter einander, mit den kleineren munter spielenden Blättern, oder den schlanken Grasformen zusammengestellt, mit Blumen oder auffallenden Blattfärbungen verbunden, auftreten. Wollen wir die Pracht der Blumen zur Steigerung des Eindrucks benutzen, so stellen wir zwischen Rheum z. B. oder dgl. die Paeonia hortensis100, die Papaver bracteatum101 und Orientale102, die Lilium bulbiferum103, tigrinum104, superbum105, Martagon106, chalcedonicum107 u.s.w. Wenn sie verschwinden oder ehe sie erscheinen, wird die Gruppe nicht armselig aussehen. Gegen das dunkle Grün der Tussilago Petasites9 sticht die Eleganz des bunten Phalaris arundinacea108 herrlich ab, Tropaeolum majus109 lagert sich später über die auf trockenem Standort unscheinbar werdenden Blätter hin, und dahinter treten zum Herbst die Rudbeckia laciniata110, purpurea"1, Sylphium74, Pyrethrum uliginosum"2 u. s. w. hervor. Steht die Gruppe feucht, so wird sie desto schöner gedeihen, und wir können dort nicht Tropaeolum legen, sondern setzen die Samen neben Paeonia und Papaver101 in einer andern Zusammenstellung. Die oben genannten Wucherpflanzen mit den auch Feuchtigkeit liebenden Canna zusammen zu stellen, ist nicht anzurathen, sie würden diese beeinträchtigen. Zu dieser Bananenform gesellt sich glücklich der hohe Wuchs des Arundo Donax7. Die breiten Gestalten der Ricinus unterbrechen wir mit Sorghum76, Nicotiana glauca4, Zea Mays gigantea56 und mexicana: dazwischen schwebt der Purpurregen des Polygonum Orientale70. Ueber die schwerfällige Datura Tatula47 erhebt sich die leichte Vernonia praealta1 ' \ die muntere Boltonia glastifolia114, oder das kräftige Solanum laciniatum73 rankt zwischen Ricinus lividus"5, von Cynara Cardunculus1 umgeben, die langen Zweige und geschlitzten hellgrünen Blätter hervor. Die zierlichen, sorgfältig gefalteten Pancium (frumentaceum116 und plicatum6) treten aus Canna indica hervor, an die sich dicht auf der Erde eine einzelne Ranke mit buchtigen mattgefleckten Blättern des Angurienkürbis (wir möchten ihn Cucurbita sinuosa heißen) als Einfassung lagert, oder wir haben statt dieser die liebliche Blattform der Drymaria gracilis117 mit den leuchtenden Blumen der Anagallis82 gepaart. Den Wasserspiegel eines Teiches beleben wir mit Nymphaea22 und Nuphar21, Sagittaria118. 177

Pontederia coerulea"9, und an das sumpfige Ufer bringen wir den ehrwürdigen Cyperus Papyrus44, die schlanke Thypha5, zur Seite derselben Cyperus altemifolius26 Iris PseudAcorus'20 und andere, Calla aethiopica38 Rumex Hydrolapathum10, Nemolapathum23, sanguineus24, und das merkwürdige Alisma Plantago121. Wer würde hier gern unsern Butomus122 und Ranunculus Lingua123 vermissen, und nicht in guter Erwartung Agapanthus umbellatus" und Calcolaria scabiosaefolia124 auf das trocknere Ufer pflanzen. Im Schatten und feucht gedeiht das düstere Symphytum asperrimum55, und erreicht eine Höhe von mehr denn 5 Fuß, und die vorher genannte Rudbeckia laciniata110 kann ihr zur Seite stehn. In warmer Lage, schattig, gedeiht mäßig feucht die sonderbare Begonia discolor12, und ist von eigenthümlicher Wirkung wenn sich die Strahlen der hellen Abendsonne durch ihre Blätter stehlen. Die im Freien ausdauernden Farren beleben den angenehmen Schatten einer Haingruppe an einem Wiesenrande. Unter den Blumen die wir zwischen die großartigen Blattformen streuen wollen, verdienen, des Contrastes wegen, besonders die schlank aufstrebenden den Vorzug: Digitalis125, Delphinium126, Aconitum127, Verbaseum128, Malva129, Campanula neglecta130, pyramidalis131, Ranunculus132, Trachelium133, u.dgl. Lobelia fulgens134, cardinalis135 gehören hierher. Gegen das Graugrün der Cynara sticht karmoisin, oder überhaupt roth, besser als jede andere Farbe ab. Die viel verzweigten Scabiosa alpina136, caucasica137, Centaurea calocephala138, Lavatera trimestris139 und viele im Habitus mit dieser verwandten, Stauden- und Samengewächse, verbinden sich auch gut, wie z. B. Echinops140, Carduus nutans141, mit großen Blattformen. Die reichen Georginen lassen sich, nach ihren Sorten, mit den Vordergrundspflanzen jeder Höhe verbinden. Jede Pflanze entfaltet sich am schönsten, wenn sie unbeschränkt von andern, gleichsam allein steht, darum müssen wir die Entfernung in der wir pflanzen wollen, nicht geizig zumessen: 3,4, 5 ja 6 Fuß nach der zu erwartenden Ausbreitung der Art. Zu unserer Freude stellen wir einige ganz einzeln, wie einen Ballen der Canna patens60, rubricaulis63, Ricinus72, eine zweigreiche Pflanze von Nicotiana glauca4, oder die herrliche Datura arborea64. Nur wer viel oder schlechte, unten kahle Pflanzen hat, kann es entschuldigen, wenn er diese Zierde einer Gruppe schenkt. Sie ist auch dort schön und wirkungsvoll, aber weniger als wenn sie nach allen Seiten die großen duftenden Trichter herabhangen läßt, und sich aus einer kleinen Umgebung von Cynara Scolymus2 oder Hemerocalis25, erhebt. Wir thun gut, wenn wir die Georgine nicht zu nahe stellen, sie entzieht der Datura einen Theil unserer Bewunderung. Aralia spinosa37, (besonders kräftig sind junge Pflanzen), verdient auch abgesondert zu stehen, oder von Erythrina laurifolia143 umgeben, deren Blumen und Belaubung scharf dagegen hervortreten. Wir haben so manche schöne Rankpflanze und sehen sie so wenig in unseren Gärten. Die künstlichen Lauben, an die wir sie bringen könnten sind verworfen worden, die Mühe welche das järhliche Herabreißen der abgestorbenen Ranken machen würde, hat sie von den Bäumen der Haine und den Sträuchern abgehalten, die Arbeit die das immerwährende Anbinden herbeiführen würde, bewahrte unsre Anlagen vor steifen Spindeln oder Pyramiden, aber hat auch den Blumengärten eine gefällige Zierde vorenthalten. Hier sollten wir nicht säumen von einigen Stäben, ein wenig Drath und Schnur, grün gestrichen, zierliche Spaliere, Lauben, Fächer, Mäntel und wie alle diese kleine Baulichkeiten heißen mögen, wieder aufzuführen, wenn sie auch der kritische Geschmack aus den großen Gärten, für natürliche Schönheit bestimmt, verwiesen hat. Dort wollen wir sie noch am Wege an Stämmchen einzelner Rosen oder hochstämmiger Flieder, Schneebällen, Kugelakazien u. s. w. bringen, damit sie die Stöcke, wo es die Leichtigkeit oder Durchsichtigkeit einer solchen Pflanzung nicht verbietet, bekleiden helfen. Der oft vergessene Lathyrus odoratus144, das brennende Tropaeolum majus109, die 178

verachtete Scharlachbohne, die mannigfaltigen Ipomoea145 oder Convolvulus146, die alte Glycine Apios147, die schnell verbreitete Maurandia Barclyana148, und die unbeachtete M. scandens149, Fumaria fungosa150, die neuen Rhodochiton volubile151, Eccremocarpus scalus152, Lophospermum scandens153, die seltenen Alstroemeria tricolor154, Salsilla155, Caldasii156, Tropaeolum tuberosum157, sind wohl die vorzüglichsten der Klimm- und Rankpflanzen die bei uns im Freien blühen. Unsere schönen zweigigen Blattzierpflanzen bieten uns die beste Gelegenheit, solche Rankpflanzen in unsere Gärten zu bringen; wir können, was wir in den Palmenhäusern an den Passifloren bewundern, auch auf unsern Rasenflächen haben. Kein Genuß ohne Mühe. Die leichten Festons oder das durchsichtige Gewebe der Ranken, könnte, nicht mit dem Messer im Zaum gehalten, bald weiter gehn als wir wollen. Wenn wir die Bäume einer Hainpflanzung mit kletternden Sträuchern, mit Cucurbita aurantia158, der Sonderbarkeit wegen mit C. lagenaria159, Cobaea scandens160 u. s. w. beziehen lassen, um auch hier uns noch an die Lianen der Tropen erinnern zu lassen, so mögen dort die leichteren Maurandien und ihre Gefährten hinauf klettern. Sie schwingen sich schön an die kräftigen Formen jener Vordergrundspflanzen der dritten und besonders der vierten Stufe an, daß wir sie mit allen verbinden können. Bewahren wir uns Arundo Donax später Sorghum und Zea für die innig verzweigten Alstroemeria so verlieren wir nichts von der Schönheit beider, der Grasform und der sie umschlängelnden Ranke. Die Datura Tatula gigantea wird am schicklichsten der Fumaria zur Stütze dienen, denn beide werden sich um die Wette in die Weite ausdehnen, und die heruntergefallenen Zweige der Fumarie suchen sich wieder aufzurichten einer an dem andern. Die sanftrothen Blumen, das vielgetheilte, helle zarte feine Laub sticht gegen das reinste Dunkelgrün der Unterlage überall deutlich ab. Die Eccremocarpus müßte sich wohl noch schöner ausnehmen, der Ricimus nimmt die Maurandia, Tropaeolum u. s. w. auf."

Anhang Die heute gültigen botanischen und deutschen Namen der von Fintelmann genannten Pflanzen. Ist der botanische Name unverändert gültig, so wird er in dieser Liste nicht wiederholt, sondern nur der deutsche Name angegeben. 1 Cardy, Kardone, Spanische Artischocke. 2 Artischocke. 3 Beta vulgaris L. var. cicla (L.) Moq., Mangold. 4 Graugrüner Tabak. 5 Rohrkolben. 6 Setaria palmifolia (Koenig) Stapf, Borstengerste. 7 Pfahlrohr, in Südfrankreich und Spanien heimisch. 8 Onorpodum sp., Eselsdistel. 9 Petasites hybridus (L.) Gaertn., Mey. et Scherb., Gewöhnl. Pestwurz. 10 Fluß-Ampfer. 11 Akanthus. 12 Begonia grandis Dry. 13 Indisches Blumenrohr. 14 Schwertlilie. 15 Iris plicata = Iris pallida X Lam. 16 Dietes bicolor (Lindl.) Sw., Dietes. 17 Kürbis. 18 Sonnenblume - Zwergform. 19 Veltheimia viridifolia (L.) Jacq., Grünblättrige Veltheimie. 179

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Cypergras. Teichrose. 22 Seerose. 23 Rumex sanguineus L., Hain-Ampfer. 24 Rumex palustris Sm., Sumpf-Ampfer. 25 Taglilie. 26 Cucurbita pepo L., Kürbis. 27 Iris pallida Lam., Art d. Schwertlilie. 28 Iris halophila Pall., Art der Schwertlilie. 29,30,3i, 32,33 A r t e n d Rhabarber. 34 Arctium tomentosum (L.) Mill., Filzige Klette. 35 Arctium lappa L., Große Klette. 36 Atriplex hortensis L. var. rubra (L.) Roth, Rotblättrige Melde. 37 Aralie, Teufels-Krückstock. 38 Zantedeschia aethiopica (L.) Spr., Zimmer-Calla. 39,40,41,42,43 Arten des Blumenrohrs, die mit Ausnahme von Canna flaccida Salisb. heute nicht mehr in gärtnerischer Kultur sind, aber zu den Stammeltern der heutigen Hybriden zählen. 44 Papyrusstaude. 45 Art d. Stechapfels. 46 Art d. Stechapfels. 47 Datura stramonium L. var tatula (L.) T., Varietät d. Gemeinen Stechapfels. 48 Heracleum elegans (Crantz) Jacq., Berg-Bärenklau. 49 Onopordum acanthium L., Eselsdistel. x 51 - Arten d. Eselsdistel. 52 Pteridium aquilinum (L.) Kuhn, Adlerfarn. 53 Rotstacheliger Nachtschatten. 54 Geränderter Nachtschatten. 55 Symphytum asperum Lepech., Rauher Beinwell, Comfrey; S. officinale X asperum = S. X uplandicum Nym, Futter-Comfrey findet sich verwildert auf der Pfaueninsel und stammt möglicherweise aus Anpflanzungen Fintelmanns. 56 Mais. 57 Erzengelwurz. 58 Macleaya cordata (Willd.) R. Br., Federmohn. 59 Offenstehendes Blumenrohr, zählte nach Bouche damals zu den beliebtesten Arten. 60 Prächtiges Blumenrohr. 61 Sellows Blumenrohr. 62 Rotstengliges Blumenrohr. 63 Form von Nr. 47. 64 Stechapfel, Engelstrompete. 65 Sonnenblume, große Sorte. 66 vermutl. Heracleum lanatum Michx., Art d. Bärenklau. 67 Krause Malve. 68 Tabak. 69 Phytolacca americana L., Amerikanische Kermesbeere. 70 Orient-Knöterich. 71 Carolinische Polymnia; nach der Muse des Gesanges benannt, um die Schönheit der Pflanze anzudeuten. 72 Wunderbaum, Palma Christi. 73 Geschlitzblättriger Nachtschatten; entdeckt und benannt von Joh. Georg Forster (1754-1794) auf der Weltreise 1772-1775 als Begleiter von James Cook (1728-1779). 74 Silphium connatum, Verwachsene Silphie. 75 Silphium perfoliatum L., Becherpflanze. 76 Sorghum saccharatum Pers., Zuckerhirse. 77 Tithonia rotundifolia (Mill.) Blake, Tithonie. 78 Salvie, Prachtsalbei. 79 Art d. Salbei, Halbstrauch aus Mexiko u. Guatemala, 1824 eingeführt. 80 Heliotrop. 21

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Clerodendrum fragrans Vent., Clerodendrum. Anagallis monelli L., Gauchheil; gemeint sind wohl die großblütigen Kultivare des 19. Jahrhunderts, die heute fehlen. Anagallis arvensis L. und A. coerulea Nath sind verbreitete Ackerunkräuter von übersehener Schönheit. A. monelli ssp. linifolia (L.) Maire wird seit 1983 auf der Pfaueninsel kultiviert. 83 Pantoffelblume. 84 Callistephus chinensis (L.) Nees, Sommeraster. 85 Studentenblume, Sammetblume. 86 Schlüsselblume. 87 Veilchen. 88 Anemone hepatica L., Leberblümchen. 89 Schneeglöckchen. 90 Anemone sylvestris L.. Großes Windröschen. 91 Ranunculus arvensis. 92 Apenninen-Anemone. 93 Helleborus niger L., Christrose. 94 Scilla non-scripta (L.) Hoffgg. et Link, Hasenglöckchen. 95 Muscari atlanticum Boiss. et Reut., Gewöhnliche Traubenhyazinthe. 96 Kaiserkrone. 97 Erythronium dens-canis L., Hundszahn. 98 Neuseeländischer Flachs, wurde von Solander und Cook auf der Weltreise 1768 bis 1771 entdeckt. 99 Agapanthus africanus (L.) Hoffgg., Schmucklilie. 00 Pfingstrose. Art von Stauden-Mohn. 02 Art von Stauden-Mohn. 03 Feuer-Lilie. 04 Tigerlilie. 05 Stolze Lilie, 1738 aus Nordamerika eingeführt. 06 Türkenbundlilie. 07 Brennende Lilie. 08 Glanzgras. 09 Große Kapuzinerkresse. 10 ausdauernde Art der Rudbeckie. 1 ' ausdauernde Art der Rudbeckie. 12 Leucanthemella serotina (L.) Tzvelev, Sumpfliebende Bertramswurz. 13 Vernonia altissima Nutt, Vernonie. 14 Boltonia asteroides (L.) L'Herit., Boltonie. 15 Ricinus communis L. var sanguineus I.B.S. Norton, Rotblättriger Wunderbaum. 16 Echinochloa frumentacea Link, Futterhirse. 17 tropisches Tüpfelfarngewächs. 18 Sagittaria sagittifolia L., Pfeilkraut. 19 Pontederia cordata L., Pontederie, angeblich schon 1579 aus Nordamerika eingeführt. 20 Iris pseudacorus L., Gelbe Schwertlilie. 21 Alisma plantago-aquatica L., Gemeiner Froschlöffel. 22 Butomus umbellatus L., Schwanenblume. 23 Großer Hahnenfuß. 24 einjährige Art d. Pantoffelblume, aus Peru, Chile, Ecuador 1822 eingeführt, in demselben Jahr wurde auch die heute allein verbreitete C. integrifolia Murr, eingeführt. 25 Fingerhut. 26 Rittersporn. 27 Eisenhut. 28 Königskerze. 29 Althaea rosea (L.) Cav., Stockrose. 30 Campanula patula L. 31 Pyramidenförmige Glockenblume. 32 Hahnenfuß. 33 Halskraut. 34 Leuchtende Lobelie. 82

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135 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 5/ 58 59 60

Kardinals-Lobelie; diese und Nr. 134 sind anders als die heute verbreitete L. erinus hohe, rotblühende Stauden. Cephalaria alpina (L.) Schrad., Schuppenkopf. Kaukasische Scabiose. Centaurea atropurpurea W. K., f. flava, Schönköpfige Flockenblume. Pappelrose, Sommer-Lavatere. Kugeldistel. Nickende Distel. damals üblicher Name für Dahlien. Lorbeerblättriger Korallenbaum. Wohlriechende Wicke. Prunkwinde. Winde. Wisteria frutescens (L.) Poir., Amerikanische Glyzine, Wistarie. Asarina barclaiana (Lindl.) Pennell, Maurandie. Asarina scandens (Cav.) Pennell, Kletternde Maurandie. Dicentra formosa (Andr.) Walp., Tränendes Herz, aber eine andere als die bekannte Art. Rhodochiton, in der Literatur wird als Einführungsjahr um 1835 angegeben, Fintelmann empfahl also auch kaum erprobte Neuheiten. Eccremocarpus scaber Ruiz et Pav., Schönranke. Asarina lophospermum (Baüey) Penneil, Rotblühende Maurandie. Alstroemeria pulchra Sims, Dreifarbige Alstroemerie. Bomarea salsilla (L.) Herb., Windende Bomarie. Bomarea caldasii (HBK.) Willd., Bomarie; das in Pareys Blumengärtnerei angegebene Einführungsdatum 1863 erweist sich durch Fintelmanns Aufsatz als falsch. Knollen-Kapuzinerkresse; in Südamerika wegen der eßbaren Knollen angebaut unter dem Namen Maca. Cucurbita pepo var. ovifera, Apfelsine', Orangenkürbis. Lagenaria siceraria (Mol.) Standley, Flaschenkürbis. Glockenrebe.

Über die Einweihung des Kirchhofes hinter dem ehemaligen Schul- und Küstergehöft zu Nikolskoe und seine Beziehungen zur Pfaueninsel Von Michael Seiler Am 13. August 1837 wurde die Kirche St. Peter und Paul nach nicht ganz dreijähriger Bauzeit geweiht. Im gleichen Jahre konnte auch der Unterricht in der dazugehörigen königlichen Freischule aufgenommen werden. Der Wunsch, der neuen Kirche einen Friedhof beizulegen, muß schon bald nach der Einweihung an den König herangetragen worden sein. Der GeneralGartendirektor Peter Joseph Lenne reichte dem Hofmarschall v. Massow aufgrund einer Marginalverfügung vom 27. November 1837 schon am 28. November einen Situationsplan des geplanten Kirchenhofs ein1 (Abb. 3). Er sollte direkt an das einen Morgen große Gartenland des Küstergehöftes anschließen und eine Flächeninhalt von 72 Quadrat-Ruthen (= 2/5 Morgen = 1021 m2) haben und aus einem Rechteck von 12 X 6 Ruthen (1 preuß. Ruthe - 3,766242 m) bestehen. Lediglich der Eingang auf der Ostseite sollte etwas aus der gemeinsamen Flucht mit dem Gartenland hervortreten. Das heutige gußeiserne Eingangstor ist wohl das ursprüngliche, denn eine ihm ähnliche Form erscheint gleich zweimal als flüchtige Bleistiftskizze auf einem 182

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t/Pz/firferfce. xi

Abb. 1: Ausschnitt aus Abb. 4, die Randskizze rechts oben zeigend: das Eingangstor zum Kirchhof.

Abb. 2: Ausschnitt aus Abb. 4, skizzierter Eingangsbereich des Kirchhofes. Aufnahmen der Abb. 1 bis 4: der Verfasser. 183

Situationsplan des Schul- und Küstergehöftes, der offensichtlich als Entwurfsvorlage für Lennes Plan des Kirchhofes diente und auch die Skizze des Begräbnisplatzes mit seinem Vorplatz und Zugangsweg enthält (Abb. 2). Das Tor bildet augenscheinlich den einzigen Schmuck der schlichten Einfriedung, denn im Anschluß links zeigt die Skizze etwas, das sich als nur halb so hoher Plankenzaun deuten läßt (Abb. 1). Diese Deutung wird dadurch zusätzlich gestützt, daß der Hofgärtner Habermann von der Pfaueninsel in den Baurapporten von 1907 bis 19132 immer wieder darauf hinwies, daß der „Lattenzaun" um den Kirchhof zu Nikolskoe dem Zerfallen nahe sei und der Erneuerung durch Maschendraht bedürfe. Der heutigentags dort befindliche durchsichtige Forstzaun aus sich kreuzenden Stämmen, gibt dem sehr filigranen Eisentor nicht den erforderlichen optischen Halt. Für den halbkreisförmigen Vorplatz und den in einem Bogen durch den Forst auf ihn hinführenden Zufahrtsweg von 1% Ruthen Breite hatte Lenne einen Flächenbedarf von 53'/3 Quadrat-Ruthen veranschlagt. Vermutlich ist die bogenförmige Zufahrt durch den Forst nicht ausgeführt, sondern der heute bestehende Weg entlang der Grenze des Gartenlandes gewählt worden. Der Übersichtsplan zu dem Umgemeindungsantrag des Königl. Ober-HofmarschallAmtes vom 23. August 1911 zeigt schon, durch Grenzsteine markiert, dieselbe Situation, wie sie heute vorgefunden wird3. Der Antrag sah die am 15. September 1911 vollzogene Umgemeindung der Parzellen der Königl. Ställe, des Blockhauses, der Kirche, der Schule und des Begräbnisplatzes vom Gutsbezirk Potsdam-Forst in den Gutsbezirk Pfaueninsel vor, zu dem sie verwaltungsmäßig ohnehin gehörten. Aus dem genannten Übersichtsplan läßt sich folgern, daß weder der dem östlichen Eingangsbereich vorgelagerte Halbkreis noch das Hervortreten des Eingangstores aus der Grundstücksflucht entsprechend Lennes Entwurf verwirklicht wurde. Der Hofgärtner der Pfaueninsel Gustav Adolph Fintelmann (1803-1871) berichtet am 5. Dezember 1837 an den Hofmarschall von Massow: „Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich untertänigst anzuzeigen, daß der bei der St. Peter- u. Pauls-Kirche neu angelegte Kirchhof heut, d. 5. d. M., nachmittags 2 Uhr, eingeweiht worden, und zwar bei dem Begräbnisse eines 1'/Jährigen Sohnes des K.[öniglichen] Schloß Knecht Mewes hierselbst. In der Voraussetzung daß Ew. Hochwohlgeboren gern hiervon Kenntnis nehmen möchten glaubte ich diese Anzeige nicht unterlassen zu dürften."4 Der Bericht des damals erst vor kurzem bestellten Predigers der Peter-und-Pauls-Kirche, Julius Fintelmann (1807-1868)5, Bruder des Hofgärtners der Pfaueninsel, ging ebenfalls an den Hofmarschall. Er ist mit dem Datum des 6. Dezember versehen und lautet: „Ew. Hochwohlgeboren beeile mich zu melden, daß ich gestern nachmittags 2 Uhr vor Bestattung der Leiche des Kindes vom Schloßknecht Mewes den Friedhof zu St. Peter-Paul im Auftrage des Königl. Superintendenten Eben feierlich eingeweiht habe. Das Grab habe ich so anfertigen lassen, daß, im Falle Se. Majestät der König zu befehlen geruhten, es auf besondere Weise ausgezeichnet werde und zugleich zur Zierde des ganzen Kirchhofes dienen kann."6 Julius Fintelmann stellte unter diesem Schriftsatz in einer Lageskizze den genauen Ort des Grabes gegenüber dem Eingang dar. Diese Angabe hat der Verfasser dem von Lenne signierten Plan hinzugefügt und mit dem Buchstaben G versehen (Abb. 3). Die große Linde, die sich heutzutage genau in der Mitte des Rechtecks des Friedhofes erhebt, könnte, bedenkt man die Standortverhältnisse, eine Pflanzung aus der Entstehungszeit des Kirchhofes sein. Weiterhin wird das Vegetationsbild des Kirchhofes durch Buchsbaum und amerikanische Riesenlebensbäume (Thuja plicata) geprägt. Die Thuja plicata stammen wahrscheinlich aus der gleichen Pflanzungsperiode um die Jahrhundertwende, in der dieses Gehölz auf der Pfaueninsel verbreitet wurde. 184

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«tfM?£ Abb. 3: Lennes Kirchhofsentwurf vom 28. November 1837, gezeichnet von Gerhard Koeber. Die Lage des 1. Grabes wurde vom Verfasser nach der Skizze von Julius Fintelmann zusätzlich eingetragen und mit G bezeichnet. Der Plan befindet sich: siehe Anm. 1. Aufnahme: Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten. Foto-Archiv Pfaueninsel.

Nach Aussage des ehemaligen Maschinenmeisters auf der Pfaueninsel, Willi Kluge, fand man den Friedhof nach dem letzten Krieg stark verwüstet vor und stellte die umherliegenden Grabsteine von geschichtlichem Interesse in einer Reihe an der Westgrenze der Anlage auf. So sind die schlichten und sehr schönen Grabsteine des Hofgärtners Gustav Adolph Fintelmann und seiner Frau Eulalia (1806-1866) nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz. In derselben Reihe ist der Stein der königl. Schloßjungfer, der Zwergin der Pfaueninsel Maria Dorothea Strackon (1806-1878), erhalten. Das bekannteste Grabmal, das des Sandwich-Insulaners Harry Maitey (um 1807-1872) und seiner Ehefrau Dorothea geb. Becker, zeigt sich in gut restauriertem Zustand. Veschwunden sind die noch bei Willi Wohlberedt71934 verzeichneten Gräber des russischen Leibkutschers Iwan Bockow (1777-1857), der das Blockhaus Nikolskoe beaufsichtigte, des ersten Maschinenmeisters der Gartenbewässerung der Pfaueninsel, Joseph Friedrich (1790-1873) und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Riesleben (1789-1873), derer Fontane in seiner Schilderung der Pfaueninsel ausführlich gedachte, und des Riesen der Pfaueninsel, Karl Friedrich Licht (1798-1834). 185

Abb. 4: „Situation des Schul- und Küstergehöftes bei Nikolskoe" Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, Schloß Charlottenburg, Plansammlung Nr. B13/M1/E5/83. Plan nicht signiert und datiert, vermutlich 1836/37. Er diente als Grundlage für Lennes Entwurf vom 28. November 1837, wie die Bleistifteintragungen und Randzeichnungen beweisen.

Erhalten ist das aufwendige Familienbegräbnis des königlichen Hofgärtners Habermann, der von 1902 bis Ende 1919 auf der Pfaueninsel wirkte, und das Grab des Gärtnergehilfen Reinhard Rösner (1850-1933), der 10 Jahre das berühmte Palmenhaus auf der Insel betreute, darin eine Dienstwohnung hatte und bei dessen Brande 1880 beinah umkam 8 . Der Reviergärtner Hugo Neubert wußte von den fachlichen und menschlichen Qualitäten des alten Rösner auf das lebhafteste zu berichten. Hugo Neubert trat 1910 seinen Dienst auf der Insel an und arbeitete und lebte dort seit dieser Zeit. Er starb am 24. Mai 1983, am Tage seines 97. Geburtstages, und wurde „oben" bei den anderen „Pfaueninsulanern" in Nikolskoe bestattet. Rösner hat 63, Neubert 73 Jahre seines Lebens der Pfaueninsel gewidmet. Der Friedhof gehört heute den Berliner Forsten. Die Berliner Gartendenkmalpflege hat sich seiner in denkmalpflegerischer Hinsicht dankenswerterweise angenommen. Es ist zu überlegen, ob die kulturgeschichtliche Besonderheit dieses Begräbnisplatzes es nicht erfordert, auf einem schlichten Stein Namen und Daten derjenigen in Erinnerung zu rufen, deren Gräber leider verschwunden sind. 186

Anmerkungen 1

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Plan und Begleitschreiben Lennes, in Plankammer-Akte 36, Bl. 167 und 177, bei der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Es ist bemerkenswert, daß der arbeitsmäßig überlastete Lenne Entwurfsplan und Berechnungen in einem Tag zu liefern wußte. Akte bei der Verwaltung der Pfaueninsel. Kolorierte Lichtpause in der Plankammer Schloß Charlottenburg. Plankammer-Akte 36, Bl. 175, bei: siehe Anm. 1. Vgl. auch Gert Hartenau-Thiel, Bericht über den Kirchhof und Zitat aus dem Klein-Glienicker Kirchenbuch in: 100 Jahre Peter und Paul auf Nikolskoe, hrsg. von Pfarrer Fritz Schmidt, Berlin 1937, S. 134. Plankammer-Akte 36, Bl. 174, bei: siehe Anm. 1. Wohlberedt, Willi, Verzeichnis der Grabstätten bekannter und berühmter Persönlichkeiten in GroßBerlin und Potsdam mit Umgebung, Teil II, Berlin 1934, S. 134,135. Seiler, Michael, Das Palmenhaus auf der Pfaueninsel, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, 32. Band, Berlin 1981, S. 119. Anschrift des Verfassers: Michael Seiler, Pfaueninsel, 1000 Berlin 39

Aus den geheimen Registraturen der Berliner politischen Polizei 1878-1889 Zu einer wichtigen neuen Dokumentensammlung* Von Otto Uhlitz Das Staatsarchiv Potsdam hat in den drei Jahrzehnten seines Bestehens eine Reihe von für die Geschichte Berlin-Brandenburgs bedeutsamen Veröffentlichungen vorgelegt. Zu nennen sind zunächst die 1964 und 1967 erschienenen Bände der Übersichten über die Bestände des Archivs (Band 1 erschien noch unter dem alten Namen „Brandenburgisches Landeshauptarchiv"), zu deren Kern die bis in den Zweiten Weltkrieg hinein im ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem bzw. in dessen Hauptabteilung „Staatsarchiv für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin" verwahrte Überlieferung gehört. Es folgten 1970 bis 1974 die vier Bände der verdienstvollen, von Hans-Joachim Schreckenbach bearbeiteten „Bibliographie zur Geschichte der Mark Brandenburg". Schließlich ist u.a. das kurz vor dem Abschluß stehende Historische Ortslexikon für Brandenburg zu erwähnen, von dem insbesondere die Bände III (Havelland), IV (Teltow) und VI (Barnim) zu unentbehrlichen wissenschaftlichen Hilfsmitteln für jeden geworden sind, der sich mit der Geschichte der 1920 mit Berlin vereinigten Städte, Gemeinden und Gutsbezirke befassen will. Mit dem hier angezeigten Buch beginnt nach dem Vorwort des Direktors des Archivs, Prof. Dr. Beck, eine neue Phase der Publikationstätigkeit des Archivs, die Quellenpublikationen aus wichtigen Beständen zum Gegenstand hat. In drei Bänden sollen zunächst aus den Registraturen des ehemaligen * Besprechung von: Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878-1913. Band I 1878-1889. Bearbeitet von Dieter Fricke und Rudolf Knaack, Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1983 (= Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, herausgegeben von Friedrich Beck, Band 17), XX, 406 S., 54 M. 187

Berliner Polizeipräsidiums die „Übersichten über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung" veröffentlicht werden. Bei diesen Übersichten handelt es sich um Dokumente von einzigartigem Wert, die von 1878 bis 1913 aufgrund eines Erlasses des preußischen Innenministers vom 5. September 1878 (und eines ergänzenden Ministerialerlasses vom 21. Mai 1883) vom Berliner Polizeipräsidenten herausgegeben wurden, bei dem schon vorher die „erforderlichen Einrichtungen" getroffen worden waren, um die „Agitation der sozialdemokratischen Partei" und deren „Berührung . . . mit den Umsturzparteien anderer Länder . . . scharf zu beobachten und das sich ergebende Material an einer Stelle zu sammeln und zu verarbeiten". Insoweit fungierte der Polizeipräsident in Berlin als zentrale Stelle der politischen Polizei in Preußen und in einem gewissen Sinne des gesamten Reiches. Als Quellenmaterial für die „Übersichten" dienten vornehmlich die Quartalsberichte, die von den Regierungspräsidenten regelmäßig dem Innenminister zu erstatten waren, Berichte von Polizeibehörden, Polizeibeamten und Polizeispitzeln, Zeitungsartikel sowie Druck- und Flugschriften und sonstiges Material der Sozialdemokraten und Anarchisten. Auch die entsprechenden Bewegungen im Ausland wurden erfaßt. Über das Quellenmaterial wird in der Einleitung unter Angabe der (insbesondere archivalischen) Belege berichtet. Dadurch erfährt der Leser auch etwas über die Arbeitsweise und die Struktur der Berliner politischen Polizei und ihre bereits unmittelbar nach 1848/49 beginnende Vorgeschichte. Zum Benutzerkreis der geheimen Übersichten gehörten die preußischen Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten (Landdrosten in der Provinz Hannover) und Polizeibehörden, die sächsischen Kreishauptleute, der Polizeichef von Hamburg sowie einige Polizeibehörden im Ausland, darunter das Schweizerische Justiz- und Polizeidepartement, die Polizeidirektionen in Kopenhagen, Wien und Prag, der Direktor der Kriminalabteilung in London und die Polizeipräfektur in Paris. Später erhielten die Landräte Auszüge. Die kommandierenden Generale wurden von den Oberpräsidenten unterrichtet. Die im vorliegenden ersten Band enthaltenen 16 Übersichten sind schon einmal, 1964, von Reinhard Höhn unter dem unsachlichen und wohl auch nur als „Zitat" gedachten Titel „Die vaterlandslosen Gesellen/Der Sozialismus im Lichte der Geheimberichte der preußischen Polizei 1878-1914, Band I (1878-1890)" im Westdeutschen Verlag in Köln und Opladen aufgrund von Archivalien der Staatsarchive Marburg und Münster veröffentlicht worden. Hohns Edition hat damals im Westen (vgl. Historische Zeitschrift, Band 20, S. 398) und im Osten (vgl. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1965, S. 138 ff.) keinen großen Beifall gefunden, und das wohl mit Recht, da Höhn die Übersichten - abgesehen von einer allgemeinen Einführung „Die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz" - ohne Erläuterungen abgedruckt hat. Hohns Edition der ersten 16 Übersichten ist auch ein Torso geblieben; die von ihm angekündigte Edition aller Übersichten wurde nicht verwirklicht. Die von dem Staatsarchiv Potsdam herausgegebene Edition ist demgegenüber mit einem wissenschaftlichen Anmerkungsapparat versehen, der keine Wünsche offen läßt. Er enthält Erläuterungen für das Verständnis von Fakten und Sachverhalten, notwendige Richtigstellungen von Aussagen im Text der Übersichten, Angaben über Personen, Zeitungen, Zeitschriften, Parteien und Organisationen sowie Hinweise auf die Literatur. Der vorliegende erste Band umfaßt die Zeit des Verbotes der Sozialdemokratischen Partei unter dem Sozialistengesetz von 1878 bis 1890, in der die Auseinandersetzung zwischen Staat und sozialistischer Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Quellenkritisch ist zu berücksichtigen, daß es sich bei den „Übersichten" um Dokumente des damaligen Staatsapparates handelt. Gleichwohl hat man den Eindruck, daß sie ein sachliches und ungeschminktes Bild des damaligen Verhältnisses des Staates zur Sozialdemokratie vermitteln. Das gilt insbesondere für 188

die Methoden des Kampfes gegen die Sozialdemokratie und für die „Taktik der Sozialdemokratie, diesem Kampfe zu begegnen oder auszuweichen" (Historische Zeitschrift, Band 20, S. 399). Aber auch als Quelle für die Entwicklung der sozialistischen und anarchistischen Bewegungen selbst sind die Übersichten von Bedeutung, wenn auch zu berücksichtigen ist, daß dem Staatsapparat viele Interna dieser Bewegungen verborgen geblieben sind und ihm „das richtige Gespür ihrer wirksamen Bekämpfung fehlte" (Fricke, Einleitung, S. XIV). Der Behauptung Frickes (Einleitung, S. XV), daß es die wichtigste Aufgabe der Übersichten gewesen sei, „die Pogromstimmung gegen die sozialistische Arbeiterbewegung nicht nur in Preußen, sondern ebenfalls in den anderen deutschen Bundesstaaten ständig wachzuhalten und zu schüren", möchte ich nicht zustimmen. Dem widerspricht der von Fricke (Einleitung, S. XI) selbst hervorgehobene geheime Charakter der Übersichten und der beschränkte Benutzerkreis, der 1880 aus 140 und 1905 aus 152 leitenden Beamten bzw. Dienststellen des In- und Auslandes bestand. Die „Übersichten" werden im Untertitel des Buches und in der Einleitung als „Übersichten über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung" bezeichnet, obwohl sie seinerzeit amtlich „Übersichten über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung" genannt wurden. Dieses Abweichen vom damaligen amtlichen Sprachgebrauch ist der Sache nach gerechtfertigt, da es grundsätzlich richtig ist, zwischen der revolutionären (marxistischen) Arbeiterbewegung und den anarchistischen und nihilistischen Bestrebungen zu unterscheiden, von denen sich nicht nur die sozialdemokratischen Führer in Deutschland, sondern auch der in London im Exil lebende Karl Marx scharf distanziert hatten. Karl Max (gest. 1883) und Friedrich Engels, die beiden Lehr- und Altmeister des „wissenschaftlichen Sozialismus", tauchen übrigens in den „Übersichten" nur am Rande auf; sie stellten offensichtlich für die politische Polizei in Deutschland im Gegensatz zu dem von London und später von den USA aus agierenden Anarchisten Johann Joseph Most kein Problem dar. Der Berliner Polizeipräsident unterschied nicht zwischen den revolutionären Sozialisten und den Anarchisten; er unterstellte sogar den „eigentlichen Sozialdemokraten", die Anarchisten nur „äußerlich" zu bekämpfen, „innerlich" aber mit ihnen zu sympathisieren (Übersicht vom 4. März 1884). Der Tatsache, daß die Sozialdemokraten, die sich damals noch Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands nannten, im Gothaer Programm von 1875 sogar einen deutlichen Trennungsstrich zwischen sich und den revolutionären Sozialisten gezogen hatten, legte er offensichtlich keine Bedeutung bei. Es war allerdings damals schwer, zwischen den unterschiedlichen Positionen der sozialistischen Bewegung zu unterscheiden, zumal es das offizielle, in der Schweiz erscheinende Parteiorgan „Der Sozialdemokrat" an Zweideutigkeiten nicht fehlen ließ. Zwischen Sozialdemokraten, revolutionären Sozialisten (Marxisten, Kommunisten) und Anarchisten hätte man aber doch deutlicher unterscheiden können und müssen. Man hat es offensichtlich nicht getan, um die Ausschreitungen und Verbrechen der Anarchisten als Vorwand zu benutzen, in der Wachsamkeit gegenüber den „eigentlichen Sozialdemokraten" nicht nachzulassen (Einleitung, S. XV). Es ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich, den Gesamtinhalt der Übersichten auch nur annähernd darzustellen. Nur einen Punkt möchte ich herausgreifen: Die Übersichten bestätigen in überzeugender Weise das, was August Bebel schon 1879 im Schlußkapitel seines illegal gedruckten und vertriebenen Buches „Die Frau und der Sozialismus" geschrieben hatte: „ . . . So hat Deutschland in dem großen Riesenkampfe der Zukunft die Führerrolle übernommen, zu der es durch seine ganze Entwicklung und auch durch seine geographische Lage als das ,Herz Europas' prädestiniert erscheint. Es ist kein Zufall, daß es Deutsche waren, die die Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft entdeckten und den Sozialismus als die Gesell189

schaftsform der Zukunft wissenschaftlich begründeten ... Es ist auch nicht Zufall, daß die deutsche sozialistische Bewegung die wichtigste und bedeutendste der Welt ist, die die Bewegung anderer Nationen insbesondere die Frankreichs, das in einer Art mittelbürgerlicher Entwicklung steckenblieb, überflügelte; daß ferner deutsche Sozialisten die Pioniere sind, welche den sozialistischen Gedanken unter die Arbeiter der verschiedensten Völker verbreiteten ..." In den „Übersichten" mußte von Anfang an als Ergebnis der „Beobachtungen" ein „stetiges Anwachsen der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung in D e u t s c h l a n d " (Sperrung auch im Originaltext) konstatiert werden, das sich durch das Ausnahmegesetz und die in Angriff genommenen sozialpolitischen Reformen nicht aufhalten ließ (vgl. z. B. die Übersicht vom 1. November 1884). Die Reformen, die objektiv betrachtet einen großen Fortschritt darstellten, wurden mit Erfolg als ein auf Bauernfang berechneter Schwindel ausgegeben, der die eigentliche soziale Frage nicht berühre. Diese könne nur durch eine sozialistische Produktion gelöst werden, die keine Ausbeuter und Ausgebeuteten mehr kenne. Das Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung konnte an den Wahlergebnissen abgelesen werden. Das Sozialistengesetz hatte bekanntlich die politische Repräsentation der Sozialdemokratie in den Parlamenten und kommunalen Vertretungskörperschaften nicht angetastet, was übrigens für den Zusammenhalt der sonst verbotenen Partei von unschätzbarer Bedeutung war. In der „Übersicht" vom 24. Juli 1886 heißt es: „ D e u t s c h l a n d hat die hervorragende und deshalb von vielen beneidete Stellung, welche es von jeher in dieser Bewegung eingenommen hat, behalten. Die Trägerin der sozialistischen Ideen, die sozialdemokratische Partei, ist über das ganze Reich verbreitet, wohl organisiert und in stetigem Wachstum begriffen." In der letzten in diesem Band veröffentlichen Übersicht vom 22. November 1889 stellte der Berliner Polizeipräsident in dem Bericht über den Internationalen Sozialistenkongreß vom Juli des gleichen Jahres fest: „[Es] zeigte sich wiederum, daß die Deutschen bezüglich ihrer Organisation und ihrer Fortschritte allen anderen Nationen als Vorbild gelten." Und an einer anderen Stelle der gleichen Übersicht heißt es: „Die deutsche Sozialdemokratie nimmt, wie bereits bemerkt, unter den gleichartigen Parteien sämtlicher europäischer Länder zweifellos die erste Stelle ein, und mit Recht. Sie ist vor allem vorzüglich organisiert. Angeblich unterscheidet sie sich in nichts von jeder anderen politischen Partei, die von einem Vorstande, als welcher bei ihr die Mitglieder der Reichstagsfraktion fungieren, geleitet wird." Demgegenüber steht in den „Übersichten" über England u.a.: „In England beteiligt sich die eingeborene Bevölkerung mit wenigen Ausnahmen noch immer nicht an der allgemeinen sozialistischen Bewegung" (15. Juni 1881). Aus den USA wird berichtet: „Unter den Amerikanern selbst sind sozialistische Anschauungen nur wenig verbreitet, es sind aber eine große Menge Deutscher dort, welche aus der Heimat derartige Ideen mit hinübergebracht haben und, wenn sie dieselben in Amerika auch nicht verwerten können, dennoch jede Gelegenheit benutzen, ihnen in der Heimat durch moralische und pekuniäre Unterstützung Geltung zu verschaffen" (15. Juni 1881). Der Allgemeine Gewerkschaftsbund in den USA bestand in der Hauptsache aus Deutschen (14. Juni 1882). In der Schweiz klagten die sozialdemokratischen Führer nach der Trennung von der deutschen Partei über zunehmende Gleichgültigkeit der Mitglieder (30. Juli 1883). Die Belgier, Holländer und Dänen übernahmen das Gothaer Programm der Deutschen (10. Juni 1879/30. Juli 1883). Die Ungarn setzten ihre ganze Hoffnung auf die Deutschen, welche sie als „den Fels" der gesamten Sozialdemokratie bezeichneten (29. Dezember 1879). Damit will ich es bewenden lassen. Wenn man das alles liest, fragt man sich: Wie kommen eigentlich die Historiker und die Publizisten in den angelsächsischen Ländern, in denen die 190

sozialen Verhältnisse in jener Zeit um keinen Deut besser als in Deutschland waren, dazu, uns Deutschen (leider unter dem Beifall jüngerer deutscher Historiker) einen angeblichen „Sonderweg" der deutschen Geschichte und einen besonderen „Untertanengeist" einzureden? Das alles soll mit Martin Luther begonnen haben und von ihm über Friedrich den Großen und Bismarck in gerader Linie auf Hitler zugelaufen sein. Martin Luther war einer der größten Revolutionäre, die wir kennen. Er (und mit ihm die überwiegende Mehrheit unseres Volkes) hat der Hierarchie der damals übermächtigen Papstkirche den von ihr verlangten sklavischen Gehorsam aufgekündigt und damit der modernen Welt und vor allen Dingen der modernen Wissenschaft den Weg bereitet. Was das mit „Untertanengeist" zu tun haben soll, ist mir rätselhaft. Friedrichs des Großen Satz „Ich bin der erste Diener des Staates", mit dem er die Losung der absoluten Fürsten „Der Staat bin ich", verwarf, war ebenfalls revolutionär. Bismarck hat die Sozialdemokratie bekämpft. Das hatte aber nichts, wie behauptet wird, mit der Vorherrschaft konservativ-feudaler Wertvorstellungen und einer „feudalen Mentalität" oder einer „Unmündigkeit" des deutschen Bürgertums zu tun, sondern entsprach dessen Interessen, insbesondere auch im Sinne der marxistischen Klassenkampftheorie. Dort, wo es - wie damals in England und den USA - keine Sozialisten gab und die Arbeiter, Gott und der Obrigkeit ergeben, ihr Schicksal ertrugen, brauchte man kein Bündnis zwischen der Bourgeoisie und den feudalen Überresten und kein „Sozialistengesetz", um sie zu bekämpfen. Und Hitler? Hier möchte ich Sebastian Haffner (Anmerkungen zu Hitler, S. 203) zitieren: „Hitler paßte zum deutschen Nationalcharakter ungefähr so, wie seine Parteitagsbauten nach Nürnberg paßten - also wie die Faust aufs Auge . . . Hitler kam für die Deutschen immer von weither; erst eine Weile vom Himmel hoch; nachher dann . . . aus den tiefsten Schlünden der Hölle!" Der Geburtsort der nationalsozialistischen Bewegung war nicht München in Deutschland, sondern Versailles in Frankreich. Am Schluß seiner „Anmerkungen zu Hitler" bedauert es Sebastian Haffner, daß „viele Deutsche" (man kann jetzt schon sagen „die Deutschen in der Bundesrepublik") sich nicht mehr trauen, Patrioten zu sein. Das ist eine richtige Feststellung. Die Geschichtslosigkeit in der Bundesrepublik hat ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Das deutsche Volk wird in diesem Teil Deutschlands seine nationale Identität verlieren, wenn es nicht gelingt, ein neues, gesundes deutsches Selbstbewußtsein wachzurufen. Ein solches Selbstbewußtsein kann nur aus einem gesunden Verhältnis zur deutschen Geschichte wachsen. Das Studium des vorliegenden Buches kann dazu beitragen. Die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, insbesondere ihre Geschichte zur Bismarckzeit, widerlegt das Gerede vom „deutschen Untertanengeist". Der Kampf Bismarcks gegen die Sozialdemokratie lag in der Natur der Sache. Eine so mächtige sozialistische Bewegung wäre damals auch in jedem anderen Land auf den erbitterten Widerstand des Bürgertums und der Aristokratie, die damals z. B. auch in England noch eine Rolle spielte, gestoßen.

Anschrift des Verfassers: Dr. Otto Uhlitz, Westendallee 70,1000 Berlin 19

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Martin Sperlich zum Abschied von seinen Amt als Direktor der Staatlichen Schlösser und Gärten Von Helmut Börsch-Supan Die Staatlichen Schlösser und Gärten in Berlin, dieses Fragment der ehemals großen von Königsberg bis Brühl reichenden preußischen Schlösserverwaltung, hatten in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg das Glück, zwei bedeutende Persönlichkeiten an ihrer Spitze zu sehen: Margarete Kühn und Martin Sperlich. Nur diesem Umstand ist es zu verdanken, daß mancher schlecht informierte Besucher des Schlosses Charlottenburg heute den Eindruck hat, der Krieg habe diesen Bau verschont. Wenn die Schlösserverwaltung als Denkmalpflege- und Museumsinstitution besonderer Art einen guten Ruf weit über die Grenzen Berlins hinaus genießt, so ist dies ebenfalls das Verdienst der beiden. Margarete Kühn war es, die den Wiederaufbau des Schlosses Charlottenburg durchsetzte, aber der Praktiker Martin Sperlich war seit 1956 der starke Motor für alle denkmalpflegerischen Arbeiten. Er kletterte auf die Gerüste und sah den Bauzeichnern auf die Finger. Margarete Kühn hatte ihn, der vorher als Volontär der Staatlichen Museen mit der Rückführung des Kunstgutes aus Celle nach Berlin beschäftigt gewesen war, an die Schlösser als zunächst einzigen wissenschaftlichen Mitarbeiter geholt. Als 1969 Margarete Kühn in den Ruhestand ging, war es selbstverständlich, daß Martin Sperlich ihr Nachfolger wurde. Der damalige Senator für Wissenschaft und Kunst, Werner Stein, war liberal genug, die fachliche Kompetenz und die charakterliche Eignung höher zu bewerten als einen Dissens in politischen Ansichten. Nur indem Begeisterung und Sachverstand das Defizit an physischen Kräften ausglichen, war mit knappem Personalbestand zu leisten, was in den Jahren bis heute bewältigt wurde: die Durchführung nahezu aller denkmalpflegerischen Arbeiten im Bereich der Schlösser und Gärten und wenigstens die Weichenstellung für die noch zu lösenden Probleme. Vergleicht man die Kosten für den Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses mit den Summen, die Berlins Skandalbauten verschlungen haben, dann wird überdies deutlich, was preußisches Beamtentum, das sich an seinem Ursprungsort besser als andernorts bewahrte, einmal gewesen ist. Über der weithin sichtbaren Leistung der Wiederherstellung des Schlosses Charlottenburg sind die übrigen Unternehmungen nicht zu vergessen. Das Jagdschloß Grunewald, das bereits 1963 außen seine barocke Erscheinung wiedererhalten hatte, wurde 1973/74 innen restauriert, wobei vor allem der große Renaissancesaal im Erdgeschoß zurückgewonnen wurde. Grabungen im zugeschütteten Wassergraben um das Schloß haben Reste der Renaissancegiebel zutage gefördert und uns das ursprüngliche Aussehen des Schlosses bekannt gemacht. Auf der Pfaueninsel erhielt nicht nur das Schlößchen sein originelles Architekturgewand zurück, sondern auch das Kavalierhaus und die Meierei. In der letzten Zeit hat Martin Sperlich sich mit seiner herkulischen Energie vor allem der Wiederherstellung und sinnvollen Nutzung von Glienicke angenommen, dieses immer noch zuwenig in seinem hohen künstlerischen Rang erkannten Juwels. Die Rückführung des Schlosses mit seinen Nebengebäuden in den Zustand der Schinkelära durch den Abriß der beeinträchtigenden Zutaten der Nachkriegszeit ist die wichtigste denkmalpflegerische Aufgabe, die den Schlössern zu erledigen bleibt. Groß ist auch sein Verdienst um den Garten, dessen ursprüngliche Gestalt er zusammen mit Michael Seiler erforscht hat. Das Schinkeljubiläum 1981 nutzte er zur Wiederherstellung des Pleasure grounds und zum Wiederaufbau des Gewächshauses. 192

Mit besonderem Eifer hat sich Martin Sperlich seit mehreren Jahren der Gartendenkmalpflege zugewandt und nicht wenig dazu beigetragen, daß diese Disziplin mehr und mehr an Ansehen gewinnt. Seine Lehrtätigkeit als Honorarprofessor an der Freien Universität ist ebenfalls hauptsächlich diesem Gebiet gewidmet. Martin Sperlich hat das Gebot der Stunde erkannt, die Kunst der Gärten der allgemeinen Aufmerksamkeit zu empfehlen, denn nichts ist in einer von einem akuten Defizit an Natur bedrohten Stadt wohltuender als Gärten. Schlösser und Gärten gehören zusammen, und nur durch ihre Gärten werden die Schlösser zu wirklich lebendigen Organen der Stadt. Ohne sie würden die Schlösser allzuleicht zu Reservaten der Vergangenheit versteinern und im schlechten Sinne museal werden. Die Verbindung von Kunstgenuß, Begegnung mit Natur und Einsicht in Geschichte zu einer komplexen Lebenserfahrung ist immer das Ziel Martin Sperlichs gewesen. Dieses geistige Fundament der Institution ist über ihrer materiellen Substanz nicht zu vergessen. Martin Sperlich wurde 1919 in Darkehmen in Ostpreußen, im heute russischen Teil der Provinz, geboren. Seine Herkunft hat ihn geprägt, und dazu gehört, nicht mit ihr zu kokettieren. Auf das Abitur in Königsberg folgten Arbeits- und Militärdienst seit 1938. Er machte Feldzüge in Polen, Frankreich und Rußland mit und wurde verwundet. 1944 begann er in Danzig das Studium der Medizin, das er 1947 in Hamburg fortsetzte. Aber nach vier Semestern sattelte er auf die Kunstgeschichte um, die damals noch kein Modefach war. Was der Mensch mit seinem Geist hervorbrachte, interessierte ihn mehr als seine physische Natur, aber diese bleibt doch stets bei ihm die tragende Grundlage seiner Existenz. Wer ihn sieht, spürt das sogleich. 1953 promovierte er in Hamburg bei Wolfgang Schöne mit einer Dissertation „Die Stellung der FranzLegende in Assisi in der Geschichte der Perspektive". Seitdem gehört die Beschäftigung mit den Problemen der Perspektive zu seinen speziellen wissenschaftlichen Neigungen. Nachdem er ein Jahr Assistent an der Hamburger Universität gewesen war, wählte er den praktischen Umgang mit der Kunst zu seiner Lebensaufgabe, indem er sich zum Volontariat an den Staatlichen Museen entschloß. Damit wurde er Berliner, und er hat seitdem wohl nie mit dem Gedanken auch nur gespielt, diese Stadt um einer Karriere willen zu verlassen. Was ihn an Berlin bindet, ist die hier offener als anderenorts zutage tretende Dringlichkeit der Probleme unserer Kultur, denen er indes mit Zuversicht auf die Durchsetzungskraft des Humanen begegnet. Ein weiter Kreis von Freunden in West und Ost ist es, der diese Zuversicht aufrechterhält. Im Umgang mit Menschen verbraucht und erneuert er seine Kräfte. Nichts tut er lieber, als in Führungen die Schlösser und ihre Gärten zu erklären, wobei er interessierten Schulklassen stets den Vorzug vor gelangweilten Staatsoberhäuptern gibt. Erst im gemeinsamen Erlebnis mit anderen Menschen entfaltet für ihn die Kunst ihre ganze inspirierende Energie. Martin Sperlich sitzt nicht gern am Schreibtisch, und es ist nie sein Ehrgeiz gewesen, durch Publikationen den Lorbeer des Kunsthistorikers zu verdienen. Vielleicht ist sein Gewissen im Umgang mit der Sprache zu groß, als daß ihm die Aufsätze leicht aus der Feder fließen. Seine immer wieder in Erstaunen versetzende Kenntnis der Literatur, seine Fähigkeit, auch Entlegenes wörtlich zu zitieren, macht ihn bei der eigenen Produktion bescheiden. Das meiste von dem, was er geschrieben hat, ist aus der Rückzugsstellung des überlegenen Humors, oft vom Terrain der Kuriosität aus, gedacht und zielt auf die Dummheit. Nichts ist ihm so verhaßt wie die den Gedanken schändende Phrase, deren sich die Inhaber der Macht bedienen. Nirgends wird das deutlicher als in den formvollendeten Gedichten, mit denen er sich vielfach dienstlichen Ärger von der Seele geschrieben hat. Ein Freund hat sie gesammelt und zu seinem 60. Geburtstag in einem Band herausgegeben, der inzwischen in zweiter Auflage erschienen ist. Wie angesehen Martin Sperlich in Kunsthistorikerkreisen ist, obgleich er nicht den Gelehrten herauskehrt, zeigt die Festschrift „Schlösser, Gärten, Berlin", die ihm zum gleichen Datum gewidmet wurde. 193

Martin Sperlich glaubt nicht, daß dem öffentlichen Leben durch Verkrustungen, sei es in der Parteienwirtschaft, sei es im Behördentrott, Halt zu geben sei, sondern er bejaht die Beweglichkeit des Geistes und die Impulse der Menschlichkeit. Er kämpft mit scharfem Witz gegen die Machtübernahme durch das Mittelmaß. Die Angegriffenen haben nicht die Chance ergriffen, Martin Sperlichs Vorwürfe durch eine großmütige Tat zu widerlegen, sie haben sich gerächt und ihm bei seiner Verabschiedung den Dank für seine weit über die Pflichterfüllung hinausgehende Leistung verweigert. Er wird indes auch im Ruhestand für Berlin wirken und eine Hoffnung für diejenigen sein, die sich mit einem Phänomen nicht abfinden, das schon Karl Friedrich Schinkel als „moderne Barbarei" benannt und folgendermaßen beschrieben hat: „In neuester Zeit hat der Begriff Barbarei einen ganz anderen Charakter gewonnen; er ist nicht mehr vollkommene Roheit, Mangel an aller Sitte, Grausamkeit pp., sondern überfeine äußere Bildung, die keinen Grund und Boden hat. Geschmack nach der konventionellen Weise der Zeit ohne Spur von Genie, Entfernung jeder ursprünglichen naiven Gesinnung, raffinierte Umgehung aller Gesetze der Gesellschaft zu egoistischen Zwecken." Die Spuren von Martin Sperlichs Wirken für die Berliner Schlösser und Gärten werden nie ganz verwischt werden können. Dr. Helmut Börsch-Supan, Museumsdirektor und Professor, Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten

Ew Hochwolgeboren... Ein bisher unbekannter Brief von Gottfried Schadow mit einer Antwort von Karl Friedrich Schinkel aus dem Archiv der Preußischen Akademie der Künste Von Karl-Robert Schütze Frau Professor Dr. Margarete Kühn, Direktorin der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten a. D., Herausgeberin von Karl Friedrich Schinkels „Lebenswerk" und Mitglied unseres Vereins seit einem Vierteljahrhundert, zum achtzigsten Geburtstag gewidmet Gottfried Schadow, der Direktor der Akademie der Künste, hat den Brief eigenhändig am 8. Juni 1825 ohne persönliche Anrede an ein Akademiemitglied gerichtet, er ist nicht adressiert und wahrscheinlich im Hause zugeleitet worden, was möglicherweise aus den bisher ungedeuteten Kürzeln unter der Unterschrift hervorgeht. Für die Antwort wurde die schon beschriebene Seite des in der Mitte gefalteten Blattes benutzt. In dem handschriftlichen Text, einen Tag später von Karl Friedrich Schinkel niedergeschrie194

ben, macht sich zugleich der zunächst ungenannte Adressat bekannt. Es handelt sich um ein dienstliches Schreiben, in Anbetracht des am Anfang der Zusammenarbeit durchaus freundschaftlichen, zumindest aber kollegialen Verhältnisses der beiden Künstler scheint es den Tiefpunkt ihrer Beziehungen2 zu illustrieren. Worum geht es in dem Brief, was macht die kurzen Texte der beiden berühmten Akademiemitglieder bei der umfangreichen von ihnen und über sie veröffentlichten Literatur noch nach über eineinhalb Jahrhunderten interessant, zumal Beginn und Ende des Vorgangs nicht im Zusammenhang überliefert sind? Zunächst zum Inhalt des Schriftstückes: Schinkel hatte das erstgenannte Buch3 aus der Bibliothek der Akademie entliehen und es dort zurückgegeben, es wurde nun aber durch den „Secretair, Bibliothekar und Oekonomie-Inspektor" der Bau-Akademie, Friedrich Meissner4, für die dortige Bibliothek beansprucht. Das zweite genannte Werk5 befand sich bereits in der Bau-Akademie, obwohl es durch die Akademie der Künste angekauft worden war. Schadow hatte es wegen seines vermeintlich vorwiegend technischen Inhalts dorthin abgegeben. Der Titel ist von ihm aus der Erinnerung wiedergegeben, ein angehefteter Zettel von „dritter Hand" gibt die zur Identifizierung notwendigen bibliographischen Angaben. Der Empfänger des Schreibens wird aufgefordert, sich zu dem jeweils richtigen und sinnvollen Standort der Werke zu äußern. Die nur einen Tag später niedergeschriebene Antwort macht deutlich, daß Schinkel beide Werke bekannt waren, eine klare Entscheidung enthält sie nicht. Er hält beide für jede der genannten Ausbildungsstätten für wichtig, weil in ihnen „Technisches mit Ästhetischem" verbunden wird, und fügt hinzu, daß die Abtrennung der technisch ausgerichteten Ausbildung an der Bau-Akademie von der auf das Ästhetische zielenden an der Akademie der Künste „immer Schwierigkeiten hat". Selbstverständlich rät er, einen eventuell vorhandenen Rechtsanspruch gegenüber der Bau-Akademie geltend zu machen. Schinkel befand sich da in einer problematischen Situation, denn er gehörte den beiden streitenden Parteien an, der Akademie als „Professor für Baukunst" und der Ober-Baudeputation (deren Bibliothek mit der der Bau-Akademie vereint war) als „Geheimer Ober-Baurath". Er antwortet hier ganz eindeutig als Akademiemitglied, die unentschiedene Aussage sollte deshalb inhaltlich und nicht taktisch verstanden werden. Der Hintergrund: Auseinandersetzungen6, die vor und bei der endgültigen Trennung der Bau-Akademie von der Akademie der Künste im Jahre 1824 stattgefunden haben. Schadow selbst erinnert sich in seinem Bericht „Kunstwerke und Kunst-Ansichten" der Vorgänge: „Gegen Ende dieses Jahres7 geschah die Sonderung der Baufächer, indem die neu errichtete allgemeine Bauschule die technischen Theile der Baukunst insbesondere lehren, wogegen bei der Academie der Künste der ästhetische Theil verbleiben sollte. Dies hatte zur Folge, dass aus unserer Bibliothek alle Werke, deren Inhalt das Technische betraf, dem neuen Institute überliefert werden mussten."8 Die 1799 gegründete und räumlich aus dem Akademiegebäude ausgegliederte Bau-Akademie - Schinkel gehörte zu den 95 Eleven des ersten Jahrgangs - war trotz der getrennt bleibenden Gebäude von 1809 bis 1824 wieder der Akademie der Künste unterstellt. Integriert waren „auch die beiderseitigen Bibliotheken, wenn auch nicht räumlich"9. „Innerhalb des Zeitraums der Verbindung der Kunstakademie mit der Bauakademie wirkte ausserdem, unter der Oberaufsicht des Geheimen Ober-Bauraths Rothe und des Professors Rabe, der Geheime Secretair Meissner als Unterbibliothekar in der Abteilung der Bibliothek, welche in dem damaligen Bauakademie-Gebäude an der Ecke der Zimmer- und Charlottenstrasse verblieben war."10 „Bei der sodann wieder eingetretenen Trennung der beiden Institute wurde der Büchervorrath der Bibliothek der Kunstakademie durch diejenigen Werke vergrössert, welche sich auf den ästhetischen Theil der Baukunst bezogen, während diejenigen, welche 195

vorwiegend den technischen Theil betrafen, bei der Bibliothek der Ober-Baudeputation und der reorganisierten Bauakademie verblieben"", heißt es in der Geschichte der Bibliothek weiter. Die erneute vollständige Trennung der beiden Ausbildungsinstitute erfolgte durch eine „Königliche Allerhöchste Kabinets-Ordre" vom 31. Dezember 1823, sie beendete einen seit den Befreiungskriegen anhaltenden Ressortkampf um die Zuständigkeit für die Gewerbeförderung und das gewerbliche Ausbildungswesen, dem von Seiten des Kulturministeriums keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde12. Die Technische Deputation für Gewerbe, der seit 1817 Schinkels guter Freund Peter C. W. Beuth vorstand, mußte deshalb ein eigenes System aufbauen, an dessen Spitze die Bau-Akademie stand. Sie ressortierte nun beim Ministerium für Handel, Gewerbe und Bauwesen13, was die technische Ausrichtung deutlich genug zum Ausdruck bringt. Natürlich änderten sich damit auch die Besitzverhältnisse an den beiden ehemals verbundenen Bibliotheken, denn die Akademie der Künste und die Bau-Akademie unterstanden jetzt verschiedenen Verwaltungen. Schinkels Verweis auf Rechtsansprüche läßt sich so leicht erklären. Zum interpretierbaren Inhalt der Antwort: Schinkels Worten wird in diesem Kommentar beinahe grundsätzliche Bedeutung zugemessen, deshalb müßten sich vergleichbare Äußerungen in seinen Texten zur Ausbildung von Architekten und insbesondere in dem Lehrbuchmaterial finden lassen, an dessen „klassizistischer Fassung" er zu dieser Zeit gerade arbeitete. In einem der Entwürfe zu einer Einleitung, der Anfang der zwanziger Jahre niedergeschrieben wurde, heißt es z. B.: „Ein Gebrauchsfähiges Nützliches Zweckmäßiges schön zu machen ist Aufgabe der Architektur..." 14 , meint das nicht, daß sich im Ergebnis „Technisches mit Ästhetischem in genauer Verbindung findet"? Goerd Peschken hat den Einfluß der politischen Verhältnisse und Entscheidungen der Restaurationszeit deutlich herausgearbeitet und gezeigt, daß sich Schinkel der durch das Desinteresse der Kulturverwaltung an der technischen Ausbildung entstandenen Zweigleisigkeit des Systems auch in seinen eigenen Lehrbuchplänen anpaßte. Daß er es aus Staatsräson tat, belegt die hier mitgeteilte kurze Antwort an Schadow, eineinhalb Jahre nach der Abtrennung der Bau-Akademie niedergeschrieben. In seiner Stellungnahme zur Architektenausbildung, insbesondere in seinem Gutachten für die Kunstakademie in Düsseldorf, das im September 1822 dort vorlag, hat Schinkel dagegen ganz unmißverständlich die staatliche Position aufgenommen, indem er alle technischen Hilfswissenschaften, die der Baukunst dienlich sein konnten, an „ein anderes Institut als eine Akademie der schönen Künste"15 verwies. Dazu sei noch auszugsweise die Meinung des damaligen Professors für Baukunst an der Akademie in Düsseldorf zitiert, die Paul Ortwin Rave 1936 aus Privatbesitz abgeschrieben hat. Professor Schaeffer schreibt an seinen Direktor Cornelius am 25. Februar 1823: „Ich gestehe Ihnen offenherzig, daß ich den mir zur Begutachtung überreichten Plan schon in Berlin mit Herrn OBR Schinkel, als er dem hohen Ministerium übergeben war, besprochen, denselben nun mehrmals zur Hand genommen, mit meinen Fähigkeiten zusammen gehalten, gefunden, daß er nur mit Ausdehnung eine gelehrte aesthetische Seite in Anspruch nimmt, und meine technische, mit unendlichen Mühen und Erfahrungen theoretisch und praktisch erworbene unbenutzt liegen läßt. Ich finde diesen Plan, speziell bei einer Malerakademie, im hohen Sinne, sehr gut und Bedürfnis; aber eine Bauakademie von allseitigem Nutzen, sicher auf dem aesthetischen, ihr zu opfern, erscheint wohl niemand gut, der Um-und Fernsicht hat. Aus bloßen Mathematikern Architekten anzustellen, langt gar nicht zu, aber eher ist es denkbar, als bloße Zeichner dazu zu nehmen."16 Resultat: Die Antwort Schinkels an Schadow zeigt, daß die Änderung seiner Lehrbuchpläne, 196

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daß die rigorose Trennung des technischen und des ästhetischen Ausbildungsbereichs, wie sie im Gutachten für Düsseldorf zum Ausdruck kommt, nur seine Anpassung an die offizielle Politik, also an das Durchführbare, widerspiegelt, daß er persönlich aber eine engere Verbindung für richtig und notwendig gehalten und dem Kollegen Schaeffer darin zugestimmt hätte. Diese Ausführungen sollen dazu dienen, den größeren Zusammenhang in dem das beiläufige und doch wichtige Schreiben zu sehen ist, herzustellen. Der Brief hat aber nicht nur Bedeutung im Rahmen von Schinkels Überlegungen zur Architektenausbildung, er gewinnt diese auch durch das lebendige Bild, das er von den damaligen Auseinandersetzungen gibt, und natürlich durch die beiden genannten Bücher. Einfluß der genannten Werke: Schinkel wird das Werk von Durand noch im Jahr 1823 ausgeliehen haben, er kehrte im Dezember 1824 von seiner zweiten Italienreise nach Berlin zurück, da müssen die Arbeiten an der am 31. Dezember 1823 verordneten Aufteilung abgeschlossen gewesen sein. Warum Schadow Schinkel nicht auch bei der Zuordnung des Werks von Ledoux um Rat gefragt hat, ist nicht zu ermitteln und wahrscheinlich mit Schinkels ständiger Arbeitsüberlastung und dem zu dieser Zeit kühlen persönlichen Verhältnis zu erklären. Schadows Anfrage macht ganz sicher, daß Schinkel das genannte Lehrwerk von Durand kannte17 und gründlich studiert hat18. Verschiedene Entwürfe werden auf diesen Einfluß zurückgeführt, dazu gehören insbesondere die Rotunde im Alten Museum, entworfen 1823 (s.o.), und die Bibliothek, entworfen 1835. Problematischer sind Aussagen über den Einfluß von Ledoux' Entwürfen auf Schinkel. Das Werk ist in dem Jahr erschienen, in dem Schinkel erstmals Paris besuchte, wo er noch einige Gebäude im Original hätte sehen können. Durand und Ledoux, diese beiden Architekten, denen es im Gegensatz zu Schinkel gelang, ihre Vorbildersammlungen bzw. Lehrbücher abzuschließen und damit große Wirkung zu erreichen, nennt Schinkel in seinen Aufzeichnungen nur am Rande 19 . Der hier vorgelegte Brief beweist, daß beide Werke in Berlin vorhanden und damit für das Akademiemitglied und den Geheimen Ober-Baurat Schinkel jederzeit einsehbar waren, darüber hinaus wird deutlich, daß er den Durand zumindest längere Zeit für das Studium ausgeliehen hatte. Die umgehende Antwort zeigt, daß ihm der Ledoux zumindest oberflächlich bekannt war. Der hier mitgeteilte, unscheinbare Brief verbessert unsere Kenntnisse und dürfte der SchinkelForschung über das Angedeutete hinaus von Nutzen sein. (Abschrift zeilengetreu)

Ew Hochwolgeboren Hatten Durand: precis de Lecons d'architecture 3 Bände geliehen u dies Werk an unsere Academie zurückgeschickt selbiges wird izt durch G. S. Meisner für jene Academie reclamirt. den le Doux: Projets de Batimens halte ich dafür das: solches hirher gehört, dieses Werk ist dort obgleich von uns angeschafft u habe ich bei der Theilung es dahin gehen lassen, in der Meinung das solches Technik im wesentlichen enthalte. 198

Hirnach möchten wir eine Gegen Reclamation machen doch wünscht ich bevor Ihre Meinung Berlin den 8ten Juni 1825 Ihr ergebener GSchadow Director

Beide obengenannte Werke eignen sich ebensowohl für technische Bau Academie als für die Academie der schönen Baukunst, weil sich in ihnen Technisches mit Ästhetischem in genauer Verbindung findet, wie denn dies überhaupt bei der Baukunst in so vielen Fällen gleichen Schritt geht u weßhalb eine Trennung immer Schwierigkeiten hat. Wenn wir bei der Academie der Künste aber durch Ankauf aus unsern Mitteln irgend ein Recht auf eins oder das andre obiger Werke haben, so müßte eine Reclamation wohl immer versucht werden können. Ihr ganz ergebenst Schinkel. 9. Juni 1825.

(an dieses Blatt angeheftet der Zettel mit der Aufschrift:) le Doux, PArchitecture consideree sous le rapport de l'art, des meurs, et de la legislation. fol.

Nachweis: Archiv der Preußischen Akademie der Künste, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Inv.-Nr. 84/56/200 (Handaktenmaterial)

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

7 8 9 ,0

Archiv der Preußischen Akademie der Künste, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Inv.-Nr.: 84/56/200 (Handaktenmaterial). Börsch-Supan, Helmut: Schadow und Schinkel, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins, Berlin 1981, S. 7-28. Durand, Jean Nicolas Louis: Precis des Lecons d'Architecture donnees ä l'Ecole polytechnique, Paris '1802-1805,21817-1819,31823. G. S. ist wohl als Geheim Secretair zu lesen. Ledoux (Le Doux), Claude Nicolas: L'Architecture consideree sous le Rapport de l'Art, des Moeurs et de la Legislation, Paris 1804. Peschken, Goerd: Das Architektonische Lehrbuch (Schinkel-Lebenswerk), München/Berlin 1979, S.40 f; Rave, Paul Ortwin: Schinkel als Beamter, zuletzt in: Karl Friedrich Schinkel. Architektur, Malerei, Kunstgewerbe. Ausstellungskatalog Berlin 1981, S. 75-94. 1823; bei Schadow gewinnt man den Eindruck, es müßte sich um 1821 handeln. Kunstwerke und Kunst-Ansichten von Dr. Johann Gottfried Schadow, Berlin 1849, S. 198 (Reprint mit Einleitung und Register von Helmut Börsch-Supan, Berlin 1980). Katalog der Bibliothek der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin 1893, S.V. s.o. S.XI. 199

" s.o. S.V. 12

Peschken, Lehrbuch, S. 40. " Chronik der königlichen Akademie der Künste. Von September 1822 bis zum September 1824, in: Verzeichnis derjenigen Kunstwerke..., Berlin 1824, S. VI-VIII. 14 Schinkel, Lehrbuchmaterial, H. III, Bl. 17/18, in: Peschken, Lehrbuch S. 58. 15 Brües, Eva: Die Rheinlande (Schinkel-Lebenswerk), Berlin 1968, S.20; weitere Stellungnahmen zur Architektenausbildung sind bisher nicht im Zusammenhang publiziert. 16 Archiv der Staatlichen Museen zu Berlin, Schinkel, Mappe Kunstverwaltung, Vc. 17 Peschken konnte das nicht nachweisen, er vermutet es nur: Peschken, Lehrbuch, S. 107. 18 Forssman, Erik: Karl Friedrich Schinkel. Bauwerke und Baugedanken, München/Zürich 1981, S. 34/35. 19 Peschken, Lehrbuch, S. 107; Forssman, Schinkel, S. 25, Anm. 35. Hinweise und Unterstützung verdanke ich: Frau Dr. Dagmar Wünsche, Herrn Dr. Götz Eckhardt, Herrn Dr. Gottfried Riemann. Anschrift des Verfassers: Dr. Karl-Robert Schütze, Bruno-Bauer-Straße 20a, 1000 Berlin 44

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Nachrichten Ehrenpromotion Margarete Kühn - Verabschiedung Martin Sperlich Es war eine glückliche Idee, die Feier aus Anlaß der Vollendung des 80. Lebensjahres von Frau Professor Dr. Margarete Kühn mit der Verabschiedung von Professor Dr. Martin Sperlich zusammenzulegen und die vielen Freunde und Weggefährten in die Eichengalerie des Schlosses Charlottenburg einzuladen. Nach der Begrüßung durch Professor Dr. Helmut Börsch-Supan holte Professor Sperlich zu einer Gratulatio auf M. Kühn aus, in deren Mittelpunkt die Saga von der Wiederherstellung des Charlottenburger Schlosses stand. Mit beredten Worten schilderte er ihren Kampf gegen die Hydra, aber auch das insgeheime Einverständnis aller Mitarbeiter: Wenn „Kühnchen" will, machen wir es! Zu den geistigen Ahnen und Wegbereitern Margarete Kuhns zählte er Leibniz, Voltaire und Humboldt. Schlüter, Lenne und Schinkel. Merkenswert ist woh! auch noch die Aussage Sperlichs, daß das Restaurieren nicht von den Restaurativen und das Konservieren nicht von den Konservativen besorgt wird. Professor Dr. Reiner Haussherr trug eine schwungvolle Laudatio auf Margarete Kühn vor. Er würdigte die in ihrer Person geschlagene Brücke von Kunsthistorie und Preußisch-Berliner Geschichte. Hatte sie 1945 die Vertretung des Direktors übernommen, so gilt der unter ihrer Leitung bis 1969 vollzogene Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses als eine bahnbrechende Leistung der deutschen Denkmalpflege nach dem Krieg. Es ist das Verdienst von Margarete Kühn, diesem Bauwerk das Schicksal des Berliner Stadtschlosses erspart zu haben. Hoch zu rühmen ist aber auch ihre Forschung, die sich vor allem mit Schinkel, Schlüter und dem Berliner Stadtschloß beschäftigt. In ihren kunsthistorischen Herausgeberschaften erweist sie sich als eine fachliche und moralische Autorität. Der stellvertretende Sprecher des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin, Professor Dr. Dieter Hertz-Eichenrode, hob in seiner Begründung der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Frau Professor Dr. M. Kühn hervor, daß der Fachbereich zum ersten Mal keinen Fachprofessor, zum ersten Mal eine Frau und mithin zum ersten Mal auch eine Berlinerin mit der Ehrenpromotion auszeichne. Er verlas die lateinisch gehaltene Ehrenurkunde und fand ebenso viel Beifall wie Bezirksbürgermeister Eckard Lindemann, der Frau Kühn den im Kanzleideutsch verfaßten Bürgerbrief von Charlottenburg verlieh. Dem Zuhörer kam der Gedanke, ob Frau Professor Kühn die mit diesem Bürgerbrief offerierten Dienste nicht auch schon in ihrer aktiven Tätigkeit hätte in Anspruch nehmen sollen. In ihrer Danksagung drückte Frau Professor Dr. h. c. Dr. Margarete Kühn die Freude über die Kontinuität zu ihrem Nachfolger Martin Sperlich aus, die sich auch in der Kontrapunktik moderner Kunst ergab. In einem Rekurs ging sie aus dem Stegreif auf die Historie und Bedeutung der brandenburgisch-preußischen Universitäten ein, von Frankfurt an der Oder (1506) über Duisburg (1652) bis zur Gelehrtenstadt Tangermünde (1677), Halle an der Saale (1694) und schließlich Berlin. Sehr eloquent war die Laudatio, die Professor Dr. Helmut Börsch-Supan auf seinen langjährigen Chef hielt, der aus dem Charlottenburger Schloß so etwas wie ein „Forum für Geschichte und Gegenwart" gemacht habe. Martin Sperlich, eine starke Persönlichkeit und ein anspruchsvoller Geist, sei durch unbequeme Leidenschaft und herkulische Energie ausgezeichnet. Seine Arbeit wandte sich vom Schloß Charlottenburg über das Jagdschloß Grunewald, die Pfaueninsel und Glienicke schließlich der Gartendenkmalpflege zu. Professor Börsch-Supan, der Martin Sperlich die Statur eines Helden der klassischen Tragödie zugestand, bezeichnete diesen als einen Vertreter der abtretenden Generation, die mehr vom Leben weiß, weil sie den Krieg als Erwachsener mitgemacht hat. Niemand wird innerlich widersprochen haben, als er Martin Sperlich ein großes Herz attestierte, das großer Liebe, großer Treue und großen Zornes fähig sei. Hier hakte Dr. Volker Hassemer, Senator für kulturelle Angelegenheiten, ein, der Martin Sperlich als einen eigenen Kopf mit harten Kanten bezeichnete. Frau Professor Kühn, die am Vormittag die ErnstReuter-Plakette in Silber aus der Hand des Regierenden Bürgermeisters Dr. Richard von Weizsäcker erhalten hatte, dankte er für den Mut zum Optimismus, den sie bewiesen und ausgestrahlt habe. Umrahmt wurde die Feierstunde von Musikstücken, die das Quantz-Ensemble Berlin unter Karl-Bernhard Sebon vortrug, der als Flötist Martin Sperlich eine „Elegie auf die wiederhergestellte Goldene Galerie" verehrungsvoll widmete. H. G. Sehultze-Bemdt

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Tagesordnung der Jahreshauptversammlung am 14. Juni 1984 1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes 2. Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer 3. Aussprache 4. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern 5. Verschiedenes Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind spätestens bis zum 21. Mai 1984 der Geschäftsstelle einzureichen. Um pünktliches Erscheinen wird gebeten.

119. Stiftungsfest Mit einem zünftigen Eisbeinessen im Restaurant „Hochschul-Brauerei" feierte der Verein in zeitlicher Nähe zu seinem Gründungstag das 119. Stiftungsfest. Da der Vorsitzende Dr. G. Kutzsch kurzfristig absagen mußte, oblag es dem Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, mit Ausführungen zum Thema „Berlin wie es ist - und trinkt" eine Brücke zur Historie zu schlagen und gleichzeitig auf die Dinge hinzuweisen, die für Kehle und Magen bereitstanden. SchB.

Studienfahrt 1984 des Vereins für die Geschichte Berlins nach Eutin Vorläufiges Programm Freitag, 7. September 1984 6.30 Uhr Abfahrt an der Berliner Bank, Hardenbergstraße 12.00 Uhr Mittagessen in Buchen 13.00 Uhr Besichtigung der Maschinenfabrik Otto Tuchenhagen in Buchen 16.30 Uhr Ausflug auf dem Großen Eutiner See mit „MS Freischütz", Führung: Verkehrsamtsleiter D. Frick, mit Kaffeetafel an Bord 18.15 Uhr Spaziergang um den Uklei-See, Führung: Oberförster Schlenzka 19.15 Uhr Gemeinsames Abendessen im Forsthaus Wüstenfelde am Uklei Sonnabend, 8. September 1984 9.00 Uhr Führung durch das Schloß Eutin (Gerhard Nauke, Vorsitzender des Verbandes zur Pflege und Förderung der Heimatkunde im Eutinischen e.V.) parallel Führung durch das Museum (Kreisdenkmalpfleger Dr. K.-D. Hahn) anschließend Stadtrundgang mit Besichtigung der St.-Michaels-Kirche (Propst Dr. Dreyer), Orgel Vorspiel; anschließend Empfang im Rathaus durch Bürgermeister Knutzen 12.30 Uhr Gemeinsames Mittagessen im Fissauer Fährhaus 14.00 Uhr Exkursion durch Ostholstein zur romanischen Kirche Altenkrempe (Führung: Pastor Tillmann), zum Herrenhaus Hasselburg (mit Vorspiel Dr. Beurmann auf historischen Musikinstrumenten) und zum Kloster Cismar in Grömitz; zwischendurch Kaffeetafel im Landhaus Petersen in Bliesdorf 19.00 Uhr Gemeinsames Abendessen in den Schloßterrassen Eutin; anschließend kleiner Eutiner Kneipenbummel (fakultativ) Sonntag, 9. September 1984 9.00 Uhr Aufbruch, Besichtigung des Max-Planck-Instituts für Limnologie Plön (Professor Dr. J. Overbeck) mit Exkursion zum Plußsee 11.00 Uhr Besichtigung der Kirche in Bosau (Führung: Pastor Ehlers) 13.00 Uhr Mittagessen in der Raststätte Nord am Grenzübergang Gudow ca. 21.00 Uhr Heimkehr 202

Zur Übernachtung stehen im Hotel Kellersee, 2427 Malente, genügend Zimmer zur Verfügung. Der Übernachtungspreis beläuft sich einschließlich Frühstück pro Person und Nacht auf 46 DM, Einzelzimmer 58 DM. Es können jetzt schon unverbindliche Anmeldungen an den Schriftführer, Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, gerichtet werden. Änderungen und Ergänzungen zum Programm sowie das Teilnehmerhonorar werden im Juniheft der „Mitteilungen" abgedruckt.

Aus dem Mitgliederkreis Unser Mitglied Dr. Richard von Weizsäcker, ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin, ist als der 20. Träger mit dem Theodor-Heuss-Preis, ausgezeichnet worden. Der Ehrenvorsitzende der Stiftung Theodor-Heuss-Preis, Altbundespräsident Walter Scheel, bezeichnete in seiner Laudatio Richard von Weizsäcker als den „toleranten Liberalen", der wisse, daß kein Mensch allein im Besitz der Wahrheit ist, daß auch die Argumente der anderen zu beachten seien, vor allem aber der Mensch zu achten sei. * Am 5. Januar 1984 ist Frau Jenny Beckert geb. Zander im Alter von 80 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Sie ist in der Brunnenstraße aufgewachsen, wo ihre Eltern ein Hotel besaßen. Mehr als ein halbes Jahrhundert wohnte sie in der Kamminer Straße 22. Von Beruf Verwaltungsangestellte, gehörte sie viele Jahre der CDU an und war in einer Reihe von Ehrenämtern tätig, so auch der Gewerkschaft ÖTV. Seit 1970 war sie auch Mitglied unseres Vereins. Kurz vor ihrem Hinscheiden erlebte sie, schon im Krankenhaus, noch eine große Freude, als ihr das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen wurde. Mit ihrem wachen Interesse und ihrer charakteristischen Stimme werden wir Frau Jenny Beckert, die so vielen Veranstaltungen beiwohnte und an Exkursionen teilnahm, in lebendiger Erinnerung behalten. SchB. * Bundespräsident Karl Carstens hat dem im Dezember 1983 aus dem Amt geschiedenen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, das Großkreuz des Bundesverdienstordens verliehen. SchB.

Franz Berndal verstorben Am 28. September 1983 ist Franz Berndal, Schauspieler und Schriftsteller, im 85. Lebensjahr in seiner Vaterstadt Berlin verstorben. Das Künstlerblut war väterliches Erbteil, seinem Großvater, dem Königlichen Hofschauspieler Carl Gustav Berndal, widmete der Verstorbene vielfältige Betrachtungen. Doch der junge Franz Berndal mußte nach dem Schulabschluß am Askanischen Gymnasium zunächst eine Banklehre absolvieren und seinen Wunsch, die Schauspiellaufbahn einzuschlagen, zurückstellen, bis er nach dem Krieg, den er als Verwaltungsoffizier mitgemacht hatte, aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkehrte. An verschiedenen Berliner Bühnen wirkte er von 1947 bis 1966, war daneben publizistisch tätig und schrieb auch für den Rundfunk. Immer schon hatte er sich in Gedichten zu den Problemen des Menschen und unserer Zeit geäußert, und die Reihe seiner Buchtitel ist lang. Der 1979 erschienene Lyrikauswahlband „Kröne Dein Leben" war die achtzehnte seiner Veröffentlichungen in Buchform. Immer wieder kreisen seine Gedanken um Berlin, was auch aus den Titeln seiner Lyrikbände „Berliner Balladen", „Herz für Berlin" und zuletzt „Wiener Impressionen eines Berliners" hervorgeht. 25 seiner Gedichte wurden von so namhaften Komponisten wie Olaf Bienert und Alexander Ecklebe vertont. 203

Einer noch größeren Öffentlichkeit wurde Franz Berndal durch seine Vorträge bekannt, die er vor einer Vielzahl interessierter Gremien über Berliner Theatergeschichte und Kulturhistorie ganz allgemein zu Gehör brachte. Hier war er in seinem Element und konnte sein geschichtliches Verständnis, das auch aus seinen Balladen spricht, mit seiner Gabe bewähren, seine Ideen und Gefühle anderen Menschen nahezubringen. Der erste von insgesamt sechs Literaturpreisen wurde dem Berliner Poeten Franz Berndal schon 1928 verliehen, die Zahl seiner sonstigen Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften ist Legion, seit 1977 ist sein Name auch im „Kürschner" verzeichnet. Zwei Jahrzehnte lang diente er in Ehrenämtern der Kirche, so als Kirchenältester, Kreis-Synodaler und als Archiwerwalter des Kirchenkreises. 51 Jahre lang war er mit seiner Frau Gertrud geborene Winguth bis zu ihrem Tode in einer Ehe verbunden, im Sommer 1983 heiratete er seine langjährige Betreuerin M. Eggemann, die sich des Menschen und Werkes Franz Berndais angenommen hatte. Bei vielen Gelegenheiten tauchte sein Charakterkopf bei den Veranstaltungen unseres Vereins auf. Wenn wir uns recht erinnern, war ein Gang über den Friedhof am Halleschen Tor die letzte Begegnung im Kreise des Vereins. Wir ehren unser langjähriges verdienstvolles Mitglied, indem wir aus seinem Gedanken zum Ewigkeitssonntag zitieren: „Am andern Ufer fließen keine Tränen, / wir sehn das Licht, da schweigt die Erdennot, / am andern Ufer - stillt sich alles Sehnen / beim großen Siege - über unsern Tod." H. G. Schultze-Berndt

Buchbesprechungen Günther W. Geliermann: Die Armee Wenck - Hitlers letzte Hoffnung. Aufstellung, Einsatz und Ende der 12. deutschen Armee im Frühjahr 1945. Mit einer Einführung von Professor Dr. Andreas Hillgruber und einem Vorwort von Oberst i. G. a. D. Günter Reichhelm, Bernard & Graefe Verlag, Koblenz 1984, 211 Seiten, 49 Fotos, 5 Kartenskizzen, 18 Dokumente (Faksimiledrucke), Tabellen, Übersichten, Leinen, 48 DM, ISBN 3-7637-5438-5. Die V-Waffen (lauthals angekündigt) und die Rundstedt-Offensive (insgeheim vorbereitet) haben zwar Freund und Feind das Herz nicht stocken lassen, waren aber Realitäten des letzten Kriegsjahres. Was aber hatte es mit der 12. Armee auf sich, auf die man im Berlin der letzten Kriegswochen alle Hoffnungen setzte, sofern man den Nachrichten der letzten Tageszeitung „Panzerbär" Glauben schenkte? Am 22. April 1945 wurde die Einschließung der Stadt nahezu vollzogen, in Frohnau wurde gekämpft. Am selben Tag entschied sich Hitler dafür, in Berlin zu bleiben und dem Vorschlag Jodls zu folgen, die gesamte Front gegen die Amerikaner umzudrehen und die Truppen zum Entsatz der Reichshauptstadt einzusetzen. Die „Armee Wenck" war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, zusammengesetzt aus RAD-Divisionen, Fahnenjunkern, der 1. Panzervernichtungsbrigade Hitlerjugend, einem Freikorps Adolf Hitler, Verbänden aus Magenkranken usw., die zu Divisionen mit so klingenden Namen wie Scharnhorst und Schill. Theodor Körner und Friedrich Ludwig Jahn zusammengefaßt waren. Es erscheint bemerkenswert, daß selbst bei diesen inhomogenen Truppenkörpern das Überlaufen zu den Amerikanern nicht dem befohlenen Kampf gegen die Sowjets vorgezogen wurde. Der letzte deutsche Angriff des Zweiten Weltkrieges begann am 26. April 1945. Er hatte das Ziel, in einem Rettungswerk u. a. die Reste der 9. Armee, die Verwundeten aus den Lazaretten und die Flüchtlinge in den Westen zu führen, nachdem der Entsatz von Berlin nicht mehr auszuführen und lediglich eine Verbindung zur Garnison Potsdam herzustellen war. Am 29. April sandte Hitler an Jodl den berühmten Funkspruch, in dem es heißt „1.) Wo Spitze Wenck? 2.) Wann tritt er an?" Die Antwort Keitels vom folgenden Tage „12. Armee kann Angriff auf Berlin nicht fortsetzen" löste den Selbstmord Hitlers aus. Mangelhaft ausgebildet, unzureichend motorisiert, fast ohne schwere Waffen und ohne jegliche Unterstützung durch Panzerverbände, Luftwaffe und Luftabwehr, wurde dieser letzte größere deutsche Angriff mit unerhörter Bravour geführt, der das gesteckte Ziel, die Besatzung Potsdams, die Verwundeten und die Reste der 9. Armee in Sicherheit zu bringen, erreichte und den Rückzug auf die Elbe in voller Ordnung einleitete. Ob nicht wenigstens kurzfristig ein Durchbruch nach Berlin möglich gewesen wäre, ist heute Spekulation. Die Divisionen der Armee Wenck bestanden aus den jüngsten, aber zu jener Zeit besten Soldaten der Wehrmacht. Der Autor, dessen Dissertation die Grundlage dieses Buches bildete, ist Historiker und Diplompolitologe, sechs Jahre lang war er Bezirksstadtrat für Volksbildung in Schöneberg. In nüchterner Sprache schildert er 204

die sehr kurzlebige Geschichte der 12. Armee von ihrer Aufstellung angesichts der militärischen Lage des Reiches Anfang April 1945 über den Kampf gegen die Amerikaner an der Elbe, die Änderung ihres operativen Auftrags sowie den Rückzug auf den Elbe-Brückenkopf. Der Übergang über die Elbe und die dann immer noch ungeklärte Auslieferung von Soldaten der 12. Armee an die Sowjets bilden den Schluß dieser Arbeit, aus der bei aller Sachlichkeit die Dramatik des Geschehens und jene Haltung der Soldaten spricht, die man in allen Ländern außerhalb Deutschlands heute Heldentum nennen würde. H. G. Schultze-Berndt Adalbert G. Schramm: Also, Nee... Was man so hin und wieder in Berlin denkt - liest - hört und sieht. Europa-Union-Verlag, Bonn 1983, 32 Seiten, illustriert, Hardcover, 9,90 DM, ISBN 3-7713-0205-6. Auch ein Verlag, der auf dem Gebiet der Europaliteratur seine Meriten hat, kann an Berlinbüchern nicht vorübergehen. Das hier vorgelegte kleine Büchlein ist sogar in der Edition Berolina dieses Verlages erschienen. Es stellt eine Reihe von Illustrationen des Autors zusammen, die an die Kritzeleien der Berliner Rangen auf den Hinterhöfen erinnern. Der Begleittext ist zu kurz, als daß man die Behauptung des Verlages auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen könnte, Albert G. Schramm sei „der letzte lebende Schriftsteller, der voll im Dialekt seiner Heimatstadt schreibt." Die folgende kleine Geschichte „Herrenpartie" möge für den Berliner Humor des ganzen Bandes stehen: „Wat hat Karl allet mitjebracht?" „Zwölf Flaschen Wein, vier Flaschen Korn, fuffzich Flaschen Bier, Stücka zwei Flaschen Mampe und zwee Schrippen." „Siehste, det es een juter Mensch, an de Vöjel hat a ooch jedacht." H. G. Schultze-Berndt Wedding - Ein Bezirk von Berlin. Werner Kohn (Fotos), Richard Schneider (Text), Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1983, 84 Seiten, 65 Fotos in Farbe und im Duoton, 18 historische Abbildungen, Format 24 X 23 cm, Leinen, mit farbigem Schutzumschlag, 29,80 DM. Der Wedding war immer schon mit Berlin verbunden, bevor er zusammen mit dem Gesundbrunnen durch eine Königliche Kabinettsorder vom 28. Januar 1860 zu einem Stadtbezirk vereinigt und nach Berlin eingemeindet wurde. Der Gesundbrunnen unter seinem späteren Namen „Luisenbad" versiegte 1882 als Folge der auch damals schon vorgenommenen Ausschachtungen für Bauarbeiten. Zum Zeitpunkt der Eingemeindung hatte der neue Stadtbezirk 14 692 Einwohner, 1918 mehr als 350 000,1952 noch 242 000, und 1982 lebten nur noch etwa 154000 Menschen im Wedding, davon 20000 Türken. Die Geschichte der Industrieansiedlungen im Wedding liest sich wie ein Nekrolog, denkt man etwa an so klangvolle Namen wie Schwartzkopff und Rathenau (AEG), an die Brüder Wittler oder an den Braumeister Groterjan, wie ja auch die Hochschul-Brauerei geschlossen werden mußte. Nur Schering ist noch übrig geblieben. Aus der zuverlässigen Feder des SFB-Redakteurs Dr. Richard Schneider wird man auf zehn einführenden Seiten mit Historie und Gegenwart des Weddings vertraut gemacht. Der Fotograf Werner Kohn stammt wie der neue Direktor der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten aus Bamberg. Bei der Lektüre liest man zwischen den Zeilen viele Dinge, die einem alten Weddinger durch den Kopf gehen und ans Herz gewachsen sind. Hierher gehören die heute noch deutlichen Unterschiede zwischen den Stadtteilen Gesundbrunnen und Wedding, die Nachkriegsgeschichte der Brunnenstraße, aber auch der Müllerstraße als Einkaufs-Dorados des benachbarten Ost-Berlins bis zum Schließen des Kaufhauses Hertie in der Chausseestraße, man denkt an den Marsch der Henningsdorfer Arbeiter am 17. Juni 1953, man wünschte sich Ausführungen (nicht nur als Bildlegende) über den Volkspark Rehberge (und über die „Rehberger" des 19. Jahrhunderts) wie auch über den Schillerpark ... Was können Bild und Text mehr oder Besseres hervorrufen als solche weiterführenden Gedanken?! Der Band, von Frau Bezirksbürgermeister Erika Hess als Erinnerungsgabe des Bezirks gern überreicht, erfüllt auch damit seinen Zweck wie die vorangegangenen Bände über Zehlendorf und Steglitz. H. G. Schultze-Berndt Heinz Knobloch: Berliner Fenster. Feuilletons. Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig, broschiert, 237 Seiten, 7,50 M. Heinz Knobloch, der in jüngerer Zeit mit Lesungen auch in unserem Teil Berlins in Erscheinung getreten ist, legt hier in seinem zehnten Sammelband Feuilletons aus den Jahren 1974 bis 1980 vor. Der Titel erinnert an eine Montagssendung des SFB im III. Fernsehprogramm. Vor allem hat es dem Autor der Bezirk Pankow angetan, aber in eindringlicher Form würdigt er auch das Schicksal des Jüdischen 205

Friedhofs Weißensee und geht auf eine Reihe von Museen ein. Im Kapitel „Die Sprache" behandelt er eine Schrift des vor einiger Zeit verstorbenen Dr. Heinz Gebhardt, der sich seit 1931 nicht nur mit Glaßbrenners Berlinisch beschäftigte. Glaßbrenners Heft „1844 im Berliner Guckkasten", bei Tauchnitzin Leipzig, „also im Ausland", gedruckt, ist Gegenstand einer gesonderten Betrachtung. Glaßbrenner bezeichnet sich dort „als ausgestoßnes Mitglied des Mäßigkeitsvereines zu Berlin und Mensch". H. Knobloch rührt an ein Tabu (S. 128), wenn er an die gemeinsame Parade der Wehrmacht und der Roten Armee nach der Niederschlagung Polens erinnert, und er ist kritisch, wenn er beanstandet, daß man nicht einmal zum 250. Geburtstag Daniel Chodowieckis dessen Grab auf dem französischen Gemeindefriedhof geschmückt hat. Andererseits läßt er Heinrich von Kleist nicht Gerechtigkeit zuteil werden, wenn er unterschlägt, welche Inschrift der jetzige Grabstein trägt, nachdem die ursprüngliche Marmorplatte von 1861 seit 1936 im Magazin des Märkischen Museums liegt. Geradezu tragikomische Züge hat die Schilderung des Besuchs von Fontanes Grab zu dessen 80. Todestag, der ihm nach 21 Telefongesprächen genehmigt wurde, mit der Fotogenehmigung des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Ob die drei Urenkelinnen Fontanes tatsächlich „im Ausland" leben, darf allerdings mit Fug und Recht gefragt werden. Der Verfasser mußte wohl der Hilfe eines Lektors/Korrektors entraten, sonst wären ihm nicht so auffallende Fehler bei Eigennamen durchgegangen wie Leibnitz, Baedecker oder Jenny v. Westfalen, die als Westphalen in die Ehe mit Marx ging. Man stolpert auch über die Gebrüder Grimm und Humboldt, die doch keine Firma, sondern schlichte Brüder sind. Um deutsche geographische Bezeichnungen macht H. Knobloch auch dort einen großen Bogen, wo er etwa beim Plattensee statt Balaton keine Repressionen erwarten muß. Das Papier muß nicht von bester Qualität, das Buch aber so gebunden sein, daß man die Zeilenenden der linken Seite und die Anfänge der rechten Seite lesen kann. Im Zusammenhang mit dem unzugänglichen Invalidenfriedhof in der Scharnhorststraße stellt der Autor die utopische Frage etwa im Jahre 2679, „wieso die Vorfahren ihre teuren Toten ausgerechnet in unmittelbarer Nähe ihrer Staatsgrenze beerdigten". Der Rezensent ist sicher nicht der einzige Leser Heinz Knoblochs, der hofft, daß in 700 Jahren die „Staatsgrenze" mitten durch eine Stadt nur noch als ein Treppenwitz der Weltgeschichte angesehen wird. H. G. Schultze-Berndt Was nun, Berlin. Beatrice Kunz (Fotos) und Eva Raith (Text). Jonas Verlag für Kunst und Literatur GmbH, Marburg 1982, broschiert 18 DM. Eigenwillige Texte sind ebenso ausdrucksstarken Fotos gegenübergestellt: „in einer zerrissenen Stadt / in einem land mit brächen / in einer zeit ohne worte... die gespräche sind monologe geworden." Berlin wird man schwerlich auf den ersten Blick erkennen, wenn einem nicht Monumentalbauten den Weg weisen, eher das, was man früher Weltschmerz und heute Tristesse nennt: „manchmal wünsch ich mir / daß die sonne (mich wärmt), immer weiter / so lange ich lebe." Man verspürt auch nichts mehr von Jugendrevolte, eher von einer den Älteren unverständlichen Resignation. Ein Foto des Charlottenburger Schlosses wird von dem folgenden Text begleitet: „wozu braucht man ein schloß heutzutage / wo die zukunft abhanden gekommen ist / wo die Vergangenheit uns schon längst eingeholt hat / wo du die gegenwart nur noch ersäufen kannst." H. G. Schultze-Berndt

Herbert Hoffmann: Berlin vor fünfzig Jahren. Ein Fotoreporter sieht seine Stadt und ihre Menschen. Rembrandt Verlag Berlin, 64 Seiten, 80 Abbildungen, Leinen, 29,80 DM. Herbert Hoffmann, auch der „Zille mit der Kamera" genannt, weil man damals noch nichts von Zille als hervorragendem Fotografen wußte, ist so alt wie unser Jahrhundert (geboren am 27. Juli 1899). Er hat sich weniger der feierlichen Anlässe als des Berliner Alltags angenommen, wenn er „durch die Gegend, durch das Scheunen viertel, durch Neukölln" wanderte und Schnappschüsse machte. „Sechs bis acht Stunden bin ich da manchmal gelaufen, immer mit offenen Augen." Da zu seiner Zeit manche Zeitungen dreimal täglich erschienen, mußten die Redaktionen immer mit neuestem Bildmaterial versorgt werden. Die in diesem Band getroffene Auswahl verzichtet auf die damaligen politischen oder kulturellen Aktualitäten zugunsten der, wie es im Vorwort heißt, Darstellung des Lebens selbst. Ergänzend wurden einige Aufnahmen aus dem Archiv der Landesbildstelle eingegliedert. Wünschenswert wäre es gewesen, auch die Jahreszahlen anzugeben, wo sich dies bewirken ließ, weil die Fotos zwischen 1918 und 1933 entstanden sind. Nichts kennzeichnet die Entwicklung der Weimarer Republik besser als die beiden hier zitierten Inschriften. Das erste Bild „So begann die erste deutsche Republik" zeigt eine Straßendemonstration, auf der ein 206

Plakat folgenden Inhalts mitgeführt wird: „Ja, es ist ein mächtig Tagen auf der Welt wie nie zuvor, / unsichtbare Schwingen tragen lichtwärts jeden Geist empor. / Und Gedanken, nie gedacht noch, brechen sich auf Erden Bahn, / da selbst, wo sich tiefe Nacht noch jüngst gebreitet, flieht der Wahn." Und ganz am Schluß liest man auf einem Transparent: „Mit Hitler gegen den RüstungsWahnsinn der Welt!" H. G. Schultze-Bemdt Georg Fink: Mich hungert. Roman. Ullstein Verlag, Frankfurt - Berlin - Wien 1980,190 Seiten, 4,80 DM. Georg Fink als Autor soll ein Pseudonym, der tatsächliche Verfasser dieses autobiographischen Romans über ein Proletarierschicksal vom Wedding bis heute unbekannt sein. Der Held der Geschichte verbringt seine Jugendjahre noch im Kaiserreich, kann dank der Nachhilfe eines reichen Gönners aus dem Leben im Schatten heraustreten, um endlich in den „goldenen zwanziger Jahren" als professioneller Pantomime im Licht der Bühnen des Berliner Westens zu stehen. Alle essentiellen Kompositionselemente eines Romans aus vergangenen Zeiten des Berliner Nordens finden sich beisammen: der arbeitslose versoffene Vater, die als Waschfrau ums tägliche Brot für drei Kinder kämpfende Mutter, Hinterhof, Einzimmerwohnung, Dirnentragödie, Unterwelt, Knast. Die Darstellung ist recht eindrucksvoll, auch wenn sie gelegentlich etwas ans Artifizielle streift. Gerhard Kutzsch

Gerhard Kühn: Heiügensee-Chronik (1300-1781), Bd. II 1782-1848, Bd. III 1851-1918. Hrsg. von der Ev. Kirchengemeinde Berlin-Heiligensee 1977, 1979 und 1982. Von inniger Heimatliebe zum Dorf Heiligensee und zu seiner fürsorglich betreuten Kirchengemeinde beseelt, hat Pfarrer Kühn als Chronist einen großartigen Beitrag zum Geschichtsverständnis für unsere Mark geleistet. Leitfaden war ihm der Kampf des bescheidenen Dörfleins - geschützt durch Havel und Sümpfe - um das Überleben bis in die heutige Zeit. Als Höhepunkte in der Geschichte werden die Bedeutung der Fähre für die Tausenden von Pilgern nach Wilsnack und der Bau der Heiligenseer Straßenbahn aufgezeigt. Die Zusammenfassung der anfänglich in den Monatsheften der Gemeinde erschienenen historischen Artikel aus der Zeit germanischer Siedlung am Heiligen See (2000 v. Chr.) bis 1300 n. Chr. zum ersten Chronikheft hat sicherlich ebenso große Freude bereitet wie die Folgehefte. Sie sind eine gute Quelle für Heimat- und Familienforscher. Mit bewundernswerter Lebendigkeit und dem ihm eigenen Humor schildert Pfarrer Kühn die Schicksale der Fischer- und Bauernfamilien sowie kirchliche Begebenheiten anhand präziser Unterlagen. Alle Leser, die sich mit den Menschen unserer märkischen Dörfer verbunden fühlen, können schon auf die nächsten Bändchen gespannt sein, die Gerhard Kühn nun im wohlverdienten Ruhestund schreibt. Fritz Bunsas

Im I. Vierteljahr 1984 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Alte Pankgrafen-Vereinigung von 1381 zu Berlin bey Wedding a. d. Panke Paulsborner Straße 88, 1000 Berlin 31 Tel. 8 9120 76 (Weingartner) Jürgen Fischer, Fabrikant Beymestraße 18, 1000 Berlin 41 Tel. 7 9133 80 (Ehepaar Franz) Brigitte Flößner, Lehrerin Manfred-von-Richthofen-Straße 8, 1000 Berlin 42 Tel. 7863328 (Schneider) Dr. Eckart Henning, M. A. Lückhoffstraße 33, 1000 Berlin 38 Tel. 8038805 (Dr. Kutzsch) Otto Kanold, Rentner Beerenstraße 49 a, 1000 Berlin 37 Tel. 8 0150 30 (Schriftführer)

Gerald Linke, stud. phil. Fritzi-Massary-Straße 4,1000 Berlin 44 Tel. 6851842 Ortrud Rücker, Bibliothekarin Wilmersdorfer Straße 165,1000 Berlin 10 Tel. 3 3140 05 (Schriftführer) Helmut Schröder, kaufmännischer Angestellter Friedenstraße 19, 8012 Ottobrunn Tel.(089)60958 79 Weingartner, Alois Joachim, Hausverwaltung Courbierestraße 8, 1000 Berlin 30 Tel. 243636 Jörn Werther, Arzt Claudiusstraße 12, 1000 Berlin 21 Tel. 3922278 Roderich Wester, Brandschutzberater Heerstraße 444,1000 Berlin 19 Tel. 3634135 (Bunsas)

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Veranstaltungen im II. Quartal 1984 1. Donnerstag, den 26. April 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer: „Die Berliner Siegesallee - einst und jetzt. Teil II". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Donnerstag, den 10. Mai 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Bemerkungen zur Baugeschichte des ehemaligen Zeughauses in der Dorotheenstadt". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Donnerstag, den 24. Mai 1984, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Pfarrer Dr. Hermann F. W. Kuhlow: „Die Einführung der lutherischen Reformation in der Kurmark Brandenburg". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Donnerstag, den 14. Juni 1984, 19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung unter Nachrichten abgedruckt. 5. Sonntag, den 24. Juni 1984,10.00 Uhr: „Von Forstsekretär Burgsdorff zu Bankier Schlieper - Tegel: Dorf, See, Forst, Fließ. Eine frühsommerliche Begehung". Leitung Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt U-Bhf. Tegel, Ausgang Nord-West vor dem Geschäft von Julius Schönborn. Fahrverbindungen: U-Bahn, Busse 13,14,15, 20. Rundkurs.

Dieser Ausgabe der „Mitteilungen" liegt ein Prospekt des Berliner Verlages Arno Spitz bei. Wir bitten unsere Leser um freundliche Beachtung.

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Lieselotte Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 32328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berün 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 343022 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der .Schriftleitung. 208

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*• MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 80. Jahrgang

Heft 3

Juli 1984

Ein Transport verhafteter Bauernfänger in Berlin. Nach einer Skizze von G. Guthknecht

Die Bauernfänger von Berlin Unsere Illustration stellt den Transport einer Anzahl von Berliner Bauernfängern durch Polizeimannschaften dar. Diese Schwindlergattung ist schon ziemlich allgemein bekannt und erfreut sich eines gewissen Rufs in der Welt. Kein vorsichtiger Vater in der Provinz, der nicht seinem Sohn bei der Abreise nach der preußischen Hauptstadt die Warnung mitgäbe: „Nimm dich vor den Bauernfängern in Berlin in acht!" Der Mann hat gut reden: aber käme er, wie sein Sohn, als unerfahrener Kleinstädter nach Berlin, so wäre es fraglich, ob er auch nach seinen Worten zu tun vermöchte. Einem Bauernfänger geht man schwer aus dem Wege, wenn man ihm gut für ein Opfer erscheint, und das Taschenzuhalten nutzt nicht viel. Besser schon, daß man es macht wie jener Witzbold, der einer bauernfängerischen Freundlichkeit gleich damit ein Ende machte, daß er sich in vertraulicher Art selbst als einen von dieser Sorte bezeichnete. Was ist denn auch natürlicher, als daß der Fremde, der aus seinem Dorf oder Städtchen zum ersten Mal nach Berlin Gekommene Unter den Linden langsam spazierengeht, alles neugierig in dieser Prachtstraße anschaut, vor dem Denkmal Friedrichs stehenbleibt und schüchtern dann auf die Freitreppe zum Museum aufsteigt? Wie er da in Sinnen und Betrachten versunken steht, kommt ein freundlicher Mensch an ihn heran, ganz seinesgleichen und Standes, wie es scheint, spielt selbst den Fremden oder macht sich durch Auskunft und harmlose Gefälligkeit liebenswürdig. Der Fremde sieht nicht ein, weshalb er diesem freundlichen Mann mißtrauen soll. Er findet auch nichts Böses darin, daß er schließlich, nachdem sie beide sich Berlin besehen, mit diesem Begleiter ein Glas Bier trinken geht. Wenn man da lustige Gesellschaft findet, die gerade ein Spielchen macht, so ist dies immer noch nicht gefährlich, und wenn der biedere Fremde sich endlich daran beteiligt, so ist es seine Sache. Geht er nach einer Stunde freilich ausgebeutelt von dannen, so weiß er recht gut, daß er mit Bauernfängern zusammen gewesen, die ihn im Kümmelblättchen-Spiel, so eine Art Hokus-Pokus mit Kartenerraten, gründlich übers Ohr gehauen haben. Oder das fremde Dienstmädchen kommt auf dem Bahnhof an und trifft da zufällig mit einer freundlichen Frau zusammen, die das lebhafteste Interesse daran nimmt, ihr einen Dienst zu verschaffen, die ihr Unterkommen besorgt und so gefällig gegen sie ist, daß das arme Ding aus soviel Menschenfreundlichkeit erst klug wird, wenn sie, enttäuscht in allem und verlassen, um ihre abgeschwindelte Barschaft weint. Bauernfänger sind besondere Spitzbubentypen Berlins, gefährliche Menschenfreunde, welche sich das Vertrauen Unerfahrener erwerben und es mißbrauchen. Sie leben von der Gutmütigkeit der Menschen nach dem Sprichwort, daß die Dummen nicht alle werden. Gaunerei solcher Art wächst auf dem Sumpfboden jeder großen Stadt; aber der Berliner Charakter, schlau und dreist, hat sie in ein ganz bestimmtes gemütliches System gebracht, wie es anderwärts nicht in solchem Maße der Fall ist. Es ist eine Art Krieg gegen die Einfalt, ein Fallenstellen für Leichtgläubige, als halte sich der Bauernfänger für berufen, seinen Witz auf anderer Kosten zu üben und durch diese Schlauheit den Unerfahrenen schnell mit dem Geist der Zivilisation und den Gefahren der Großstadt bekannt zu machen. Es hat etwas Komisches, von Bauernfängern ausgebeutelt worden zu sein. Aber die Polizei läßt diesen Spaß nicht gelten, und kann sie ein solches Nest aufheben, wo die provinzielle Unschuld ihr Lehrgeld an die Verderbtheit der Großstadt bezahlen muß, so freut sie sich nicht wenig. Es kommt leider selten genug vor, denn der Gerupfte schämt sich nachher, seine Leichtsinnigkeit einzugestehen und die liebe Gesellschaft des Kümmelblättchens zu denunzieren, und diese selbst wechselt ihren Gastwirt, ihren Schankkeller so oft, als sie sich ein Opfer geholt hat. Es war ein unglücklicher Sonntag für jene Bauernfängergesellschaft, welche unser Zeichner auf ihrem Transport nach dem Arrest abgenommen hat. Bei der Razzia, welche an diesem Tage, am lichten Mittag, die wohlunterrichtete 210

Kriminalpolizei in einem auch als Diebesherberge längst bekannten Keller abhielt,fielenzehn Männer und zwei Frauen in ihre Hände, deren Abführung natürlich den Zusammenlauf einer großen Volksmenge zur Folge hatte. Solch ein ganzes Sortiment von Bauernfängern sieht man nicht alle Tage, und alle Welt freut sich, wenn auf eine Zeitlang ein paar weniger arbeiten. Aber sie werden darum ebensowenig „alle" wie ihre Opfer. Diese Industrie ist, wie gesagt, erklärlich in einer großen Stadt wie Berlin. Sie bildet nur einen der Auswüchse, welche die unvermeidliche Demoralisation der massenhaft zusammengedrängten Gesellschaft hier hervorgebracht hat. Berlin hat in der letzten Zeit nicht nur dadurch Anlaß zu sehr stark in die Öffentlichkeit gedrungenen Klagen gegeben. Seine überhandnehmende Prostitution, mit welcher die Bauernfängerei und die Zuhälter- oder sogenannte Louiswirtschaft in engster Verbindung stehen, ist in den elegantesten Stadtvierteln ein Ärgernis geworden, dem die Polizei nicht hinreichend Abhilfe zu gewähren vermag. Die nächtliche Sicherheit läßt außerordentlich viel zu wünschen übrig, und wenn eine Zunft Londoner Garotters sich noch nicht gebildet hat, so hätte sie sich doch bei dem Mangel an Überwachung der Straßen bei Nacht recht gut schon konstituieren können. Von Zeit zu Zeit macht zwar die Polizei einen Feldzug gegen das verdächtige Gesindel, welches in den berüchtigten Kellern haust, und jetzt ist nun auch die Sicherheitsmannschaft vermehrt und besser zum Nachtdienst organisiert worden; aber dies alles kann die Gebrechen nicht zur Genüge beseitigen. Liegt es teilweise daran, daß es dem militärischen Schutzmann und Nachtwächter mehr auf den kleinlichen Diensteifer ankommt und der einzelne sich plagt, ohne dem Allgemeinen zu nützen, so ist doch die Hauptquelle dieser Verderbnis in dem Zudrang aller faulen Elemente zu suchen, die sich in Berlin wie in einem großen Reservoir sammeln, und denen die unselige Berliner Häusereinrichtung mit den Kellern, Hintergebäuden, vier und fünf Stockwerken, Gelegenheit gibt, sich auch in den feinsten Vierteln und in vielen der elegantesten Häuser einzunisten, wodurch selbstverständlich eine Überwachung derselben ohne die schreiendsten Mißgriffe der Behörden und anstößigste Behelligung friedlicher Bürger nicht möglich ist. Es ist in neuster Zeit eifrig darauf Bedacht genommen worden, diesem mit dem Wachstum der Einwohnerzahl sich immer mehr ausbreitenden Unwesen Einhalt zu tun. Wie weit es gelingen wird, den Augiasstall der Metropole von dem sozialen Schmutz zu säubern und das überhandnehmende Proletariat einzuschränken, bleibt abzuwarten. (Eine Reportage der Illustrirten Zeitung, Leipzig, vom 16. März 1872)

Das Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald Markstein der Entwicklung des Sportstättenbaus in Deutschland

Von Thomas Schmidt Alsrichtungweisendfür den deutschen Sportstättenbau gilt das von dem Berliner Architekten und Geheimen Baurat Dr.-Ing. h. c. Otto March (1845-1913) vor 70 Jahren errichtete und heute in Vergessenheit geratene erste Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald. Es war Vorbild vieler europäischer und deutscher Anlagen. In Deutschland entwickelten sich neue Baugedanken fort. Es entstanden die sogenannten Sportparks: Es handelt sich hier um SpezialStadien, die man in einem Sportpark zusammenfaßte. Nach 70 Jahren Sportgeschichte kann der Bedarf an derartigen Sportparks in der Bundesrepublik als gedeckt angesehen werden.1 Dies gibt Anlaß, 211

das erste Bauwerk dieser Epoche und einige daraufhin entstandene Anlagen aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Berliner und deutschsprachigen Raum vorzustellen. Das Deutsche Stadion Die Vorbereitungen für den Bau des Deutschen Stadions gehen zurück auf den 1904 gegründeten „Deutschen Reichsausschuß für Olympische Spiele" (DRA). Dieser Ausschuß beschloß 1906, angeregt durch einen Besuch im Panathenäischen Stadion in Athen (erste Olympiade 1896), auf der von Otto March projektierten Pferderennbahn Berlin-Grunewald2 des Berliner Reitervereins Union Club, ein Olympiastadion für die ursprünglich für das Jahr 1912 in Berlin vorgesehenen Spiele zu errichten.3 Ziel der Planung war es, möglichst viele Wettkampfeinrichtungen in einer Arena zu integrieren (im Gegensatz zu heute) und das Bauwerk unter Einbeziehung der natürlichen Landschaft als Stätte nationaler Bildhauerkunst zu repräsentieren. Der Name „Das Deutsche Stadion" entstand in Verbindung mit dem Vorhaben, eine Anlage für nationale Kampfspiele und nationale Kunst4 zu schaffen und möglichst allen Bevölkerungsschichten ganzjährig die Möglichkeit zum Ausgleichs- und Leistungssport zu bieten. Finanzielle Schwierigkeiten der Stadt Berlin erlaubten jedoch nicht die Fertigstellung dieser Bauanlage für die Olympiade im Jahr 1912. Die Spiele wurden deshalb erst für das Jahr 1916 an Berlin vergeben, als feststand, daß die Finanzierung von 2,5 Millionen Reichsmark für das Bauwerk von dem Union Club getragen werden konnte. Hierbei stellte der Union Club jedoch die Bedingung, die Stadionanlage so zu konzipieren, daß diese weder sichtbar sei noch den Rennbahnbetrieb störe. Die von March angefertigten Entwürfe sahen deshalb die Bauanlage in einer Sandmulde vor, was durchaus auf Zustimmung des Clubs stieß. Daraufhin wurde im November 1912 mit den Bauarbeiten begonnen, die kurz vor dem 13. Juni 1913, dem Tag der Einweihung, abgeschlossen waren.5 Genutzt wurde die Sportanlage jedoch nicht, wie ursprünglich geplant, zum sportlichen Selbstzweck, sondern bis Kriegsausbruch für Armeemeisterschaften (olympische Vorspiele, die vergleichbar waren mit den deutschen Kampfspielen von 1922).6 Nach dem Krieg diente das Stadion anfangs für Filmarbeiten sowie Unterhaltungsabende, von 1922 an wieder für militärische und sportliche Zwecke. 1920 wurde die Stadionanlage der im gleichen Jahr gegründeten Hochschule für Leibesübungen zur Verfügung gestellt. Der Raummangel machte 1926 den Bau von zusätzlichen Quergebäuden am West- und Ostende des Schwimmbeckens notwendig. Weitere Umbauten betrafen vorhandene Räume. Die wachsende Zahl von Sportstudenten erforderte in unmittelbarer Nähe 1926 einen neuen Hochschulbau. Es entstand das „Deutsche Sportforum" (Architekt: Werner March, 1894-1976, Sohn Otto Marchs)7, heute Hauptquartier der britischen Schutzmacht. 1933 entschied sich Hitler für die Neugestaltung des Baugeländes. Das Deutsche Stadion wurde 1933 abgerissen und an der gleichen Stelle von 1934 bis 1936 das heutige Olympiastadion (Architekt: Werner March) für die bevorstehende Olympiade 1936 errichtet.8 Die Abbildungen 1 und 2 zeigen das Deutsche Stadion. Es wurde in dreijähriger Bauzeit nach den Entwürfen Otto Marchs 1913 fertiggestellt. Es handelte sich um ein Erdstadion (Stahlbetonkonstruktion). Bildwerke deutscher Kunst schmückten es aus.9 Namhafte Künstler, wie Ludwig Cauer, Hermann Fuchs, Ludwig Vordermayer, Georg Kolbe u.a., bekamen hierfür Aufträge. In der Mitte der Königsloge schwebte eine Siegesgöttin auf einer Säule. Auch auf den Postamenten am Haupteingang des Stadions, wo der Tunnel in die Arena mündete, wurden Figuren aufgestellt.10 Infolge der Einsenkung in das Erdreich, war das Stadion von weitem nicht erkennbar. 212

Abb. 1: Das Deutsche Stadion im Grunewald bei Berlin; erbaut 1912 für die 1916 ausgefallene Olympiade in Berlin; Architekt: Dr.-Ing. h. c. Otto March (1845-1913), Vater von Werner March, dem Architekten des heutigen Berliner Olympiastadions

Abb. 2: Das Deutsche Stadion im Grunewald bei Berlin - Querschnitt Die Abbildung 2 zeigt den Querschnitt eines langgestreckten Korbrundes, dessen eine Längsseite durch ein Schwimmwettkampfbecken unterbrochen ist. Die Kampfbahn wurde von einer im Steigungsverhältnis ca. 1:2 in Stahlbeton konstruierten, nichtüberdachten Tribüne umgeben, unter deren Längsseiten die Sport- und Zuschauerfolgeeinrichtungen lagen. Unter den Kurventribünen gab es dagegen keine Nutzungen. Die Erschließung des Stadions konnte aufgrund seiner Lage nur über das Rennbahngelände erfolgen. Sie vollzog sich von den heute noch zu sehenden Eingangsportalen (Abb. 3) von der Stadionallee über eine sich senkende Straße, die heute als Zufahrt für die Unterkellerung des Olympiastadions dient. Der ehemalige Ehrenhof mit zwei Seitengebäuden (jeweils 120 m2), in denen sich Räume für die Stadion Verwaltung, Presse, Post und Polizei befanden", sowie ein 60 m langer und 20 m breiter Tunnel (unter der damaligen Rennbahn, heute Stadiongelände), der als Hauptzugang zur Kampfbahn und zu den Tribünen diente, sind ebenfalls noch vorhanden (Abb. 4). 213

Abmessungen des Stadions (Abb. 2): Längsachse: 340 m; Querachse: 180 m; Innenfeldgröße: 35151 m212; Zuschauerkapazität: 33000 (16900 Sitzplätze, 16100 Stehplätze).13 Obwohl die Olympischen Spiele wegen des Ersten Weltkrieges nicht im Deutschen Stadion ausgetragen wurden, bleibt es bei der Betrachtung von olympischen Sportstätten nie unerwähnt. So wird vor allem die Eingliederung in die Geländestruktur hervorgehoben.14 March diente dabei das Bauprinzip antiker griechischer Stadien als Vorbild.15 Dieser Planungsaspekt kann als einmalig in der heutigen Stadiongeschichte betrachtet werden, da es aufgrund der großen Ausmaße unserer heutigen Stadien nur noch in wenigen Fällen möglich ist, konsequent diesem antiken griechischen Bauprinzip zu folgen. Die ovale gestreckte Form des Deutschen Stadions ähnelt formal dem Charakter eines antiken römischen Zirkus. Ein weiteres wesentliches Element bei der Gestaltung war die Verbindung mit der bildnerischen Kunst. Es wurden hier Themen aus der Mythologie aufgegriffen. Man verfolgte das Ziel, eine Verbindung zwischen körperlicher Ertüchtigung und moralischen Werten darzustellen.16 Diese Neuerungen beurteilte man damals sehr positiv. Das Stadion hatte aber auch zahlreiche Mängel aufzuweisen: Trotz guter öffentlicher Verkehrsanbindung stellte es sich aufgrund seiner Lage und seines Bautypus nicht als markantes, dem Betrachter ins Auge fallendes Gebäude dar. Erst beim Betreten der Tribüne nahm man das große Ausmaß wahr. Die Kampfbahn zeigte ein heute nicht mehr gebräuchliches sporttechnisches Prinzip, nämlich die Integration von Laufbahn, Radrennbahn und Schwimmwettkampfbecken (Abb. 1) (ca. 33 000 m2). Wegen der vom Radsportverband geforderten 666 m langen Radrennbahn, die gegen den Willen Otto Marchs installiert werden mußte, hatte das Stadion eine große Flächenausdehnung, die die Wechselwirkung zwischen Sportlern und Zuschauern beeinträchtigte. Nachteilig erwies sich auch das zentrale Erschließungssystem. Die Zugangsstraße konnte die Menschenmenge (bis zu 33 000 Menschen gleichzeitig) nicht verkraften. Stauungen waren die Folge. Auch war es nicht möglich, alle Umkleideräume usw. für die Sportler im Stadion selbst unterzubringen. Dadurch ergaben sich für die Teilnehmer lange Wege bis zur Kampfbahn.17 Abgesehen von diesen Mängeln war es March architektonisch gelungen, den waschschüsselartigen Anblick des Stadions durch die Anordnung des Schwimmwettkampfbeckens außen auf der Nordlängsseite aufzulockern. Die Lage des Schwimmbeckens entsprach jedoch nicht der damaligen Planerregel18, da Zuschauerplätze für andere Wettbewerbe verlorengingen. Der Schwimmsport erhielt deshalb eine separat angelegte Tribüne innerhalb des Stadions, einen „Intimbereich", und wurde somit architektonisch besonders betont. Durch diese Separierung war auch gewährleistet, gleichzeitig mehrere Sportwettkämpfe ohne gegenseitige Behinderung durchführen zu können. Stilistisch zeigte das Stadion die Wiederaufnahme klassischer Elemente. Sie begründeten den geometrischen Aufbau des Stadions, nicht zuletzt die Konzeption der Kaiserloge. Diese zeigte eine strenge Symmetrie, Säulenordnung mit Horizontalgebälk und Balustraden mit sparsamer Ornamentik. Auf den Balustraden der Stehplatzumgänge befand sich Figurenschmuck mit Sportlermotiven. Die zwei noch vorhandenen Verwaltungsgebäude im Ehrenhof (Abb. 4), kubisch angelegt, entsprechen eher einer neoklassizistischen Prägung. Sie dienen heute einer Malerfirma als Schuppen. Die Gebäude stehen sich im Ehrenhof symmetrisch gegenüber und zeigen jeweils eine einheitliche Baumasse, hochrechteckige Fenster mit schmucklosen verputzten Wandflächen. Entgegen dem damals typischen Merkmal öffentlicher Gebäude, weithin sichtbare Bezugspunkte zu sein, tendierte dieser vom Studium der griechischen Klassik inspirierte Bau von außen nicht zum Monumentalen, da er aufgrund der Lage auf dem Grunewaldgelände - dem Erdbauprinzip folgend - nicht sichtbar war. Außerdem fehlte ein großer Freiraum vor dem Stadiongelände, der sonst üblicherweise öffentliche Bauten umgab.19 214

Abb. 3: Die heute noch vorhandenen Eingangsportale zum Deutschen Stadion

Abb. 4: Ehemalige Erschließungsstraße zum Stadion Dient heute als Zufahrt zur Unterkellerung des Olympiastadions 215

Großen Einfluß nahm March auf die Entwicklung des Sportstättenbaus in Deutschland. Er nahm dem Stadionbau den Zufallscharakter der früheren Sportanlagen. Ähnliches vollbrachte er bereits zuvor im Rahmen der Pferderennbahnarchitektur. Beispiele hierfür sind die Anlagen in Köln (1897/98), Mannheim, Breslau und Berlin-Grunewald (1909) sowie Hoppegarten (Umbau). Besonders hervorzuheben sind die zweigeschossigen Tribünenbauten für die Rennbahn in Berlin-Grunewald und die historische Derbybahn in Hamburg-Horn (1911/12). Diese Bauten entstanden nach Studienreisen, die March nach Paris gemacht hatte. Anregungen für die Querschnittsgestaltung sollen vor allem die damals neuen Tribünen in Le Tremblay im Marnetal oberhalb von Paris gegeben haben.20 Das Deutsche Stadion wurde zum Vorbild vieler deutscher und europäischer Anlagen. Im Hinblick auf die Möglichkeit, später die Olympischen Spiele in Deutschland austragen zu dürfen, veranstaltete man nationale Turn- und Sportfeste, die den Bedarf vieler neuer Sportanlagen mitbegründeten. Zahlreiche Architekten schulten sich am Deutschen Stadion und entwickelten die Gedanken des Erbauers fort. Die eingeschlagene Richtung „Sportplätze sollen in erster Linie gestaltete Natur sein" wurde beibehalten. Nachträgliche Untersuchungen der Kampfbahngestaltung ergaben, daß es unmöglich ist, sämtliche Sportarten in einer Kampfbahn zu vereinigen. Die daraufhin entwickelte Kombination Fußballfeld und 400 m Leichtathletiklaufbahn hat sich am besten bewährt und wurde richtungweisend bei der Kampfbahngestaltung. So erhielt jede Sportart eine Kampfbahn mit Zuschauertribünen. Diese Anlagen faßte man dann in einem Sportpark zusammen. Herausragende Beispiele hierfür sind die Anlagen in Frankfurt a. M. 1925, Köln 1924, Düsseldorf 1924 (Rheinstadion), Nürnberg 192721, Berlin 1936 (Reichssportfeld, Architekt: Werner March; heute Olympiastadion) (Abb. 5). Besonderen Aufschwung nahm nach dem Ersten Weltkrieg der Sportanlagenbau für breitere Bevölkerungsschichten. Zwischen 1920 und 1930 entstanden in Berlin u.a. folgende Anlagen: Mommsenstadion, Kühler Weg, Töbelmannweg, Jungfernheide, Rehberge, Tiergartensportplatz, Poststadion, Humboldthain, Schillerpark, Volkspark Neukölln, Dominicus-Sportplatz, Hubertus-Sportplatz, Sportplatz Wannsee, Plötzensee, Tegel, Westend, die Schwimmhallen Schöneberg und Gartenstraße und zahlreiche Turnhallen bei Schulneubauten. In Gegensatz zu dieser Entwicklung steht die Zeit nach 1933. Zugunsten des Kasernenbaus wurde die Schaffung neuer Sportanlagen vernachlässigt. Den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges fielen fast alle Sportstätten in Berlin zum Opfer. Instandsetzung und Wiederaufbau konnten erst nach 1949, nach Aufhebung der Blockade, beginnen22. Anmerkungen 1. Billion, Falk: Der Zweite Goldene Plan, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.): Jahrbuch des Sports 1983, Niedernhausen 1983, S. 34 ff. 2. March, Otto: Die Rennbahn im Grunewald, in: Baumeister, Berlin, 7. Jg., H. 2, August 1909, S. 126, 130 ff. 3. Krause, G.: Das Deutsche Stadion und Sportforum, Berlin 1926 4. Ehemalige Rennbahn Grunewald und ehemaliges Deutsches Stadion, in: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, Stadt und Bezirk Charlottenburg (bearb. v. Irmgard Wirth), Berlin 1961, S.220f. 5. ebd. 6. Krause, G., S. 32,38,48 und 56. Literaturhinweis: March, W.: Das Sportforum auf dem Reichssportfeld, in: Baugilde, 19. Jg., 1937, S. 41-64 7. Schmidt, Thomas: Das Berliner Olympia-Stadion und seine Geschichte, Berlin 1983 8. Ehemalige Rennbahn ..., a.a.O., S. 222 216

Abb. 5: Deutsche Sportparks 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

19. 20. 21. 22.

Krause, G., a.a.O. Reher, A., a.a.O., S. 11 f. Krause, G., a.a.O., S. 222 Flächenberechnung vom Verfasser Krause, G., a.a.O. Wimmer, M.: Bauten der Olympischen Spiele, Tübingen 1976, S. 35 Literaturhinweis: Zschietzmann, W.: Wettkampf und Übungsstätten in Griechenland, Bd. 1: Das Stadion, Stuttgart 1960 Ehemalige Rennbahn ..., a.a.O., S. 220 ff. Mallwitz, A.: Das Deutsche Stadion im Grunewald, Berlin 1909, S. 20 Seiffert, J.: Der Bau des Deutschen Stadions, in: Deutscher Reichsausschuß für Leibesübungen (Hrsg.): Stadionalbum, Leipzig 1914, S.45-61. Damalige Planerregel: Diejenige Hufeisenform von Großkampfbahnen galt als geeignet, bei der das Becken quer zur Stadionlängsachse an die offene Seite des Tribünenhufeisens gelegt wurde. Aus geländetechnischen Gründen war dies im Deutschen Stadion nicht möglich, so daß die Längsachsenseitenlage des Beckens in Frage kam (vgl. Krause, G., a.a.O., S. 18 f.). Petsch, J.: Architektur und Gesellschaft, Köln 1973, S. 213 Seiffert, J.: Anlagen für Sport und Spiel, H. 3, Leipzig 1928, S. 178, Abb. S. 181 ebd. - Schweizer, O. E.: Sportbauten und Bäderbauten, Berlin 1938, S.84 ff. Senator für Jugend und Sport Berlin (Hrsg.): Spiel und Sportstätten in Berlin, Berlin 1955

Anschrift des Verfassers: Dr.-Ing. Th. Schmidt, Detmolder Straße 51, 1000 Berlin 31

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75 Jahre griechisch-katholische Seelsorge in Berlin Von Diakon Bernward Kwasigroch Selbst alten Berlin-Kennern wird es kaum bekannt sein, daß es in Berlin eine kleine Gemeinde von mit Rom unierten orthodoxen Christen gibt, die 1983 mit Stolz darauf verweisen konnten, daß nun schon seit 75 Jahren Priester des byzantinischen Ritus hier wirken, wie man sie nach der Weise, in der sie die Gottesdienste zelebrieren, nennt. Dieser Ritus war in der zweiten römischen Hauptstadt, in Byzanz, dem späteren Konstantinopel, und im ganzen oströmischen Reich, üblich. Betrachten wir die kleine Gemeinschaft etwas näher, die seit 1967 in Kreuzberg in der Mittenwalder Straße 15 auf dem zweiten Hinterhof im ersten Stock ihre Kirche hat, dazu Pfarr- und Gemeinderäume im selben Haus, das einst als Sozialstation der Grauen Schwestern von der hl. Elisabeth gebaut wurde. Heute gibt man die Zahl ihrer Mitglieder mit etwa 500 an. Doch bilden die Gläubigen von ihrer Herkunft her eine vielfältige Gruppe. Flüchtlinge aus der Ukraine - nach der russischen Revolution nach Berlin gekommen -, Rumänen - zumeist nach dem zwangsweisen Zusammenschluß der griechisch-katholischen Gläubigen mit der rumänischen orthodoxen Kirche nach 1945 nach Berlin gezogen -, Araber - sogenannte Melkiten, aus bekannten Gründen aktuellster Art aus dem Libanon und Syrien nach Berlin verschlagen und einige Deutsche, die sich aus Neigung und Interesse dem Ritus angeschlossen haben, kommen hier zum gemeinsamen Gottesdienst in kirchenslawischer oder auch rumänischer Sprache und zur anschließenden Kaffeetafel zusammen, bei der auch der Wodka nicht fehlt. Eigenartig ist nicht nur die Zusammensetzung, sondern auch das Zustandekommen des Gemeindezentrums in Kreuzberg. Wie so oft ist es mit einem Manne verknüpft, der im rechten Moment wagte, einen entscheidenden Schritt zu tun: Zlatko Latkovic, ein kroatischer griechisch-katholischer Priester aus Zagreb, gleichzeitig Kunstmaler und Professor, den die politischen Umstände in seiner Heimat nach Berlin vertrieben hatten. Er kam 1963 in unsere Stadt und wurde mit der Seelsorge für die byzantinischen Gläubigen beauftragt. Das Gemeindevermögen bestand aus einer recht schlechten Nikolaus-Ikone. Doch wählte Latkovic gerade den heiligen Nikolaus, den Wundertäter, wie ihn die Ostkirchen nennen, zum Patron der zu gründenden Gemeinde. Gottesdienste fanden zu dieser Zeit in der Krypta der Kirche der Lankwitzer Christkönigsschwestern statt, die eigens zu diesem Zweck baulich so angelegt war, daß sie die Kapelle der kleinen Gemeinschaft aufnehmen konnte. Prof. Latkovic malte die Ikonostase und etliche Tafelikonen und so bekam der Raum ein „echt byzantinisches" Aussehen. Ein kleiner Chor sang sonntäglich zur heiligen Liturgie. Doch kamen nur sehr vereinzelt und furchtsam die politisch sehr verschreckten Gläubigen in die wenig zentral gelegene Kirche. Als die Hünfelder Oblatenpatres (Klostergenossenschaft) das Raphael-Stift, wie die Sozialstation in der Mittenwalder Straße hieß, aufgaben, trat Pfarrer Latkovic kurz entschlossen als Käufer auf, da amtliche Stellen der katholischen Kirche Berlins nicht halfen. Er kaufte alle drei Wohnhäuser, die zu dem Komplex gehörten. Sein Traum war, hier nicht nur das Gemeindezentrum zu errichten, sondern auch eine Sozialstation, von Schwestern des byzantinischen Ritus betreut, für die alten Gemeindemitglieder entstehen zu lassen. Zunächst galt seine Sorge der Einrichtung der Kirche. Da kaum Dinge aus Lankwitz mitgenommen werden konnten, wurde fast alles neu erstellt. Eine Ikonostase, die Bilderwand, die bei den orthodoxen Gläubigen den Raum der Gemeinde vom Altarraum trennt, wurde gebaut und gemalt. Die Kirche wurde schrittweise mit Wandgemälden ausgeschmückt, Einrichtungsgegen218

stände wie Leuchter, Kelche und Gewänder wurden zusammengebettelt. Bald war alles vorhanden, was in einer funktionierenden Gemeinde da sein muß. Fragte man Latkovic, wie das möglich war, verwies er schmunzelnd auf den hl. Nikolaus, der als Patron für seine Gemeinde sorgte. Untertreibend hörte man ihn sagen, daß sein Eigenverdienst nur die Wahl des geeigneten Kirchenpatrons gewesen sei. Das wichtigere Problem, das von ihm und seinen Freunden angegangen wurde, war die Statusfrage. Die Gemeinde hatte keinerlei verfaßte Grundlage. Die Sacra Congregatio pro Ecclesiis Orientalibus1 in Rom und der Berliner Bischof Alfred Kardinal Bengsch fanden sich auf Latkovics Drängen zu einer Gemeindegründung bereit. Heute stellt also die GriechischKatholische Gemeinde hl. Nikolaus Berlin eine Kuratie2 dar, die finanziell vom Berliner Bistum getragen wird und nach der Jurisdiktion der Congregatio oder dem Exarchen der katholischen Ukrainer in München, Dr. Piaton Kornyljak, unterstellt ist. Eine wohl einmalige, den politischen und seelsorglichen Besonderheiten der Gemeinde angepaßte Lösung. Der gesundheitlich bedingte Weggang Latkovics aus Berlin hat die Gemeinde nicht auseinanderlaufen lassen. Zwei Jahre war kein fester Priester in der Stadt, ein Diakon wurde der Gemeinde geweiht, der die Pfarrgeschäfte führen mußte. Heute hat sie in Janko Salmic wieder einen aktiven Priester, der in Zusammenarbeit mit Diakon und Pfarrgemeinderat unter seinem Vorsitzenden Georg Halaj die Arbeit bewältigt. Noch ein kurzer Blick sei auf die Vorkriegsgeschichte der byzantinischen Gläubigen in unserer Stadt geworfen: Graf Andreas Scheptyckij, Metropolit von Lemberg (Lviv), sandte 1908 den Priester Alexej Baziuk nach Deutschland und auch nach Berlin. Er hatte die schwierige Aufgabe, die zahlreichen ukrainischen Auswanderer zu betreuen. Diese waren zumeist über Deutschland auf dem Wege in die Vereinigten Staaten und nach Südamerika. Baziuk standen in Berlin die Priester Kunicki und Ganicki zur Seite. 1923 nahm der Priester Mihajlo Kindij festen Wohnsitz in Berlin und baute eine ständige Seelsorgearbeit von dem kleinen Kloster in der Johannisstraße in Berlin-Mitte aus auf. 1927 kam Dr. Petro Werhun als Seelsorger nach Berlin. Da die Zahl der Ukrainer stark gestiegen war, fanden nun in römisch-katholischen Pfarrkirchen mehrerer Bezirke byzantinische Gottesdienste statt. In der alten Kirche der Gemeinde Hl. Familie (Prenzlauer Berg) fand die Gemeinde schließlich ein Zentrum, das ihr von Bischof Graf Preysing zugewiesen werden konnte. 1940 wurde Petro Werhun von Papst Pius XII., der diesen bei seiner Arbeit als Nuntius in Deutschland persönlich kennengelernt hatte, zum Apostolischen Administrator der katholischen Ukrainer bestellt. Für die russisch-katholischen Gläubigen wirkten zu dieser Zeit die Priester Kuzmin Karavajeff bis 1931 und dann bis 1963 Wladimir Dlusski in Berlin. 1941 und 1942 hatten die Ukrainer Ivan Czorniak und dann von 1942 bis 1945 Petro Romanischin unter der Leitung von Dr. Werhun am Ort. Mit dem Einmarsch der Sowjets endete die Arbeit der ukrainischen Geistlichen in Berlin abrupt. Dr. Werhun wurde ebenso wie die anderen Geistlichen verhaftet. Während diese freikommen konnten, brachte man Dr. Werhun nach einem der üblichen Verleumdungsprozesse nach Sibirien, wo er allen Befreiungsbemühungen zum Trotz in Krasnojarsk im Rufe der Heiligkeit starb. Die Zahlen aus der Zeit vor 1945 sagen viel über die zu bewältigende Seelsorgearbeit aus: In und um Berlin lebten bis zu 30000 Gläubige des byzantinischen Ritus. Bedingt durch die Zwangsarbeitslager, waren die Seelsorgetätigkeiten der wenigen Priester sehr erschwert. Die Nationalsozialisten kontrollierten argwöhnisch jeden Schritt der Geistlichen. Trotz allem gab es einen großen Chor, der auch konzertant auftrat und im Rundfunk sang. Die heutige Situation der Gemeinde ist von der der früheren Jahre wieder grundverschieden. 219

CRIECHISCH-KATH. CE/MEINDE HL. NIKOLAUS 1 BERLIN

6 1 . Miltenw.lder Straße 15 12. Hol)

Bischof Dr. Piaton Kornyljak spendet den Segen 220

Kreuzberg, Mittenwalder Straße 15

Kirche (1967) 221

Die Gemeinde ist stark überaltert. Nachwuchs ist in jüngster Zeit aus dem Nahen Osten und aus dem ukrainischen Anteil Polens hinzugekommen, sogar junge Familien. Ob sich diese aber weiter in Berlin aufhalten werden, ist ungewiß. Die Gemeinde hat wieder einen leistungsfähigen Chor unter der Leitung von Dr. Franz Görner. Er konzertiert und singt zu hl. Liturgien, die in römisch-katholischen oder orthodoxen Gemeinden zelebriert werden. Dieses Auftreten als Botschafter der byzantinischen Christenheit ist eine der Aufgaben der Gemeinde. In der Ökumene nimmt sie einen bescheidenen Platz ein und beteiligt sich an den Gebetswochen im Januar in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Höhepunkte im Jahr sind Weihnachten, Ostern und das Nikolausfest, die man mit feierlichen Gottesdiensten und einer großen Agape begeht, einem Festessen, von Gemeindemitgliedern für Gemeindemitglieder und Freunde ausgerichtet. Die Sozialstation hat sich leider nicht verwirklichen lassen, wäre aber heute notwendiger denn je, da das Durchschnittsalter der Gläubigen bedrohlich ansteigt. Hoffnung in die Zukunft ist trotzdem vorhanden, denn der Berliner Bischof Kardinal Meisner hat versichert, daß die Mitgliederzahlen für ihn kein Grund wären, eine Gemeindearbeit stillzulegen. Der hl. Nikolaus wird sich wohl auch in Zukunft wie bisher seiner kleinen Schar annehmen. Anschrift des Verfassers: Diakon Bernward Kwasigroch, Mittenwalder Straße 15,1000 Berlin 61

Nachrichten Mitgliederversammlung am 14. Juni 1984 Ehrenmitgliedschaft für Dr. Richard von Weizsäcker Von den 791 Mitgliedern des Vereins hatten sich genau zwei Dutzend am 14. Juni 1984 im Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg eingefunden, wo die Regularien vom Vorsitzenden Dr. G.Kutzsch zügig abgewickelt werden konnten. Die Versammlung nahm den Tätigkeitsbericht, den Kassenbericht und den Bibliotheksbericht entgegen und hörte in gleicher Weise die Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer, aus denen sich keinerlei Beanstandungen, im Falle der Bibliothek jedoch eine Reihe wertvoller Anregungen ergaben. Hierauf gingen einige Mitglieder auch in der Aussprache ein, die sich um einen künftigen Standort der Bibliothek und um die Rezensionen von Büchern in den „Mitteilungen" drehte. Rechtsanwalt Landesgerichtsrat a. D. Dietrich Franz beantragte die Entlastung des Vorstandes mit einem Dank für dessen Arbeit. Die Versammlung entsprach diesem Antrag ohne Gegenstimmen. Die Wiederwahl der bewährten Kassenprüfer Degenhardt und Kretschmer erfolgte ebenso einmütig wie die Bestätigung der Mitglieder Frau Dr. Crantz und Schramm in ihrem Amt als Bibliotheksprüfer. Zum Punkt „Verschiedenes" wurde von verschiedenen Mitgliedern vor allem zu den Vorbereitungen zur 750-Jahr-Feier Berlins Stellung genommen. Der Verein wird dabei einerseits seine eigenen Möglichkeiten, andererseits die zur Realisierung größerer Vorhaben erforderlichen Geldmittel zu berücksichtigen haben. Für einen Ausschuß „750-Jahr-Feier" soll in den „Mitteilungen" zur Mitarbeit aufgerufen werden. Auf der Versammlung meldeten sich spontan Frau Köhler und Frau Hamecher sowie die Herren Dr. Wenzel, Kretschmer und Schrammm. K.-H. Schramm empfahl, auch in den Tageszeitungen intensiver für den Verein zu werben. Hieran schlössen sich Auseinandersetzungen um den Besuch der Vorträge, deren Häufigkeit und das Verhalten neuen Mitgliedern gegenüber an. Nachdem die Mitgliederversammlung dem verdienstvollen Bibliotheksbetreuer Hans Schiller einen Gruß ans Krankenlager geschickt und dem 2. stellvertretenden Vorsitzenden G. Wollschlaeger den Dank für die Vorbereitung des Veranstaltungsprogramms ausgesprochen hatte, entsprach sie dem auf Antrag des Schriftführers vom Vorstand einstimmig gemachten Vorschlag, dem früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Dr. Richard von Weizsäcker, die Ehrenmitgliedschaft zu verleihen. Das Votum war einstimmig. Dem künftigen Bundespräsidenten wurde die Ehrenmitgliedschaft mit der folgenden Begründung verliehen:

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Der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, verleiht Herrn Dr. jur. Richard von Weizsäcker die Ehrenmitgliedschaft. Er würdigt damit seine Verdienste, die er sich als Regierender Bürgermeister von Berlin um unser Gemeinwesen erworben hat. Lauterkeit seiner Gesinnung, noble Haltung und die Kunst menschlichen Regierens haben das Selbstbewußtsein Berlins zu stärken vermocht. Diese Auszeichnung gilt auch einer Persönlichkeit, die in historischen Zusammenhängen zu denken weiß. Die Ehrenmitgliedschaft des Vereins für die Geschichte Berlins soll die Bande zwischen dem gewählten Bundespräsidenten und seiner Stadt Berlin festigen. Berlin, den 14. Juni 1984 SchB.

Studienfahrt 1984 des Vereins für die Geschichte Berlins nach Eutin In der Nr. 2/1984 der „Mitteilungen" war das vorläufige Programm der Exkursion vom 7. bis 9. September 1984 abgedruckt worden. Die Mitglieder, die sich hierauf gemeldet hatten, werden jetzt brieflich verständigt. Weitere Interessenten sind herzlich willkommen (Meldeschluß 30. Juli 1984). Gegenüber der Vorankündigung, die auf Wunsch gern noch einmal zugestellt wird, haben sich keinerlei wesentliche Programmänderungen ergeben. Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich pro Person auf 84,50 DM. Er schließt die Omnibusfahrt mit allen Exkursionen, Führungen und Eintrittsgeldern sowie den Ausflug auf dem Großen Eutiner See mit „MS Freischütz" ein. Meldungen nimmt entgegen der Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 45 09-2 91, der auch Auskünfte erteilt. SchB.

Johannisthaler Ensemble unter Denkmalschutz Das „Alte Fenn" in Johannisthai im Stadtbezirk Treptow gehört zu den mehr als 800 Straßen, Plätzen und Gedenkstätten der Arbeiterbewegung, Fabrikgebäuden, Kirchen und ehemaligen Dorfangern, die in Ost-Berlin seit 1978 unter Denkmalschutz stehen. 1921 bis 1927 entstanden dort rund 180 zweigeschossige Reihenhäuser nach Plänen von Bruno Taut und Paul Engelmann. Diese Gartenstadtsiedlung, die an Alt-Glienicke erinnert, zeigt schöne Schmuckelemente an Giebeln, Hauseingängen, Klinkersimsen und Fenstern. Das Ensemble wird jetzt von der Aktion „Gepflegte Denkmale und ihre Umgebung" (1982 ins Leben gerufen vom Ministerium für Kultur, dem Kulturbund und dem Nationalrat der Nationalen Front) gemeinsam mit den Bewohnern in seinem Originalzustand wiederhergestellt. SchB.

Wiederherstellung des Schloßparks Biesdorf Der unter Denkmalschutz stehende Schloßpark in Biesdorf wird in seinen alten Zustand versetzt. Nachdem im Frühjahr 1984 das Platanenrondell vervollständigt wurde, werden im Herbst vom Stadtbezirksgartenamt Berlin-Marzahn Eichen, Buchen, Kastanien und Linden gepflanzt. Dabei soll der Standort der Bäume und Sträucher so gewählt werden, daß sich Sichtachsen wie zur Zeit der Jahrhundertwende ergeben, die einen ungehinderten Blick auf das Schloß ermöglichen. SchB.

Zur Rückführung der Reliefplatten der Siegessäule ist die vierte Platte unauffindbar? Gegenwärtig werden in der Reinickendorfer Bronzegießerei Winkelhoff die drei verfügbaren Bronzereliefs der Siegessäule restauriert, die dann im Sommer wieder an ihren ursprünglichen Standort zurückgebracht werden sollen. Am 4. Februar 1984 sind die beiden je 12 Meter langen und insgesamt 10 Tonnen schweren Bronzereliefs mit einer französischen Militärmaschine nach Berlin-Tegel gebracht worden. Ihre Rückgabe war auf Zusagen des Pariser Bürgermeisters Jacques Chirac und des Verteidigungsministers Charles Hernu erfolgt. Das Relief „Schlacht bei Sedan" hatte im Pariser Stadtmuseum, der „Einzug der siegreichen 223

Truppen in Berlin 1871" im französischen Armee-Museum gelegen. Der damalige Regierende Bürgermeister Dr. Richard von Weizsäcker bezeichnete die Rückgabe der Bronzetafeln als eine großzügige Geste und als einen sichtbaren Beweis dafür, daß mit Beharrlichkeit und Geduld einst unüberbrückbar erscheinende Probleme überwunden werden können. 30 Jahre lang hatte sich unser Mitglied Otto Kanold, Beerenstraße 49 a, 1000 Berlin 37 (Zehlendorf), bei einer Vielzahl von Institutionen des Bundes und des Landes Berlin darum bemüht, diese beiden Reliefs nach Berlin zurückzuführen, nachdem eine dritte Tafel mit Motiven aus dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 beschädigt in der Zitadelle Spandau gelagert hatte. Der Intervention des Auswärtigen Amtes ist es schließlich gelungen, daß den Bemühungen Otto Kanolds, der seines schier aussichtslosen Unterfangens wegen geradezu verlacht wurde, schließlich doch der Erfolg beschieden war. Auch unser Verein hatte bei den zuständigen Behörden vorgesprochen. Das vierte Relief „Auszug der Truppen/Sturm der Düppeler Schanzen" bleibt nach wie vor verschollen, nachdem sowohl Nachforschungen in Dänemark als auch eine Umfrage des Berliner Landeskonservators vom Mai 1983 keine Ergebnisse brachten. Mitglieder, die sich des Zeitpunkts der Demontage und des möglichen Schicksals und Verbleibs dieser vierten Bronzetafel erinnern, werden um Nachricht gebeten. SchB.

Aus dem Mitgliederkreis Professor Dr. Heinz Goerke, von 1967 bis 1969 Direktor des Klinikums Steglitz der Freien Universität Berlin und von 1970 bis 1982 ärztlicher Direktor des Klinikums Großhadern in München, ist mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet worden. Professor H. Goerke, Ordinarius für Geschichte der Medizin an der Universität München, hatte zuvor an der FU Berlin denselben Lehrstuhl inne.

* Unserem Mitglied Axel Springer ist vom Jerusalemer Stadtrat in Anerkennung seiner Verdienste um die Stadt einstimmig der Ehrentitel „Freund Jerusalems" verliehen worden.

* Dem ehemaligen Präsidenten der Ärztekammer Berlin, unserem Mitglied Professor Dr. Wilhelm Heim, ist die höchste Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft, die Paracelsus-Medaille, verliehen worden.

* Frau Charlotte Winckler-Bollert, Ringstraße 10,7899 Berau, bis 1978 unser Mitglied, hat im Selbstverlag zwei autobiographische Bände veröffentlicht: „Eine deutsche Frau erzählt" (1970) und „Eine Seniorin erzählt" (1977). Da die Auflage vergriffen ist, bittet die Autorin um Rückgabe, wenn die Büchlein nicht mehr benötigt werden. SchB.

Über die Kaisereiche in Friedenau Unser Mitglied Heinz-Günther Bahr vollendete am 20. April 1984 sein 75. Lebensjahr und bedankte sich bei den Gratulanten mit einem orts- und verkehrsgeschichtlichen Rückblick unter Einschluß familiärer Bereiche und mit einer Ansicht der Kaisereiche, die einer Werbeanzeige für Berlin-Friedenau um 1910 entstammt und dem Bildband „Die Straßennamen Berlins in alten Ansichten" (Europäische Bibliothek, Zaltbommel/Niederlande) entnommen wurde. Diese persönlich gehaltene Darstellung soll den Lesern nicht vorenthalten bleiben, wir erweisen damit zugleich dem verdienstvollen Pädagogen und Kirchenmusiker Heinz-Günther Bahr Reverenz. SchB. Mitten auf dem Platz steht die am 22. März 1879, dem 82. Geburtstag Kaiser Wilhelms I., zur Erinnerung an die goldene Hochzeit des Kaiserpaares gepflanzte Kaisereiche. Der heutige Baum stammt von einer Nachpflanzung im Jahre 1883. In dem linken Haus - zwischen Moselstraße und Saarstraße - befand sich das Cafe Kaisereiche, zweitweise auch „Cafe Laurisch" benannt, nach dem Krieg „Wienerwald"-Lokal, heute Restaurant „Kaisereiche". In dem mittleren Haus - zwischen Saarstraße und Illstraße - war das 224

„Cafe Woerz" untergebracht (später ein Auto-Salon, danach Radio-Reisel, jetzt ein Waschsalon). Zwischen Illstraße und Rheinstraße lag das „Hotel Kaisereiche", das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde; heute befinden sich dort eine Filiale der Sparkasse der Stadt Berlin-West und das Standesamt I von Berlin. Die drei weiteren auf dem Bild nicht sichtbaren Ecken sind übrigens in der Bausubstanz und in den Fassaden erhalten geblieben. An der Kaisereiche steht ein Straßenbahnzug, der von der Rheinstraße, wo die Gleise neben der Straße auf besonderen Rasenrabatten liegen, zur Saarstraße abgebogen ist. Der Schaffner ist ausgestiegen und nach vorn zum Fahrer gegangen; das war wohl so Vorschrift. Beide warten auf die Freigabe der Saarstraße zur Friedenauer Brücke. Denn Straße und Brücke sind nur eingleisig befahrbar. Der Richtungsverkehr wird von einem Straßenbahner geregelt, der an der Friedenauer Brücke steht und das per Hand besorgt. Er dreht eine Ampel, die tagsüber eine weiße Scheibe mit einem diagonalen Strich in grüner Farbe bzw. eine rote Scheibe und bei Dunkelheit grünes bzw. rotes Licht zeigt. Durch die Saarstraße fahren vier Linien im 15-Minuten-Verkehr, die Linien 60 und 61 (von Weißensee kommend) und die Linien 87 und 88 (aus Richtung Treptow). Die 60 und die 88 fahren über die Becker- und die Rubensstraße zum AugusteViktoria-Krankenhaus, die 61 und die 87 durch die Knaus- und die Bismarckstraße - dort auf besonderen Gleiskörpern - zum Stadtpark Steglitz. Stand in der Beckerstraße oder in der Rubensstraße mal ein Möbelwagen, mußten die Züge mittels eingebauter Weiche über das Gegengleis geleitet werden, da sie sonst die Möbelwagen nicht passieren konnten. Übrigens verkehrte im Jahre 1912 in Steglitz ein von der Gemeinde betriebener Obus (Oberleitungsbus) zwischen dem Bahnhof Steglitz und dem Knausplatz. Begegneten sich die beiden Wagen, mußten die Schaffner die Kabel, die von den auf der Oberleitung rollenden Wagen kamen, umpolen. Aber noch einmal zurück zur Saarstraße! Noch manche Jahre blieb der Verkehr dort - 32 Züge in der Stunde! - eingleisig, zuletzt nur noch auf der Brücke. Zweimal wurde die Brücke umgebaut, mehrfach die Straße, und ein neuer Umbau der Straße steht bevor. Die Straßenbäume und die Vorgarten sind längst verschwunden, und der weltstädtische Verkehr braust durch die Straße. Doch einiges ist von dem ehemals idyllischen Friedenau noch übriggeblieben. Wie heißt es doch in der Werbeanzeige von 1910: „Wohl ein Dutzend schöner Orte / bilden heute Groß-Berlin, / öffnen gastlich ihre Pforte, / fragen dich, wo willst du hin? / Wer die Wahl hat, muß sich quälen, / aber prüfe ich genau, / werd ich immer wiederwählen / dich, mein trautes Friedenau." 225

Buchbesprechungen Kurt Trumpa: Zehlendorf gestern und heute. Ein Ort im Wechsel der Zeiten. Verlag Elwert und Meurer, Berlin, 3., überarbeitete Auflage, 244 Seiten, 36 DM. Der Verfasser ist der Historiker und Chronist Zehlendorfs. Daß er bei seinen Mitbürgern im Bezirk „ankommt", beweist die 3. Auflage seiner Ortsgeschichte. Neue Erkenntnisse wurden eingearbeitet, vor allem aber nötigt das hervorragende überreiche Bildmaterial Bewunderung ab. Heutige Ansichten von Straßen, Plätzen und Häusern werden denen von anno dazumal gegenübergestellt; der Wandel der Zeiten illustrativ sinnfällig gemacht. Der Leser wird sehr eingehend und verläßlich durch mehr als 750 Jahre „Dorfhistorie" geführt. Von 1945 an wählt der Verfasser die Form der Chronik: Hier freilich werden in einer künftigen 4. Auflage ein paar herausgefilterte Daten, weil überflüssig und nicht charakteristisch, dem Ganzen zum Vorteil gereichen. Vielen Zehlendorfern wird das vorliegende Heimatbuch jedenfalls Erinnerung, Belehrung und Freude schenken. Gerhard Kulzsch

Eberhard Grünert: Die Preußische Bau- und Finanzdirektion. Grotesche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1983, 271 Seiten, Leinen, 60 DM. Schon zu Zeiten ihres Bestehens verband die Öffentlichkeit in Preußen mit der Behörde, die sich Ministerial-Militär- und Baukommission, nach dem Ersten Weltkrieg Preußische Bau- und Finanzdirektion (kurz: Baufi) nannte, kaum eine Vorstellung. Hinter diesen Namen verbargen sich staatliche Stellen in einer riesigen, wenn auch infolge ihrer höchst disparaten Funktionen lockeren Verbindung von Bauaufgaben, Militärwesen, Domänen-, Grundstücks-, Katasterverwaltung, Kirchenpatronat, ja auch Verwaltungsgerichtsbarkeit und noch anderem mehr. Ein Präsident stand an der Spitze dieser Riesenorganisation. Man möchte argwöhnen, ministerielle Willkür habe der Baufi beliebig viele Aufgabenbereiche zugewiesen, doch täte dies der disziplinierten preußischen Verwaltung Unrecht: Respektable Sachgründe lagen so gut wie immer für eine Zuweisung von Dienststellen an diesen oder jenen Platz vor. Der Verfasser geht der Entstehung und Entwicklung der Baufi von 1822 bis 1944, also von ihren Urzellen an, sehr sorgfältig nach. Manchmal tut er fast ein wenig zuviel des Guten, man läuft Gefahr, sich im Dickicht der Jahreszahlen, Personennamen und Ämterfunktionen zu verheddern. Das Buch gewinnt seinen Wert und seine Brauchbarkeit als Lexikon. Wer sich über eine ganz konkrete Frage eines Teilbereichs der preußischen Innenverwaltung unterrichten will, wird hier Antwort erhalten. Es wurde Zeit für die Baufi, ihren Geschichtsschreiber zu finden. Gerhard Kutzsch

Goerd Pescnken und Hans-Werner Klünner: Das Berliner Schloß. Propyläen-Verlag, Berlin 1982,560 Seiten, 289 Abbildungen, 152 Abbildungen im Text, gebunden, Großformat im Schuber, 280 DM. Mit dem Bau des Berliner Schlosses wurde 1443 unter Kurfürst Friedrich IL begonnen, und was von Anbeginn an als eine Art Statussymbol landesherrlicher Macht und Ausdruck der Repräsentation sein sollte, ist es über ziemlich genau 500 Jahre hinweg geblieben. Die Ostberliner Kommunistenrissen1951 die Kriegsruine gegen den heftigen Widerstand der Kunstexperten ab. Bedeutende Renaissance- und Barockbaumeister haben an diesem Monument gewirkt und ihm den künstlerischen Ruf eingetragen, der sich vielleicht mehr an ganz bestimmte Partien (Teiltrakte, Portale, Innenräume usw.) als an die Gesamtkonzeption heftet. Wenn auch allgemeingeschichtliche Aspekte den Vorrang vor wissenschaftlichen Spezialuntersuchungen haben sollen, bieten die Autoren doch neue Erkenntnisse an, aus langjähriger Beschäftigung mit dem Schloß gewonnen. Wiewohl sich das vorliegende Buch als Vorwegpublikation betrachtet, da Margarete Kühn und Martin Sperlich, die ehemaligen Chefs der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, eine wissenschaftliche Spezialarbeit über den Bau auf der Spreeinsel vorbereiten, darf man es doch getrost als Standardwerk bezeichnen. Das kunstgeschichtliche Erlebnis „Schloß" wird umfassend bis in Details textlich und bildlich dargeboten und als Teil und Schauplatz in die bewegte politische Geschichte Preußen-Deutschlands eingebettet. Die opulente Ausstattung und der Preis lassen den Band beinahe als ein Objekt für Bibliophile erscheinen. Viele interessierte Leser werden sich wohl nur in Bibliotheken an ihm erfreuen können. Gerhard Kutzsch 226

Reicke, Ilse: Die großen Frauen der Weimarer Republik. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1984, 124 Seiten, 7,90 DM. Die Verfasserin ist die Tochter des liberalen Berliner Bürgermeisters Georg Reicke (1902-1920). Vor einiger Zeit wurde sie dem Fernsehpublikum in der Sendereihe „Zeugen des Jahrhunderts" vorgestellt. Darin gab die alte Dame persönliche Erinnerungen so lebensnah und anschaulich zum besten, wie sie es jetzt wieder in ihrem Buch über die wichtigsten Köpfe der Frauenbewegung tut. Vor dem Ersten Weltkrieg oft ignoriert oder verspottet, fand diese nach 1919 öffentliche Anerkennung und trug Neues und Wesentliches, auch zum Staatsaufbau, bei. Aus acht verschiedenen Schaffensbereichen werden neben manchen weniger bekannt gewordenen Namen Gertrud Bäumer, Anna v. Gierke, Alice Salomon, Agnes v. Zahn-Harnack, Marianne Weber vorgestellt: Frauen, über die selbst der „Gebildete" von heute schon das Lexikon zu Hilfe nehmen muß, um sich zu orientieren. Die Verfasserin bietet eine dankenswerte Ergänzung vieler Darstellungen der Weimarer Republik, die ohne die geringste Würdigung der wissenschaftlichen, sozialen und organisatorischen Leistungen solcher aktiven Frauen auskommen. Gerhard Kutzsch

Einblicke - Einsichten - Aussichten. Aus der Arbeit der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Sonderband 1, herausgegeben im Auftrag des Stiftungsrats vom Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Werner Knopp, Gebr. Mann Verlag, Berlin 1983, Sonderband 1, Stephan Waetzoldt zum 60. Geburtstag, Leinen, 320 Seiten, 48 DM. Dieser Band ist Stephan Waetzold zur Vollendung seines sechsten Lebensjahrzehnts gewidmet, dessen Wirken als Generaldirektor die Entwicklung der staatlichen Museen in den letzten anderthalb Jahrzehnten entscheidend geprägt hat. In seinem einleitenden Aufsatz „Glanz und Last der Geschichte. Spezifische Arbeitsbedingungen der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz" weist Werner Knopp auf die Bedeutung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz hin, deren Anwesenheit in Berlin dazu beiträgt, daß die Bundesbürger Berlin weiterhin nicht nur als ein im Vorfeld ihres Staates liegendes „Glitzerding" betrachten, sondern als das nach wie vor bedeutendste Kulturzentrum in Deutschland. In der Steigerung der kulturellen Ausstrahlungskraft liegt vielleicht die größte Chance, Berlin für Besucher aus aller Welt als natürliche und anziehungskräftigste Zentralstadt zu erhalten. Immerhin zieht Berlin nach München immer noch die meisten Museumsbesucher an. Leider versucht die DDR immer wieder, die Beteiligung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz an Ausstellungen zu behindern, indem sie ihre Leihgaben von der Nichtteilnahme der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz abhängig macht. Dabei wäre es möglich, über den Ausgleich besonders widersinniger Zerreißungen einzelner Zusammenhänge sehr vernünftig miteinander zu reden, wenn nur beide Seiten grundsätzlich den Status quo akzeptierten. An dieser Stelle kann auch die bekannte Kritik Peter Blochs zitiert werden, die er in seinem Beitrag „Die Reste des Rauch-Museums" wiederholt, wonach auf Beschluß des Berliner Senats unter Dr. H. J. Vogel die Schloßbrückengruppen - „ohne Klärung der Eigentumsverhältnisse, gegen jede politische und restauratorische Vernunft" - aus dem Lapidarium herausgerissen und nach Ost-Berlin geschenkt wurden. Der Interessent an Berlinhistorie sei vor allem auf die folgenden Aufsätze hingewiesen: Wolf-Dieter Heilmeyer: „Vorgartengeschichte eines Museums" und Franz Adrian Dreier: „Zwei historische Wurzeln des Berliner Kunstgewerbemuseums - ein Beitrag zur Geschichte seiner Sammlungen". Der gediegen aufgemachte Band mit seinen bemerkenswerten Beiträgen leidet etwas unter unnötigen Druckfehlern. H. G. Schultze-Berndt

Horst Cornelsen: Kleine Fische auf Justitias Grill. Berlin Verlag Arno Spitz, 1984, 143 Seiten, mit Zeichnungen von Titus, gebunden, 19,50 DM. „So ist es in Justitias Laden / beim Rechtsstreit geht man häufig baden." Das ist das Fazit der kleinen Sammlung von Geschichten, die Horst Cornelsen, bekannt durch seine humorvollen Berichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Leser vorgelegt hat. In seinem leicht ironisierenden Stil erzählt er von den Gestrauchelten, die in Justitias Fänge geraten sind. Die Liebe und der Alkohol spielen eine große Rolle, aber auch Angriffslust, die leicht zu Schäden an den Mitmenschen führt. Ein Buch also, das die menschlichen Schwächen zwar launig verpackt darbietet, aber gleichwohl zum Nachdenken anregt. Titus hat mit wenigen Strichen das Geschehen charakterisiert. Elge

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Märkte in Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung Berlin, 80 Seiten, 63 Abbildungen, davon 16 in Farbe, gebunden, 29,80 DM. Das vorliegende Buch wurde von Studenten der Publizistik im Fachbereich Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin konzipiert, geschrieben und fotografiert. Es beschreibt Wochenmärkte, wie den in bürgerlicher Atmosphäre liegenden Markt an der Matterhornstraße, den quirligen, farbenprächtigen Markt auf dem Winterfeldplatz, der noch ein wenig an altes Berliner Marktleben erinnert, und den orientalisch bunten Türkenmarkt am Maybachufer, der sich lebhaftesten Zuspruchs sowohl von Hausfrauen, Rentnern, Punks, Studenten als auch von Türken erfreut, die mit ihren Großfamilien hier meist erst am Nachmittag eintreffen. Die Autoren gehen sowohl auf die Geschichte des Berliner Marküebens als auch auf die Architektur und die Marktordnung ein. Wir erfahren von kühnen Markthallenkonstruktionen aus Eisen und Glas, so von der in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts gebauten ersten Markthalle zwischen Schiffbauerdamm und Karlstraße. Diese wurde jedoch schon sehr bald - da sie weder von Händlern noch von Käufern angenommen wurde - zu einem Domizil für Zirkusunternehmen umgebaut (Renz und Schumann). Den entscheidenden Umbau besorgte dann Hans Poelzig 1919 zum Großen Schauspielhaus für Max Reinhardt. Folgende Stationen seien noch genannt: Revuetheater unter Eric Charell, unter den Nazis „Theater des Volkes" und schließlich bis zur jetzigen Schließung „Friedrichstadtpalast". Nach Eröffnung der Stadteisenbahn wurden 1886 noch der „Centralmarkt" am Alexanderplatz und drei weitere Hallen eröffnet. Doch nur die Markthalle am Alexanderplatz und in der Lindenstraße (noch heute Blumengroß markt) hatten Bestand, die beiden anderen mußten ihre Tore schließen; aus ihnen wurde das Vergnügungsetablissement „Clou" und das Postscheckamt in der Dorotheenstraße. Vorgestellt werden dann noch die Arminiusmarkthalle, der Fruchthof und der Blumenmarkt sowie Trödel- und Weihnachtsmärkte. Die Texte sind reichlich bebildert; ein umfassendes Verzeichnis aller Berliner Märkte mit Öffnungszeiten, Verkehrsverbindungen, Warenangeboten und Besonderheiten macht das Buch auch zu einem praktischen und nützlichen Einkaufsführer. Irmtraut Köhler

Luise Lemke: Laß dir nich verblüffen! Berliner Witze. Jesammelt und jesiebt von Luise Lemke, arani-Verlag GmbH, Berlin 1982, etwa 100 Seiten, mit Illustrationen von Frauke Trojahn, Glanzeinband, 14,80 DM, ISBN 3-7605-8565-5. Gustav Sichelschmidt: Die Berliner und ihr Witz. Versuch einer Analyse. Rembrandt Verlag GmbH, Berlin 1978, 118 Seiten, mit Illustrationen nach Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, Leinen, ISBN 3-7925-0255-0. Aufbauend auf ihrer Sammlung Berliner Sprüche „Lieber'n bißken mehr, aber dafür wat Jutet", die binnen sechs Monaten drei Auflagen erlebte, legt die Autorin eine Zusammenstellung treffsicherer Berliner Witze vor, die jeweils um bestimmte Themen kreisen, was sich an den Überschriften der Kapitel wie „Ick bin alle Kinder, die wir haben" oder „Det wirft mir um Stunden zurück" ablesen läßt. Wer sich selbst nur amüsieren will oder wem daran gelegen ist, seinen Vorrat an Witzen aufzufrischen, wird bei Luise Lemke sicher fündig. Ein Beispiel weise die Richtung: „Ja, ja, die Frauen sind verschieden!" „Meine leider noch nicht." Gustav Sichelschmidt, bewährter Berlinologe auf vielen schriftstellerischen Feldern, macht es sich mit seinem Essay schwerer. Sein Erstaunen gilt der Tatsache, daß bis heute noch keine Phänomenologie des Berliner Witzes geschrieben worden ist, wenn auch Herbert Schöfflers „Kleine Geographie des deutschen Witzes" mit der einführenden „Landkarte des Humors" von Wilhelm Pinder hierfür schon eine Vorarbeit geleistet hat. In einer Reihe von Abschnitten, die von der Naturgeschichte des Berliners und den historischen Perspektiven ausgehen, die Frage „Humor oder Witz?" beantworten, den häßlichen und die richtigen Berliner behandeln und schließlich der „Metropole der Intelligenz" Tribut zollen, werden Berliner Volksmund und Berliner Literaten auf ihren Beitrag zu diesem Thema abgeklopft. Aber auch so seltene Besucher Berlins wie Goethe kommen zu Wort, der sich 1820 geäußert hat: „Das Völkchen besitzt so viel Selbstvertrauen, ist mit Witz und Ironie gesegnet und nicht sparsam mit diesen Gaben." Zu dem unerschöpflichen Thema des Berliner Humors, dem schon vor dem Ersten Weltkrieg und in den 20er Jahren umfangreiche Anthologien gegolten haben, kann sich diese so gescheite wie vergnügliche Abhandlung durchaus sehen und lesen lassen. H. G. Schultze-Berndl 228

Holger Steinte: Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis. Der ehemalige Hamburger Bahnhof in Berlin und seine Geschichte. Silberstreif-Verlag GmbH, Berlin 1983, 100 Seiten, 78 Abbildungen, Format 27 X 21 cm, gebunden mit Schutzumschlag, 34 DM. „Ein Bahnhof auf dem Abstellgleis" betitelt Dr. Dr. Steinle seine umfassende Reportage über ein Berliner Bahnhofsrelikt. Der Autor bezeichnet das wechselvolle Schicksal des Hamburger Bahnhofs als „eines der letzten Geheimnisse West-Berlins". 138 Jahre sind seit der Inbetriebnahme des Bahnhofs (1846) vergangen. 38 Jahre (von 1846 bis 1884) diente er als Kopfstation einer der wichtigsten deutschen Eisenbahnstrecken, der Verbindung des weltoffenen Hafens mit der Hauptstadt Berlin, 38 Jahre (von 1906 bis 1944) beherbergte er das Verkehrs- und Eisenbahnmuseum, und seit 39 Jahren (von 1945 bis heute) ragen die durch Kriegseinwirkung teilbeschädigten Baulichkeiten, zu denen der öffentliche Zutritt infolge komplizierter Besitzverhältnisse zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Werkes versagt war, in öder Abgeschiedenheit am äußersten Rand unserer zweigeteilten Stadt. Daß nur wenige heutige Berliner von einem Hamburger Bahnhofje etwas vernommen haben, mag daran liegen, daß er schon vor genau hundert Jahren seiner eigentlichen verkehrsbedingten Bestimmung entkleidet wurde, indem man die Personenbeförderung dem neuerrichteten, nahegelegenen Lehrter Bahnhof zugeleitet hatte. Es ist Steinles Verdienst, alles Wissenswerte über den „vergessenen" Bahnhof zusammengetragen zu haben. Zu neuem Leben wird die Person des Baurates Friedrich Neuhaus erweckt, dem aufgrund seiner Erfahrungen im Eisenbahnbau die Errichtung der Strecke Berlin-Bergedorf, des Hauptteils der Verbindung nach Hamburg, übertragen wurde, worüber in den „Mitteilungen" des Vereins für die Geschichte Berlins, Heft 4,1983, S. 109-113, bereits berichtet worden ist. Die umfassende Darstellung des wechselvollen Schicksals des Hamburger Bahnhofs, der als einziger den Zweiten Weltkrieg ohne allzugroße irreparable Schäden überstanden hat, ruft diesen zu seiner Zeit wichtigen Verkehrsträger in die Erinnerung zurück. Steinles Report orientiert den Leser über die technisch hervorragend konzipierte Bahntrasse nach Hamburg, die langwierigen und hartnäckigen Verhandlungen hinsichtlich der Standortwahl des Bahnhofs in Berlin, ergänzt durch informative Planskizzen, über die Erschließung seines Umfeldes und den Ablauf der gesamten Bauarbeiten. Größte Aufmerksamkeit widmet der Autor der späteren Verwendung des Bahnhofsempfangsgebäudes als Verkehrsmuseum. Allein 39 gute, teils ganzseitige fotografische Aufnahmen beziehen sich auf das Museum und seine Gegenstände. Für die Ausstattung des großformatigen Bandes in seinem Glanzpapierumschlag mit dem Farbfoto des Bahnhofs, für den klaren Druck und die gute Papierqualität gebührt dem Silberstreif-Verlag Dank und Anerkennung. Ein weiteres wohlgelungenes Requisit der Berliner Verkehrsgeschichte liegt vor. Hans Schiller

Kurt Pierson: Dampfzüge auf Berlins Stadt- und Ringbahn. 3., veränderte und erweiterte Auflage. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1983, 166 Seiten, 120 Abbildungen, Format 27 X 19 cm, gebunden, mit Schutzumschlag, 59 DM. Kurt Piersons Standardwerk „Dampfzüge auf Berlins Stadt- und Ringbahn" ist soeben in dritter, erweiterter, teils neu konzipierter Auflage und gediegener Ausstattung im Verlag Kohlhammer, Stuttgart, erschienen. Die Menge der Schriften, die sich dem Berliner S-Bahn-Thema widmen, ist, zumal in den letzten Jahren, lawinenartig angeschwollen. Die zumeist jungen Autoren behandeln jedoch vorwiegend die zweite Entwicklungsphase des Bahnbetriebes seit der Einführung der elektrischen Zugförderung in den zwanziger Jahren. Um so begrüßenswerter ist die Aktivität Piersons, des „alten Herrn aus dem Eisenbahnmilieu", der sich, heute 85jährig, mit Leib und Seele der ersten Eisenbahnphase, dem Dampfbetrieb, zugehörig fühlt, in dem er sich von der Pike auf hochgedient hat. Es ist Piersons Verdienst, in mehreren einschlägigen Sparten bewandert zu sein. Er vereint profundes technisches Fachwissen im Lokomotivbau mit speziellen „Intimkenntnissen" aus dem Bereich des Berliner Eisenbahnwesens und besitzt die virtuose Gabe, Erfahrenes und Erlebtes im Gewand zeitgenössischen Lokalkolorits auf eine Weise wiedererstehen zu lassen, die den Leser dieser Lektüre eine bereits historisch gewordene Epoche „live" miterleben läßt. Zu begrüßen sind die der Neuauflage vorangestellten kurzen Informationstexte, die die Entwicklung der ersten in Berlin etablierten privaten Eisenbahnunternehmungen beschreiben. Von besonderer Prägnanz ist die Schilderung der „alten Verbindungsbahn", die sich als Vorläufer der späteren Ring- und Stadtbahn von 1850 bis 1871 in Betrieb befand und nur noch wenigen unserer heutigen Zeitgenossen ein Begriff ist. Erfreulich auch die Bereitschaft des Autors, einige wenige irrtümliche Angaben aus einer früheren Auflage in den Neudruck nicht unkorrigiert wieder zu übernehmen, eine Unsitte, der man im Bereich der Verkehrsliteratur nur allzu häufig begegnet. Die große Anzahl der schon in früheren Auflagen vorhande-

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nen fotografischen Aufnahmen ist um eine Reihe weiterer Reproduktionen und Planskizzen aus dem Bahnbereich vermehrt worden. Nicht ganz gelungen ist ein Hinweis auf die Einrichtung der späteren Ringlinie der Großen Berliner Pferdeeisenbahn im Zusammenhang mit dem auf Seite 29 abgebildeten Wagen No. 1 der seit 1865 nach Charlottenburg verkehrenden Pferdebahn. Inhalt, Aufmachung und Ausstattung der Piersonschen Neuauflage tragen dazu bei, die Berliner Nahverkehrsliteratur um ein besonders attraktives, lesens- und besitzenswertes Werk zu bereichem. Hans Schiller

Martin Hüriimann: Berlin. Königsresidenz - Reichshauptstadt - Neubeginn. Atlantis Verlag Zürich und Freiburg i. Br., Leinen, 328 Seiten, 68 DM. „Wer die Reichshauptstadt gekannt hat, vermag beim Wiedersehen nach der Zweiteilung über all den Kongressen und festlichen Veranstaltungen nicht zu vergessen, daß hier ein einzigartiges, in Jahrhunderten gewachsenes kommunales Gebilde zugrunde ging." Der dies in seinem Epilog „Die zweigeteilte Stadt" zu diesem hervorragenden Berlinband schreibt, ist ein Ausländer des Jahrgangs 1897, genauer gesagt ein Historiker, Verleger, Fotograf und Redaktor, der als Student in die Reichshauptstadt gekommen war, sich dann als Filmproduzent betätigte und schließlich als Herausgeber der Zeitschrift „Atlantis" ein kosmopolitisches Element auch noch in schweren Jahren und in schwieriger Zeit war. Elf Jahre lang wirkte Dr. phil. Martin Hürlimann-Kiepenheuer in Berlin, gab schon 1934 ein Buch „Berlin. Bilder und Berichte" heraus, zu dem der vorliegende Band, den er eigentlich „Die Reichshauptstadt" nennen wollte, das späte Gegenstück ist: Nur wer sich vergegenwärtigt, was Berlin war, kann ermessen, was der Führer und Reichskanzler im Namen des deutschen Volkes verspielt hat, schreibt der Autor in seinem Vorwort. Am 4. März 1984 ist er in seiner Schweizer Heimat verstorben. Chronologisch geht er von der Residenzstadt der Hohenzollern bis in unsere Tage vor, wobei er verständlicherweise den Franzosen und Schweizern in Berlin ein besonderes Kapitel widmet und in einem Exkurs auch Berlins Juden herausstellt. Das durch hervorragende Sachkenntnis ausgezeichnete Buch ist ein zuverlässiger Führer und will nicht mit neuen Theorien aufwarten. Man freut sich an der treffsicheren Auswahl der Abbildungen und den nicht weniger glücklich ausgesuchten Zitaten. Berlin wird auch in seiner Rolle für die preußische Geschichte dargestellt, vor allem während der Märzrevolution 1848. Das Kapitel „Zwölf Jahre Hitler", aus dem sich „für rückblickende Fernsehreportagen freilich nicht alles (eignet)", kann Martin Hüriimann als Zeitgenosse schreiben, wobei er vor allem auf die Vorgänge in der Preußischen Akademie der Künste eingeht. Hürlimanns Schilderung dieses Jahrzwölfts unterscheidet sich wohltuend von vergleichbaren Darstellungen, die nur voreingenommene Urteile zementieren wollen. Das Ende Berlins ist bekannt: Am 23. April 1945 stellen U-Bahn und Stadtbahn den Betrieb ein, am 25. April ist der Ring um Berlin geschlossen (und am Sonnabend, 28. April, 15 Uhr findet bei Landre, Neue Friedrichstraße 83, der letzte Vortrag des Vereins für die Geschichte Berlins statt: Dr. Paul Rehfeld „Der erste Verkehr von Massengütern auf der Berliner Eisenbahn", wie man hier ergänzen darf). Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Leitung des Kupferstichkabinetts interessiert die Aussage des Verfassers, daß dieses allein schon durch seine Zeichnungen von Dürer und Rembrandt eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen der Welt ist. Einige Irrtümer (oder Druckfehler) lassen sich bei einer Neuauflage sicher berücksichtigen. So muß es statt Niederbarmen Niederbarnim heißen (S. 148), Philipp Scheidemann rief auch nicht von einem Fenster der Reichskanzlei, sondern von der Freitreppe des Reichstags die Republik aus (S. 204), und Hegel schließlich ist 1831 nicht ein Opfer der Pest geworden, die schon um 1720 in Europa erloschen ist, sondern er starb an Cholera. Nur an einer Stelle möchte man wirklich mit dem so sympathischen Martin Hüriimann hadern, wo er schreibt: „Im August (1961) sichert die DDR ihre Grenze durch die Berliner Mauer." Hier darf man den Schweizerbürger fragen: Vor was oder gegen wen? Er meinte wohl „sichert"! Die uneingeschränkte Empfehlung für dieses kenntnisreiche, gut geschriebene und glänzend ausgestattete Buch kann durch eine solche Meinungsverschiedenheit indes nicht angetastet werden. H. G. Schultze-Bemdt Gerd Koischwitz: Sechs Dörfer in Sumpf und Sand. Geschichte des Bezirkes Reinickendorf von Berlin. Wilhelm Möller OHG o. J. (1983), 250 Seiten, mit zahlreichen alten Fotos und Faksimiles, 39,80 DM. Das Buch füllt eine Lücke, nämlich das in den letzten Jahren fast in Vergessenheit geratene volks- und heimatkundliche Wissen wieder in die Gegenwart einzubeziehen, was früher die Lehrer mit erstaunlichem Rüstzeug an Wissen betrieben. Es will ein Heimatbuch für Jüngere und Ältere werden. So macht es 230

unterhalb des großstädtischen Erscheinungsbildes die mittelalterlichen dörflichen Strukturen bis hin zu den Flurnamen sichtbar. Es will in der Nachfolge der didaktischen Geschichtsbilder aus den zwanziger Jahren von den großen schicksalbewegenden Kräften wie dem Dreißigjährigen Krieg oder preußischer Staatlichkeit erzählen und bezieht dabei die dingliche Kultur wie Bienenzucht und Fischfang, Fruchtwechsel und Schulzenaufsicht, Mühlenkultur und Schulhandwerk mit ein. Der Dörfler, wie er es bis ins zweite Drittel des vorigen Jahrhunderts noch war, wird in allen Lebensbereichen bis hin zur „sprechenden Stille" der märkischen Landschaft geschildert (S. 112) und begriffen in seinem Eingebundensein in die sozialen Ordnungsmächte von Ritter- und Bürgertum, Klöstern und Kirche, Schule und Militär, Dorf- und Kirchenordnung. In seinem Bemühen, Geschichte als Alltagsgeschehen dieser Art zu erfassen, ist der Verfasser aber auf halbem Wege stehengeblieben, die Volkskunde in eine erneuerte Sicht der historischen Kräfte einzuordnen. Das Lehnswesen z. B. wird noch immer einsträngig gesehen, obwohl man heute weiß, wie vielschichtig in der Ostkolonisation die geistigen und politischen Leitlinien des Deutschen Ritterordens und der Klöster waren, die ebenso wie die Markgrafen auch auf dem Barnim gesiedelt haben. Man kann dem Verfasser noch zugestehen, daß er die durch die politische Spaltung abgetrennten „Sechs Dörfer" als eine siedlungsgeographische Einheit von „Sumpf und Sand" der Nacheiszeit zusammenfaßt. Da es sich aber um den prägnantesten Berliner Bezirk mit gut erhaltenen mittelalterlichen Dorfkernen handelt, fragt man, wo bleibt die prägende Kraft der Ordensritter und der Prämonstratenser? Der Leser vermißt die Hinweise auf das Spannungsfeld zwischen Lehnin, das zugleich Grablege der askanischen Markgrafen war, und der (Franziskaner-)Klosterkiche in Berlin, wie es baugeschichtliche Untersuchungen schon dargetan haben. Es entsteht hier mehr ein Anschauungsbild von den Rittern auf dem Barnim als von der Stadt und Residenz Berlin als Kraftzentrum. So war auch die Auswirkung des Steinschen Regulierungsedikts und der Gewerbeordnung von stärkerer historischer Wirkungskraft. Dennoch bleibt es verdienstlich, ein so umfangreiches Stoffgebiet auf knappem Raum zusammenzudrängen, ansprechend zu erzählen und die Spuren der Geschichtlichkeit allenthalben sichtbar werden zu lassen. Vom reichhaltigen Bildmaterial geht der Reiz des Altertümlichen aus, es macht den Einklang von erhaltener Dörflichkeit und moderner Großstadt spürbar. Es kann der überall sich regenden Ortsteilerforschung der Bürger Hilfestellung geben, die der Selbstfindung dient. Dann aber mag die zuweilen altertümelnde Sprache stören. Eine zweite Auflage hat einige Unrichtigkeiten zu verbessern, vor allem den schlimmen Irrtum, bei dem großartigen Westwerk auf Seite 27 handele es sich um Lehnin; es ist Chorin. - Wenn es ein Nachschlagewerk werden soll, fehlt noch ein Namen- und Sachregister sowie ein Abbildungsverzeichnis. Christiane Knop

Im II. Vierteljahr 1984 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Hartmut Dach, Fertigungsplaner Eiserfelder Ring 8,1000 Berlin 20 Tel. 3 727616 (Illigner) Gerda Klann, Rentnerin Jungfernheideweg 33,1000 Berlin 13 Tel. 3 823433 (Pretzsch) Dr. Ingrid Krause, Ärztin Hagenstraße 29,1000 Berlin 33 Tel. 8 26 29 47 (Schwermer) Dr. Otmar Liegl, Augen-Chefarzt Grünlingweg 6,1000 Berlin 47 Tel. 6 0196 01 (Schriftführer)

Sigmar Radau, Chemieingenieur Severingstraße 23,1000 Berlin 47 Tel. 60488 28 (Dr. Balan) Rita Schelling, Sekretärin Uhlandstraße 42,1000 Berlin 15 Tel. 883 5896 (Dach) Wulf Wilbert, Rechtsanwalt Pr.-Fr.-Leopold-Straße 30,1000 Berlin 38 Tel. 8 03 45 30 (Schriftführer) Hans-Joachim Wolf, Volkswirt Reichsstraße 31,1000 Berlin 19 Tel. 3 04 22 97 (Wollschlaeger) 231

Veranstaltungen im III. Quartal 1984 1. Sonnabend, den 21. Juli 1984, 10.00 Uhr: Sommerausflug 1984. „Die Spandauer Zitadelle nach den neuesten Bauforschungen und archäologischen Erkenntnissen." Leitung der Besichtigung Herr Jürgen Grothe, Dauer etwa 3 Stunden. Anschließend um 13.15 Uhr Gelegenheit zum Mittagessen in der Zitadellenschenke: Spießbraten mit Kraut und Specksalat 18,50 DM. Telefonische Anmeldung für das Mittagessen täglich ab 19.00 Uhr unter der Nummer 8 5127 39 bis zum 18. Juli. Treffpunkt 9.50 Uhr am Torhaus der Zitadelle, Zitadellenweg. Sommerpause im Monat August. 2. Donnerstag, den 6. September 1984,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag mit zwei Projektoren von Frau Ingeborg Hensler und Herrn Oswald Hensler: „Der Potsdamer und der Leipziger Platz mit ihrer Umgebung einst und jetzt." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Freitag, den 7. September, bis Sonntag, den 9. September 1984: Studienfahrt 1984 nach Eutin. Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt. 4. Sonntag, den 16. September 1984,10.00 Uhr: „Von der Invalidensiedlung nach ,Kaiserlich'Frohnau - Eine architekturhistorisch-gartenkünstlerische Stadtteilbegehung." Leitung Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt Staehlerweg, an der Brücke der Nordbahn. (Endhaltestelle des Busses 15, vom U-Bhf. Tegel kommend. Abfahrt des Busses 15 vom U-Bhf. Tegel um 9.29 Uhr.) Endpunkt der 3-Stunden-Wanderung ist der Bahnhof Frohnau (Busse 12 und 15).

Wir bitten unsere Mitglieder, bei Wohnungswechsel die neue Anschrift umgehend der Geschäftsstelle bekanntzugeben, da Postvertriebsstücke (unsere „Mitteilungen") trotz Nachsendeantrag nicht nachgeschickt werden.

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3 23 28 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 3022 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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Fachabt. der Berliner MadtbiDitotneic

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*- MITTEILUNGEN W DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 80. Jahrgang

Heft 4

Oktober 1984

Der engere Wettbewerb zur Erlangung von Entwürfen für eine Bismarck-Warte auf Westend bei Charlottenburg. * Zur Ausführung gewählter Entwurf von Prof. Dr. Bruno Schmitz in Charlottenburg. * Gesamt-Ansicht aus der Vogelschau mit Angabe der Umgebung des Denkmales. * Deutsche Bauzeitung, XLV. Jahrgang 1911, No. 53.

Diß/Bismarckwarte bei Fürstenbrunn 'Ein Kapitel Planungsgeschichte Von Arne Hengsbach Zu den Nationaldenkmälern, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert deutsch-nationaler Gesinnung und Stimmung der bürgerlichen Schichten ihre Entstehung verdankten, gehören auch die vielen Bismarcktürme, -säulen und -warten, die in den zwei Jahrzehnten von 1895 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs überall in Deutschland geplant und ausgeführt wurden. Neben den Personendenkmälern wurden auch Architekturdenkmäler errichtet, bei denen die figürliche Darstellung des Reichskanzlers gegenüber dem monumentalen Bauwerk mehr oder weniger zurücktrat. Vor allem zwei Formen wurden bei diesen der Erinnerung an den Gründer des Deutschen Kaiserreichs von 1871 gewidmeten oder geweihten Architekturdenkmälern beliebt: der Turm in immer wieder abgewandelten Varianten und, wenn auch nicht so häufig, der Rundbau, wie er bereits bei der Kehlheimer Befreiungshalle von 1863 verwendet worden war, auch er in verschiedenen Spielarten. Die Bismarckmonumente wurden auf Bergeshöhen oder im Flachland wenigstens auf Anhöhen errichtet; weithin sichtbar solten sie von dem Ruhme des Mannes, der die Nation in einem Reiche geeint hatte, künden. Zugleich aber hatten die Bismarcktürme usw. noch eine andere Funktion, sie dienten als Aussichtstürme, von denen aus ein Blick weit in die tiefer gelegene Landschaft möglich war. Die Türme krönten Feuerbecken, in denen an nationalen Gedenktagen wie dem Reichsgründungstag, Bismarcks Geburtstag oder dem Sedantag ein Feuer entzündet wurde, das weit ins Land hin leuchtete. Die Flammen, die da loderten, boten vielfältige Symbolik; sie sollten erinnern an Sieg, Opfer, Reinheit und andere Begriffe aus einer völkisch-germanischen Gedankenwelt. Es gab einige Architekten, die sich auf das Entwerfen solcher Denkmäler spezialisiert hatten, dazu zählten vor allem Wilhelm Kreis (1873-1955), Bruno Möhring (1863-1929) und Bruno Schmitz (1858-1916), daneben waren aber auch wenig bekannte Baukünstler Schöpfer von Bismarckmonumenten. In zahlreichen Städten der Mark Brandenburg sind Bismarcktürme und -warten entstanden. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: die Bismarcksäule von Wilhelm Kreis am östlichen Stadtrand von Frankfurt a. O. (1901) und die Bismarckwarte auf dem Marienberg in Brandenburg a. H. nach einem Entwurf von Bruno Möhring (1908). Auf Berliner Gebiet wurde eine Bismarckwarte 1904 auf den Müggelbergen errichtet. Sie kann als vereinfachte und verkleinerte Variante des Kyffhäuser-Denkmaltyps eingeordnet werden. Der über 30 m hohe, mit Rüdersdorfer Kalksteinen verkleidete Bau, der 120 000 Mark gekostet hatte, war von dem sonst nicht hervorgetretenen Architekten Otto Rietz in Schöneberg entworfen worden. Zur Aussichtsplattform führten 166 Stufen; auch hier wurden an auf Bismarck bezogenen Gedenktagen die üblichen Leuchtfeuer entfacht. Die Vorstellungen, Anhöhen mit nationalen Denkmälern zu krönen, fand auch Eingang in die Berliner Stadtplanung. Bruno Möhring, der auch als Berliner Städtebauer und Planer hervorgetreten ist, hatte bei einem von der Stadt Schöneberg im Jahre 1910 ausgeschriebenen Wettbewerb für einen Bebauungsplan des Schöneberger Südgeländes den ersten Preis erhalten. In einer Besprechung des Möhringschen Entwurfs in der „Deutschen Bauzeitung" vom 10. Mai 1911 wird bemerkt: „Die höchste und südlichste Stelle bekrönt eine Denkmal-Architektur, die sich als Sehpunkt in der Achse der Prachtstraße darbietet." In einer Entwurfsskizze „Südliche 234

Platzanlage mit Blick über den Sportpark nach dem Bismarck-Denkmal" ist ein turmartiges Gebäude mit einem Standbild erkennbar. Möhring selbst erläuterte in der „Bauwelt" vom 18. März 1911 sein Projekt: „Auf der höchsten Stelle des Geländes ist ein monumentales Denkmal geplant, das in der Achse der 60 m breiten Prachtstraße errichtet ist und als Wahrzeichen des neuerschlossenen Geländes weithin sichtbar die Gegend beherrschen soll. Das Denkmal ist in der Art der Bismarcksäulen gedacht." Als Standort für das Monument war die Gegend des heutigen „Insulaners" vorgesehen, an der Grenze von Schöneberg und Südende, die schon immer einige Bodenerhebungen aufwies. Zu einer Verwirklichung der stolzen Schöneberger Planungen ist es bekanntlich nie gekommen. Der Vorschlag Möhrings bietet aber ein gutes Beispiel für die monumentalen, barocken Vorbildern verpflichteten Stadtplanungen der späten Wilhelminischen Ära. Die allerorten vorhandene Aufgeschlossenheit für die Aufstellung patriotischer Denkmale ist auch für das Projekt einer Bismarckwarte auf den Westender Höhen bestimmend gewesen, das in Vorbereitung und Planung erheblich weiter gediehen war als die Möhringschen Anregungen für ein derartiges Monument in Schöneberg-Süd. Auch das Westender Vorhaben konnte nicht verwirklicht werden; es bietet aber ein gutes Beispiel für jene großzügig gehaltenen Entwürfe der Denkmalsbaukunst und des Städtebaus in jenem Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Die ersten Nachrichten über ein Bismarckdenkmal in Westend finden wir in der „Vossischen Zeitung" vom 4. April 1905: „Eine Bismarckwarte soll auch im Westen Berlins entstehen. Wie Direktor von Schütz auf dem Bismarckkommers mitteilte, hat der Berliner Bismarckausschuß am Fürstenbrunnen, im Westen von Berlin, ein zwei Morgen großes Grundstück gekauft und beschlossen, dort eine Bismarckwarte zu errichten, die alljährlich das Andenken an den Altreichskanzler mit Feuerflammen feiern soll." Ähnlich auch der Spandauer „Anzeiger für das Havelland", ebenfalls vom 4. April 1905: „Ein Bismarck-Turm wird auf der Höhe von Fürstenbrunn errichtet werden. Zwei Morgen Terrain hat der Landwirtschaftsminister, wie auf dem Bismarck-Kommers in der Berliner Philharmonie mitgeteilt wurde, für diesen Zweck bereits hergegeben. Die Sammlungen für den Turmbau sind im Gange." Nahe am Abfall der Diluvialplatte des Teltow zum Spreetal, oberhalb der im Jahre 1905 eröffneten Vorortbahn-Haltestelle „Fürstenbrunn" sollte die Bismarckwarte ihren Standort haben. Von der 53 m hohen Erhebung, die etwa 20 m über dem Spreetal lag, hatte man tatsächlich einen weiten Blick über die meist noch unberührten Spreewiesen bis nach Spandau und über die dunkle Waldkulisse der Jungfernheide hinweg bis nach Tegel zu den dort gerade im Bau befindlichen großen Gasometern der Berliner Gaswerke. Es bestand aber ein Unterschied zu den Bismarckdenkmälern in anderen Städten. Dort lagen sie nämlich im Bereich der äußersten Stadtrandzone oder noch jenseits von dieser. Selten wurde ein Standort im Stadtgebiet selbst gewählt wie in Brandenburg a.H., wo die Bismarckwarte auf dem Marienberg erbaut worden war. Zu jener Zeit, da der Entschluß gefaßt wurde, auf dem Westender Plateau ein Bismarckdenkmal zu plazieren, war das Gelände Nordwestends zwischen dem Spandauer Damm damals „Spandauer Chaussee" - und der Hamburger und Lehrter Eisenbahn noch unbebaut, und der für das Denkmal in Aussicht genommene Platz wurde 1905 einmal als ein „gerade der Haltestelle (Fürstenbrunn) gegenüber liegender, ziemlich scharf hervorspringender Sandhügel" bezeichnet. Es war aber schon damals abzusehen, daß das etwa 150 ha umfassende Gelände Nordwestends einmal der Bebauung zugeführt werden würde, wobei allerdings der Zeitpunkt für eine solche Entwicklung noch völlig ungewiß blieb. Im Endzustand konnte also nicht wie anderwärts ein einsam gelegenes Monument auf der Höhe entstehen, sondern es mußte in die 235

allerdings noch völlig unbekannten Strukturen eines später hier entstehenden Stadtteils eingepaßt werden. Die bauliche Entwicklung konnte hier also nicht wie sonst einsträngig verlaufen. Gerade zu jener Zeit, als die ersten Denkmalspläne für Westend im Mai 1905 bekannt wurden, brachten die Grundbesitzer, die in Nordwestend Terrains hatten, bei den städtischen Körperschaften eine „Petition" ein, in der sie die Festsetzung von Baufluchtlinien, also einen Bebauungsplan, forderten. Ein solcher war die rechtliche Voraussetzung für die Durchführung von Erschließungsmaßnahmen. Solange kein Bebauungsplan vorlag, mußten die Eigentümer ihre Grundstücke ungenutzt liegen lassen und hatten keine Möglichkeit, mit diesen als Bauland Terraingeschäfte zu betreiben. Die Charlottenburger Kommunalpolitiker mochten allerdings nicht oder wenigstens noch nicht auf die von den Grundbesitzern geäußerten Wünsche eingehen. Der Stadtbaurat August Bredtschneider (1855-1924) hatte seit 1900 die gesamte kommunale Charlottenburger Städtebaupolitik und Stadtplanung maßgeblich gestaltet und beeinflußt. Die Ziele seiner und der Charlottenburger Baupolitik hat er unmißverständlich herausgestellt. Über einen in anderer Angelegenheit am 29. August 1905 abgehaltenen Ortstermin hat der Siemensdirektor Spiecker einen Vermerk aufgesetzt, in dem auch die Ausführungen Bredtschneiders über die bauliche Gestaltung der Gegend bei Fürstenbrunn festgehalten sind. Die Stadtverwaltung hätte „an der ganzen Entwicklung der Dinge hier kein Interesse", sie würde vielmehr alles tun, um die Aufschließung der Gebiete um die neue Haltestelle Fürstenbrunn herum nach Möglichkeit zurückzuhalten. Es sei gegen das Interesse der Stadt, zu viele Terrains auf einmal aufzuschließen, weil es nicht genug reiche Leute gebe, die diese beziehen könnten, und das ganze Programm der Kommunalverwaltung sei darauf gegründet, daß nur reiche Leute nach Charlottenburg herangezogen werden sollten, und diese seien nicht zu Hunderten und Tausenden zugleich heranzuziehen. Deswegen müsse die Stadt mit der Aufschließung neuer Terrains möglichst langsam und vorsichtig vorgehen. Bredtschneider glaubte, daß erst „die nach uns folgende Generation" erleben werde, daß die Gegend auf dieser Seite der Stadt für die Bebauung aufgeschlossen würde. Zu dem geplanten Denkmal bemerkte er, „daß die Ausführung möglichst lange hintan gehalten werden sollte, daß übrigens der Zugang zu dem Denkmal von der Station Fürstenbrunn aus gegeben sein werde". In Charlottenburg wurde nach den von Bredtschneider dargelegten Grundsätzen verfahren. Die Stadt betrieb zu jener Zeit in erster Linie den Ausbau der Bismarckstraße und des Kaiserdamms - der seiner Zeit bis zur Weichbildgrenze am Bahnhof Heerstraße ging - zu Prachtstraßen sowie die Erschließung eines völlig neuen Stadtteils, Neuwestends, der sich vom Spandauer Damm bis zur Heerstraße hinzog und von der Reichsstraße als Magistrale durchschnitten wurde. Gemeinsam mit der Terraingesellschaft, die den künftigen Stadtteil parzellieren und die Baugrundstücke mit Gewinn veräußern wollte, führte Charlottenburg die aufwendige Erschließung durch. Um die gewünschten begüterten Bevölkerungsschichten zur Übersiedlung in das abseits gelegene Neuwestend zu veranlassen, mußten außer Straßen auch öffentliche Verkehrsmittel geschaffen werden, die es den künftigen Bewohnern ermöglichten, schnell und bequem ihre Büros und Geschäfte in der City zu erreichen. So beteiligte sich die Stadt auch an den Kosten für den Bau der Untergrundbahn nach Neuwestend. Bei diesem Engagement für ein großes Projekt, das zudem noch in Konkurrenz stand mit anderen in den westlichen Vorortgemeinden wie Wilmersdorf, Dahlem, Zehlendorf usw., die ebenfalls um den Zuzug wohlhabender Bürger warben, mußten Erschließungen weiterer großer Gebiete zurückgestellt werden. Nicht nur Nordwestend, sondern auch das gesamte nördliche Stadtgebiet zwischen der Spandauer Grenze und Plötzensee wurde von der Bebauung ausgeschlossen. Die Nachrichten über die Bismarckwarte bei Westend sind in den folgenden Jahren nur 236

Geplanter Standort

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spärlich. Wie in den meisten derartigen Fällen hatte sich auch hier ein Verein gebildet, der die Verwirklichung des Projekts vorbereitete und Spendensammlungen zur Deckung der Baukosten durchführte. Das „Teltower Kreisblatt" berichtete am 3. Oktober 1907: „Für die Berliner Bismarckwarte, die an der Spandauer Chaussee nahe bei Fürstenbrunn entstehen soll, werden jetzt aufs neue Sammlungen eingeleitet... Abgesehen von dem Grundstück, das einen Wert von 8299 Mark hat, verfügt der Verein zur Zeit über Barmittel im Betrag von 8768 Mark. Die Kosten der Bismarckwarte sind aber auf rund 100000 Mark veranschlagt. Die Bismarckwarte soll eine ähnliche Form wie die auf den Müggelbergen errichtete erhalten." Zu den Spendern gehörten nach dem „Teltower Kreisblatt" vom 7. Juli 1908 auch die Firmen Siemens & Halske AG und Siemens-Schuckertwerke GmbH, die für die Bismarckwarte zusammen 10000 Mark gezeichnet hatten. Die Siemensfirmen waren Nachbarn geworden. In dem Spreetal zu Füßen des Hügels, der das Bismarckdenkmal aufnehmen sollte, war hauptsächlich in den Jahren von 1905 bis 1913 eine große Fabrikstadt entstanden, die sich vom nördlichen Spreeufer bei Füstenbrunn nach Norden und Nordwesten hin erstreckte, mit großen, z.T. 25 m hohen Stockwerksbauten, ausgedehnten Hallen, einem Kraftwerk, Heizwerken, einem Industriehafen, einer Werksgüterbahn mit einem verzweigten Gleisnetz, aber auch zahlreichen Schuppen und Behelfsbauten. An die Industriebauten schloß sich die Wohnstadt zu beiden Seiten der Nonnendammallee an, deren Bau ebenfalls 1905 begonnen wurde und die 1914 mehr als 7000 Bewohner zählte. 1914 erhielt die neue Industrie- und Wohnsiedlung den Namen „Siemensstadt". Sie lag unmittelbar vor den Charlottenburger Grenzen auf Gelände, das Spandau in seinen Stadtkreis eingemeinden konnte. Das geschäftige Treiben in einem großen Industriestandort hätte in einem sonderbaren Kontrast zu einer nationalen Weihestätte gestanden, das die roten Ziegelfronten der Werksbauten in 300 bis 600 m Entfernung nicht allzu sehr überragt hätte. Doch nahm man dieses seltsame Konglomerat hin. Früher, als Bredtschneider es vorausgesagt hatte, sah sich Charlottenburg dann doch genötigt, sich mit der künftigen städtebaulichen Gestaltung Nordwestends zu beschäftigen. Das hatten nicht so sehr die Eigentümer, die auf eine Verwertung ihrer Grundstücke drängten, als die Stadt selbst veranlaßt. Charlottenburg hatte sich zwar damit abgefunden, daß das Gebiet der Siemensstadt entgegen seinen Bestrebungen nach Spandau eingemeindet worden war, es strebte aber nun, seit 1908, an, seine Nordgrenze mit Spandau zu verbessern, wobei es folgende Planungen entwickelte: Die Spree, die zwischen Fürstenbrunn und der Gegend des heutigen Kraftwerks Reuter in einem flachen Bogen nach Süden verlief, sollte begradigt und dabei nach Norden in das Spandauer Gebiet bei Sternfeld verschoben werden, um auf dem Gelände südlich des neuen Spreebettes unter Einbeziehung des alten Flußlaufes einen großen Umschlagund Handelshafen anlegen zu können. Geplant war, die Hafenanlage dem Gelände östlich von Fürstenbrunn bis etwa an den Wiesendamm auszudehnen und mit Anschlußgleisen zur parallel verlaufenden Staatsbahn zu versehen. Die Verhandlungen mit den Staatsbehörden und der Stadt Spandau, die 1908 aufgenommen wurden, hatten 1914 noch keinen Abschluß gefunden. Zuletzt stand nicht mehr der Hafenbau, sondern die Verlegung der Spree und mit ihr der Grenze zwischen Charlottenburg und Spandau in die Mitte der neuen Wasserstraße im Vordergrund der nur langsam fortschreitenden Vorbereitungen für eine Vereinbarung. Diese Wasserbauprojekte hatten zur Folge, daß auch für das südlich angrenzende Nordwestend entsprechende Planungen aufgenommen wurden, denn das künftige Hafengelände mußte durch Zufahrtsstraßen mit dem Charlottenburger Stadtgebiet verbunden werden. Für den Stadtteil Nordwestend wurde 1911 eine neue Baupolizeiverordnung erlassen, die die hochgeschossige Bebauung, die hier vorgesehen gewesen war, herunterstufte und dafür Bau238

klassen mit geringerer Stockwerkzahl und entsprechend weniger Ausnutzung der Baugrundstücke vorsah. Auch das mußte der Bebauungsplan berücksichtigen. Zur gleichen Zeit, als sich die städtischen Behörden mit den umfangreichen Hafen- und Bebauungsplanentwürfen beschäftigten, war auch der Verein „Bismarck-Warte - Westend" nicht untätig geblieben. Er hatte im Oktober 1910 einen engeren Wettbewerb für einen Denkmalsbau ausgeschrieben, an dem drei Architekten beteiligt waren. Preisträger war der in dergleichen Entwürfen geübte Professor Bruno Schmitz. Die Kosten für den Bau der Warte waren in dem Preisausschreiben auf 400000 Mark begrenzt, eine Summe, über die der Verein im Jahre 1911 nicht im entferntesten verfügte. Das Vereinsvermögen erreichte damals etwa ein Viertel der beabsichtigten Bausumme. Schmitz hatte keinen Turm entworfen, sondern einen Rundbau. Die „Bauwelt" beschrieb am 10. Juni 1911 das Schmitzsche Projekt: „Der... preisgekrönte Entwurf des Professors Dr. Ing. Bruno Schmitz für die Bismarckwarte auf der Westender Höhe ... stellt eine 36 m hohe, runde Säulenhalle mit überragender Attika dar. In der Mitte dieses monumentalen Arkadenkranzes befindet sich ein Feueraltar. ,Dieses einfache Motiv', sagt Professor Schmitz in seinem Erläuterungsbericht, ,ist von bedeutsamer Wirkung, die beim Abbrennen des Feuers ins Gewaltige gesteigert wird'... Eine breit gelagerte möglichst große Masse fügt sich besser in die flache Landschaft ein als ein Turm oder sonstiges hohes Motiv. Die breite Masse des Bauwerkes verbindet sich in ebensolcher Weise mit der mächtigen Sanddüne, und es entsteht so eine gewaltige Einheit, die ebensowohl in den Häusermassen der Stadt sich kraftvoll behauptet als auch die weite Ebene beherrscht... Durch die Verlegung des Fürstenbrunner Weges sind nicht nur günstige Beleuchtungsverhältnisse geschaffen, sondern es ist auch dafür gesorgt, daß der Blick auf die Gesamtanlage nie verbaut werden kann. Aus diesem Grunde hat auch der Bahnhof Fürstenbrunn eine leicht zu bewerkstelligende Verschiebung erfahren. Das Gelände zwischen dem neuen Fürstenbrunner Weg und der Düne ist in eine dem Monument entsprechende Parkanlage strengen Stils umgewandelt ..." Auch die „Deutsche Bauzeitung" hat den Schmitzschen Entwurf gewürdigt (am 21. Juni und 5. Juli 1911): „... Das Denkmal bildet den krönenden Punkt einer T-förmigen Platzanlage. Der nördliche Arm dieses Platzteiles hat zwischen den Hauswandungen eine Breite von etwa 105 m, die Hauswandungen steigen von Straßenfläche zu einer Höhe von etwa 15 m an und bleiben damit sehr erheblich unter der Höhe des Denkmales, das... bis zur Oberkante der Attika eine Höhe von 25 m erreicht, während die Höhe von Denkmal-Fußboden bis Oberkante Umgang vor der Attika 16 m beträgt. Der innere Durchmesser des Sechzehn-Eckes der Denkmal-Bogenstellung beträgt 40 m ... der äußere Durchmesser des Denkmals beträgt 50 m." Auf Zusammenhänge zwischen Denkmalsarchitektur und der benachbarten Siemensstadt weist die „Deutsche Bauzeitung" ebenfalls hin: „Im Norden sind dem Denkmal eine Anzahl großer industrieller Anlagen vorgelagert, die eine nicht gerade erwünschte Nachbarschaft für das Bauwerk bilden und höchstwahrscheinlich nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung des Werkes waren. Denn der Künstler war augenscheinlich bestrebt, den großen Baumassen der industriellen Anlagen die größere geschlossenere des Denkmalbaues entgegen zu stellen ... Eine Brücke über die Spree, welcher nach der Bedeutung ihrer Lage monumentaler Charakter zu geben wäre, verbindet die Denkmal-Anlage mit dem Rohrdamm." Die notwendige Abstimmung des Denkmalentwurfs mit dem Bebauungsplanentwurf, den das von Bredtschneider geleitete Charlottenburger Tiefbauamt ausgearbeitet hatte, wurde betrieben. Der Geschäftsbericht des Vereins „Bismarck-Warte - Westend" für das Geschäftsjahr 1911/12 gab sich optimistisch: „... In diesem der Stadtverordneten-Versammlung von Charlottenburg bereits zur Beschlußfassung vorgelegten Plane, der aber noch der behördlichen 239

Genehmigung bedarf, ist dem Bruno Schmitzschen Entwurf in weitgehender Weise Rechnung getragen. Mit Ausnahme des vorgelegten Baufluchtlinienplanes wird unsere Vereinsaufgabe einen gewaltigen Schritt der Lösung näher gebracht werden. Der herrlich gelegene Bauplatz auf der Höhe von Westend liegt bekanntlich innerhalb eines der Bautätigkeit noch zu erschließenden Stadtteiles, dem einerseits die Bismarckwarte berufen ist, ein monumentales und charakteristisches Gepräge zu verleihen, während andererseits die Bauweise des Stadtteils wieder die Wartenanlage zur höchsten Wirkung bringen soll." Der Entwurf hätte im übrigen eine erhebliche Erweiterung des Baugrundstücks erfordert. Es bedurfte zahlreicher Überlegungen über die genaue Lage des Denkmals, seine Orientierung und die Art der Umgebung, „um den verschiedenen, auch besonders durch den Bahnhof Fürstenbrunn bedingten Interessen gerecht zu werden", wie der rührige und tatkräftige Vorsitzende des Vereins, der Generalmajor z.D. G. Becker, einmal ausführte. So brachte z. B. der städtische Entwurf für Nordwestend die Notwendigkeit „des Zurückrückens des Bauplatzes für die Warte nach Süden zum Zwecke der Gewinnung des Raumes für einen südlich des Eisenbahnstranges Berlin-Spandau und an diesem entlang führenden Verkehrsweg". Am 4. März 1912 lag dem Beirat des Vereins ein neuer - privater - Bebauungsplanentwurf vor, „welchen die Boden-Aktien-Gesellschaft Charlottenburg West hat anfertigen lassen, und welcher als Verfasser die Unterschrift Taut trägt"; bei dem Planverfasser hat es sich um Bruno Taut gehandelt. Der Geheime Baurat Otto March referierte über diese Tautsche Bearbeitung, die eine Reihe von Vorzügen aufweise, „so z. B. die Entwicklung der Hauptavenue von der Spandau-Charlottenburger Chaussee nach der Bismarck-Warte. Die Breite dieser Avenue könnte indessen auf 50 m beschränkt werden. Ein großer Vorzug des Taut'schen Planes liegt darin, daß die Avenue nur einmal durch eine große Verkehrsstraße durchschnitten wird ..." Die von Taut offensichtlich vorgesehene breite barocke Achse, die auf das Denkmal zuläuft, gehört zu dem Motivschatz der Stadtbaukunst jener Jahre, sie wurde wiederholt in Vorschlägen für eine künftige Bebauung Berliner Vororte verwendet. In den Tautschen Entwürfen für die Gartenstadt Falkenberg und die Bebauung Gatows und Kladows (1913) werden derartige breite und repräsentative Straßenzüge oder Straßenteile ebenfalls angedeutet. Mit diesen Nachrichten über eine vielseitige Planungstätigkeit für die Gestaltung Nordwestends und der Bismarckwarte hört der Fluß der Informationen über diese Gegenstände auf. In der folgenden Zeit gibt es nur spärliche Mitteilungen über die weitere Entwicklung, und die war negativ. Der Bebauungsplan, den Bredtschneiders Behörden ausgearbeitet hatten, kam nicht zur Festsetzung. Der „Bericht über die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Charlottenburg" für 1914 teilt mit: „Für das 140 Hektar große Stadtgebiet von Nordwestend, zwischen Spree und Spandauer Chaussee gelegen, wurde ein neuer Bebauungsplan in Bearbeitung genommen." Die Forderungen der Grundbesitzer nach einer baldigen Erschließung ihrer Terrains in Nordwestend wurden auch nicht mehr so nachdrücklich erhoben. Auf dem Grundstücksmarkt bestand zu jener Zeit eine Flaute. Die Bebauung des mit hohem Kostenaufwand von der Neuwestend-Gesellschaft und der Stadt Charlottenburg ins Leben gerufenen Stadtteils am Theodor-Heuß-Platz und an der Reichsstraße schritt zögernd voran, nur auf dem kurzen Teilstück zwischen dem Platz und der Kastanienallee wurde die Reichsstraße mit „herrschaftlichen" Mietshäusern bebaut, im übrigen liefen die abends hellerleuchteten Straßen durch leeres Gelände. Die Käufer von Bauparzellen hielten sich zurück, außerdem war das Angebot an Baugrundstücken ähnlicher Art in den Berliner Vororten reichlich, in Wilmersdorf z. B., am Rüdesheimer Platz, entstand etwa zur gleichen Zeit ebenfalls ein Wohnviertel für anspruchsvolle Mieter des gehobenen Mittelstandes. 240

Das Westender Plateau bei Fürstenbrunn, von Siemensstadt aus gesehen, um 1925. Die Bismarckwarte sollte auf der Sandfläche, rechts im Bild, errichtet werden. Foto: Siemens-Archiv 241

So war in Nordwestend die Neigung geringer geworden, erhebliche Mittel in eine Aufschließung zu investieren, deren wirtschaftlicher Erfolg zunächst fraglich schien. Hinzu kam, daß die neue Bauordnung für Nord Westend die bauliche Ausnutzung der Grundstücke verringert hat; das schlug natürlich auf die Grundstückswerte durch. Es war ein Unterschied, ob ein Baugrundstück zu 3/10 bzw. 4/10 oder aber zu 5/10 genutzt werden durfte. Das alles wirkte sich auch auf das Projekt der Bismarckwarte aus; in unerschlossenem Gelände ohne festgesetzte Zugangsstraßen wäre der Bau nicht auszuführen gewesen. Aber auch andere Faktoren beeinflußten den Denkmalsplan ungünstig. Der „Anzeiger für das Havelland" brachte am 2. April 1914 eine Übersicht über den Werdegang des nicht verwirklichten Monuments: „Aus Anlaß des gestrigen Geburtstags des Altreichskanzlers dürfte es interessieren, zu erfahren, was aus dem Plan einer Bismarck-Warte für Berlin und die westlichen Vororte auf der Höhe von Westend geworden ist, für die auch in Spandau gesammelt worden ist. Dieses Bauwerk sollte innerhalb Groß-Berlins ein Gegenstück zu der Bismarck-Warte auf den Müggelbergen im Osten sein. Wie erinnerlich, hatte der Verein Bismarck-Warte Westend vor drei Jahren einen engern Wettbewerb ... veranstaltet, aus dem Bruno Schmitz als Sieger hervorging... Der Verein hatte schon damals etwa die Hälfte der auf 400000 Mark veranschlagten Baukosten gesammelt und hoffte, die Bismarck-Warte zum 100. Geburtstag Bismarcks, am 1. April 1915 eröffnen zu können. Dieser Wunsch wird sich aber nicht verwirklichen lassen. Der eifrigste Förderer des Gedankens, auf der Höhe von Westend eine Bismarck-Warte zu errichten, Generalmajor z.D. Becker ist im vorigen Jahre gestorben. Dazu kam, daß das Gelände von Nordwestend in eine niedrigere Bauklasse versetzt wurde, so daß es der beteiligten Terrain-Gesellschaft aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich war, das erforderliche Gelände, wie ursprünglich beabsichtigt war, unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Dieser Platz auf der Höhe von Westend kommt daher für die Bismarck-Warte nicht mehr in Frage. Staatsminister v. Podbielski hat sich nun, wie bekannt, der Sache angenommen, und es besteht jetzt die Aussicht, einen geeigneten Platz an der Döberitzer Heerstraße zur Errichtung der Bismarck-Warte zu erhalten." Wenige Monate später begann der Erste Weltkrieg, jede weitere Beschäftigung mit derlei Planungen war nun ausgeschlossen. Ein patriotischer Wunsch, an dessen Erfüllung man neun Jahre hindurch geglaubt hatte, mußte aufgegeben werden. Es wurde verwehten Spuren nachgegangen, das, was sich noch aufspüren ließ, zeigt, wie stark auch in der späten Wilhelminischen Zeit noch die Bismarck-Verehrung war, aber auch die Lebhaftigkeit, Phantasie und Großzügigkeit der Raumgestaltung der damaligen Stadtplanung und die Einwirkung barocker Vorbilder auf den Städtebau. Anschrift des Verfassers: Arne Hengsbach, Joachim-Friedrich-Straße 2, 1000 Berlin 31

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5p0' Jahre Jerusalems-Kirche Von Renate Goldbach Der Sage zufolge hat alles damit angefangen, daß der Askanier Albrecht der Bär im Jahre 1134 die Nordmark vom deutschen Kaiser als Fahnlehen erhielt. Dort sollen dann, zwanzig Jahre später, inmitten von Wildnis, Sümpfen und halb zum Christentum bekehrten wendischen Einwohnern die Johanniterbrüder, die dem Markgrafen aus dem Heiligen Land gefolgt waren, das Kirchlein Hierusalem erbaut haben. Es soll genau an der Stelle gestanden haben, an der die Spree vor den Städten Colin und Berlin in Sumpfgebiet überging. Tatsächlich findet sich der erste historisch belegte Hinweis auf die Jerusalems-Kirche in einem Ablaßbrief mehrerer Bischöfe vom 18. Oktober 1484, der anläßlich eines großen verheerenden Brandes erlassen wurde. Ein Berliner Patrizier namens Müller oder Molner soll diese im Jahr 1484 erwähnte Kapelle gestiftet haben zum Gedenken an eine Wallfahrt nach Jerusalem. Fest steht auch, daß es sich nicht um eine Kirche, sondern nur um eine kleine Kapelle handelte, die vor den Stadtmauern von Colin und Berlin stand. Das sind die Geschichten aus der sehr alten, vorlutherischen Zeit. Erneut erwähnt wird die Jerusalems-Kirche dann wieder zu der Zeit der Reformation. Damit war auch die JerusalemsKapelle zusammen mit allen anderen Kirchen und Kapellen des Landes evangelisch geworden. In welcher Form das geschah, sagt uns keine Überlieferung. Erst ein Jahr später - im Jahre 1540 - findet die Kapelle wieder in einem Visitationsprotokoll Erwähnung. Der Große Kurfürst schenkte die Jerusalems-Kirche 1671 dem Magistrat vom Friedrichswerder, der ein Armenhospital errichten wollte. Mit der Errichtung dieses Hospitals wurde dann gleichzeitig auch die Jerusalems-Kirche restauriert und repariert. Im Jahre 1689 erweiterte dann der Baumeister Simonetti den Kirchenbau. Die Gemeinde, die jetzt zur Friedrichstadt gehörte, wuchs und wuchs, so daß schon einige Jahre später ein weiterer Aus- und Anbau beschlossen werden mußte. Mit Beendigung dieses neuen Anbaus wurden dann von 1695 an auch regelmäßige Sonntagsgottesdienste abgehalten. Hierzu ist zu sagen, daß die Jerusalems- und Neue Kirche lange Zeit bis zum Jahre 1930 - ein gemeinsames geistliches Ministerium hatten, das sich aus zwei lutherischen, zwei reformierten und einem Freiprediger zusammensetzte. Die Prediger der ersten Jahre nach Einführung regelmäßiger Gottesdienste waren hauptsächlich Rektoren, die ihr Schulamt weiter ausübten. Der erste lutherische Geistliche war der Prorektor Berger vom Berlinischen Gymnasium, sein Subrektor Werkmeister der erste reformierte Geistliche. Mit diesen beiden Geistlichen beginnt für die Jerusalems-Kirche das eigentliche Pfarr- und Gemeindeleben. Die Friedrichstadt dehnte sich weiter aus, und trotz der mehrmaligen An- und Umbauten wurde die Kirche für die Gemeinde zu klein. Friedrich Wilhelm I. verfügte dann auch im Jahre 1725 den Abriß der Jerusalems-Kirche und den Neuaufbau unter der Oberleitung von Philipp Gerlach. Das Baumaterial wurde vom König gestiftet, und aufsein Geheiß wurde eine Kollekte ausgeschrieben. So konnte der Bau zügig vorangehen und am Pfingstsonntag des Jahres 1728 der geistliche Einweihungsgottesdienst stattfinden. Die neue Kirche hatte zwar noch keinen Turm, aber es fand sich Rat, indem Prediger und Vorsteher beim König um eine neue Kollekte vorstellig wurden. Alsbald konnte auch der Turm errichtet werden. Aber möglicherweise war diese zweite Kollekte zugunsten der Jerusalems-Kirche doch nicht so einträglich, denn wegen schlechten Baumaterials und zu eilig durchgeführter Bauarbeiten senkte sich der Turm nach 243

einer Seite bedenklich, so daß er schon 1747 wieder abgerissen werden mußte. Stehenblieb nur der massive Unterbau, der mit einem Notdach versehen wurde. Die reformierte und die lutherische Kirche blieben bis zum Jahr 1830 in der Gemeinde vereint. Durch das Unionsstatut wurden die Konfessionsunterschiede der beiden zur Jerusalems- und Neuen Kirche gehörenden Gemeinden beseitigt und eine Teilung in zwei Parochien vorgenommen. Die Parochie der Jerusalems-Kirche erhielt die Grenzen im Süden Mehringplatz (früher Belle-Alliance-Platz), im Norden Krausenstraße, im Westen Wilhelmstraße und im Osten Lindenstraße. Für jede der beiden Gemeinden wurden eigene Geistliche und Kirchenbeamte berufen. Gemeinsam blieben die Begräbnisplätze und das Kirchen vermögen sowie das Prediger- und Witwenhaus in der Friedrichstraße 213. Diese nach dem Unionsstatut 1830 verbliebene Restvermögensgemeinschaft wurde erst 1877 aufgelöst. Danach erhielt die Jerusalems-Kirchen-Gemeinde das Haus Friedrichstraße 213, einen entsprechenden Anteil am Kapitalvermögen und die ihr speziell vermachten Legate. Gemeinsam blieben die fünf Begräbnisplätze und einige Legate. Die Jerusalems-Kirche erlebte einen weiteren Ausbau im Jahr 1836 und erhielt ein Jahr später statt des Notdaches eine neue Spitze für den Turm nach einer Zeichnung des Königlichen Oberbaudirektors Schinkel. Aber auch die Geschichte Preußens blieb nicht stehen. Die alten Gegensätze zwischen Preußen und Frankreich brachen erneut auf und gipfelten im Krieg von 1870/71. Viele deutsche Staaten hatten sich dieser Auseinandersetzung angeschlossen, und so war es nur folgerichtig, daß 1871 im Spiegelsaal von Versailles mit der Kaiserproklamation ein deutsches Kaiserreich unter Wilhelm I. mit Berlin als Hauptstadt und dem endgültigen Ausscheiden Österreichs gegründet wurde. Und nun wieder zurück zu der Jerusalems-Kirche. Diese wurde 1878/79 nach Plänen und unter Leitung des Baumeisters Edmund Knoblauch völlig umgebaut. Eine neue Orgel wurde auch angeschafft. Zitieren wir hier aus der „Illustrierten Zeitung" Nr. 1908 vom 24. Januar 1880: „Die Hauptstadt des Deutschen Reiches hat zwar viele imposante Bauten aufzuweisen, aber was ihre Kirchen betrifft, so sind dieselben die schwächste Partie der Spreemetropole. Der Geist des Protestantismus hat in dieser Richtung sich durch nüchterne Formen geltend gemacht, was namentlich auch bei dem Dom am Lustgarten der Fall ist. Neuerdings wurde aber ein bedeutender Schritt gethan, um der Aesthetik auch auf dem Gebiet des Kirchenbaus gebührende Rechnung zu tragen. Dies bekundet die am ersten Adventssonntag des verflossenen Jahres feierlich eingeweihte Jerusalemskirche. Der Umbau des alten Gotteshauses kommt in allen seinen Theilen, einschließlich des Thurmhelms, einem Neubau gleich. Der leitende Baumeister, Edmund Knoblauch in Berlin, hat damit ein Werk geschaffen, welches eines der schönsten Zierden der Residenz ist, und das ihm zum dauernden Ruhm gereichen wird. Dieser Erfolg ist um so höher anzuschlagen, als es zu den undankbarsten und schwierigsten Aufgaben für den Architekten gezählt werden muß, den Umbau eines an sich unschönen und zugleich unpraktischen Bauwerkes auszuführen." Besonders hebt der Artikel dann noch die von Wilhelm Sauer erbaute Orgel hervor, deren ungewöhnliche Klangfülle gerühmt wird. Die Kosten dieses Umbaus wurden bis auf ein Patronatsgeschenk des Magistrats aus der Gemeindekasse beglichen und betrugen 305 000 RM. Der Glasmeister Geßel, der die Herstellung sämtlicher Kirchenfenster übernommen hatte, schenkte der Jerusalems-Kirche ein nach einem Knoblauch-Entwurf gemaltes Fenster „Durch Kampf zum Frieden". Ein großes Ölbild „Der leidende Christus" spendete ein Kaufmann namens Ackermann. Ein weiterer Umbau des Kircheninnern fand in den Gründerjahren statt. Hierbei wurde die 244

Die Jerusalems-Kirche um 1740, deren Turm bereits 1747 wegen Baufälligkeit(!) abgetragen werden mußte. Gasbeleuchtungsanlage durch eine elektrische ersetzt. Die Brüder Siemens stifteten eine Christusfigur aus Carrara-Marmor des Bildhauers Hüsler. Die Altarbekleidung war eine Stiftung des Fabrikanten Collani. Am Anfang des neuen Jahrhunderts wurde Berlin zur Geschäftsstadt. In der Innenstadt siedelten sich immer mehr Großbanken und Versicherungen an (Deutsche Bank, Dresdner Bank), ein Kaufhaus nach dem anderen entstand (Wertheim, Tietz, Israel). Auch in der Friedrichstadt machte sich diese Entwicklung bemerkbar. Neben Siemens und Halske in der Markgrafenstraße siedelten sich weitere Industriebetriebe an. Das Verlags- und Zeitungsgewerbe um die Gegend Koch-, Zimmer-, Linden- und Jerusalemer Straße breitete sich weiter aus. Im Volksmund wurde die Jerusalems-Kirche nur noch „Zeitungskirche" genannt. Die Menschen flohen, soweit sie es sich leisten konnten, in die grünen Außenbezirke. Der Hausvogteiplatz, das Zentrum der Textilindustrie, dehnte sich weiter aus. Es entstanden große Firmen, und viele jüdische Kaufleute etablierten sich. Das Berlin der zwanziger Jahre erhielt einen ungeahnten Zuwachs an kultureller Kraft. In diesen Jahren der Gegensätze wurde aus der doch auch im Kaiserreich noch nicht wirklich entwickelten Hauptstadt Berlin die Weltstadt Berlin. Hier traf sich alles, was auf kulturellem und künstlerischem Gebiet Rang und Namen hatte. Aber auch hier entwickelte sich der Nationalsozialismus, der ab 1933 dem künstlerischen Treiben der Stadt ein jähes Ende bereitete. Als die 450-Jahr-Feier unserer Kirche gefeiert wurde, waren die Nationalsozialisten schon an der Macht, und Deutschland und die Welt versanken in Finsternis. Zur Kirchengeschichte ist 245

noch anzumerken, daß durch die Stadtflucht die Gemeinde in der Friedrichstadt so klein wurde, daß die beiden Gemeinden der Jerusalems- und Neuen Kirche schon 1933 wieder zusammengeführt wurden. Als einmalig in der evangelischen Kirchengeschichte ist anzumerken, daß die JerusalemsKirche an den rumänischen Staat verkauft wurde. Dieser zahlte eine Summe von 450000 RM und erhielt die Zustimmung des Magistrats von Berlin und des Evangelischen Konsistoriums zum Kaufvertrag, der am 21. August 1941 abgeschlossen wurde. Da die Rumänische Staatskirche nicht gleich einzog, wurden erst einmal Weizensäcke im Mittelschiff gelagert, aus dem das Gestühl entfernt worden war. Alle Archivalien und die sakralen Gegenstände brachte man in die Neue Kirche. Am 3. Februar 1945 zerstörte ein Bombenangriff die Jerusalems-Kirche bis auf wenige Reste. Ebenso erging es der Neuen Kirche und den dort eingelagerten Archivalien der Jerusalemer. Bis 1961 stand die Ruine unserer Kirche. So lange brauchte der Berliner Senat, um mit Rumänien zu einer Einigung zu kommen. Schließlich fand die Sprengung der Überreste am 9. März 1961 statt. Bei der anschließend folgenden Enttrümmerung wurden viele menschliche Gebeine und Reste von Grabsteinen gefunden. Außerdem wurden Fundamente freigelegt, die von einer spätmittelalterlichen Kapelle stammen könnten. In den Jahren bis 1968 hatte unsere Gemeinde Gastrecht im Gemeindehaus der Dreifaltigkeitsgemeinde in der Wilhelmstraße 115. Am 4. Dezember konnte der Grundstein für das neue Gemeindezentrum der Jerusalems- und der Neuen Kirchen-Gemeinde durch Generalsuperintendenten Helbich gelegt werden. Die neu zu errichtende Kirche steht ca. 300 m von ihrem alten Standort entfernt an der Linden-/Ecke Markgrafenstraße. In den Grundstein wurde eine Urkunde des Verlegers Axel Springer eingemauert, in der es u.a. heißt: „Mögen das Gemeindezentrum und sein Glockenturm Meilensteine an der Straße von Berlin nach Jerusalem sein, die es freizuschaufeln gilt." Am 22. Dezember 1968 konnte das Gemeindezentrum die kirchliche Weihe empfangen. Nach den Plänen der Architektin Kressmann-Zchach war ein moderner Bau mit dem 306 Plätze fassenden Gemeindesaal, dem Verwaltungstrakt mit Pfarrwohnung und Jugendräumen entstanden. Der Glockenturm ist fast 30 m hoch mit einem 3 m hohen Kreuz, das abends angestrahlt wird. Er wurde einschließlich der Glocken von dem Verleger Springer gestiftet, der hier in unserem Bezirk die alte Tradition des Zeitungsviertels weiterführt. In den Ansprachen, die von Superintendenten Helbich und dem Kirchenrat Herbert Kriwath gehalten wurden, gedachten beide auch des Teiles der Gemeinde, die durch die Teilung der Stadt auf der anderen Seite geblieben ist. Anschrift der Verfasserin: Renate Goldbach, Jerusalems- und Neue Kirchen-Gemeinde, Lindenstraße 85, 1000 Berlin 61

Das Gemeindezentrum der Jerusalems- und Neuen Kirchen-Gemeinde wurde am 22. Dezember 1968 eingeweiht. Den Glockenturm stiftete der Berliner Verleger Axel Springer. 246

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Aus dem Mitgliederkreis Studienfahrt nach Eutin Eine ganze Reihe von Absagen kurz vor dem Aufbruch brachte es mit sich, daß die rund 60 Reiseteilnehmer einen geräumigen doppelstöckigen Omnibus zur Verfügung hatten. Dieser brachte sie am Freitag, dem 7. September 1984, in den Jägerhof Wangelau, wo sie von Dipl.-Ing. H. O. Mieth, Inhaber der Maschinenfabrik Otto Tuchenhagen, begrüßt, über Produktion und Bedeutung dieses weltweit führenden Unternehmens aufgeklärt und zu einem guten Mittagsmahl eingeladen wurden. Der Rundgang durch den Betrieb in Buchen mit seinen 500 Mitarbeitern (davon 130 Ingenieure) vermittelte ein gutes Bild, weswegen sich Brauereien und Molkereien den der Automatisierung dienenden Erzeugnissen des Hauses Tuchenhagen anvertrauen. Pünktlich konnte dann in Eutin „MS Freischütz II" zu einer Rundfahrt auf dem leider regenverhangenen Großen Eutiner See geentert werden. Bürgermeister Grimm begrüßte die Gäste seiner Stadt, der Vorsitzende des Verbandes zur Pflege und Förderung der Heimatkunde im Eutinischen Gerhard Nauke, getreuer Begleiter auch am folgenden Tag, gab erste Erläuterungen. Für den sehr instruktiven Spaziergang um den Uklei-See unter Führung Oberförster Schlenzkas hatte sich der Himmel wieder aufgeklärt, und auch das gute Abendessen im Forsthaus Wüstenfelde am Uklei versöhnte die Gemüter. Sonnenschein hieß die Gäste am Sonnabend, dem 8. September 1984, in Eutin willkommen, wo sie im Schloß liebenswürdig an die Hand genommen und im Wechsel im Kreisheimatmuseum von dessen Leiter Dr. K.-D. Hahn geführt wurden. Der Stadtrundgang vermittelte dank einleuchtenden Schilderungen G. Naukes einen hervorragenden Eindruck vom „Weimar des Nordens", in der St.-Michaelis-Kiche begrüßte Pfarrer Lindow die Gäste und gab dann Hernn Klimm das Wort zu kirchengeschichtlichen und architektonischen Erläuterungen. Dem Mittagessen im herrlich gelegenen Fissauer Fährhaus folgte der Besuch der romanischen Kirche Altenkrempe, in der Pastor Tillmann zu Erklärungen zur Verfügung stand. Allgemein als Höhepunkt der Exkursion wurde der Besuch des Herrenhauses Hasselburg empfunden, dessen Schloßherr, Dr. Andreas Beurmann, alte Instrumente und die Herzen seiner Gäste zum Klingen brachte. Die größte reetgedeckte Scheune Schleswig-Holsteins, als Schauplatz von Barockopern ausersehen, ließ die künftige segensreiche Tätigkeit Dr. Beurmanns erahnen und den Wunsch laut werden, zu einem Konzert nach Hasselburg zurückzukehren. Einer Kaffeetafel im Landhaus Petersen in Bliesdorf schloß sich dann der Besuch des Zisterzienserklosters Cismar an. Dieser auch sichtbar vom Wetter begünstigte Tag klang in den Schloßterrassen Eutin aus. Nachdem die Reisegefährten das Chaos des sonntäglichen Kaffeetrinkens im Hotel am Kellersee teils humorvoll-gelassen, teils mit energischem Zugriff bewältigt hatten, waren sie für die Ausführungen des Direktors des Max-Planck-Instituts für Limnologie Plön, Professor Dr. J. Overbeck, sehr aufgeschlossen. Dieser schilderte die Entwicklung des Instituts aus einer privaten Gründung vor 90 Jahren zu einer Stätte wissenschaftlichen Forschens von Weltrang, in der heutige Fragen der Ökologie bereits bearbeitet und grundlegend erforscht wurden, bevor diese zum Schlagwort wurden. In einem glänzenden Diavortrag und mit einem informativen Film wußte Professor Overbeck seine Zuhörer zu fesseln, sein Mitarbeiter Neufeld führte sie dann an den Plußsee, zum Objekt jahrzehntelanger Beobachtung. Die erste Verspätung der Reise ergab sich in der alten Vicelin-Kirche Bosau, deren Pastor Ehlers die Schilderung seines Gotteshauses zu einem Gottesdienst werden ließ. Der dann einsetzende Dauerregen konnte die Reisenden nicht mehr allzu sehr stören, die in der Raststätte Gudow Nord brav Schlange standen, um ihren Mittagsteller entgegenzunehmen. Als Kontrast zu Ostholstein und dem ehemaligen Fürstbistum Lübeck als Sei der diesjährigen Studienfahrt soll 1985 das Ravensburger Land erkundet werden. H. G. Schultze-Berndl

Bibliographie der Veröffentlichungen von Heinz Goerke aus den Jahren von 1943 bis 1982. Anläßlich seines 65. Geburtstages zusammengestellt und herausgegeben von Juliane C. Wilmanns, mit einer Laudatio von Hans Schadewaldt. Münchener Vereinigung für Geschichte der Medizin e.V., München 1982, broschiert, DIN A5, 63 Seiten. In dieser Personalbibliographie unseres Mitglieds Professor Dr. h. c. Dr. H. Goerke sind auch alle seine Veröffentlichungen zur Geschichte der Berliner Medizin nachgewiesen. Dieses Büchlein kann nicht im Buchhandel erworben werden. Interessenten können es im Sekretariat des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität München, Lessingstraße 2, 8000 München 2, abrufen. SchB. 248

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v*l Über den Steglitzer Obus Im Heft 3/1984 der „Mitteilungen" hatte Kirchenmusikdirektor Heinz-Günter Bahr über die „Kaisereiche" in Friedenau berichtet. Sein Klassenkamerad Heinz Ostermann ergänzt diese Schilderungen mit dem Foto von 1912, das den Obus in der Bismarckstraße am Lauenburger Platz zeigt. Hierzu führt er aus: Nachdem die Gemeinde Steglitz sich zu einem erneuten Versuch mit einem Obus entschlossen hatte, wurde die rund zwei Kilometer lange Strecke vom Wannseebahnhof Steglitz über das Postamt, die Bergstraße und Bismarckstraße bis zum Knausplatz an der Schöneberger Grenze am 20. April 1912 in Betrieb genommen. 1913 wurde die Trasse der Linie geändert, um den Friedhof in der Bergstraße besser bedienen zu können. Von September 1913 an fuhren die Busse statt durch die Bismarckstraße weiter über die Bergstraße - Altmarkstraße - Thorwaldsenstraße bis zur Ecke Knausstraße. Das technisch Interessante war der Kontaktwagen, der auf der Oberleitung lief und bei Begegnungen mit dem in Gegenrichtung fahrenden Obus zwischen den Wagen ausgetauscht werden mußte. Bei Beginn des Ersten Weltkrieges mußte die Linie eingestellt und die kupferne Oberleitung Kriegszwecken zugeführt werden. Dieser Obus fuhr also von 1912 bis 1914. Übrigens waren die Wagen elfenbeinfarbig gestrichen und trugen das Steglitzer Stadtwappen. SchB.

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Ehrenmitglied Dr. Richard von Weizsäcker antwortet Auf die Mitteilung, die Mitgliederversammlung vom 14. Juni 1984 habe ihn einstimmig zum Ehrenmitglied gewählt, erwiderte der designierte Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker am 25. Juni 1984: „Sie haben mir eine große Freude gemacht und eine hohe Ehre erwiesen, indem Sie mir die Ehrenmitgliedschaft des Vereins für die Geschichte Berlins zuerkannt haben. Meine Verbindung zu Berlin erstreckt sich über ein ganzes Leben. Sie hat sich in den letzten Jahren auf besondere Weise vertieft. Durch die Ehrenmitgliedschaft in Ihrem an Tradition so reichen Verein wird ein neues Band geknüpft, das ich mit herzlicher Dankbarkeit entgegennehme. Der Arbeit des Vereins und den Bestrebungen seiner Mitglieder gelten für die weitere Zukunft meine besten Wünsche." SchB.

Nachrichten Neubauten im alten Stadtkern Im Bereich zwischen dem Roten Rathaus und Spree, zwischen Marx-Engels-Forum und Molkenmarkt entsteht ein neues Wohngebiet auf historischem Grund. Insgesamt sollen 788 Wohnungen neu gebaut werden, ferner 31 Geschäfte und 22 Gaststätten. Zu diesen gehört auch der historische „Nußbaum", eines von insgesamt 20 Bürgerhäusern, die in alter Bauweise und äußerlich originaltreu dem Molkenmarkt ein zwar altertümliches, jedoch mitnichten geschichtlich verbürgtes Gesicht geben sollen. Es ist weiter vorgesehen, dort auch das vor 220 Jahren erbaute und 1935 abgerissene Ephraim-Palais sowie die alte Berliner Gerichtslaube anzusiedeln. SchB. * Unser Jahrbuch „Der Bär von Berlin" wird im Herbst erscheinen. Die Mitglieder erhalten dann den Band zugestellt, soweit sie den fälligen Mitgliedsbeitrag für das laufende Jahr entrichtet haben.

* Bestellungen von Publikationen des Vereins sind ausschließlich an die Geschäftsstelle des Vereins: Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, zu richten.

Bahnhöfe von S-Bahn und U-Bahn in Ost-Berlin werden wiederhergestellt In den nächsten Jahren sollen 51 S-Bahnhöfe und 224 U-Bahnhöfe im Ostteil der Stadt restauriert werden, wie in den Denkmalschutz-Informationen des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz berichtet wird. Dabei sollen der Gesamtcharakter der Anlagen und unter Denkmalschutz stehende architektonisch wertvolle Details erhalten bleiben. Die für die Wiederherstellung des S-Bahnhofs Marx-Engels-Platz (Börse) benötigten Ziegel müssen eigens angefertigt werden. Beim S-Bahnhof Prenzlauer Berg sind gleichfalls denkmalspflegerische Belange zu berücksichtigen. Noch in diesem Jahr soll mit der Wiederherstellung der Südfassade des Bahnhofs Friedrichstraße begonnen werden. SchB.

Um die Kuppel des Reichstages Unser Mitglied Günter Stolle, Eichbomdamm 298,1000 Berlin 26, unterrichtet uns über eine Korrespondenz mit Joachim Tanneberger, Knesebeckstraße 5,1000 Berlin 12, deren Inhalt hier kurz zur Diskussion gestellt werden soll. Nachdem der Dom am Lustgarten einschließlich seiner Kuppel wieder hergerichtet worden ist, ist die Frage berechtigt, ob nicht auch das Reichstagsgebäude wieder mit einer Kuppel versehen werden kann. Auf einen entsprechenden Vorstoß hat die Verwaltung des Deutschen Bundestages am 13. März 1984 wie folgt geantwortet: „Beim Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes ist auf die Wieder-

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errichtung der Kuppel verzichtet worden, weil sie zur neugestalteten Innenarchitektur keinen Zusammenhang mehr bildete. Im Vordergrund stand damals die innere Funktion und nicht so sehr die äußere Gestalt des Bauwerkes. In der Zwischenzeit hat sich das Stilempfmden der Bürger wesentlich gewandelt. Die Frage bleibt dennoch, ob eine Kuppel ohne jeden Bezug zur inneren Architektur - sozusagen wie eine Haube - auf das Gebäude gesetzt werden sollte. Sicherlich wäre dies heutzutage in Leichtbauweise mit modernen Baumethoden technisch möglich, ohne eine solche Abrundung - wie beim historischen Bauwerk - bereits im Fundament zu gründen. Aber auch dann bliebe diefinanzielleFrage und bedürfte des politischen Anstoßes." Wie aus diesem Schreiben weiter hervorgeht, werde die Bundesbaudirektion als bauausführende Behörde das Thema nur dann aufgreifen, wenn der Deutsche Bundestag als Bauherr des Gebäudes einen entsprechenden Auftrag erteilen und die Stadt Berlin ihr Interesse an einer Wiedererrichtung der Kuppel bekunden und dieses an das Präsidium des Deutschen Bundestages herantragen würde: „In diesem Zusammenhang müßte der Senat wohl ein Gesamtkonzept für die Gestaltung der Umgebung des Reichstagsgebäudes vorlegen." Des weiteren wurde die Frage aufgeworfen, ob der Platz vor dem Reichstag nicht wieder in den alten Zustand versetzt werden kann, also mit dem an anderer Stelle im Tiergarten aufgestellten Bismarckdenkmal und mit dem Granitbrunnen. Zu dem „unbefriedigenden Zustand" des Vorplatzes nimmt die Verwaltung des Deutschen Bundestages wie folgt Stellung: „Ein Wettbewerb für die Gesamtlösung des Reichstagsumfeldes ist nach meinem Wissen jedoch bislang an der Trassenfrage für die Westtangente bzw. deren Ersatzlösung, an dem noch nicht geregelten Gebietsaustausch des Geländedreiecks um das ehemalige Columbus-Haus sowie an der nach wie vor problematischen Absicherung des Sowjetischen Ehrenmals gescheitert." Schließlich hat sich J. Tanneberger zu den Auseinandersetzungen um die verschwundene vierte Reliefplatte von der Siegessäule, die vermutlich von Buntmetalldieben eingeschmolzen wurde, geäußert. Er schlägt vor, dieses Bronzerelief mit den Darstellungen aus dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 anhand alter Zeichnungen bis zur 750-Jahr-Feier Berlins wiederherzustellen, wenn keine alten Gußformen mehr vorhanden sind. In unserer Stadt dürften sicher hinreichend Künstler leben, die diese Arbeit übernehmen könnten. SchB.

Buchbesprechungen Maser/Poelchau: Pfarrer am Schaffott der Nazis. Moewig-Taschenbuch, Rastatt, 176 Seiten, 6,80 DM. Der Hitler-Forscher Werner Maser sitzt dem Gefängnispfarrer Dr. Poelchau gegenüber und stellt ihm Fragen, dem Mann, der mehr als tausend Opfer des nationalsozialistischen Regimes auf dem Gang zum Henker begleitete. Wenig mehr als vierzig Jahre liegen diese Schrecken zurück, doch will uns die zeitliche Entfernung rückschauend aus einer neuen, heileren Welt schon viel, viel größer erscheinen. Wollen wir die Erinnerung verdrängen? Liegt hier ein furchtbares Buch über eine furchtbare Zeit vor? Gewiß nicht, sein Inhalt ist zeitüberlegen. Ein Seelsorger spricht, der „die Möglichkeit hatte, bewußt Sterbende bis zu der Grenze zu führen, an der der Unterschied zwischen dem bewußt Sterbenden und dem bewußt Lebenden auf ein Minimum zusammenschrumpft", und „mit der Vollmacht der Botschaft des Christentums versehen, konnte er die Seele aus ihren Ängsten lösen und sie für den Herrn dieser und jener Welt vorbereiten". In solchem Verständnis ist es ein erhebendes Buch, das vom Balsam der Religiosität, der Bindung an eine überirdische Macht, und von der Möglichkeit und der Wirklichkeit menschlicher Größe und Würde handelt, die sich im Angesicht eines sicheren nahen Todes einzigartig bewähren. Gerhard Kutzsch Die deutschen Heimatmuseen. Ein Führer zu mehr als 900 Museen und Sammlungen in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin. Herausgegeben von Hanswilhelm Haefs. Mit einem Sonderbeitrag von Carsten Sternberg „Überlegungen zum deutschen Heimatmuseum, dargestellt am Kempener KramerMuseum". Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1984, 336 Seiten, mit einem 24seitigen farbigen Bildteil, Ppbd., 28 DM. Man möchte sich am Titel stoßen, weil es sich (natürlich?) nicht um die deutschen Heimatmuseen handelt, sondern um diejenigen der Bundesrepublik Deutschland und des Westteils Berlins. In alphabetischer 251

Folge nach den Ortsnamen werden 880 Heimatmuseen und 45 Heimatvertriebenenmuseen vorgestellt und die für einen Museumsbesuch nötigen oder wünschenswerten Angaben gemacht. Ein Sach- und geographisches Register wie auch eine im Zeitalter der Gemeindereformen erforderliche Ortsnamenkonkordanz erleichtern die Benutzung. Das Personenregister bringt die im Text erwähnten Personen, nicht aber die Namen der Museumsleiter. Aus Berlin werden neben dem Berlin-Museum und dem Deutschlandhaus die Heimatmuseen Kreuzberg, Neukölln, Reinickendorf, Schöneberg, Spandau, Steglitz, Tempelhof und Zehlendorf, ein „Kommunales Museum für Stadtgeschichte", im Text auch als Museum für Stadtteilgeschichte bezeichnet, bei dem es sich um die Sammlung des Bezirks Wilmersdorf handelt, das Museumsdorf Düppel sowie schließlich das Heimatarchiv Charlottenburg aufgeführt, als dessen Leiter der Stadtrat für Volksbildung fungiert, der indes Peter Mudra (nicht Mundra) heißt. Was als 24seitiger farbiger Bildteil bezeichnet wird, sind in der Tat die am Beispiel des Kempener Kramer-Museums dargestellten „Überlegungen zum deuschen Heimatmuseum". Der im selben Verlag erschienene deutsche Museumsführer in Farbe wartet hingegen auf fast jeder Seite mit Farbfotos auf. Dieser Museumsführer bietet eine gute Grundlage, die entsprechenden Institutionen aufzufinden und ihre Charakteristika kennenzulernen. Daß wiederum von Exponaten gesprochen wird statt von Expositen, was dochrichtigesLatein, oder von Gegenständen, was dann korrektes Deutsch wäre, beweist den Verfall von humanistischer Bildung oder Sprachgefühl, selbst bei Autoren, die wie der Herausgeber sogar Sprachwissenschaft studiert haben. Hans G. Schultze-Berndt

In der Luisenstadt. Studien zur Stadtgeschichte von Berlin-Kreuzberg. Von Christiane Bascön-Borgelt, Astrid Debold-Kritter, Karin Gansauge, Kristiana Hartmann, hrsg. von der Bauausstellung Berlin GmbH (IBA), Transit Buchverlag 1983, 144 Seiten, mit vielen Skizzen, Stichen und Fotos, 24 DM. Ein erster Teil bringt die allgemeine Besiedlungsgeschichte der Luisenstadt, zwei Fallstudien arbeiten exemplarisch das eigentliche Anliegen heraus: Die Verfasser der Studie bringen vor dem Hintergrund der neuerdings behutsamen Stadterneuerung am Beispiel Kreuzberg die stadtplanerische Genese der Luisenstadt als eine differenzierte bauliche, ökonomische, sozial- und kommunalpolitische Entwicklung ins Bild aus einer Zeit, als der von Stein reformierte Staat Preußen und der Magistrat von Berlin sich um eine reizvolle Stadterweiterung bemühten. So erscheint es als eine dankbare Aufgabe, das auf den als unansehnlich verrufenen Kreuzberg bezogene Hegemannsche Verdikt der „größten Mietskasernenstadt der Welt" auf ein reales Maß zu reduzieren und die historischen Sachverhalte neu ins Bewußtsein zu rufen. Eine solche Vergegenwärtigung setzt ähnliche Bemühungen fort, die ein Katalog zur Preußen-Ausstellung angebahnt hat*. Anteilnehmend liest man vom mehrfach abgewandelten Konzept einer mit Grünzügen und Schmuckplätzen durchzogenen Stadt und der Architektur der Nach-Schinkel-Zeit. Wenig bekannt ist dabei die durchaus fortschrittliche Rolle des späteren Königs Friedrich Wilhelm IV., der als Kronprinz im Austausch mit Schinkel und Lenne eine noble Stadtgestalt entwarf, deren Grundlinien an Landwehrkanal und einstigem Luisenstädtischen Kanal noch heute erkennbar sind. Man hört vom Bethanien-Krankenhaus als dem Kristallisationspunkt für die Besiedlung des Köpenicker Feldes, das seit 1802 Luisenstadt hieß. Die beiden Fallstudien vom Heinrichplatz und dem Block am Schlesischen Tor schildern den grundlegenden Unterschied zwischen der Stadtgestalt mit Boulevards und Sternplätzen und der dichten Renditebebauung auf engem Raum. Die Nachfrage nach billigem Wohnraum im Zuge der Industrialisierung ging in den achtziger Jahren konform mit dem Wandel vom Schmidplan und Lenneplan zur Hobrechtschen Baufluchtverordnung. Der oberflächliche Betrachter hat bisher kaum beachtet, daß die nachklassizistische Bauform noch auf die Tradition des Bürgerhauses vom 18. Jahrhundert zurückgreift. Erst mit der Besetzung der Hinterhöfe durch Industrie ist die Entwicklung zur Mietskasernenstadt eingeleitet worden. Zwar geht die Untersuchung in der Auswertung der Objektbeschreibungen, Planskizzen, Gutachten und Adreßbücher behutsam vor, doch scheint der Hauptvorwurf einer „liberalistischen Stadtpolitik" durch Hausbesitzerparlamente und das Verdikt des Hypothekenwesens etwas einseitig in den Vordergrund gerückt, und damit ist ein modernes Unbehagen ins 19. Jahrhundert hinübergespiegelt worden. Wenn man auch zugesteht, daß die Abkehr von absolutistischer, dirigistischer Baupolitik eine tiefe Zäsur bedeutet, so * Manfred Hecker: Die Luisenstadt - ein Beispiel der liberalistischen Stadtplanung und baulichen Entwicklung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Berlin zwischen 1789 und 1848, Facetten einer Epoche, Katalog der Akademie der Künste zum Preußen-Jahr 1981.

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ist doch festzustellen, daß die Verfasser die historische Wirksamkeit der Steinschen Städtepolitik nicht tiefgreifend genug berücksichtigen. Auch die erste Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg ist unter ähnlichen Konstellationen erfolgt. Und ein Lobpreis der Vermischung von Arbeiten und Wohnen wäre vor einem Jahrzehnt noch höchst ketzerisch gewesen. Hier haben erst die modernen Bestrebungen nach Stadterneuerung Wandel geschaffen. Der Kenner jener Verhältnisse wüßte gern noch anderes hinzugefügt: den Wandel der Besitzerstruktur in den Inflationsjahren; ferner sind die Kriegszerstörungen wenig berücksichtigt und die erste Aufbauphase in den fünfziger Jahren mit ERP-Mitteln, der Druck der unkritischen Renovierung unter dem Zwang der Wohnraumnot. In der Ära Kressmann waren die gewachsenen Bindungen zur Friedrichstadt und Stadtmitte behutsam gepflegt worden. All dies ist durch die Mauersituation empfindlich gestört worden, so daß die eintretende Planungsunsicherheit erst den Zustrom der türkischen Bevölkerung ermöglichen konnte. Die geschilderte Wechselwirkung von Wohnungsnachfrage durch Randwanderung der Industrie und wiederum Gewerbeansammlung wegen der Wohndichte in den Quartieren ist auch für die nördlichen und östlichen Vorstädte (Rosenthaler, Spandauer, Königs- und Stralauer Vorstadt) beispielhaft. Sie verlockt zu erzählerischer Gestaltung des Lebens in der Luisenstadt nach dem Grundsatz „Das Leben der Häuser ist zugleich das Schicksal ihrer Menschen". Hier sind Neuanfänge gesetzt worden. Christiane Knop

s~^k. M. Hammacher: Bernhard Heiliger. Künstler unserer Zeit, Band 20. Erker-Verlag St. Gallen, broschiert, 160£eiten, 27 DM. ^^MTDamus und H. Rogge: Fuchs im Busch und Bronzeflamme. Zeitgenössische Plastik in Berlin (West). Ein Kunstbuch und eine neue Art von Stadtführer. Heinz Moos Verlag München, 1979, 257 Seiten, 34 DM. ISBN 3-7879-0120-5. Manches Mitglied wird sich des Besuches im Atelier Bernhard Heiligers erinnern, dessen Werk und Besonderheit hier geschildert werden. An der in „-ismen" ausgedrückten Entwicklung der Bildhauerkunst in Europa (Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus) hatten die deutschen Bildhauer keinen Anteil. Bernhard Heiligers Schaffen setzte zu einem Zeitpunkt ein, da die Auseinandersetzung zwischen der älteren Generation, die noch selber in Stein meißelte, und jenen Künstlern, die modellierend räumlich denken und ihr Werk in Bronze umsetzen, bereits ausgetragen war. Die künstlerischen Interessen wandten sich nun anderen Problemen zu, die bei Heiliger im Zwischenbereich von Figuration und Abstraktion einer Lösung harrten. Dies hieß für Heiliger zunächst, „sich von Maillol zu lösen, beim Porträt Despiau und Marini zu überwinden und in der Abstraktion von der biomorphen Gestaltungsweise Arps und Moores loszukommen". Dabei zieht vor allem die Oberfläche und deren Gestaltung Heiliger unwiderstehlich an, was sich in einer Vielzahl von Materialien ausdrückt, Aluminium und Zement, auch Bronze, gelegentlich Marmor, Kalkstein oder Asbest. Als eines seiner Hauptwerke kann die riesige Hängeskulptur „Kosmos 70" im Reichstagsgebäude angesehen werden. Der Autor wird bei den Porträts Heiligers oftmals an die Köpfe und Figuren im Bamberger Dom erinnert. Er resümiert: Das Werk ist voller Kontraste und dennoch ein Wunder an Einheit, obwohl es nicht von einer alles umfangenden Form zusammengehalten wird. Das zweite der hier zu besprechenden Bücher bezieht sich auf alle künstlerisch plastischen Objekte, die nach 1945 im Westteil Berlins aufgestellt wurden, wobei die Zusammenhänge zwischen der Größe des Objekts, dem Ort der Aufstellung und der dem Objekt zugesprochenen Bedeutung herausgearbeitet werden sollen. Insofern war dieses Buch ein „Muß". Es ist gut lesbar und gescheit vorgetragen, wobei man zwischen der Scylla kunsthistorischer Hochsprache und der Charybdis soziologischen Geschwafels geschickt hindurchmanövriert. Vielleicht sind die Argumente eine Spur zu weit hergeholt und wirkt der Stil zu dozierend-anspruchsvoll. Ein Lieblingsthema ist es, die Unterschiede zwischen Hochkunst und „volkstümlicher" Kunst der Massen deutlich zu machen. Mit Recht wird bedauert, daß die maßlosen Dimensionen heutiger Architektur und die kleinen Kunstobjekte zusammenhanglos nebeneinander stehen und die einzelnen Künstler an den Bauaufgaben nur selten mitbeteiligt werden. Den Verfassern wäre bei ihrem gelungenen Wurf allenfalls anzulasten, daß sie die Kunstbetrachtung auch dazu benutzen, sich politisch zu artikulieren. So mokieren sie sich über die 1955 von Theodor Heuss auf dem später nach ihm benannten Platz entzündete Flamme, die bis zur Wiedervereinigung brennen soll, mit den Worten: „aus der Flamme wird wohl ein .Ewiges Licht' werden". Daß sie bestreiten, Leipzig und Magdeburg lägen in „Deutschland", wird nicht nur beim Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte Stirnrunzeln hervorrufen, die bekanntlich bis zum heutigen Tag „in Deutschland" stationiert sind. H. G. Schultze-Berndt

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Eingegangene Bücher Kirchen, Klöster und ihre Kunstschätze in der DDR, Bilder und Beschreibungen. Verlag C. H. Beck, München 1982, 408 Seiten, mit 432 Abbildungen, Leinen, 98 DM. Peter Muck: Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, eine Dokumentation. Verlag Hans Schneider, Tutzing 1982, 3 Bände, Ganzleinen. Westberliner Statt Buch 1, Arbeitsgruppe Westberliner Statt Buch 1978, ein Adress-Nachschlagewerk. 560 Seiten, geleimt. Adolf Glaßbrenner: Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe, Band 2 und 3. C. W. Leske Verlag, Köln 1981, Ganzleinen. Kurt Neheimer: Der Mann, der Michael Kohlhaas wurde, ein historischer Bericht. Eugen Diederichs Verlag, Köln 1979, Ganzleinen. Joachim Fernau: Sprechen wir über Preußen, die Geschichte der armen Leute. Herbigverlag, München 1981, Ganzleinen, ca. 30 DM. Adriaan v. Müller, K. v. Müller-Muci: Die Ausgrabungen auf dem Burgwall in Berlin-Spandau. Verlag Volker Spiess, Berlin 1983, Text und Tafelband geleimt und Loseblattsammlung, 170 Seiten. Orgel-Köhne undJ. Grothe: Zitadelle Spandau. Arani-Verlag, Berlin 1978, geleimt. Eberhard Roters: Der Bildhauer Waldemar Grzimek. Propyläen Verlag, 288 Seiten, 82 Abbildungen auf Tafeln, 431 Abbildungen im Werkverzeichnis, Leinen, 148 DM. Folkwin Wendland: Berlins Gärten und Parke. Von der Gründung der Stadt bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Propyläen Verlag, 424 Seiten, 400 Abbildungen, Leinen, 198 DM. Max Baur: Potsdam Sanssouci. Bilder der Erinnerung fotografiert. 1934-1939. Bildband, 96 Seiten, 85 Abbildungen und ein Stadtplan, gebunden, 39,80 DM. --" Friedrich Mielke: Potsdamer Baukunst. Propyläen Verlag, 1981,515 Seiten, Beschreibungen und zahlreiche Fotos, Leinen. Wolfram Hoepfner und Fritz Neumeyer: Das Haus Wiegand von Peter Behrens in Berlin-Dahlem. Abbildungen und Beschreibungen, 211 Seiten, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1979, gebunden.

Urteile über Berlin und die Berliner In den Jahren 1938 bis 1943 sind in den „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins", damals „Zeitschrift" genannt, insgesamt zwanzig „Urteile über Berlin und die Berliner" erschienen, zumeist aus der Feder von Felix Hasselberg und Dr. Hermann Kügler. In loser Folge sollen auch jetzt wieder weniger bekannte und an verstreuten, nicht ohne weiteres zugänglichen Stellen abgedruckte Bemerkungen über unsere Stadt und ihre Einwohner zitiert werden. Hier wird mit Aufzeichnungen der Anfang gemacht, die der damals fünfundzwanzigjährige englische Arzt Dr. Henry Reeve (1780 bis 1814) im Winter 1806 in sein nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Reisejournal eintrug. Es behandelt eine Reise von Wien über Dresden nach Berlin. Der Text wurde von Henning Schlüter ins Deutsche übertragen, bearbeitet und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Mitgeteilt von Dr. H. G. Schultze-Berndt. Mittwoch, den 19. Februar. Bis Berlin gilt es, nicht weniger als elf Poststationen zu passieren! Je weiter ich mich von Dresden entfernte, um so jämmerlicher wurden die Straßen und Gasthöfe. Jenseits der sächsischen Grenze versank die Kutsche immer wieder in tiefem Sand. In den preußischen Dörfern zeigte sich nur selten eine menschliche Seele. Hie und da huscht ein ausgemergeltes Weiblein oder ein dünnes Kind über die Dorfstraße. Die Männer scheinen ausnahmslos zum Dienst in der Armee gepreßt zu sein. Als wir uns Berlin näherten, wurden die Sand wege immer ärger. Fast hätte man meinen können, ringsum sei Urwald, und es ginge einem darin verborgenen indianischen Wigwam entgegen! Um so größer war mein Erstaunen, als wir durchs Tor rollten und nun im Trab auf einer breiten, wohlgepflegten Straße fuhren. Berlin entzückte mich auf den ersten Blick. Besonders schön, daß alle großen Bauwerke ganz für sich allein stehen. Freilich vermißte ich, wie schon draußen am Tore, den geschäftigen Trubel einer Metropole. Verglichen mit Wien, Dresden oder gar London, rollten nur herzlich wenige Fuhrwerke an uns vorüber. Gleich am ersten Abend ging ich ins Theater, wo man eine Art Märchenoper gab. Als die königliche Familie ihre Loge betrat, gab es keinerlei ehrerbietige Begrüßung seitens des Publikums. Niemand schien 254

von der Anwesenheit des Landesherrn und seiner Gemahlin sonderlich Notiz zu nehmen. Welch eine Schönheit ist übrigens die anmutige, jugendfrische Königin Luise von Preußen! Man sieht ihr wahrhaftig nicht an, daß sie schon achtmal niedergekommen ist. Freitag, den 28. Februar. Gleich in der Frühe führte mich der berühmte Dr. Hufeland zu dem Hospital „La Maison de Charite", wo unter einem Dach die mannigfaltigsten Gebrechen kuriert werden. Leider kann ich über die Reinlichkeit der Krankenstuben nichts Gutes notieren. Es sind schmale, düstere Gelasse, in denen allzu viele Betten aufgestellt sind. Und keines ist mit einem Vorhang vom nächsten getrennt! Dienstag, den 4. März. Trotz Schnee- und Hagelschauer stapfte ich zur Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur und betrachtete dort allerlei hübsche Dinge, deren handwerkliche Akkuratesse staunenswert ist. Allerdings fordert man gesalzene Preise für diese Figuren, Tassen und Vasen! So kostet eine Kakaotasse nebst Untersatz, beides dekoriert mit dem Porträt der Königin Luise, nicht weniger als 45 Taler. Ich sah auch ein Service für die königliche Tafel, das dieser Tage von der Staatsschatulle für 15000 Taler erworben wurde. Auf einer Abendgesellschaft beim Professor Hufeland fand ich eine elegant gekleidete Schar von Menschen jeglicher Provenienz vor. Ordensgeschmückte Hofbeamte und Offiziere, Poeten, Philosophen und sogar einige wohlrenommierte Komödianten wandelten schwatzend, trinkend und schmausend durch sechs hell beleuchtete Stuben. Donnerstag, den 13. März. Ich machte Herrn Humboldt meine Aufwartung. Dieser dreißigjährige, ganz unaffektierte und quicklebendige Mann beherrscht fünf Sprachen und ist ein Individuum von großen Gaben. In der hohen Einschätzung seiner Fähigkeiten als Mineraloge, Chemiker und Naturforscher sind sich alle Kapazitäten einig. Was ihn vor den Fachgelehrten so auszeichnet, ist seine süperbe Sprachbegabung und die reiche literarische Bildung. Herr Humboldt, der mir lange von seinen aus eigener Tasche bezahlten Forschungsreisen nach Peru und Mexiko erzählte, ist gebürtiger Berliner. Das Königreich Preußen kann sich eines solch urbanen Geistes mit Recht rühmen! Sonntag, den 15. März. Bei einem Benifizkonzert hone ich den Kastraten Tombolini eine Arie von Cimarosa singen. Der arme Teufel besitzt zwar eine göttliche Stimme, aber der Anblick dieses um der Kunst willen aller Männlichkeit beraubten Individuums stimmt so betrüblich, daß ich die Augen schließen mußte, um mich des glockenhellen Gesangs recht erfreuen zu können. Hinterdrein spielte ein vierzehnjähriger Knabe namens Meyerbeer ein Klavierkonzert vom Mozart und erntete dafür Beifallsstürme. Die gesamte königliche Familie, alle Gesandten und der in Berlin ansässige preußische Adel wohnten der Veranstaltung bei. Sonntag, den 22. März. Um 12 Uhr mittags ging ich zu einem Kolleg des Herrn Fichte über die neue, so lauthals gepriesene Transzendentalphilosophie. Dieser Professor, ein Schüler Kants, gilt hier als der allertiefste Denker. Während er den Sommer über in Erlangen lehrt, hält er zur Winterszeit hier alle Sonntage einen Vortrag, bei dem jedermann gegen einen Taler Entree Zutritt hat. Mit dem feierlichen Gestus, der einer umwälzenden Entdeckung zukommen mag, gab dieser kleine, zugeknöpfte Mensch ganz nebulöse Worte oder altbackene Gemeinplätze von sich. Wir waren unserer drei und zerbrachen uns den Kopf, um diesem krausen Kolleg einen plausiblen Sinn abzuringen. Immer wieder stellten wir uns die Frage, was wohl all die Zuhörer, darunter etliche gescheit aussehende Männer und sogar ein Dutzend Frauenspersonen, bewogen haben mochte, diesen konfusen Darlegungen zu lauschen.

Im III. Vierteljahr 1984 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Hildegard Brandt Christa Thorau, Lehrerin Schustehrusstraße 20-22, 1000 Berlin 10 Bonhoefferufer 18, 1000 Berlin 10 Tel. 3431399 (Guth) Tel. 3443111 (Bibliothek) Rudolf Franz, Oberstlt. a. D. Dr. Martin Zippe, M.A., Schamhorststraße 13, 5970 Plettenberg Oberstlt. a. D., Historiker Tel. (0 23 90) 5 34 30 (Cramer) Saarstraße 10, 4400 Münster Ruth Leupold Tel. (02 51) 231169 (Zopf) Gorkistraße 63, 1000 Berlin 27 Dagmar Frowein, Ärztin Tel. 4 34 25 31 (Pretsch) Düppelstraße 17,1000 Berlin 37 Roswitha Reschke, Sekretärin Tel. 8027910 (Dr. Beerbohm) Badener Ring 15, 1000 Berlin 42 Tel. 785 3749 (Koepke)

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Veranstaltungen im IV. Quartal 1984 1. Donnerstag, den 25. Oktober 1984, 16.15 Uhr: „Friedrich Gilly und die Privatgesellschaft junger Architekten". Führung durch die Ausstellung Frau Dr. Hella Reelfs. Eintritt zum Gruppenpreis. Treffpunkt in der Eingangshalle des Berlin-Museum, Lindenstraße. 2. Donnerstag, den 8. November 1984,19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Technik, Architektur und Plastik - Berliner Brücken". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Donnerstag, den 22. November 1984, 19.00 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Hermann F. W. Kuhlow: „Die Einführung der lutherischen Reformation in der Kurmark Brandenburg." Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Donnerstag, den 13. Dezember 1984, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Professor Dr. Jürgen Julier: „Aufgaben und Ziele der Schlösserverwaltung". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 5. Sonnabend, den 15. Dezember 1984,16.00 Uhr: Vorweihnachtliches Beisammensein im ParkCafe, Bäkestraße 15,1000 Berlin 45, Lichterfelde. Es liest Siegfried Haertel „Weihnachtliches aus dem alten Berlin". Fahrverbindungen: Bus 84 bis Hindenburgdamm, Ecke Karwendelstraße; Busse 86 und 17 bis Ostpreußendamm, Ecke Bäkestraße. Essensvorschläge: Forelle blau, mit Pariser Kartoffeln und Salat, 15,50 DM, Kalbsmedaillons in Sauce von frischen Champignons mit Pariser Kartoffeln oder Kroketten, gemischtem Gemüse und Salatbeilage, 17,50 DM Cordonbleu mit Kroketten, gemischtem Gemüse und Salat, 18,50 DM, Hirschbraten in Wildsauce, mit Pariser Kartoffeln oder Spätzle, Apfelrotkohl, Birne mit Preiselbeeren und Salatbeilage, 22,50 DM. Telefonische Anmeldungen mit Essenswunsch ab 19.00 Uhr unter der Nummer 8 5127 39 bis zum 10. Dezember 1984. Beachten Sie bitte die veränderten Anfangszeiten unserer Vorträge im Rathaus Charlottenburg!

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12, 1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 32328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34302234. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS _

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GEGRÜNDET 1865

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Fpftgbt. fa Berliner Stadtbibliothe 81. Jahrgang

Heft 1

Januar 1985

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Drt.s ni-uc ifrug hat uK de» :sto B a t n i l l o n s [SV« Bering «OUttLaitdwehrre^imwiit». Das neue Zeughaus des 3tcn Bataillons (2,es Berlin) 20"en Landwehrregiments zwischen dem Potsdamer und Anhaltschen Thore in Berlin „Dieses schöne Gebäude, über dessen ungemein zweckmäßige innere Einrichtung der Soldatenfreund später vollständigere Mitteilung enthalten wird, verdankt das 2,e Berliner LandwehrBataillon der Gnade Sr. Majestät des Königs. Wir haben hier die vordere Ansicht nach der Straßenseite. Die hintere nach dem geräumigen Hofe gewendete Seite hat zwei halbrunde thurmartige Vorbaue für die feuersicheren steinernden Treppenhäuser, und in der Mitte eine brückenartige Auffahrt in den ersten Stock für das Bataillons-Fuhrwerk, so daß jetzt die ganze Ausrüstung und Bewaffnung für das Bataillon in diesem Gebäude vereinigt ist. Auf dem Hofe befindet sich ein besonderes kleines Haus für die Werkstätten."

\ i Das Landwehr-Zeughaus an der Communikation1 ^ V V o n Dr. Karl-Robert Schütze Die 1813/14 während der Befreiungskriege im Rahmen der preußischen Heeresreform gebildete Landwehr, die alle Reservisten und nicht Eingezogenen im Alter von 20 bis 32 Jahren erfaßte, blieb bis über die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinaus ein milizartiger Truppenteil. Dieser benötigte zwar keine großen Unterkünfte, aber doch Magazine und andere Versorgungseinrichtungen, die zunächst recht bescheiden ausfielen, wie einem zeitgenössischen Text zu entnehmen ist: „Die Kammern der beiden Berliner Bataillone waren ... compagnieweise auf verschiedene Thor- und Stadt-Wachen verteilt."2 Erst nach der wirtschaftlichen Gesundung des Staates und der grundlegenden Neuordnung der Landwehr durch „allerhöchste Verordnung" vom 3. November 18423 kam es zu der baulichen Umsetzung der Bedürfnisse dieses Truppenteils. Die um 1840 auffällig häufige Rückerinnerung an die „große Zeit" der Befreiungskriege sollte wohl den vollständigen Sieg der Reaktion über alle fortschrittlichen Kräfte im Bewußtsein der Bevölkerung verdrängen helfen. So wurde im Jahre 1843 der schon fast vergessene, sogenannte Dennewitz-Friedhof in der Hasenheide, auf dem viele der in den Berliner Lazaretten verstorbenen Freiheitskämpfer beigesetzt worden waren, mit einer Mauer umgeben und durch eine kleine Kapelle - nach Entwurf Friedrich Wilhelms IV.? - sowie durch ein großes gußeisernes Kreuz geehrt.4 In diesem Jahr entstand auch „das neue Zeughaus des 3tcn Bataillons (2tes Berlin) 20ten Landwehrregiments"5 (Titelbild). Die hier erstmals gemeinsam abgebildete Vorder- und Rückansicht6 (Abb. 1) gibt einen guten Eindruck von dem Gebäude, das bis zu seinem Abriß, etwa 1880, seinem ursprünglichen Zweck diente.7 Neben dem Zeughaus beherbergte es noch das Büro der 4. Garde Infanterie Brigade und zwei Wohnungen. Im Adreßbuch für das Jahr 1884 wird unter dieser Adresse, Königgrätzer Straße 122, die General Militär-Kasse angegeben, der Eigentümer war weiterhin der Militär-Fiskus. In der Zwischenzeit hatte August Busse (1839-1896) den Neubau auf dem Gelände fertigstellen können. Die General Militär-Kasse bestand unter dem Namen Feldkriegskasse bzw. Generalkriegskasse seit 1678 und war vorher im Lagerhaus in der Klosterstraße 76 untergebracht. Das neue Gebäude beherbergte daneben noch einige andere militärische Kassenverwaltungen und Wohnungen für Hausmeister und Angestellte. Mit diesem Bau stellte sich der Militärfiskus nicht nur gegen die Interessen und Pläne der Stadt Berlin, sondern auch gegen die einiger Reichsbehörden, er machte damit eine großflächige Neuordnung des Geländes unter Einbeziehung des Reichsgrundbesitzes unmöglich. Dieses destruktive Verhalten blieb kein Einzelfall, selbst in unmittelbarer Nachbarschaft gab die Militärverwaltung noch einige Proben eigensinnigen, gegen die Allgemeinheit gerichteten Verhaltens. So weit einige Anmerkungen zur späteren Geschichte des Grundstücks und seiner Bebauung. Da das Landwehr-Zeughaus bisher in der Literatur kaum erwähnt worden ist und sich darüber hinaus in die wenigen Mitteilungen Fehler eingeschlichen haben, seien die verschiedenen Quellen hier einmal ausführlicher dargestellt. Bei der Suche nach Unterlagen stößt man in der großartigen Sammlung „Berliner Baukunst nach Schinkel"8 auf anscheinend schlüssige Hinweise. Im Architektenkatalog des Bandes werden unter „Wilhelm Drewitz" Angaben gemacht, die den genannten Bau betreffen müßten. Es heißt dort unter Bauten in Berlin: LandwehrZeughaus, Königgrätzer Str., 1847/48, und unter Veröffentlichte Entwürfe: 2. Das neue Landwehr-Zeughaus für ein Bataillon in Berlin. Zs. f. Bw. 1,1851, S. 144-146, Bl. 27 (Abb. 2 und 3). Diese Angaben beruhen auf dem Text und der Anmerkung aus der ersten Ausgabe von Berlin und seine Bauten von 1877; zu dieser Zeit stand das Gebäude noch unverändert. Der Text sei 258

hier zitiert, weil er nicht den vorhandenen Bau beschreibt, sondern sich am von Drewitz veröffentlichten Text orientiert: „Das Landwehr-Zeughaus in der Königgrätzer Strasse, ein schlichter Bedürfnissbau, der seinen Namen jedoch wesentlich nur im modernen Sinne des Wortes führt, wurde in den Jahren 1847-48 von Drewitz erbaut. Dasselbe ist 29,61™ lang bei 14,25 m Tiefe und zwei Geschosse hoch. An beiden Giebeln führen die Eingänge in den an der Hinterfront des Gebäudes durchlaufenden Korridor; ebenda führen zwei Treppen nach dem oberen Geschoss. An den Korridor schliessen sich die Kammer-Räume, im Erdgeschoss Wagenräume für den Train, im ersten Geschoss darüber eine Bataillonkammer, daneben 4 Kompagniekammern an. Die Erbauungskosten haben einschliesslich der inneren Ausstattung mit Gerüsten für die Lagerung von Militär-Effekten und Nebenanlagen ca. 43500 Mk. betragen."9

Abb. 1: F. Albert Schwanz, Hofansicht des Landwehr-Zeughauses, vor 1880, aus: Brost/Demps, Berlin wird Weltstadt, S. 236 Der Vergleich mit den beiden Ansichten (Titelbild und Abb. 1) zeigt deutlich, daß der 1851 veröffentlichte Entwurf (Abb. 2) nicht das an der Potsdamer Communication Nr. 6 in den Jahren 1843/44 ausgeführte Gebäude wiedergibt. Die Beschreibung und die mit 1847/48 angegebene Ausführungszeit10 beziehen sich auf den veröffentlichten Plan. Wilhelm Drewitz spricht in seinem Text von der Ausführung, in Berlin konnte ich aber kein zweites LandwehrZeughaus finden. Da sich die beiden Titel seiner Veröffentlichung durch den Zusatz „in Berlin" im Textteil unterscheiden, könnte darin die Fehlerquelle gesehen werden, wenn es gelänge, den Bau an einem anderen Standort zu finden. 259

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Abb. 2: Wilhelm Drewitz, Zeughaus für ein Landwehr-Bataillon, aus: Zeitschrift für Bauwesen 1,1851, Atlas, Bl. 27

Das Zeughaus in der späteren Königgrätzer Straße wurde bereits am 8. Juni 1844 in Betrieb genommen. In einer Regimentsgeschichte heißt es dazu: „1844 nach beendeter Uebung konnte das 3. Bataillon zum erstenmale seine Waffen und Armaturstücke daselbst abgeben. Der damalige Commandeur des Bataillons, Major Baron v. Koschkull, hielt bei dieser Veranlassung an die Mannschaften"'1 eine Ansprache, deren Text auch am Schluß des weiter unten abgedruckten Zitats wiedergegeben ist. Bisher ließ sich nicht feststellen, ob Wilhelm Drewitz auch für den hier vorgestellten und ausgeführten Bau als Architekt verantwortlich war, möglich wäre es, denn er war seit 1842 Bauinspektor bei der Provinzial-Behörde für die Militär-Oekonomie und hat 1843 im Architekten- und Ingenieur-Verein einen Vortrag über Militärbauten in Berlin gehalten12, dabei könnte er auch seinen Neubau vorgestellt haben. Geradlinigkeit, Einfachheit und Sparsamkeit des militärischen Nutzbaus lassen eine Zuschreibung an diesen bisher nicht genügend gewürdigten Architekten durchaus zu, insbesondere, wenn man den Bau mit der aufwendigeren, noch heute erhaltenen ehemaligen Garde-Dragoner-Kaserne am Mehringdamm vergleicht. Leider fehlen zu den beiden Ansichten der Fassaden noch immer weitere Nachrichten über die Grundrisse und den inneren Aufbau des Hauses. Der in der Bildunterschrift von 1844 angekündigte genaue Bericht scheint nicht erschienen zu sein. Statt dessen finden sich einige Bemerkungen über die Eröffnung des neuen Landwehr-Zeughauses unter dem Titel „Abendliches Plauderstündchen im Quartier" a in zwei bereits vor der Lithographie (Titelbild) erschienenen Heften der gleichen Zeitschrift. Wegen der Seltenheit des Blattes sei der betreffende Bericht in den sich auf das Zeughaus beziehenden Teilen vollständig zitiert: 260

„Abendliches Plauderstündchen im Quartier. Am 8. Juni hatten die beiden Berliner Bataillons des 20sten Landwehr-Regiments Parade und Exerzieren vor Seiner Majestät dem Könige auf der sogenannten Schlächterwiese neben der Hasenhaide. Sonst fand eine dergleichen Parade und Besichtigung gewöhnlich erst am Ende

Das n e u e L a n d w e h r - Z e u g h a u s für ein Bataillon in Berlin. (Mit Zeichnungen auf Blatt 2 7 . ) .

Das dem Zwecke Dach zur Aufbewahrung von Waffen und Montirungsstücke im Jahre 184^ neu erbaute Zeughaus ist 94 Fufs 4 Zoll lang, 45 Fufs 5 Zoll tief, in zwei Etagen, jede 11 Fufs im Lichten hoch, von Mauersteinen erbaut, und mit Zink nach der sogenannten schlesischen Methode (mit aufgeschraubten Deckleisten) eingedeckt. Die getroffene Wahl eines nach der Länge des Gebäudes durchgehenden Korridors, mit 2 Treppen und 2 Eingängen an den Giebeln, ist aus dem Bedürfnis hervorgegangen, die Einkleidung der Mannschaft nach Möglichkeit zu erleichtern; zu dem Ende steht, jeder Aufbewahrungsraum mit dem Korridor im Zusammenhange, und es haben die Treppen eine solche Lage erhalten, dafs zur freien Passage Überall eine Breite von 6 Fufs verbleibt. Die Anordnung der benöthigten Räume, sowie deren Abmessungen ergeben sich aus dem Grundrifs wie folgt: Die e r s t e E t a g e zu ebener Erde enthält einen an der Hinterfront liegenden und durchgehenden Korridor, zu welchem die in beiden Giebeln befindlichen Eingänge führen; hier liegen auch die beiden Treppen zur 2. Etage, in der Mitte der Waffensaal, von diesem rechts die Escadron- und Sattelkammer, und links die Pulzstube und die Artilleriekammer. Die z w e i t e nicht gezeichnete E t a g e mit dem gleichfalls durchgehenden Korridor, wie in der ersten Etage, und den TreppenAufgängen zum Bodenräume, enthält: über dem Waffensaal der ersten Etage, eine Bataillonskammer, und rechts und links 4 Kompagniekammern. Bei der geringen Gröfse des Bauplatzes, worauf das in Rede stehende Gebäude errichtet ist, und der daran geknüpften Anforderung, den verbleibenden Hofraum möglichst grofs zur Aufstellung der einzukleidenden Mannschaft zu erhalten, wurde das Gebäude mit seiner hinteren Längenwand c d an das unbebaute Nachbar-GrundstUck gesetzt, es erhält mithin nach den hiesigen Polizei-Gesetzen von dieser Seite weder Luflnoch Lichtöfihungen, auch darf der Abfall der Traufe nicht nach dortbin gerichtet sein, woraus demgemnfs die Anordnung der Facade und die danach gewählte Dachconstruction hervorgegangen ist; und zwar ergiebt sich die äufsere Architektur des Gebäudes aus der gezeichneten vorderen und Seitenansicht, mit der zinnen-

artigen Bekrönung, sowie das Detail dieser letzten Anordnung aus der in der Ansicht und im Profil in vergröfsertem Mafsstabe angegebenen Darstellung. Die Abdeckung der Zinnen-Schlitze ist mittelst Schieferplatten in gewöhnlicher Stärke bewirkt. Die Dachconstruction ist im Quer-Profil nach der Linie a b dargestellt. Das Regen- und Schneewasser sammelt sich in einer nach der Länge angebrachten vertieften Kupferrinne, und wird mittelst zweier Abfallröhren von gleichem Material an den Punkten x, x des Grundrisses abgeleitet — Für den Fall, dafs das Gebäude später eine andere Bestimmung zu Wohnzwecken erhalten sollte, sind in den Scheidemauern enge Schornsteinröhren angelegt worden, die aber nur bis zum Dachfufsboden reichen und erst später höher geführt werden würden. — Auf Anlage von Kellerräumen brauchte nicht Bedacht genommen zu werden; dagegen haben die im unteren Geschofs auf Unterlagshölzern ruhenden Bretter-Fufsböden, Luftzüge erhalten, die mit entsprechenden Luftöffnungen in den Frontwänden im Zusammenhange stehen, wodurch eine Luft-Circulation unter dem Fufsboden erzeugt wird. Im Aeufseren bestehen die Frontwände aus gefugtem Mauerwerk im Kreuzverbande, mit auf Brettern gestrichenen und beschnittenen Mauersteinen von gelblicher Farbe, und mit einem röthlich braungemischten Mörtel gefugt. — Zur Ersparnifs aller unnützen Kosten hat man sich lediglich bei dem Abschlufs des Zinnen- Gesimses der Frontsteine bedient Zu dem innern Mauerwerk wurden gewöhnliche Mauersteine angewendet; die innern Wandflächen haben einen Kalkmörtel-Pute mit einer entsprechenden Färbung erhalten. — Die Decken sind geschalt, und mit Rohrpute versehen, und es besteht bei der Balkenlage die Stakung aus einem halben Windelboden, wobei der 3 bis 4 Zoll über den Stakhölzern belegene Raum nur mit Lehm, und nicht auch mit Schutt ausgefüllt ist wie letzteres hier wohl häufig bei Privathäusern Anwendung findet. Die Erbauungskosten des Gebäudes betragen einschliefslich der inneren Ausstattung mit Gerüsten für die Lagerung der Militair-Effecten, und mit Inbegriff der erforderlich gewesenen Aufhöhung des Hofraums, der Pflasterung des letzteren und theilweise Aufführung von Bewährungsmauem rund 14,500 Thlr., und nach Abrechnung dieser Nebenausgaben pr. pr. 13,000 Thlr., wonach bei einer Grundfläche von 4284 QFufs, der QFufs rund 3 Thlr. 1 Sgr. gekostet hat. Drewitz.

Abb. 3

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der 14tägigen Uebungs-Periode statt, diesmal aber schon am neunten Tage nach der Einkleidung der Mannschaften, was hinsichtlich des erlangten Resultats um so auffallender ist, als die Wehrmänner ein fast durchgängig neues Exerzitium lernen mußten. Die Auszeichnung, welche beiden Bataillons dadurch zu Theil wurde, daß Seine Majestät der König Allerhöchstselbst die Parade abzunehmen geruhten, schien sämmtliche Wehrmänner zu doppelter Anstrengung anzusporen, so daß wirklich Ueberraschendes geleistet wurde. Groß war die Zahl der Zuschauer, die den lebhaftesten Antheil an Allem nahmen, was vorging, und wir können kein besseres Bild davon geben, als indem wir aus der Erinnerung die Gespräche verschiedener Gruppen von Zuschauern niederschreiben. Ein Bericht spricht nur das einseitige Urtheil des Berichterstattenden aus, darum geben vielleicht die folgenden Aeußerungen eine vollständigere Uebersicht. Achte Gruppe. Nebenhergehende. - Also, ein neues Zeughaus hat das 20ste Landwehr-Regiment bekommen? - Das heißt, nur das 3te Bataillon, weil die Kompagnie-Kammern so sehr zerstreut auf den Böden verschiedener Ställe und Wachen lagen. Es soll ein sehr schönes Gebäude geworden seyn. - Ich bin auch neugierig darauf, es zu sehen. Ich denke, wir marschiren mit und sehen zu, wie die Fahne zum erstenmale hineingetragen wird. - Wissen Sie wohl, daß mir mit der Einrichtung eines ordentlichen Zeughauses ein wahrer Stein vom Herzen gefallen ist. - Wie so? - Ich konnte seit dem letzten heillosen Spektakel, am Geburtstage des hochseeligen Königs, den Gedanken nicht loswerden, daß bei einer ähnlichen Gelegenheit, wie letzthin in München und bei dem Hoberschen Skandal in Carlsruhe, das Gesindel sich einmal der Waffen in einem der Landwehr-Zeughäuser bemächtigen und schweren Unfug damit anrichten könnte. - So etwas ist doch bei uns nicht zu befürchten. - Sagen Sie das nicht. Wer hätte am 2. August damals wohl geahnt, daß am 3ten solch ein Tumult entstehen könnte? Ich hörte damals ein paar Kerle sagen: „I was, wenn sie die Soldaten auf uns loslassen, dann brechen wir die Kompagnie-Kammern auf und holen uns Gewehre!" Es wäre ein großes Unglück, wenn je der Pöbel bei nichtsnutziger Veranlassung zu den Waffen der Landwehr könnte! - Sie haben Recht. Daran habe ich bis jetzt noch gar nicht einmal gedacht. Altes Sprichwort: Festgebunden, Festgefunden! und Besser bewahrt, als beklagt. - Hören Sie einmal, die Trommler und Pfeifer spielen den schönen Marsch von Gungl, der jetzt überall Mode ist. - Es ist erstaunlich, wie sie das in der kurzen Zeit haben lernen können. Jetzt geht doch Alles mit Dampf. Die Leute rühren Jahrelang keine Trommel und Pfeife an, und lernen in 8 Tagen nicht allein alle regelmentsmäßigen Märsche und Signale, sondern auch noch solche ModeMärsche. - Das steht das neue Gebäude! - Allen Respekt, das ist ja ein wahrer Pallast. Wollen es uns doch rasch einmal besehen. Im Hofe des neuen Zeughauses. Der B a t a i l l o n s - C o m m a n d e u r . Halt! Gewehre ab! Wehr-Männer! Des Königs Majestät hat die Gnade gehabt, dem 3ten Bataillon 20sten Landwehr-Regiments dieses neue Zeughaus zu erbauen. Der Soldat dankt seinem König und Kriegsherrn durch Treue, Gehor262

sam und eifrige Pflichterfüllung. Ihr habt heute Eure Schuldigkeit gethan. Es lebe Se. Majestät der König! Hurrah! Hurrah! Hurrah! Stillgestanden! Gewehr auf! Fahne vor! Präsentiert das Gewehr! Die Fahne wird bei gerührtem Spiele in das Zeughaus getragen und dort zum erstenmale aufgestellt." Nur vier Jahre vergingen, und das enttäuschte und um seinen Lohn betrogene Volk erhob sich gegen den reaktionären Staat, dem es aber erneut gelang, sich mit Gewalt gegen seine Bürger durchzusetzen. Ob das Landwehr-Zeughaus bei den kämpferischen Auseinandersetzungen die in dem Gespräch befürchtete Rolle gespielt hat, konnte ich bisher nicht feststellen. Die beiden Ansichten des Gebäudes zeigen, daß es sich um einen Putzbau handelte, dem durch Fugen das wehrhafte Aussehen eines aus großen Quadern gefügten Bauwerks gegeben werden sollte. Auf der Lithographie von der Vorderseite treten deutlich einfache Gesimse hervor, die die Stockwerke betonen. Die auskragenden Dachbalken auf Konsolen schließen die Fassade nach oben ab und geben ihr einen bescheidenen Schmuck, sogar darauf wurde an der Rückseite verzichtet. Neben den beiden Treppentürmen fällt dort besonders die Rampe auf, die es ermöglichte, auch schweres Gerät im ersten Stockwerk zu lagern. Ob diese hölzerne, schnell entfernbare Konstruktion durch Sicherheitsinteressen veranlaßt wurde? Wir wissen es nicht! Das mitgeteilte Gespräch aus dem Jahre 1844 läßt einen derartigen Schluß aber durchaus zu. Gegen eine solche Vermutung spricht, daß dieses Detail bei dem erst drei Jahre nach der Revolution veröffentlichten (und gebauten?) Entwurf14 nicht erneut verwendet wurde.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Später Königgrätzer Straße, heute Stresemannstraße Carl Brecht, Geschichte des 3. Brandenburgischen Landwehr-Regiments Nr. 20, Berlin 1864, S. 138 Brecht, 1864, S. 137 Wilhelm Borchert, Garnison-Friedhof Hasenheide in Wort und Bild, Berlin 1930; der Autor erarbeitet gegenwärtig im Auftrag des Bezirksamts Neukölln eine Geschichte des Friedhofs und seiner Denkmäler Der Soldatenfreund 12,1844, Beilage zu Nr. 583, Bildtext auf S. 5736 Harald Brost/Laurenz Demps, Berlin wird Weltstadt. Photographien von F. Albert Schwartz, Leipzig 1981, S. 236 Andreas Bekiers/ Karl-Robert Schütze, Zwischen Leipziger Platz und Wilhelmstraße, Berlin 1981, S. 35, ebenfalls mit falscher Zuordnung des Gebäudes. Diese Fehler berühren die dargestellten städtebaulichen Probleme nicht. Eva Börsch-Supan, Berliner Baukunst nach Schinkel, München 1977, S. 568 Berlin und seine Bauten, Berlin 1877, S. 236 Dieser Fehler wurde auch von Brost/Demps, 1981, S. 236, übernommen. Auf dem mit 1885 zu spät datierten Foto sind deutlich Garde- und Landwehr-Soldaten zu erkennen, die General Militär-Kasse hat das Gebäude nicht genutzt, sie ist erst 1884 in den für sie errichteten Neubau eingezogen Brecht, 1864, S. 139 Börsch-Supan, 1977, S.568 Der Soldatenfreund 12,1844, Nr. 572, S. 5639-5642, und Nr. 573, S. 5649-5651 Wilhelm Drewitz, Das neue Landwehr-Zeughaus für ein Bataillon in Berlin, in: Zs. f. Bw. 1, 1851, S. 144-146, B. 27 Anschrift des Verfassers: Dr. Karl-Robert Schütze, Bruno-Bauer-Straße 20 A, 1000 Berlin 44 263

i/Begegnungen 1931 Von Wilfried Göpel I Renee Sintenis

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An einem früh winterlichen Tage stand ich vor dem Haus Magdeburger Straße, an der Schmalseite des Platzes im alten Berliner Westen. Es war früher Nachmittag, der Wochenmarkt eben zu Ende. Inmitten lauter Rufe, dem Schnauben der Pferde fiel es mir etwas schwer, mich auf den Besuch bei der Bildhauerin Renee Sintenis einzustimmen. Kam ich doch eben aus meiner Studentenbude an der Schloßfreiheit, wo vor dem Begas-Brunnen, dem „Gabeljürgen", wie ihn die Berliner nannten, der ungewohnte Verkehr zwischen den Linden und dem Roten Rathaus, kaum gedämpft von den dicken Portieren einer altväterlichen Patrizierwohnung, Tag und Nacht vorüberzog. Es hatte lange Zeit gedauert - die Prominenz läßt sich bitten, sagten Berliner Freunde -, bis mir eines Tages ein elegantes, blaugetöntes Briefchen Tag und Stunde meines Besuches ankündigte. Aber ich wollte die Künstlerin selbst erleben. Ich glaubte schon damals, man könne ihrem Werk nur aus der Kenntnis des Menschen, der Gründe seines Auftrags wirklich gerecht werden. Etwas erstaunt betrachtete ich das niedrige Haus. Es war keine der behäbigen Villen dieser Gegend zwischen Potsdamer Straße und dem Landwehrkanal. Mit einem großen Torbogen, dem baumbestandenen, kopfsteingepflasterten Hof, mit Schuppen und Wagenremise im Hintergrund erinnerte es eher an die Handwerker und halbstädtischen Ackerbürger des vergangenen Jahrhunderts. Schwer vereinbar schien es mir jedenfalls auf den ersten Blick mit der Herrenreiterin im Tiergarten, der eleganten Erscheinung bei Ausstellungseröffnungen in der Akademie am Pariser Platz oder in den Galerien. Pflegten doch, dem Zeitgeschmack entsprechend, Zeitschriften wie „Querschnitt", „Dame" und „Elegante Welt" gern bei gesellschaftlichen Ereignissen diesen etwas mondänen Typ der Garconne. Sobald ich aber der Künstlerin selbst gegenübersaß, waren alle diese Bilder einer etwas spielerischen Eleganz völlig vergessen: An ihrem Schreibtisch saß eine schlanke, hochgewachsene Frau, Anfang der vierziger Jahre. Unter dem dunklen Haar eine energische Nase und breite Backenknochen - vielleicht eine Erinnerung an ihre schlesische Heimat, die sie auch später noch gern erwähnte und, wie etwa Menzel, zeitlebens hochschätzte. Bestimmend aber war der kluge, zielbewußte Blick aus dunklen, leicht verschleierten Augen. Wie eine Bildhauerzeichnung erfaßte er den Raum der Wirklichkeit in kühlem Abstand, um sie zugleich mit dem eigenen Wesen zu verbinden. Man ahnte wohl, daß in dieser Frau eine immense bildhafte Kraft vorhanden war, die immer von neuem an der Vervollkommnung der Sprache ihrer Kunst gearbeitet und auch gelitten hatte. Kaum verwunderlich, daß daraus innerhalb weniger Jahrzehnte neben Clara Westhoff, Hanna Cauer und - wenn man so will auch den späten plastischen Arbeiten von Käthe Kollwitz auf ihre Art eine der bekanntesten Bildhauerinnen - nicht nur ihrer Zeit - werden konnte. Bald entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch. Auf meine Fragen erzählte sie aufgeschlossen und völlig unprätentiös aus ihrem Leben. Saint-Denis hieß die Familie der Künstlerin, Hugenotten aus Frankreich, die schon unter dem Großen Kurfürsten um ihrer Religion willen in Preußen Asyl gefunden hatten. Pastoren finden sich darunter. Ein berühmter Rechtslehrer aus dem Beginn des vergangenen Jahrhunderts gab zum ersten Male das „Corpus juris civile" und das „Corpus juris canonici" in deutscher Sprache heraus. Politiker der Bismarckzeit gehörten ebenso dazu und mancher Vertreter der gebildeten Stände. Auch der Vater war Jurist. Als 264

Älteste von drei Geschwistern wurde sie am 20. März 1888 in Glatz geboren. Bestimmende Jugendjahre verlebte sie nach einer Umsiedlung der Familie in dem märkischen Städtchen Neuruppin, unweit der Apotheke von Fontanes Vater, der sich ja auch der französischen Kolonie zurechnete. Das hochaufgeschossene, ein wenig schlaksige junge Mädchen fand in der Enge dieser Provinzstadt wenig Freunde. Ja, Gleichaltrige verspotteten sie sogar, und auch von den Erwachsenen mag sie manchen scheelen Blick erfahren haben. So zog sie sich ganz auf sich selbst zurück, fand Freude an der Schönheit der herben märkischen Landschaft. Und die Nähe des Rheinsberger Schlosses mit seinem weiten Park und den Erinnerungen an Friedrich den Großen und seinen Bruder Heinrich bedeutete zugleich einen Abglanz der weiten Welt. Vor allem aber schloß sie Freundschaft mit Tieren, den kreatürlichen Geschöpfen, die uns noch Dank wissen für jede Zuneigung und Geborgenheit. Durch Zufall befand sich ganz in der Nähe der elterlichen Wohnung ein kleines Gestüt, in dem die Pferde noch frei und unbeschwert aufwuchsen. Hier verbrachte sie viele Stunden, und noch aus ihren späteren Arbeiten läßt sich erkennen, wie sie deren Gestalt bis in die kleinste Bewegung „par coeur", d. h. mit dem Herzen, auswendig lernte und beherrschte. In dieser Zeit begann sie auch zu zeichnen. Wenn man so will, war dies die Grundlage zu jenem Zauberspiegel der Kunst, von dem Hans Thoma in seinen Erinnerungen erzählt, er habe sich ihn als kleiner Schwarzwaldbub beim Hüten der Ziegen ausgedacht, um damit nach Belieben die Welt vor sich abrollen zu lassen. Als der Vater einen Ruf als Syndikus erhielt, siedelte die Familie für wenige Jahre nach Stuttgart über. Die junge Renee schloß hier die Oberschule ab und erhielt auch ersten Zeichenunterricht an der Kunstschule. Schon 1908 ging die Familie nach Berlin, das zu ihrer endgültigen Heimat werden sollte. Der Entschluß zur Kunst stand nun fest, wenn dies auch von der Familie als „brotlos" und für ein Mädchen als sowieso völlig überflüssig angesehen wurde. Schließlich fand man eine solide Ausbildung handwerklicher Art in der Kunstgewerbeschule, Grunewaldstraße, als angemessen und eben noch vertretbar. Für die zwanzigjährige, strengerzogene Juristentochter war es nicht leicht, die Schallmauer der bürgerlichen Diesseitigkeit zu durchbrechen und in der Fülle großstädtischer Anregungen, ganz auf sich gestellt, den rechten Weg zu finden. Wohl gab es in Berlin schon seit 1900 die in bewußtem Gegensatz zur offiziösen Kunst begründete Sezession der Liebermann, Slevogt und Corinth, aber die Träger neuer Kunstideen wie die Dresdner „Brücke" (seit 1905) und der Münchner „Blaue Reiter" (seit 1911/12) hatten noch einen weiten Weg bis zur allgemeinen Anerkennung zurückzulegen. Die Berliner Hochschulen jedenfalls waren noch weitgehend von dem „dynastischen Realismus" Wilhelminischer Zeit bestimmt. Der Eintritt in die Malklasse Leo v. Königs ergab sich als Kompromiß. War er doch ein Mitglied der Sezession, stand aber mit einer ausgesprochenen Begabung für Bildnisse aristokratischer Haltung noch weit in den Traditionen der Jahrhundertwende. Doch er war ein guter Lehrer. Renee verdankt ihm mit Sicherheit die Grundlagen zum virtuosen Kontur ihrer späteren Zeichnung. Aber die Linie allein genügte nicht, es fehlte die dritte Dimension des Raumes. So wechselte sie in die Bildhauerklasse von Wilhelm Haverkamp über. Haverkamp war einer der Künstler, die vielbeschäftigt und betriebsam, Kirchen und Plätze bis zur Berliner Siegesallee mit Denkmälern im Geschmack der Jahrhundertwende versorgten. Es fällt uns heute schwer, ihn als Lehrer am Beginn einer solchen Laufbahn zu denken: ein Beweis mehr, daß Renee Sintenis dies Gelingen nur der eigenen schöpferischen Kraft verdankte. Jedenfalls nahm sie die Herausforderung mit unendlichem Fleiß auf, lernte das Handwerk von der Pike auf, zu modellieren, Gerüste zu erstellen, Ton zu brennen und nicht zuletzt die Anatomie von Mensch und Tier bis in Einzelheiten zu beherrschen. So erwarb sie sich das technische Rüstzeug für ein ganzes Lebenswerk. Auch Anerkennung blieb nicht aus, 265

als Meisterschülerin konnte sie nach wenigen Jahren ein eigenes Atelier in der Prinz-AlbrechtStraße übernehmen. Aber der glückhafte Beginn findet jähe Unterbrechung. Der Kriegsausbruch 1914 ließ die Achtung vor den Musen nicht eben steigen, wirtschaftliche Sorgen und Unverständnis ließen den Vater zuerst an die Ausbildung der beiden jüngeren Brüder denken, und so fand sich die Sechsundzwanzigjährige unversehens in der Kanzlei des Vaters, einem Anwalt am Berliner Kammergericht, wieder, befaßt mit Stenographie, Schreibmaschine und trockenen juristischen Schriftsätzen. Die Liebe zur Kunst erwies sich jedoch als stärker. In einer für damalige Zeiten etwas dramatisch verlaufenen „Palastrevolution" sagte sie sich endgültig vom Elternhaus am Kleistpark los. Kurzerhand zog sie in die kleine Wohnung einer alten Schulfreundin, die sich recht und schlecht mit kunstgewerblichen Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt. Dort fand sie zwar ein bescheidenes Stübchen, aber nicht einmal ein eigenes Bett. Um die bürgerliche Vorstellung von der „brotlosen" Kunst gleichsam zu bestätigen, mangelt es nun oft am Nötigsten, an Kohlen für die Heizung etwa oder dem Fahrgeld zur Schule. Aber noch einmal gelingt es der Künstlerin, sich im festen Glauben an ihre Aufgabe wie Münchhausen am eigenen Schopf aus der bedrohlichen Lage zu befreien. Zwei Wunder geschehen: Einmal läßt eben diese schwere Zeit den angelernten schulischen Ballast vergessen und in mühevoller Arbeit als Erinnerung an ihre Jugend die ersten Kleinplastiken der Tiere als ureigene Sprache entstehen. Der alte Noack in Friedenau, in seiner Werkstatt als Bildgießer der Kolbe und Barlach, Gies und Belling mit künstlerischer Qualität wohl vertraut, räumte Renee Sintenis Kredit für einige der schönsten Stücke ein. Die fertigen Güsse können zusammen mit einem mühsam luftgetrockneten Selbstbildnis (Gips) in einer Ausstellung der Berliner Sezession gezeigt werden. Und nun erfolgt das zweite Wunder: Kein geringerer als der Dichter Rainer Maria Rilke, vertraut mit neuer Kunst durch die Arbeit im Atelier Rodins und die Freundschaft mit dem Kreis um Vogeler, Clara Westhoff, Paula Modersohn-Becker im Barkenhof zu Worpswede, nimmt diese ersten Arbeiten mit Begeisterung auf. Vor allem empfiehlt er sie nachdrücklich dem Sammler von der Heydt zum Ankauf. So trifft eines Tages ein Brief des Sammlers ein mit herzlichen Glückwünschen zu einem solchen Gelingen. Zugleich enthält er einen Scheck mit der runden Summe für den Ankauf, vor allem des in der Ausstellung als unverkäuflich bezeichneten Selbstbildnisses, aber auch einiger Kleinplastiken. Es v/ar ein vierstelliger Betrag, der allen materiellen Sorgen ein Ende setzte. Obwohl die Trennung von der Familie schwer zu überwinden war - ein Bruder fällt im Krieg, und der Vater stirbt bald darauf, unversöhnt und ohne die allgemeine Anerkennung der Künstlerin noch zu erleben -, begann seitdem - wohl von unermüdlicher Arbeit getragen - die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie heiratete den über ein Jahrzehnt älteren Maler und Grafiker Emil Rudolf Weiss, Lehrer an der Kunstgewerbeschule und in allen Verlagen als Erfinder neuer Schriftbilder bekannt. Eine größere Ausstellung in der Galerie Gurlitt bringt allgemeine Zustimmung, und - später vor allem dank der Galerie Vömel - erfolgen Ankäufe der verschiedensten Museen, auch in Paris und New York. Bald wurde Renee Sintenis in die Akademie der Künste gewählt, und die Ausstellungen am Pariser Platz zeigten regelmäßig jährlich ihre neuesten Arbeiten. Kurzum - die Dreißig- und Vierzigjährige hat sich längst einen festen, unverrückbaren Platz im künstlerischen Schaffen errungen. Noch immer bildeten die Tierplastiken einen gewichtigen Teil ihrer Arbeit. Aber langsam wuchsen sie zu lebensgroßen Bronzen in den Gärten der Villen und in den Parks. Es folgten die meisterhaften Bildnisse von Andre Gide, Hans Siemsen, von Ringelnatz (wir erinnern uns dabei an den Schluß seines Gedichtes vom „Reh": „und dann gab ich ihm einen Stips, und dann 266

war es aus Gips"). Die Figur des weltberühmten finnischen Läufers Nurmi schließt sich an, des Boxers, des Fußballspielers und des zu untrennbarer Einheit von Pferd und Reiter in der Bewegung erfaßten „Polospielers". Nicht zuletzt aber auch an die Bronzefiguren der griechischen Dichterin Sappho und der vom erzürnten Gott Apollo verfolgten und in einen Lorbeerbaum verwandelten Nymphe Daphne. Wie alle ganz in ihrer Aufgabe sich erschöpfenden Menschen liebte auch Renee Sintenis den lebendigen Austausch der Gedanken im Gespräch. Ohne Scheu erzählte sie von den einzelnen Stationen ihres Werdens, gab Auskunft über diese und jene Frage. Unterdessen hatte ich Zeit, mich in dem sparsam eingerichteten Berliner Zimmer umzusehen: Neben dem weißen, noch biedermeierlich anmutenden Kachelofen standen ein von Notenstößen umgebener Flügel, ein wenig altväterliche Stühle und ein Schreibtisch, die Wände waren ohne jeden Schmuck. Aus vielen Künstlerateliers kannte ich diese nüchterne Zweckmäßigkeit. Sie erinnert an den Vordergrundbaum auf alten Gemälden, der erst durch den Gegensatz Nähe-Ferne für den Betrachter die Weite einer Landschaft freigibt. Am Fenster auf einem langen Tisch fanden sich noch Entwürfe, größere und kleinere Bronzen, so daß ich alte Bekannte Stück für Stück in die Hand nehmen, Erklärungen fordern konnte. Ein ruhendes Kälbchen, ein äugendes Reh, spielende Eselchen und junge Fohlen junge Elefanten, Ponys mit jagender Mähne, Hunde und Ziegen. Selbst die kleinste Rundung ist durchdacht, die gespannte Sehne, die Schmiegsamkeit eines Pferdehalses. Auf die Frage nach dem Modell betont die Künstlerin, für sie sei eine lange dauernde Anschauung wohl wichtig, um das Wesenhafte zu erfassen. Die Realität irritiere sie nur, berausche sie fast, und erst in einem zweiten Schritt gelänge es ihr, sie in die eigene Sprache umzusetzen. Auf dem Tisch liegen auch Mappen mit Zeichnungen und Radierungen - was gäbe es Schöneres? Wieder sind es vor allem Tiere, sich neckende, spielende, laufende und ruhende Wesen verschied3nster Arten. Dann aber auch hochaufgeschossene Jünglinge und zarte Mädchenwesen; häufig genug mit literarischen Bezügen, vor allem zu der Mythologie der Antike. Aber das Gegenständliche ist nur das auslösende Moment zu einer wundervollen Spannung zwischen dem glatten Weiß des Papiers und den dunkelschwarzen oder farbigen Strichen des Konturs. Wahrhaftige Bildhauerzeichnungen sind es. Die darauffolgenden Jahre brachten nur gelegentlich ein flüchtiges Wiedersehn mit der Künstlerin. Aber nach fast drei Jahrzehnten besuchte ich sie noch einmal während der Vorbereitung zu einer Publikation. Diesmal fand ich sie in der kleinen Neubauwohnung am Innsbrucker Platz mit dem weiten Blick auf den Schöneberger Stadtpark. Sie lebte dort, betreut von einer jungen Frau, die auch später ihren Nachlaß hütete, der nach ihrem Tod 1965 der Berliner Nationalgalerie zufiel. Die siebzigjährige Frau war sichtbar müde geworden. Aber aus ihren Augen leuchtete immer noch der etwas wissender gewordene, alles Kreatürliche mit Liebe umfassende Blick. Viel Schweres hatte sie erlebt. E. R. Weiss, ihr Gatte, war schon 1942 verstorben, und die Agonie von Berlin hatte sie bis zur Neige auskosten müssen. Ihre frühere Wohnung und das Atelier hatten zwar die Bombennächte überdauert, waren aber bei Kriegsende während der russischen Siegesfeiern im Mai 1945 in Flammen aufgegangen und mit allen Arbeiten und persönlichen Erinnerungen vernichtet worden. Aber bald faßte sie neuen Mut. Der Bürgermeister von Schöneberg wurde auf sie aufmerksam, verschaffte ihr eine neue Behausung - damals ein unschätzbarer Wert. Nach den Aufräumungsarbeiten in der Hochschule an der Hardenbergstraße erhielt sie ebenso wie Richard Scheibe ein Meisteratelier. So konnte sie ihre Lehrtätigkeit wieder aufnehmen und, besonders auf dem Gebiet der Grafik, wichtige und reife Blätter ihrem Werk hinzufügen. Überschaut man das Lebenswerk von Renee Sintenis, geben uns wohl ihre Selbstbildnisse am 267

eindeutigsten Auskunft über das Werden des Menschen und der Künstlerin. In den Selbstbildnissen von 1923 und 1926 erkennen wir schon die selbstbewußte Beherrschung künstlerischen Ausdrucks. Noch stärker spürbar ist diese in den Darstellungen von 1931 und 1933. Auf dem Höhepunkt des Schaffens ist eine Sprache gefunden, die sich virtuos der Mittel des eigenen Könnens bedient. In dem Kopf des Jahres 1945 finden wir das ganze Leid jener schweren Zeit ausgedrückt.

X a r l Schmidt-Rottluff Zum 100. Geburtstag des Meisters der „Brücke" am 1. Dezember 1984 TJicht neben dem Gebäude der altehrwürdigen Leipziger Alma mater mit der gotischen Paulinerkirche - damals noch am Augustusplatz - befand sich im Keller eine bescheidene Kunsthandlung. Da in Vorlesungen Wilhelm Pinders und später Leo Bruhns die Kunstgeschichte spätestens mit Marees und Leibl zu enden pflegte, begegnete ich dort zum ersten Mal der modernen Kunst als junger Student. So erschloß sich mir hinter den tiefliegenden kleinen Fenstern und verwinkelten, noch aus der alten Stadtbefestigung erhaltenen Räumen eine ganz neue Welt. Herr Barchfeld, der Besitzer, war - sofern nicht mit einem seiner endlosen Verkaufsgespräche befaßt - zudem jederzeit bereit, Erklärungen und Hinweise zu geben. Dort erfuhr ich auch, daß in den städtischen Sammlungen von Chemnitz und Halle der beste Eindruck über die Kunst der Expressionisten zu gewinnen sei. So sparte ich meine nicht eben fürstlichen Honorare aus ersten journalistischen Arbeiten auf, um an freien Sonntagen auf Entdeckungsreisen zu gehen. Ich fuhr nach Chemnitz, wo Dr. Schreiber eine kleine, aber recht instruktive Sammlung der Brücke-Maler aufbauen konnte, besuchte Dr. Schardt in Halle, der sich in den schönen alten Räumen der Moritzburg nachdrücklich für die Moderne bis zu den bekannten Auftragsarbeiten der Stadtansichten Lionel Feiningers vom Bauhaus in Dessau einsetzte; später auch nach Breslau zu Dr. Wiese, wo sich in Zusammenarbeit mit den jüngeren Mitgliedern der Akademie langsam eine interessante Folge neuer Erwerbungen für das Museum ergeben hatte. Alles dies war eine Offenbarung für mich gegenüber den zaghaften Ansätzen in Leipzig, und ich konnte darüber mit jugendlicher Begeisterung berichten. Weitere Aufschlüsse erhielt ich in der Sammlung einer Leipziger Familie - die u. a. eine lückenlose Folge der Grafik Schmidt-Rottluffs besaß - , vor allem aber in den kostbaren Schätzen der Sammlung Bernhard Köhlers. Waren dort doch in einer Berliner Stadt wohnung zwischen dem „Zickenplatz" und der Hochbahn auf langen Tischen meterhoch die schönsten Aquarelle und grafischen Blätter magaziniert. Nach dem Krieg hörte ich, sie seien ebenso wie die Ateliers von Renee Sintenis in der Kurfürstenstraße, von Gerhard Marcks in Wannsee und von Hugo Lederer in Neu-Westend sämtlich den Bombennächten zum Opfer gefallen. Irritierte mich zuerst das „epater le bourgois" („den Bürger verblüffen") in den frühen Werken dieser Künstler, so schrieb ich dies bald dem Suchen nach neuen Wegen und der Reaktion auf vielerlei Anfeindungen zu. Waren doch die in der Verklärung so oft als „goldene Zwanziger" bezeichneten Jahre eine vielschichtige, recht unruhige Zeit. Klar wurde mir bald, daß hier etwas Neues, von echtem Sendungsbewußtsein Getragenes entstand, das seinen Weg nicht nur in der deutschen Kunst nehmen würde. Löste es sich doch von dem inzwischen „akademisch" gewordenen Impressionismus und seiner Nachfolge „mit dem Stück Natur, gesehen durch ein Temperament", um - wie wir damals sagten - von dem „gebauten Bild" ersetzt zu werden, das die innere und äußere Realität zugleich erfassen und in 268

echten Werten der Form und Farbe festhalten wollte. Und wir jungen Menschen hatten damals die Empfindung, hier und an dieser Stelle würden unsere ureigenen Gedanken ausgesprochen. Immer wieder wurde in den Gesprächen damals der Name Schmidt-Rottluffs genannt. Von Alois Schardt und Dr. Schreiber wußte ich, daß er nicht nur bei den Ankäufen, sondern bis in die Anordnung der Bilder, sogar bei der Farbgebung der Museumsräume ein entscheidendes Mitspracherecht (besonders in der Moritzburg) besaß. So war nur natürlich, daß ich eines Tages dem Künstler selbst in seiner Etagenwohnung der Friedenauer Niedstraße, dicht neben der Bildgießerei Noack, gegenübersaß. Ich fand dort in dem ganz bürgerlich eingerichteten Wohnzimmer mit Georg Kolbes „Klagenden" auf einem Schrank einen hochgewachsenen Mittvierziger von verbindlichen Formen. Unverkennbar war sein sächsischer Dialekt, nicht in der weicheren, singenden Form der alten Meißner Mark zwischen Leipzig und Dresden, sondern mit der kantigeren Färbung des Erzgebirges, einem Land, in dem seit Jahrhunderten Bergleute Erze förderten und geschickte Handwerker heimisch waren. Aufgeschlossen erzählte er im Gespräch vom ersten Zusammenschluß der Dresdner Architekturstudenten in der Gemeinschaft der „Brücke", deren Namen er selbst fand, wie er immer neue Künstler (darunter auch schon frühzeitig Munch) für ihre Bestrebungen zu gewinnen suchte - von seinen Reisen nach Nidden und dem pommerschen Leba, Dangast usw., wo er sich immer wieder mit der Landschaft der Ebene und mit dem Meer auseinandersetzte - von der Dienstzeit des Ersten Weltkrieges, wo ihn zusammen mit anderen Künstlern beim „Ober-Ost" in Kowno das Erlebnis der Schlachten und des Ostens entscheidend mitformte. Er sprach von den ersten Gemeinschaftsausstellungen der „Brücke" in Braunschweig (1906), den Berliner Ausstellungen bei Gurlitt und in der von Pechstein mitgegründeten „Neuen Sezession" (1910), deren Erfolge ihn schließlich zur Übersiedlung nach Berlin veranlaßten. Ein wenig erstaunt erkannte ich bald, daß dieser Maler, der so Gewichtiges in der Kunst der Moderne mitbewegen half, im Grunde ein stiller, nachdenklicher Mensch war, dem die äußere Realität der Dinge wenig bedeutete. Aber aus jedem Wort über Kunst sprach eine sehr dezidierte Meinung, ja - wenn man so will - ein Sendungsbewußtsein, das seinen Weg immer begleiten sollte. Aus den späteren gelegentlichen Begegnungen möchte ich nur zwei erwähnen, da sie bedeutsam für den Menschen und Maler waren. Einmal war dies bei der Eröffnung der letzten „freien" Akademieausstellung Amersdorffers 1936 am Pariser Platz: Mutig stellte sich Schmidt-Rottluff an der Eingangstür auf. Und jeder der prominenten Besucher - das ominöse Malverbot war schon ausgesprochen - mußte sich nun entscheiden, ob er ihn trotzdem mit Handschlag begrüßte. Viele der alten Freunde taten es. Zum anderen besuchte ich den Maler zum ersten Male nach dem Zusammenbruch im Hause seines Bruders in Rottluff bei Chemnitz 1945. Begeistert und freudig bewegt, sah er nach den langen Jahren erzwungener Zurücksetzung dem Wiedersehn mit Berlin, der neuen Arbeit an der Hochschule und der Akademie entgegen. Mögen diese Hoffnungen in der zerstörten Stadt nicht alle in Erfüllung gegangen sein, es bedeutete ihm wenig. Ebenso wie Richard Scheibe versuchte er unbeirrt, seinen Weg weiter zu gehen, nahm als „graue Eminenz" Einfluß auf die verschiedensten Entscheidungen und baute zusammen mit Prof. Reidemeister das heutige Brücke-Museum auf, ein Denkmal - wenn man so will - für sich und die Weggenossen und das Gelingen einer neuen Kunst, der klassischen Moderne. Karl Schmidt-Rottluff an Wilfried Göpel, 24. Januar 1932 (gekürzt): Es gibt eine Gruppe von Menschen, für die Kunst wirklich ein inneres Erleben bedeutet - diese Gruppe ist klein ... Eine andere Gruppe ist die. die für Kunst insofern Interesse hatte und hat. 269

soweit sich Kunst in irgendeiner Hinsicht verwerten läßt. Diese Gruppe ist allerdings unter den erschwerten wirtschaftlichen Möglichkeiten sehr zusammengeschmolzen. Eine dritte Gruppe, die derjeweiligen Intention der Tagesströmung unterliegt, kann man von vornherein wohl gleich außer Betracht lassen. Etwas anderes ist es nun, ßngere Menschen, jüngeres Kunstinteresse - das erscheint mir sehr hoffnungsvoll. Diese Menschen setzen sich sehr ernsthaft mit der Kunst auseinander - es ist in ihnen wieder ein Suchen nach den Quellen des Lebens, und es ist überraschend, wie geschärft ihre Sinne sind, wie sie das Eigentliche vom Nicht-so-Eigentlichen unterscheiden... Der Tagesirrtum, es wäre heute das Schaffen der 50- und 60jährigen nicht mehr von Interesse, istja ein rechter gedanklicher Schlendrian. Jedes Schaffen muß ausreifen können wie jeder einzelne Mensch älter und reifer werden können muß. Wer zeit seines Lebens in Sekunda sitzenbleibt, hat eben keine Entwicklungsfähigkeiten gehabt. Es gibt nun einmal Erkennnisse, die erst einem späteren Alter vergönnt sind, man braucht doch nur an die späteren Rembrandts, Tizians oder sonst wen zu erinnern... Anschrift des Verfassers: Wilfried Göpel, Prinz-Friedrich-Leopold-Straße 34,1000 Berlin 38 (Nikolassee)

'Zum Bau der Havelchaussee Von Otto Uhlitz Wer in den Archiven forscht, stößt mitunter auf Vorgänge, die mit dem zu bearbeitenden Thema nichts oder nur am Rand etwas zu tun haben, die es aber gleichwohl im Interesse der Landes- und Stadtgeschichtsforschung verdienen, aufgeschrieben und überliefert zu werden. Einen Vorgang dieser Art teile ich nachstehend mit. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde beschlossen, im Gebiet des Grunewalds einige Chausseen anzulegen. Hierzu gehörte auch der Bau einer längs der Havel entlangführenden Chaussee von Picheisberg (Endpunkt der zunächst fertiggestellten sogenannten Westendchaussee, heute Angerburger Allee/Ecke Havelchaussee) bis zum Forsthaus Wannsee am Kronprinzessinnenweg. Die Arbeiten für die etwa 10 km lange Strecke wurden im Wege einer Ausschreibung dem Potsdamer Steinsetzmeister Wilhelm Heyn übertragen. In dem zwischen Regierung in Potsdam und Heyn am 31. März 1875 abgeschlossenen Vertrag heißt es: „Der Chausseebau muß sogleich nach dem Abschluß des Vertrages begonnen und spätestens bis zum 1. Oktober d. Js. vollendet werden. Für jede Woche, um welche die Vollendung des Baues verzögert wird . . . verfällt der Unternehmer in eine Conventionalstrafe von 1000 Mark, welche vom Baugeld abgezogen wird." Der Unternehmer, der eine Kaution von 12 000 Mark hinterlegen mußte, hatte also ein halbes Jahr Zeit. In einer ersten Fassung des Vertrages hatte man die Vollendung des Chausseebaues sogar „binnen drei Monaten" vorgesehen. Wenn man bedenkt, mit welchen primitiven Mitteln damals gearbeitet wurde, ist ein halbes Jahr eine kaum vorstellbare Zeit. Es wäre schön, wenn ich berichten könnte, daß Heyn den vereinbarten Termin eingehalten hat. Das war leider nicht der Fall, da der Beginn der Erdarbeiten wegen des außergewöhnlich langen Frostes im Frühjahr hinausgeschoben werden mußte. In den Sommermonaten war es wiederum unmöglich, die etwa 600 m lange Strecke vom Anfangspunkt der Chaussee (heute: Angerburger Allee/Ecke Havelchaussee) bis zur Höhe des Pichelsberger Restaurants Kaisergarten (kurz vor der dreißig Jahre später erbauten Stößenseebrücke) zu chaussieren, da infolge 270

der Eröffnung der Westendchaussee der Besucherverkehr zu den am Stößensee liegenden Pichelsberger Vergnügungslokalen so stark zugenommen hatte, daß mit den entsprechenden Arbeiten an diesem Streckenabschnitt erst am 15. September begonnen werden konnte. Heute würde man, dessen bin ich mir ziemlich sicher, den Weg zu den Lokalen kurzerhand sperren und die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Existenz der Restaurateure ohne großes Herzklopfen in Kauf nehmen. Damals gab es das nicht. Es hätte auch eine kleine Rebellion gegeben, wenn den Berlinern der Zugang zu ihren damals beliebtesten Ausflugslokalen gesperrt worden wäre. Die sogenannte Westendchausee begann übrigens an einem auf der heutigen Heerstraße zwischen Theodor-Heuss-Platz und Bahnhof Heerstraße an der Grenze des forstfiskalischen Gutsbezirks Spandauer Forst (seit 1903: Grunewald Forst) liegenden Punkt und folgte, natürlich viel schmaler, den Trassen der heutigen Heerstraße und Angerburger Allee nach Picheisberg. Im Hinblick auf die von Heyn vorgetragenen Umstände erhob die Potsdamer Regierung die an sich fällig gewordene Konventionalstrafe nicht. Der Unternehmer mußte aber mit einer Kürzung der Verdingungssumme um 0,75 % einverstanden sein und sich verpflichten, die Arbeiten bis zum 30. April 1876 endgültig zu vollenden. Dieser Termin wurde eingehalten, obwohl durch das Tauwetter und starke Regengüsse nicht unbedeutende Sandmassen aus den Schluchten des Grunewalds auf das Planum der neuen Chaussee geworfen wurden, die ständig fortgeschafft werden mußten und vorläufige Sicherungsmaßnahmen erforderlich machten, für die ein Betrag von 469,13 Mark aus der Forstkasse besonders angewiesen wurde. Die von Heyn vorgeschlagene Pflasterung der Schluchten wurde zunächst aufgeschoben. Man war von der Notwendigkeit noch nicht überzeugt. Am 25. April 1876 konnte der aufsichtsführende Kreisbauinspektor Wendt melden, daß die Fahrbahn der neuen Chaussee bereits seit dem 15. April 1876 vollendet sei und Heyn seine Verpflichtungen erfüllt habe. Es waren nur noch wenige durch den hohen Wasserstand der Havel im März verursachte Schäden zu beseitigen. Die Verwaltung und Unterhaltung der neuen Chaussee wurde der Abteilung für direkte Steuern, Domänen und Forsten der Potsdamer Regierung übertragen, die örtlich durch den zuständigen Oberförster des Reviers Spandauer Forst (seit 1903: Grunewald Forst) vertreten wurde. Die Gesamtkosten des Chausseebaues betrugen 245 814,64 Mark. Veranschlagt waren 81000 Taler (= 243 000 Mark) 1 . Die geringfügige Überschreitung des Ansatzes wurde als gerechtfertigt anerkannt. Später, am 19. April 1877, erhielt der Steinsetzmeister Heyn noch einmal 1320 Mark für die „Befestigung der Böschung der Chaussee längs der Havel zum Forsthaus Wannsee". Man war mit der Bauausführung durch Heyn so zufrieden, daß er sogleich den Auftrag für den Bau der Chaussee von Beelitzhof nach Haiensee über Großen und Kleinen Stern und Königsallee erhielt2. Der mit umfangreichen Holzabtreibungen und Erdbewegungen verbundene Bau der Chaussee dauerte also etwas mehr als ein Jahr. Ich überlasse es der Phantasie der Leser sich vorzustellen, wie lange ein solcher Straßenbau trotz der modernsten Hilfsmittel (Motorsägen, Motorlastwagen, Bulldozer usw. usw.) heute wohl dauern würde. Mit der Regulierung des Fürstenbrunner Weges ist man seit fünf Jahren beschäftigt. Wenn man die Akten über Straßenbauten in früheren Zeiten, insbesondere auch im innerstädtischen Bereich, studiert, stellt man immer wieder fest, daß zur Zeit des verpönten preußischen „Obrigkeitsstaates" durch zweckdienliche Anordnungen sichergestellt wurde, daß schnell und gut gearbeitet und vor allen Dingen das Publikum sowenig wie möglich belästigt oder behindert wurde. Von alledem kann heute gewiß keine Rede sein. Beispiele brauche ich 271

hier nicht anzuführen. Alle Berliner wissen Bescheid, vor allen Dingen die, die die Stadtautobahn benutzen. Anschrift des Verfassers: Dr. Otto Uhlitz, Westendallee 71, 1000 Berlin 19 Anmerkungen 1 Die Mark war erst seit dem 1. Januar 1876 alleingültige Geldeinheit im Deutschen Reich. 2 Quellen für vorstehende Ausführungen: Staatsarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 2 A, Regierung Potsdam, Abt. III F Nr. 9191 ff.

Aus dem Mitglieder kreis Hans Schiller 80 Ein langjähriges Mitglied und treuer Mitarbeiter und Mitgestalter unserer Bibliothek, Hans Schiller, wurde am 8. Januar 1985 achtzig Jahre alt. Ob sommerliche Hitze, herbstlicher Regen oder winterliche Kälte - von keinen wetterlichen Unbilden und von keinen kleinen Unpäßlichkeiten, wie sie das Alter nun einmal mit sich bringt, ließ sich Hans Schiller abhalten, seinen Platz in unseren Büchereiräumen einzunehmen. Er kam und kam auch am Stock nach seiner kürzlich durch Sturz erlittenen schweren Verletzung sehr bald wieder zu uns. Unermüdlich saß er an der Schreibmaschine und bibliographierte die allwöchentlichen Neuzugänge oder tilgte vor Jahren und Jahrzehnten begangene Unterlassungen an Titelaufnahmen. Viele Bücher besprach er knapp, sachlich, gescheit in den „Mitteilungen". Unsere guten Wünsche für die Zukunft gelten seiner Gesundheit, seinem Wohlbefinden, seiner Arbeitsfreude und Arbeitskraft. Wir möchten Hans Schiller noch lange unter uns sehen. G. K.

Karl Bullemer f Karl Bullemer ist im gesegneten Alter von vollendeten 98 Jahren in seiner Wahlheimat Bad Reichenhall verstorben - bis zuletzt allenfalls von den Jahren gebeugt, nicht aber von Krankheit gezeichnet. „Als unser Jahrhundert eingeläutet wurde, trug Karl Bullemer schon lange Hosen" - so war einmal eine Geburtstagswürdigungauf den Verstorbenen begonnen worden. Plastischer läßt sich der Altersunterschied zu den mindestens zwei Generationen nicht ausdrücken, die ihm inzwischen im Amt und im Leben nachgefolgt sind. Vier Ebenen kann man unterscheiden, wenn man Werk und Leistung des Verstorbenen in einem Rückblick betrachten will. Da ist zum ersten sein Wirken in den Verbänden der Brauindustrie, das nach vorangegangener Tätigkeit in der Actien-Bierbrauerei Falkenkrug (Detmold) im Jahre 1909 beim Berliner Verband begann. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zu dessen Generalsekretär und Geschäftsführer bestellt und betreute seit 1925 nebenamtlich zunächst die Gruppe Nord des Verbandes der Deutschen Ausfuhrbrauereien e.V., dessen Hauptgeschäftsführer er dann später wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte er sich dem „Bevollmächtigten für die Getränkeversorgung Berlins" zur Verfügung, wurde 1946 Geschäftsführer des Fachausschusses Brauerei und 1949 in gleicher Funktion in den neugegründeten Wirtschaftsverband Berliner Brauereien e.V. berufen, wo er die Tradition des Vorgängerverbandes fortsetzte. 1951 ist er aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und war dann noch als alleiniges Vorstandsmitglied des Deutschen Versicherungsschutzes für Brauereien tätig. Immer schon hatte er sich zur Geschichte der ihm anvertrauten Körperschaften und des Braugewerbes hingezogen gefühlt. In größerem Umfang konnte er aber erst im Ruhestand zur Feder greifen, um aus genauer Sachkenntnis und gestützt auf umfangreiche Recherchen eine Reihe grundlegender Arbeiten zu schreiben, die in den Jahren 1953 bis 1974 in den Jahrbüchern der Gesellschaft für die Geschichte und Bibliographie des Brauwesens E.V. (GGB) erschienen sind. Hier wären zu nennen „Die Entwicklung der staatlichen Bierbesteuerung in Deutschland" (1953), „Beiträge zur Geschichte des Berliner Brauwesens und seiner Organisation" (1959,1960,1961) und „Verband der Deutschen Ausfuhrbrauereien e.V. 1920 bis 272

1945. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bierexports" (1974). Die GGB hat ihrem langjährigen Mitglied auf der Jahresversammlung 1984 die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Seine Aufsätze „Das Brauhandwerk als wesentliches Steuerobjekt in der Chur- und Mark Brandenburg" (1954) und „Zur Geschichte des Berliner Brauwesens. Vergangenheit und Gegenwart" (erschienen im Jahrbuch 1963 des Vereins für die Geschichte Berlins) waren Ausdruck seiner engen Verbindung zu diesem traditionsreichen, 1865 gegründeten Verein. Ihm oblag es, als dessen Schriftführer die Hundertjahrfeier zu organisieren und mit dem ihm eigenen Schwung zu gestalten. Als er 1968 dieses Ehrenamt in die Hände Dr. Schultze-Berndts legte, stattete ihm der Verein für die Geschichte Berlins seinen Dank durch die Wahl zum Ehrenmitglied ab. Zum dritten war Karl Bullemer ein in der Wolle gefärbter Liberaler. Schon vor dem Ersten Weltkrieg zählte er in jungen Jahren zu den Anhängern Friedrich Naumanns, war nach der Rückkehraus dem Krieg lange Jahre stellvertretender Vorsitzender des Bezirksverbandes Wilmersdorf der Deutschen Demokratischen Partei und später bis zu deren zwangsweiser Auflösung der Deutschen Staatspartei. In dieselbe Funktion rückte er nach dem Zweiten Weltkrieg ein, nachdem er 1946 der LDP/FDP beigetreten war. Viele Jahre versah er das Amt des Rechnungsprüfers des FDP-Landesverbandes Berlin. Zu seinen weiteren Ehrenämtern gehören seine Mitarbeit im Schlichtungsausschuß sowie als Beisitzer beim Landesarbeitsgericht und Oberverwaltungsgericht Berlin. Als letztes sei das biblische Alter Karl Bullemers gewürdigt, das bis auf die letzten Jahre weder seinem phänomenalen Gedächtnis noch seinem Mitteilungsbedürfnis am Telefon und in Briefen Abbruch tat. Man hörte ihm gern zu, wenn er von Geheimrat Max Delbrück sprach, wie dieser beim Berliner Brauerei-Verband für die Versuchs- und Lehrbrauerei der VLB eine Lanze brach, oder wenn er Geschehnisse aus einer Zeit wiedergab, die man heute sonst nur in Ausstellungen bestaunt. Karl Bullemer hat es der noch verbliebenen Schar seiner Weggefährten und Freunde leichtgemacht. Ohne langes Krankenlager und ohne Aufhebens hat er sich still aus dieser Welt verabschiedet. Er hatte sein Leben vollendet. Es war ein exemplarisches Leben. H. G. Schuhze-Berndt

Dietrich Franz jQuidquid agis prudenter agas et respice finem

„Was immer du tust, handle klug und denke ans Ende" - eine Lebensweisheit, der sich Dietrich Franz immer nachzustreben bemühte. Im Juni vorigen Jahres hatten wir noch seinen 80. Geburtstag feiern können, sehr schnell trat jetzt der Tod an ihn heran: Unser langjähriger Vereinsfreund und unser Vorstandsmitglied Landgerichtsrat und Rechtsanwalt Dietrich Franz verstarb am 20. November 1984. Er entstammte einer alten Juristenfamilie, die 1790 aus Strasburg in der Uckermark nach Berlin zugezogen war. Sein Vater war - viele Jahre nach dem berühmten Streich des Schusters Voigt - Bürgermeister von Köpenick, dann Stadtrat in Berlin. Sohn Dietrich bereitete sich in Bonn, Berlin und Leipzig aufsein erfolgreiches Wirken im Dienste Justitias vor. Die Gerichte in der Reichshauptstadt wurden und blieben die Plätze seiner Arbeit. Er war kein Mann der formalen, nur aus Paragraphen gewonnenen Gerechtigkeit, der Sinn für diese schöne menschliche Tugend war ihm eingeboren, und mit Hilfe seiner Formulierungskunst bemühte er sich unablässig, ihr zu dienen. Witzig und schlagfertig konnte der kleine, drahtige Herr sein. Er liebte Musik, er liebte Tiere, war zeitlebens ein begeisterter Reiter, und er liebte vor allem seine Heimat und sein Berlin. Er schätzte unseren Verein und kam oft und gern zu dessen Vortragsabenden oder erfreute sich am Jahrbuch, dem „Bären". Wir verloren einen guten Freund, den wir über das Grab hinaus immer dankbar im Gedächtnis behalten werden. G.K. 273

Fritz Bunsas t Völlig unerwartet traf uns die Nachricht vom Ableben des Herrn Fritz Bunsas, unseres Mitarbeiters an der Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins, der im 68. Lebensjahr am 21. Dezember 1984 einem Herzanfall erlegen ist. Herr Bunsas besaß großes fachliches Interesse und ein umfassendes Wissen auf dem Gebiet der Geschichte Berlins. Sein Aufgabengebiet war der Empfang und die Betreuung der Bibliotheksbesucher. Aufgrund seiner steten Bereitschaft, keine Mühe zu scheuen, um auf die oft sehr speziellen Anliegen der Leser einzugehen, ist er zu einem bestbewährten Mitarbeiter geworden, der nur schwer zu ersetzen sein wird. Seine große persönliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die er jedermann bezeugte, hat ihn gleichermaßen zu einem hochgeschätzten und beliebten Kollegen werden lassen. Herr Bunsas hat dem Verein seine Mitarbeit über einen Zeitraum von annähernd acht Jahren ehrenamtlich gewidmet. Der Vorstand des Vereins für die Geschichte Berlins und seine Arbeitskollegen werden ihn in bestem Gedenken behalten.

Nachrichten Mehr als 100 historische Museen in der DDR In der DDR existieren 664 Museen, Gedenkstätten und andere museale Einrichtungen, die jährlich von rund 32 Mio. Menschen besucht werden. Mehr als die Hälfte dieser Kulturstätten können als Heimatmuseen angesehen werden, 105 sind historische Museen. Weiter sind zu unterscheiden rund 50 Literatur-, Theater- und Musikmuseen, ebenso viele naturwissenschaftliche und etwa 40 technische Museen, ferner mehr als 70 Kunstmuseen. SchB.

Neue Straßennamen in Berlins Stadtmitte Im wiedererstehenden historischen Viertel rund um die Nikolaikirche, wo die Gerichtslaube aus dem 13. Jahrhundert, das vor 220 Jahren erbaute Ephraimsche Palais und auch die historische Gaststätte „Zum Nußbaum" einen neuen Standort finden werden, sollen die Straßen traditionelle Namen erhalten. Diese greifen auf die Berliner Geschichte zurück, auch wenn sich ihre Topographie verändert hat. Vorgesehen sind Poststraße, Probststraße, Nikolaikirchplatz, Spreeufer und Am Nußbaum. Nicht ganz in den Kontext dieser historisierenden Bemühungen gehört die Bezeichnung Marx-Engels-Forum, mit der der zwischen Spandauer Straße und Spreeufer gelegene Abschnitt belegt werden soll, der bisher zu Rathausstraße gehörte. SchB.

Zunehmendes Interesse an alten Nahverkehrsmitteln und Verkehrsanlagen in Ost-Berlin Der 8. August 1924 gilt als der Geburtstag der Elektrifizierung der Berliner S-Bahn, weil an diesem Tag der erste elektrisch betriebene S-Bahnzug von Berlin nach Bernau fuhr. Aus Anlaß des 60jährigen Jubiläums der im wesentlichen bis 1929 abgeschlossenen Elektrifizierung äußerte sich Reichsbahn-Oberdirektor Dr. Günter Götz, Vizepräsident der Reichsbahn-Direktion Berlin, im Organ des ZK der SED „Neues Deutschland" Nr. 188 vom 8. August 1984. Danach werden gegenwärtig 23 Bahnhöfe modernisiert, von denen die Stationen Pankow, Warschauer Straße, Wuhlheide, Treptower Park und Baumschulenweg sich bereits wieder mit ansprechendem Äußeren zeigen. Noch 1984 wurden die Arbeiten an den S-Bahnhöfen Nöldnerplatz, Pankow-Heinersdorf, Frankfurter Allee, Rahnsdorf, Karlshorst, Rummelsburg und Betriebsbahnhof Schön weide abgeschlossen. Beim Bahnhof Marx-Engels-Platz (Börse) wird darauf geachtet, daß architektonisch wertvolle Teile erhalten bleiben. Das Gleisbett der S-Bahn wird 1984 auf einer Strecke von rund 60 km erneuert. Nachdem am 30. Dezember 1976 die S-Bahnabschnitte Friedrichsfelde-Ost/Marzahn, am 15. Dezember 1980 Marzahn/Otto-Winzer-Straße und am 30. Dezember 1982 Otto-Winzer-Straße/Ahrensfelde in Betrieb genommen worden 274

waren, soll Ende 1984 die S-Bahnstrecke von Springpfuhl über Gehrenseestraße nach Berlin-Hohenschönhausen verlängert werden. Für 1985 ist der zweigleisige Ausbau der S-Bahnstrecke bis Hohenschönhausen und die Verlängerung bis zum Bahnhof Wartenberg vorgesehen. Nachdem eine Arbeitsgemeinschaft des Modelleisenbahn-Verbandes der DDR den historischen Straßenbahnwagen 1420 (Baujahr 1921) der ehemaligen „Großen Berliner Straßenbahn" wieder fahrtüchtig gemacht hatte, konnte dieser am 23. September 1984 zwischen Grünau und Schmöckwitz verkehren. Einen Tag zuvor fuhr eine historische Straßenbahn von Lichtenberg nach Karlshorst. Dies war Teil eines erstmals in Lichtenberg veranstalteten „Tages der Heimatgeschichte und Denkmalpflege", bei dem auch zwei Ausstellungen in der Frankfurter Allee zu sehen waren: „Dokumente aus der Lichtenberger Ortschronik" einerseits und „Berliner Miniaturen" von Hanshermann Schlicker nebst Fotos von Hellmut Greif andererseits. SchB.

Buchbesprechungen Walther G. Oschilewski: Auf den Flügeln der Freiheit. Ausgewählte Aufsätze zur Sozial-, Kunst- und Literaturgeschichte Berlins. Mit einem Vorwort von Willy Brandt. Verlag europäische Ideen, Berlin, 1984, ' 250 Seiten. Unter dem schönen Titel „Auf den Flügeln der Freiheit" erschienen Aufsätze von W. G. Oschilewski, just zu seinem 80. Geburtstag und gewissermaßen stellvertretend für ein umfangreiches und thematisch weit gespanntes Lebenswerk im Zeichen der Freiheit der Gedanken des Autors, aber auch einer Freiheit, der sich die einzelnen Männer und Frauen lebenslang ebenso verschrieben hatten wie die gesellschaftlichen Kräfte und Bewegungen, denen W. G. O. immer wieder seine Studien widmete. Er stammte aus Berlin NO, kam als gelernter Schriftsetzer - in diesem Beruf gleich so manchem anderen bedeutend gewordenen sozialen Demokraten - mit dem gedruckten Wort in Kontakt und stellte sein autodidaktisch erworbenes reiches Wissen und seine Kunst des Schreibens in den Dienst an der Arbeiterklasse und des Sozialismus seiner Zeit. Der Sozialgeschichte und der Beobachtung des Geschehens „von unten" hatte sich W. G. O. schon angenommen, als die herkömmliche „bürgerliche" (Stadt-)Historienschreibung ihr ausschließliches Interesse an mittelalterlichen Bränden, Gebietserwerbungen, Vertragsabschlüssen, irgendwelchen Ratsentscheidungen oder Einweihungen nahm. Literatur, Kunst und allgemeine Kulturgeschichte bewegten den unermüdlichen, immer hellwachen Geist, und wenn der Senat von Berlin ihm vor Jahren den Professorentitel E. h. verlieh, so nicht zuletzt auch deshalb, weil W. G. O. einen sehr breiten Teil seines schriftstellerischen Lebenswerkes auf Berlin abgestellt hatte. Um diese Stadt geht es auch bei allen im vorliegenden Buch zusammengestellten älteren Arbeiten. Von Chodowiecki und Bettina von Arnim spannt sich der Bogen bis zu Marc Chagall und Bert Brecht. Marx', Engels', Lassalles, Rosa Luxemburgs Wirken in Berlin wird untersucht, die vielfältigen Probleme der Arbeitergesellschaft und ihrer politischen Orientierung werden beleuchtet. Immer steht aber der Mensch im Mittelpunkt, aktiv oder passiv: wirkend, gestaltend, leidend. Wir beglückwünschen unser ehemaliges Vorstandsmitglied und den Herausgeber des Jahrbuchs „Der Bär von Berlin" zu seinem Lebenswerk und zu seinem hohen Geburtstag, danken ihm für sein Wirken für unseren großen Kreis und wünschen ihm die gesundheitlichen Kräfte, die zur Stille des Lebensabends gehören und auf ein erfülltes Dasein zufrieden und dankbar zurückblicken lassen. Gerhard Kutzsch Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch, Teil 5. Die Ortsnamen des Barnim. Mit einem siedlungsgeschichtlichen Beitrag von R. Barthel. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, 1984, 455 Seiten, 11 Karten. Das vorliegende Brandenburgische Namenbuch entstand auf der Grundlage einer ungewöhnlich intensiven, bis ins kleinste Detail durchgeführten Forschung von Gerhard Schlimpert. Das Werk vermittelt eine umfassende Übersicht über die Besiedlungsgeschichte und die Entwicklung der Namensgebung sämtlicher zum Kreis Barnim gehörenden Ortschaften, Siedlungen, Fluren, Wüstungen und Gewässer seit der Zeit ihres Bestehens. Die Besiedlungsgeschichte hat Rolf Barthel geschrieben, beraten und unterstützt von einer Reihe qualifizierter Mitarbeiter, wozu die Materialübersichten von K. H. Wels und F. Dehmlow herangezogen worden sind. Ausgrabungen führten zu der Erkenntnis, daß die frühesten slawischen Siedler sich in 275

der Gegend des heutigen Berlin-Kaulsdorf und Berlin-Marzahn schon im 6. Jahrhundert niedergelassen hatten. Die Ära der slawischen Besiedlung währte bis ins 13. Jahrhundert und wurde durch die deutschen Feudalmächte - Brandenburg, Magdeburg und die Wettiner - zumindest in Teilgebieten des Barnims abgelöst. Erst ab Mitte des 13. Jahrhunderts gehörte der Barnim fest zur Mark Brandenburg und dem Machtbereich der Askanier. Die ersten Eroberer rekrutierten sich aus Adligen, Bürgern und Bauern wettinischer Herkunft, die um diese Zeit im südlichen Barnim, der Gegend des heutigen Köpenick, zu siedeln begannen. Da schriftliche Überlieferungen zum Vordringen der deutschen Herrschaft und Siedlung in die slawischen Gebiete des Barnims fehlen, läßt Barthel es sich angelegen sein, aus dem Phänomen der Ortsnamenübertragungen Rückschlüsse auf die Herkunftsgebiete der Siedler zu ziehen. Auch im Bereich der Datierung des deutschen Vordringens in den Barnim fehlen urkundliche oder zumindest schriftliche Belege, so daß auch hierauf andere Zeitbestimmungsmethoden zurückgegriffen werden mußte wie auf Vergleiche von Baustilen alter dörflicher Feldsteinkirchen, die noch ganz oder teilweise erhalten geblieben sind, aber auch ihrerseits keine exakte Datierung des Besiedlungsvorgangs zuließen. Im weiteren Verlauf wird die Besitznahme des Barnims durch die Askanier, der Verbleib der slawischen Bevölkerung und die Entwicklung von Burgen, Dörfern und Städten bis hin zur Gegenwart der sozialistischen Verwaltungsform und -struktur behandelt. 150 Fußnoten im Text und ein 6 Seiten langes Quellen- und Literaturverzeichnis, erweitert um 8 Karten, die über Funde aus der Stein- und der Bronzezeit sowie die geographische Siedlungsverteilung der Slawen, der deutschen Erstsiedler und der Wüstungen aussagen, schließen den 1. Teil des hochinformativen Werkes ab. Im 2. Teil, der den Hauptinhalt des Bandes bildet, befaßt sich Autor Schlimpert mit der Herkunft des Namens Barnim und weiterer 645 Örtlichkeiten, die bis zum Jahre 1800 entstanden sind. Der vermutlichen Entstehung des Namens Berlin ist ein gesondertes Kapitel gewidmet, das mehr als 5 Druckseiten umfaßt. Die Namen aller Berliner Stadtteile und Vororte sowie von Orten aus der näheren und weiteren Umgebung Berlins finden mit Hinweisen auf eine etwaige Eingemeindung ebenfalls Berücksichtigung. Anschließend werden die Flur- und Gewässernamen slawischer und deutscher Provenienz - sofern nachweisbar mit Zeitangaben - angeführt. Großes Gewicht legt Schlimpert auf die linguistische Deutung slawischer Ortsund Gewässerbezeichnungen, was ihn veranlaßt, den Leser mit Aussprachefinessen von Vokalen und Halbvokalen slawischer Wortbildungen vertrautzumachen, ein Trend, der bis hin zur Verwendung kyrillischer Schriftzeichen zur Erläuterung und Deutlichmachung von Ortsnamen slawischer Abkunft reicht. So ist es nicht verwunderlich, bei intensiver Konzentration auf die textlichen Erläuterungen des Sprachforschers Schlimpert mit „entpalatalisierten harten Vorderzungenkonsonanten" konfrontiert zu werden, was der mit der altslawischen Lingustik nicht gerade bestvertraute Brandenburg-Interessent darunter auch immer verstehen mag. Vokalismus, Konsonantismus und Gutturalisierung sind Begriffe, an die der Leser herangeführt wird, um die ursprüngliche Bedeutung und Funktion der slawischen Ortsnamen kennenzulernen. Der Herkunft der deutschen Namen ist gleichfalls breiter Raum zugemessen. Detaillierte Aufschlüsse hierzu gibt ein Verzeichnis der zur Namensbildung verwendeten Grundwörter (S. 382 bis 394). Die Ortsnamenübertragungen, denen einzelne Berliner Bezirke und Vororte ihre noch heute gültigen Bezeichnungen verdanken, sind von M. Bathe und R. E. Fischer untersucht worden. Eine weitere Liste nennt die Orte, deren urkundliche Erwähnung vor 1600 zeitlich belegt ist. Eine exakt erstellte Liste der für den 2. Teil verwendeten Literatur und Quellen findet sich auf den Seiten 416-434, eine Aufstellung der Abkürzungen, ohne deren Kenntnis ein intensives Studium des Textes nicht möglich ist, und ein komplettes Namensregister sämtlicher erwähnter Ortsbezeichnungen beschließen den Band. Jedem an der Thematik interessierten Leser bietet sich das Brandenburgische Namenbuch als Fundgrube einer unerschöpflichen Fülle von Fakten aus dem Gesamtbereich der Landschaft des Barnims an, die nur aufgrund intensivster, breitangelegter Forschungen profilierter Fachwissenschaftler ermittelt werden konnten. Hans Schiller Günther Klebes: Die Straßenbahnen Berlins in alten Ansichten. 100 Jahre elektrische Straßenbahnen. 3., verbesserte Auflage, Verlag: Europäische Bibliothek, Zaltbommel/Niederlande, 1984, 156 Bildseiten, 28,80 DM. Nicht zuletzt aufgrund der an dieser Stelle schon so oft ergangenen, teils flehentlichen, teil mahnenden Rufe an die Autoren, der korrekten Betextung von Bildbänden größere Aufmerksamkeit zu schenken, hat sich Autor Klebes erfreulicherweise vor Erscheinen der 3. Auflage des Bandes dazu entschlossen, die lange Reihe von Fehlinterpretationen seiner Fotos der ersten Auflage (61 von insgesamt 156!) auszumerzen und die Angaben - gestützt auf hieb- und stichfeste Hinweise des „Arbeitskreises Berliner Nahverkehr" - neu zu fassen. Nach Vornahme dieses reinigenden Bades ist der Bildband mit seinen teils seltenen, oft 80 bis 90

276

Jahre alten Aufnahmen aus dem Bereich des Berliner Straßenverkehrs der ihm gebührenden Attraktivität in vollem Umfang teilhaftig geworden. Hans Schiller i I'.(.. Das grüne Berlin. Ein Wegweiser von Norbert Ritter. Stapp-Verlag, Berlin, 1982, gebunden. Reiseführer Berlin. Polyglott-Verlag München, 13. Auflage, 1982/83. Berlin Stadtatlas. 10. Auflage, RV Reise- und Verkehrsverlag GmbH, Berlin, Stuttgart, Gütersloh, München, 1984/85. Stadtgeographischer Führer Berlin (West). Bd. 7, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Gebrüder Borntraeger Berlin, Stuttgart, 1981. Ausflugs-Atlas. Umgebung von Berlin, Hauptstadt der DDR, VEB Tourist Verlag Berlin, Leipzig. DDR, 1979, 12,50 M. KompaB-Rad-Wanderführer Berlin (West). Deutscher Wanderverlag Dr. Mair & Schnabel & Co., Stutt' (/ gart, 1982, gebunden. Beim Durchblättern der Karten und Bücher über Wandermöglichkeiten in West-Berlin und Umgebung also DDR - bin ich zu dem Schluß gekommen: „Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah." Nehmen wir zuerst „Das grüne Berlin" von Norbert Ritter in die Hand, einem uns durch seine Wanderbücher bereits vertrauten Verfasser. Im vorliegenden Band beschreibt er Berlins Dörfer und Villenkolonien, führt durch Parkanlagen und Wälder, alles - versteht sich - mit exakten Angaben der jeweiligen Verkehrs Verbindungen. Im Kapitel „Berliner Wasser" erfahren wir nicht nur Geographisches, sondern werden auch über Einkehr am Wege und diverse Badestellen unterrichtet. Besondere Leckerbissen wie die Pfaueninsel und Klein-Glienicke werden unter der Rubrik „Spezialitaten" zusammengefaßt. Doch auch Friedhöfe haben ihre eigene Anziehungskraft. So bemerkte schon Wilhelm von Humboldt: „Ich habe eine eigene Neigung zu Kirchhöfen und gehe nicht leicht an einem vorüber, ohne ihn zu besuchen." So auch Norbert Ritter. Er berichtet Bemerkenswertes zu historischen wie auch landschaftlich schön angelegten Friedhöfen. Alles in allem ein übersichtliches und leicht in der Tasche zu verstauendes Buch. Gleiches ist zu vermelden vom Polyglott-Reiseführer Berlin, 13. Auflage, 1982/83: Ein Kompendium für den eiligen Berlinbesucher, kurz, knapp, präzise. Nachdem allenthalben Radwege in der Stadt angelegt wurden, erschien im Deutschen Wanderverlag der „Kompaß-Rad-Wanderführer" mit 40 der schönsten Radtouren, Ausflugsfahrten ins Grüne und Stadttouren. Der Rad-Wanderführer ist abgeradelt und beschrieben von Reinhard Kuntzke und umfaßt Ausflugsfahrten mit Angaben der Verkehrs- und Parkmöglichkeiten, der Tourenlänge, Fahrzeit und Höhenunterschiede. Außerdem ist eine genaue Tourenbeschreibung beigegeben. Auch dies ist ein informatives und handliches Buch, das man allen Radsportbegeisterten empfehlen möchte. Beigefügt sind noch folgende Karten: 1:15000 Kompaß-Wanderkarte; 1:25000 Schwarz-Stadtplan Berlin und 1:50000 Radwegekarte Berlin. Der „Stadtgeographische Führer Berlin (West)" ist 1981 mit seiner 2., überarbeiteten und erweiterten Auflage erschienen. Die Beiträge sind aktualisiert, und neue Exkursionsbeschreibungen sind hinzugekommen, so u. a. die Beschreibung von Lichterfelde von Felix Escher. Sie reicht von 1865 bis in die heutige Zeit einschließlich ihrer Bürgerinitiativen zur Erhaltung des bedrohten Ortscharakters. Auf einen informativ bebilderten und mit zahlreichen Karten versehenen „Ausflugs-Atlas Umgebung von Berlin, Hauptstadt der DDR" sei zum Schluß noch verwiesen. Allen, die es hinauszieht in die weitere Umgebung, sei er empfohlen. Er enthält Auto- und Fahrradrouten mit genauen Kilometerangaben, ferner Ausgangspunkte, Fahrtrouten und Ziele der „Weißen Flotte". Unter der Rubrik „Ausflugsziele" wird kurz auf die Geschichte des betreffenden Ortes eingegangen; seine Sehenswürdigkeiten, Gaststätten. Parkplätze und Tankstellen werden aufgezeigt wie auch Bademöglichkeiten und Möglichkeiten jedweden Sports. Befremdet ist die Rezensentin, daß im Kapitel über Friedrichsfelde (S. 100) bei der Erwähnung des Denkmals Mies van der Rohes für die gefallenen Revolutionsopfer wohl Karl Liebknecht, nicht jedoch Rosa Luxemburg genannt wird. Irmtraut Köhler /S%o schön ist Berlin - Luftaufnahmen. Die Berliner Morgenpost hat vier Mappen mit je zehn Exklusivluftaufnahmen zumeist des westlichen Teils unserer Stadt herausgebracht, der neuen City ebenso wie der Vororte und der Landschaft mit Wäldern und Seen. Günther Krüger, der Fotograf, hat seine Bilder aus unterschiedlichen Höhen und Winkeln aufgenommen. Sie bestechen durch Klarheit und häufig ungewohnte Perspektiven. Diese Mappen mit den Momentaufnahmen der 80er Jahre können bei den Zweig277

stellen der Berliner Morgenpost zum Stückpreis von 10,80 DM bezogen werden. Wie attraktiv sie sind, mag aus der Tatsache hervorgehen, daß sie in der Vereinsbibliothek schon zweimal spurlos verschwunden sind. SchB.

Potsdamer Schlösser - in Geschichte und Kunst. Hrsg.: Staatliche Archiwerwaltung der DDR, Staatliche Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Ludwig Simon-Verlag, München, 1984,208 Seiten, 190 schwarzweiße und 53 farbige Faksimiles, 44 schwarzweiße und 32 farbige Fotos, 24 X 25 cm, Ln., 62 DM. Bei dem hier anzuzeigenden hervorragend ausgestatteten Buch handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci, der Dienststelle Merseburg des Zentralen Staatsarchivs der DDR und des Staatsarchivs Potsdam. In der Originalausgabe des Verlages F. A. Brockhaus in Leipzig ist es auch in der DDR zum Preis von 40 M erhältlich. Die Bearbeiter sind davon ausgegangen, daß die Potsdamer Schlösser nicht nur Kunstwerke sind, sondern daß sie auch Wohn- und Regierungssitze preußischer Könige waren, in denen damals wichtige politische Entscheidungen gefällt wurden. Es werden daher die großen künstlerischen Leistungen der Vergangenheit im geschichtlichen Zusammenhang ihrer Zeit dargestellt. Daß dabei im Rahmen einer Neubesinnung auf die deutsche Geschichte die preußische Geschichte objektiver geschildert wird als in manchen bundesrepublikanischen Schulbüchern, braucht heute nicht mehr besonders betont zu werden. Dabei dürfte es sich nicht um einen billigen politischen Zweckopportunismus handeln. Man hat erkannt, daß für Marx, Engels und sogar für Lenin Preußen auch ein Bahnbrecher des geschichtlichen Fortschritts war. Der Bildband stellt mit der Darstellung der künstlerischen Leistungen der Vergangenheit und der Wiedergabe von Dokumenten aus den Archiven eine meiner Ansicht nach in dieser Form einmalige und beispielhafte Verbindung von Geschichte und Kunst in chronologischer Abfolge dar. Eine solche Synthese erscheint auch deshalb geboten, weil das Potsdamer Ensemble von Schlössern, anderen Bauten, Kunstwerken und Gärten ganz wesentlich von den königlichen Bauherren beeinflußt wurde, die nicht nur über Stilgefühl, sondern auch über Sinn für Maße, Proportionen und zeitlose Schönheit verfügten. In diesem Zusammenhang sind vor allem Friedrich der Große und Friedrich Wilhelm IV zu nennen, von denen einige eigenhändige Entwurfszeichnungen veröffentlicht werden. Den Bauleuten, die das Stadtgebiet Berlins in den letzten Jahrzehnten mit „architektonischen" Scheußlichkeiten verschandelt haben, die weiter nichts als einen Hang zur Originalität um jeden Preis, zur Asymmetrie und Proportionslosigkeit erkennen lassen, hätte ein Bauherr wie Friedrich der Große wahrscheinlich die Baupläne so lange zerrissen, bis sie mit seinen Vorstellungen übereinstimmten. Das hätte er ganz sicher auch mit den Bauplänen für die im vorigen Jahrhundert neu aufgebaute Burg Hohenzollern getan, die ihm jetzt als letzte Ruhestätte zugewiesen worden ist. Auf Seite 65 ist eine eigenhändige Order Friedrichs an seine Generäle reproduziert, mit der er für den Fall, daß er „Solte Tot geschosen werden", als seinen letzten Willen verfügte: „Ich wil das nach Meinem Thot keine umbstände mit mihr gemacht werden, man Sol mihr nicht öfnen Sondern Stille nach Sansouci bringen und in meinem Garten begraben lassen". Dementsprechend verfügte er in seinem persönlichen Testament vom 8. Januar 1769 in Ziffer 1: „Gern und ohne Bedauern gebe ich meinen Lebensodem der wohltätigen Natur zurück, die ihn mir gütig geliehen hat, und meinen Leib den Elementen, aus denen er besteht. Ich habe als Philosoph gelebt und will als solcher begraben werden, ohne Trauergepränge und Leichenpomp. Ich will weder seziert noch einbalsamiert werden. Man bestatte mich in Sanssouci auf der Höhe der Terrassen in einer Gruft, die ich habe herrichten lassen." Diesem Wunsch des Königs wurde damals nicht entsprochen. Wie wäre es, wenn man des Königs Wunsch heute erfüllen würde? Da müßten aber wohl erst einige Leute im Westen und im Osten lernen, über ihre eigenen Schatten zu springen. Auf der Burg Hohenzollern kann sich Friedrich unmöglich wohlfühlen. Da braucht man nur an die zu Unrecht mit der Beseitigung von Erdbebenschäden der Burg in Verbindung gebrachte Spendenaktion für den Ankauf des von Friedrich mit Staatsmitteln erworbenen Watteau-Gemäldes „Einschiffung nach Cythera" zu denken. Ich erwähne das auch deshalb, weil in dem Buch (S. 164 ff.) auch eine Reihe von Dokumenten zur Fürstenabfindung in den zwanziger Jahren publiziert wird. Zu der heute so umstrittenen Frage, ob die deutschen Dinge noch offen sind oder nicht, enthält der Bildband die Reproduktion eines interessanten Dokuments, nämlich die Eintragung von Wilhelm Pieck im Gästehaus der Gedenkstätte Cecilienhof: „Das Potsdamer Abkommen verbürgt dem deutschen Volke das Recht auf nationale Einheit und einen demokratischen Friedensvertrag. Möge jeder Deutscher von dieser Gedenkstätte die Gewißheit mitnehmen, daß die gerechte Sache unseres Volkes siegen wird." j Dr. Otto Uhlitz 278

Neue Berlinliteratur „Die Stadt Berlin im Jahre 1690". Gezeichnet von Joh. Stridbeck d. J., Faksimile in drei-bis neunfarbigem Lichtdruck nach den Originalen in der Staatsbibliothek in Berlin, mit einem Kommentar von Winfried Löschburg. 20 Aquarelle und Pinselzeichnungen im Format 40 x 30 cm. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, 1981,148 DM. „Berlin". Deutsch, Englisch, Französisch. Von Hans Dreiser, Prisma Verlag GmbH Gütersloh, mit 50 Farbtafeln, etwa 20 DM. „Steinerne Zeugen". Stätten der Judenverfolgung in Berlin. Von Wolfgang Wippermann. Hrsg. vom Pädagogischen Zentrum Berlin 1982, Rembrandt-Verlag Berlin, geleimt. Thomas Biller: Die Entstehung der Stadt Spandau im hohen Mittelalter. Verlag Richard Seitz & Co., Berlin, 1980,43 Seiten, 10 Abbildungen, 9,80 DM. Vera Frowein-Ziroff: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Entstehung und Bedeutung. Gebr. Mann Verlag, Berlin, 1982, Ganzleinen, 85 DM. Peter Paret: Die Berliner Secession. Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland. Ullstein-Kunst-Buch, 1983, geleimt. Friedrich Scholz: Berlin und seine Justiz. Die Geschichte des Kammergerichtsbezirks 1945-1980. Verlag W. de Gruyter, 304 Seiten, 8 Abbildungen, Ganzleinen, 42 DM. Dieter Hildebrandt: Die Leute vom Kurfürstendamm. Roman einer Straße. Carl Hanser Verlag, 400 Seiten, Leinen, 36 DM. Martin Greiffenhagen: Die Aktualität Preußen. Fragen an die Bundesrepublik. Fischer Taschenbuchverlag, 1981. Große deutsche Dirigenten. 100 Jahre Berliner Philharmoniker. Biographien mehrerer Dirigenten, z. B. Hans von Bülow, Richard Strauss, Herbert von Karajan. Mehrere Autoren, Verlag Severin und Siedler, Berlin, 1982, 224 Seiten, mit 138 Fotos, Leinen, 42 DM. „Richard von Weizsäcker". Profile eines Mannes, Hrsg. von W. Filmer und H. Schwan. Econ Verlag, 252 Seiten, 26 Abbildungen, gebunden, 36 DM. Heinz Rühmann: Das war's. Ullstein Verlag, 320 Seiten, 53 Abbildungen auf 32 Tafelseiten, gebunden, 32 DM. Die schönsten Bismarck-Karikaturen. Ein Bismarck-Album des Kladderadatsch. Olms Presse, 1981, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1890. Fontane, Dichtung und Wirklichkeit. Zur Ausstellung vom 5. September bis 8. November 1981. Kunstamt Kreuzberg. Richard von Weizsäcker: Die deutsche Geschichte geht weiter. Siedler Verlag, 1983,320 Seiten, Leinen, 36 DM. Fritz Hippler: Die Verstrickung. Einstellungen und Rückblenden vom ehemaligen Reichsfilmintendanten unter J. Goebbels. Verlag Mehr Wissen, Düsseldorf, 300 Seiten, geleimt. Fahr Rad in Berlin! Berlinatlas für Fahrradfahrer vom Fahrradbüro Berlin, 1983.

Im IV. Quartal 1984 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Gerhard Becker, Bankkaufmann An der Wingertshecke 10, 6308 Butzbach-Mainau Tel. (06081)2873 Gisela Scholz, Konrektorin i. R. Arnulfstraße 132, 1000 Berlin 42 Tel. 7536401

H. Tülin Ünal, Krim.-Komm. z. A. Stieglitzweg 6,1000 Berlin 47 Tel. 6024434 Ingrid Weis, Verwaltungsangestellte Thomasiusstraße 22, 1000 Berlin 21 Tel. 3915496

(L.Franz) (Gründahl)

(Borst)

279

Veranstaltungen im I. Quartal 1985 1. Donnerstag, den 31. Januar 1985, 17.00 Uhr: „Paul Wallot - Zeichnerischer Nachlaß". Führung durch die Ausstellung Herr Dr. Ekhart Berckenhagen. Treffpunkt in der Eingangshalle der Kunstbibliothek, Jebensstraße 2. Fahrverbindungen: U-Bahn und Busse zum Bahnhof Zoologischer Garten. 2. Mittwoch, den 6. Februar 1985,16.00 Uhr: „Von Berlin nach Germania - Über die Zerstörungen der .Reichshauptstadt' durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen". Führung durch die Ausstellung Herr Dr. Hans-Joachim Reichardt. Treffpunkt in der Eingangshalle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1-2. Fahrverbindungen Busse 19 und 29, U-Bahn bis Bhf. Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz. 3. Sonnabend, den 16. Februar 1985, 18.00 Uhr: In Verbindung mit der Hugenottischen Mittwochsgesellschaft anläßlich des Geburtstages des Großen Kurfürsten Festveranstaltung im Schloßhotel Gehrhus, Brahmsstraße 4, 1000 Berlin 33 (Grunewald). Es spricht Herr Günter Wollschlaeger über „Die Hugenottischen Architekten in Brandenburgisch-Preußischen Diensten". Menü-Preis etwa 25 DM. Telefonische Anmeldungen bis zum 12. Februar ab 19.00 Uhr unter der Rufnummer 8 5127 39 erbeten. 4. Freitag, den l.März 1985, 19.00 Uhr: Vortrag von Herrn Dr. Hermann F.W. Kuhlow: „Einführung in die Geschichte der Havelstadt Spandau". Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. 5. Dienstag, den 19. März 1985, 19.00 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Beispiele der Ausstattung des Schlosses Charlottenburg zwischen den beiden Weltkriegen". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Beachten Sie bitte die verlegten Vortragstermine im Rathaus Charlottenburg, die wegen der Wahlen und der Wahlveranstaltungen notwendig wurden.

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 323 28 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34302234. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 280

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 81. Jahrgang

Heft 2

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Titelblatt der letzten, noch von Bode selbst besorgten Ausgabe der „Anleitung ..." (Kupferstich 1822)

Johann Eiert Bode - der bedeutende Berliner Astronom Von Friedhelm Schwemin Johann Eiert Bode wurde am 19. Januar 1747 in Hamburg geboren. Sein Vater, Joh. Jakob Bode (1719-1799), unterhielt eine Kaufmannsschule, und Johann Eiert war dazu ausersehen, einst die Nachfolge im Beruf seines Vaters anzutreten. Dies war auch der Grund, weshalb er nie förmlichen Schulunterricht hatte; vielmehr übernahm sein Vater diese Aufgabe. Als Kind kränkelte er viel, was zur Folge hatte, daß er sich mehr und mehr an häusliche Zurückgezogenheit gewöhnte. In dieser Lage begann er, sich allmählich für Mathematik und Geographie zu interessieren, wobei er dann bald zur Astronomie kam. Im Jahre 1765 sah der Arzt J. A. H. Reimarus Bode mit der Berechnung der Sonnenfinsternis beschäftigt und nahm die Unterlagen des jungen Bode an sich, um sie seinem Freund, dem Professor Busch, zu zeigen. Johann Georg Busch (1728-1800), Lehrer der Mathematik am Hamburger Gymnasium, sollte fortan eine entscheidende Rolle im Fortkommen Bodes spielen. Busch überließ ihm großzügig seine Bibliothek und Instrumentensammlung zur freien Benutzung. Das weltoffene Haus Busch bildete den rechten Rahmen, um unseren Bode in den frischen Wind der Öffentlichkeit zu führen, und es verwundert daher nicht, daß er schon ein Jahr später, also mit 19(!) Jahren, mit seiner ersten Publikation ans Licht trat. Ein weiteres Jahr später begann er mit der Abfassung eines Buches, das seinen Ruhm als astronomischer Literat begründet hat: „Deutliche Anleitung zur Kenntniß des gestirnten Himmels". Dieses Werk erreichte zu Bodes Lebzeiten 9 Auflagen und erschien noch 1858 in der 11. Ausgabe. Nach eigener Aussage war „der nächste Endzweck dieses Buches" folgender: „Die Fixsterne unter den Bildern, in welchen man sich schon seit den ältesten Zeiten sich dieselben vorstellt, im ganzen Jahr, ohne weitere Anstalten und Berechnungen, bloß durch den sinnlichen Anblick kennen zu lernen." Bode wurde nun allmählich so bekannt, daß er außer Busch und Reimarus auch C. D. Ebeling, M. Claudius und F. G. Klopstock, den großen Dichter, zu seinen Gönnern zählen konnte. Bode hatte sich nun, 1768, vollends der Astronomie verschrieben, ohne jedoch seine häuslichen Pflichten zu vernachlässigen. Ende 1771 kam die zweite Auflage seiner „Anleitung" heraus. Dieses Ereignis sollte die Wende in Bodes Leben einleiten. In dieser Ausgabe veröffentlichte er eine mathematische Beziehung, welche die Abstände der Planeten von der Sonne gut darstellte; die sogenannte Titius-Bodesche Reihe (1 AE = Entfernung Erde-Sonne): Merkur Venus Erde Mars (?) Jupiter Saturn

4+ 0 = 4+ 3 = 4+ 6 = 4+12 = 4 + 24 = 4 + 48 = 4 + 96 =

4 (= 7(= 10 (= 16 (= 28 (= 52 (= 100 (=

0,4 AE) 0,7 AE) 1,0 AE) 1,6 AE) 2,8 AE) 5,2 AE) 10,0 AE)

Von besonderer Bedeutung war, wie wir noch sehen werden, die Lücke zwischen Mars und Jupiter, in der Bode einen noch unbekannten Planeten vermutete. Bode hatte diese „Progression" einem Übersetzungszusatz aus der „Betrachtung über die Natur", erschienen 1766, entnommen, einer Übertragung von C. Bonnets „Contemplation de la nature". Der Übersetzer war J. D. Titius, Professor in Wittenberg. Ein Vergleich des Titius282

Textes mit der Bode-Version läßt klar erkennen, daß Titius der Entdecker war. Wahrscheinlich erkannten auch Bodes Hamburger Freunde die Bedeutung dieser Stelle der „Anleitung", denn Anfang 1772 forderten sie ihn auf, Exemplare seines Buches u. a. an Johann Heinrich Lambert (1728-1777), den Berliner Akademiker, zu senden. Bode befolgte diesen Rat, und am 3. Februar erhielt er bereits ein Antwortschreiben Lamberts. Die Tatsache, daß hier ein junger Mensch eine interessante mathematisch-astronomische Beziehung gefunden hatte, scheint für Lambert den Ausschlag für sein weiteres Handeln gegeben zu haben, denn er erreichte, daß Bode am 3. Juli, formell mit Genehmigung des Königs, eine Anstellung als astronomischer Rechner an der Sozietät der Wissenschaften in Berlin erhielt. Bode kam am 25. August 1772 in Berlin an und wohnte zunächst im Tempelhofschen Hause Unter den Linden. Eifrig begann er mit den ihm übertragenen Arbeiten; zunächst waren dies Rechnungen für den Schlesischen Kalender, in die ihn Christine Kirch einwies, die greise Tochter von Gottfried Kirch, dem ersten Astronomen der Akademie in Berlin. Schon bald darauf kam eine neue Aufgabe an ihn heran: Die Akademie hatte Lambert beauftragt, nach dem englischen und französischen Vorbild ein präzise berechnetes astronomisches Jahrbuch herauszugeben. Bode hatte nicht geringen Anteil an der Ausführung dieses Planes, und am 30. November 1773 konnte der erste Band dem König vorgelegt werden. Neben seinen Beschäftigungen an der Akademie und bei der „Gesellschaft Naturforschender Freunde", die er 1773 mitbegründet hatte, begann er noch 1775, astronomische Vorträge außer Haus zu halten. Ende September 1777 starb Lambert, und Bode mußte von nun an auf eigenen Füßen stehen. Nur mit dem praktischen Beobachten war wenig Staat zu machen: Er mußte mehr schlecht als recht aus den Fenstern seiner Privatwohnung observieren. Dafür verlegte er sich wieder mehr aufs Literarische; seine „Anleitung zur Kenntniß des gestirnten Himmels" hatte ungeahnten Erfolg. Innerhalb von zwei Jahren - 1777 und 1778 - mußte er zwei neue Auflagen besorgen. Außerdem verließ 1778 seine mehr wissenschaftliche „Erläuterung der Sternkunde" die Presse. Nur das „Jahrbuch" machte Kummer: 1780 nahm die Akademie ihren Auftrag zurück, und das Werk drohte einzugehen. Aber da intervenierte der große J. L. Lagrange (1736-1813), der damals Direktor der mathematischen Klasse der Akademie war, und Bode konnte das Werk 1781 in weitgehend eigener Regie fortsetzen. Aber das Jahr 1781 hielt noch ganz andere Überraschungen bereit. Am 13. März 1781 entdeckte F. W. Herschel in England einen neuen Planeten, den er allerdings zunächst für einen Kometen hielt. Anfängliche Schwierigkeiten bei der Bahnbestimmung behob Bode mit einer Idee, die genial genannt werden muß. Er kam nämlich auf den Gedanken, daß schon vor Herschel andere Beobachter den Planeten als einen gewöhnlichen Fixstern beobachtet und in ihren Katalogen notiert haben könnten. Im August 1781 machte er sich auf die Suche und hatte tatsächlich Erfolg. In einem Sternkatalog von T Mayer in Göttingen fand er eine Sternposition vom 25. September 1756, an der 1781 kein Stern mehr stand. Bode errechnete, daß der neue Planet tatsächlich 1756 an diesem Ort gestanden hatte. Der Mayersche Stern war also mit großer Sicherheit Herschels Komet, der neue Planet! Einige Zeit später fand Bode mit Hilfe von P. Fixlmillner in Kremsmünster eine weitere, noch frühere Beobachtung. Man hatte jetzt Örter zur Verfügung, die mehr als einen vollen Planetenumlauf erfaßten, und im „Jahrbuch" für 1787 veröffentlichte Fixlmillner neue Bahnelemente, die die beobachtete Bahn dann auch für rund vier Jahre ausreichend genau wiedergaben. Fixlmillners Wert für die mittlere Entfernung von der Sonne war 19,18 AE, welcher gut mit Bodes Progression übereinstimmte, die einen Wert von 196 = 19,6 AE ergab. Noch wurde Bodes Reihe allerdings, trotz dieser offensichtlichen Übereinstimmung, nicht international diskutiert. 283

Frontispiz zur 9. Auflage der „Anleitung ..." (Stich 1822 von F. W. Bollinger nach einem Gemälde von F. Gareis um 1800)

Als man Ende 1781 begann, nach einem Namen für den Planeten zu suchen, war es Bode, der sich mit seinem Vorschlag „Uranus" durchsetzte. Er wies darauf hin, daß dann alle Planeten gewissermaßen eine einheitliche mythologische Familie bilden würden. Bodes Rolle in der Uranus-Frage begründete seinen internationalen Ruf, und fortan war er aus dem Konzert der Astronomen nicht mehr wegzudenken. Im Zuge einer Neuorganisation der Akademie nach dem Tod Friedrichs des Großen wurde Bode für die Akademie als Mitglied vorgeschlagen. Am 9. November 1786 wurde er feierlich aufgenommen, und schon am 25. Januar 1787 las er seine erste Abhandlung vor. Da Bode nun den einzigen Astronomen in Berlin darstellte, ließ eine andere Berufung auch nicht mehr lange auf sich warten: Im April 1787 wurde ihm die Leitung der arg darniederliegenden Sternwarte anvertraut. Der bisherige Direktor, J. Bernoulli III., hatte sich kaum um das Observatorium gekümmert, aber auch Bode hat hier nichts Entscheidendes leisten können; zu sehr nahmen ihn seine schriftlichen Arbeiten in Anspruch. Als neuernannter „Königl. Preußischer Astronom" nahmen ihn nun auch wissenschaftliche Gesellschaften auf, so u. a. 1789 die Londoner Royal Society. Inzwischen war Bode, bedingt durch seine Arbeit am „Jahrbuch", mit nahezu allen Astronomen der Welt durch Korrespondenz bekannt. Sein Jahrbuch entwickelte sich mehr und mehr zu einer Art Zeitschrift, in der z. T. bedeutsame Abhandlungen, Briefauszüge usw. erschienen. Bis zum Jahre 1798 war das Jahrbuch das einzige zeitschriftenähnliche astronomische Periodikum. Im August 1798 nahm Bode auf der neuen Seeberg-Sternwarte bei Gotha an dem berühmten Treffen von 15 Astronomen teil. Wichtige Ergebnisse brachte dieser Kongreß nicht; man beschränkte sich mehr auf allgemeinen Erfahrungsaustausch, zumal wichtige Leute aus politischen Gründen nicht teilnahmen. Bodes Hauptarbeitsgebiet in jenen Tagen war die Vorbereitung zu seinem kartographischen Hauptwerk, dem großen Himmelsatlas „Uranographia", der mit einem Katalog von 17 240 Sternen im Jahre 1801 erschien. Dieses Prachtwerk in Großfolio stellte den Abschluß der barocken Himmelskartographiekunst dar. 284

Wie Bode nun rings umher die neuen Sternwarten und fabelhaften Instrumente kennenlernte, muß ihm seine eigene Warte, die, obwohl staatlich, nur jämmerlich in der Ausstattung war, sicher viel Kummer bereitet haben. Kurz entschlossen nutzte er die momentane Gunst seines Landesherrn nach dem Gothaer Treffen und schlug dem neuen König in einer schriftlichen Eingabe vom 2. November 1798 einen Umbau der Sternwarte vor. Sein Plan sah im wesentlichen vor, die Beobachtungszimmer, die sich bisher im dritten Stock des Akademiegebäudes befanden, auf den vierten Stock auszudehnen. Im Jahre 1800 begann der Umbau und wurde im Juni 1801 vollendet. Trotz dieser Modemisierungsbemühungen konnte das nur eine der Not gehorchende Maßnahme sein; die Sternwarte blieb zweitklassig, auch als Bode später neue Instrumente aus England anschaffte. Man mußte 97 Stufen erklimmen, um in den Beobachtungssaal zu gelangen. Erst Bodes Nachfolger Encke konnte die Konsequenzen ziehen und außerhalb der Stadt ein neues, großzügiges Observatorium errichten. Am 20. März 1801 erreichte Bode ein Brief des Astronomen Guiseppe Piazzi (1746-1826) aus Palermo, worin dieser ihm von seiner Entdeckung eines sich bewegenden Objektes im Sternbild Stier in Kenntnis setzte. Piazzi schrieb von einem „Kometen", den er am 1. Januar 1801 entdeckt habe. Bode war sofort der Meinung, daß es sich um den Planeten handeln müsse, der er schon seit 1772 zwischen Mars und Jupiter vermutete, da seine Progression der Planetenabstände von der Sonne hier eine Lücke aufwies. Die meisten deutschen Astronomen waren derselben Meinung. Durch die Stellung des neuen Planeten, des ersten Kleinplaneten (Ceres), konnte vorübergehend die Bahn nicht weiter verfolgt werden, und der Fund drohte im Wirrwarr der Sterne verlorenzugehen. Diesem Übel half in einem Geniestreich C. F. Gauß, der später berühmteste deutsche Mathematiker, ab, indem er eine völlig neue Methode der Bahnbestimmung von Himmelskörpern entwickelte, aufgrund deren Olbers im Januar 1802 den Flüchtling wieder auffinden konnte. Am 12. Januar erfuhr Bode brieflich von Olbers von dessen Wiederentdeckung. Gauß' erste Elemente der Bahn legten den Abstand der Ceres von der Sonne auf 2,735 AE fest. Dieser Wert harmonisierte glänzend mit Bodes Wert von 2,8 AE. Der Prophet war bestechend bestätigt worden. Lange sollte die euphorische Freude jedoch nicht andauern. Herschel fand einen überraschend kleinen Durchmesser für die Ceres; auch war die Bahnneigung höher als bei allen anderen Planeten. Es kamen Zweifel auf, ob es sich wirklich um einen „Haupf'-Planeten handelte, wie Bode in seinen Schriften hartnäckig behauptete. Eine völlig verblüffende Situation trat ein, als Olbers am 28. März 1802 einen weiteren kleinen Planeten fand: Pallas. Auch er lief in einem Abstand von etwa 2,8 AE um. Man war allgemein fassungslos. Olbers schrieb am 7. Mai 1802 an Bode: „Was sagen Sie nun zu diesem außerordentlichen Weltkörper? Gewiß hat die Pallas doch jetzt eben so viel Anspruch auf die Planetenehre, als die Ceres." Nun, Bode zweifelte; sein doch so schönes System schien zu zerbrechen. Olbers wie Bode kamen bei dem Versuch, die „Progression" zu retten, allmählich zu der Überzeugung, daß es sich bei den neuen Planeten um Trümmer eines einstigen größeren Mutterplaneten handeln müsse. Man begann also weiterzusuchen, und schon am 1. September 1804 gelang es K. L. Harding, einen neuen Planeten - die Juno - zu finden. Den vorerst letzten Planeten (Vesta) entdeckte Olbers dann noch Ende März 1807. Alle diese Körper hatten etwa den gleichen mittleren Abstand von der Sonne. Die Bodesche Progression geriet jetzt zunehmend in die wissenschaftliche Diskussion. Nachdem Gauß sein begründetes Mißtrauen gegenüber dem Gesetz ausgesprochen hatte, war Bode bald der einzige, der öffentlich mit der ihm eigenen Beharrlichkeit an „seinem" Abstandsgesetz festhielt. Nichtsdestotrotz war es aber der Wirbel, welcher um die Progression damals gemacht wurde, der der 285

Astronomie neue, fruchtbare Impulse in der Zeit um 1800 zuführte; auch spielte sie bei der Entdeckung des Neptuns 1846 eine gewisse Rolle. Bode stand nun auf dem Höhepunkt seines Ruhms; kaum ein gebildeter Deutscher, der seinen Namen nicht kannte. Nach den sich überstürzenden Ereignissen im Zusammenhang mit den Planetoidenentdeckungen trat eine Phase des Atemholens in der Astronomie ein. Bodes Aktivitäten erlahmten allmählich; sein Wirken war fortan fast nur noch auf die Akademie und besonders aufsein geliebtes Jahrbuch beschränkt. Im Januar 1810 wählte ihn die Akademie zum Sekretär der mathematischen Klasse. Bode lehnte jedoch wegen Arbeitsüberlastung ab. Er war so ziemlich der letzte der alten Schule; eine neue Zeit brach an. Männer wie Gauß, Bessel und Encke sollten künftig die neue Astronomie errichten. Als fest etabliertes, lebendes Monument erlebte Bode die folgenden Jahre, in die auch persönliche Kontakte mit seinen astronomischen Freunden fallen. Nachdem er im Juni 1806 in Berlin zum ersten Mal Olbers persönlich kennenlernte, traf er im Sommer 1809 H. C. Schumacher (1780-1850) in Altona und im April 1810 F. W. Bessel (1784-1846), der sich auf der Durchreise nach Königsberg in Berlin aufhielt. Auch das „Jahrbuch" war nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Schon seit 1815 verlangten die Astronomen genauere Tafeln und Ephemeriden*, die die neuesten Fortschritte im Instrumentenbau und in den Beobachtungsmethoden widerspiegelten. Selbst der zeitschriftenähnliche Anhang im Jahrbuch wurde langsam überflüssig, da längst spezielle Zeitschriften mit kürzerer Erscheinungsweise entstanden waren. Bald war Bode - um 1820 nur noch eine geachtete, aber kaum noch beachtete Gestalt innerhalb der internationalen Astronomie. Das Jahr 1822 brachte für ihn noch einmal eine Anhäufung von Ereignissen, die ihn in das Rampenlicht der lokalen Öffentlichkeit rückten: seinen 75. Geburtstag, sein 50jähriges Dienstjubiläum und das Erscheinen des 50. Bandes des Jahrbuches. Allmählich wurde nun die Zeit reif, um über eine Nachfolge Bodes nachzudenken, sollte die Sternkunde in Berlin nicht gänzlich verkümmern. Man entschied sich intern für Bessel, der damals die Sternwarte in Königsberg leitete. Doch der große Bessel ließ sich nicht dazu verlocken, aus der Provinz in das glänzende Berlin zu kommen. Wissenschaftlich hätte für ihn ein solcher Wechsel wohl auch einen Abstieg bedeutet. Bessel schlug statt dessen Johann Franz Encke (1791-1865) vor, der damals Direktor der Seeberg-Sternwarte war und durch die Bahnbestimmung des später nach ihm benannten Kometen berühmt wurde. Auch Bode selbst wünschte sich Encke, der ihm wesensmäßig ähnlich war, als Nachfolger, und da die Verhältnisse auf dem Seeberg nicht zum besten standen, willigte Encke ein und reiste am 11. Oktober 1825 in Berlin an. Sicherlich verlockte ihn das Angebot, in Berlin eine neue, große Sternwarte bauen und übernehmen zu können. Über die angetroffenen Zustände schrieb Encke an Olbers: „Von der Sternwarte ist wenig zu sagen. Das Lokal ist hoch und unbequem. Sie besitzt indessen doch einige gute Fernrohre ..." Der Umgang mit Bode in seinen letzten Jahren war nicht besonders angenehm. Zu sehr war er an strengste Disziplin und Zeiteinteilung gewöhnt. Wie hätte er es sonst auch schaffen können, ganz allein und ohne Unterbrechung 50 Jahre und mehr seine Jahrbücher herauszugeben. Encke übernahm nun - Ende 1825 - die Sternwarte, und Bode klammerte sich mit der Beharrlichkeit des Greises an „sein" Jahrbuch. Im Herbst 1826 beendete er die letzten Arbeiten an dem Band für 1829 und begann schon wieder den nächsten Jahrgang. Doch diesen Band sollte er nicht mehr vollenden; der Tod nahm ihm den Rechenstift aus der Hand. * Ephemeride: In der Astronomie ein Jahrbuch, in dem die täglichen Stellungen der Gestirne vorausberechnet sind. 286

Johann Eiert Bode starb am Abend des 23. November 1826. In seiner Zeitung hieß es: „Dann führte der Engel des Todes sanft seinen Geist zu den Sternen, in denen er seit einem halben Jahrhundert kein Fremdling war." Er, der dreimal verheiratet gewesen war, hinterließ 4 Kinder und 9 Enkel. Am 27. November wurde er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. Bodes Nachlaß befindet sich heute im Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Ost). Sein Platz in der Geschichte der Astronomie ist gesichert. Freilich ist seine Bedeutung geringer als die seiner großen Zeitgenossen W. Herschel, Bessel oder Gauß; zusammen mit Lalande, Piazzi, Olbers, v. Zach u. a. bildet er aber ein nicht geringes Glied in der Übergangsperiode der Zeit um 1800. Die unermüdliche Bekanntgabe des Gesetzes der Planetenabstände von der Sonne, das zu Recht seinen Namen trägt, erscheint uns als die Leistung, die bis heute nachwirkt. Dieses „Gesetz", das eigentlich gar kein Gesetz ist, ist auch heute noch nicht aus der Diskussion, und kein Planetenentstehungshypothetiker wird an ihm vorbeigehen können. Sein Erbe wirkt so bis heute nach.

Quellen und Literatur (Auswahl) Battre, H., u. Herrmann, D. B.: Astronomennachlässe u. -teilnachlässe im Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Monatsberichte d. Deut. Akad. d. Wiss. zu Berlin 12 (1970), S. 531 f. Berlinische Nachrichten, Nr. 279 v. 28.11.1826 (Nachruf) Bode, J. E.: Briefe an C. F. Gauß (61, Staatsbibl. Göttingen); F. W. Bessel (85, Archiv d. Deut. Akad. d. Wiss. zu Berlin); W. Olbers (88, Staatsbibl. Bremen); H. C. Schumacher (22, Staatsbibl. Berlin) Encke, J. F.: Gedächtnisrede auf Joh. E. Bode, in: Abhandl. d. Königl. Akad. d. Wiss. zu Berlin aus dem Jahre 1827, Berlin 1830, S. XI-XXI Gesellschaft Naturforschender Freunde (Hrsg.): Dem Herrn D. Joh. E. Bode, Berlin 1822 Hamel, J.: Zur Entstehungs- u. Wirkungsgeschichte der Kantschen Kosmogonie (= Mitt. d. ArchenholdSternwarte Berlin-Treptow, Bd. 6, Nr. 130), Berlin-Treptow 1979, S. 30-35 Harnack, A.: Geschichte der Königl. Preuss. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 3 in 4 Bde., Berlin 1900, bes. Bd. 3, S. 24 f. Jaki, S. L.: Das Titius-Bodesche Gesetz im Licht der Originaltexte, in: Nachrichten der Olbers-Gesellschaft Bremen, Nr. 86, (Oktober 1972), S. 1-8 Köhler, R., u. Richter, W. (Hrsg.): Berliner Leben 1806-1847, o. O. (Potsdam) 1954, S. 113 f. Koerner, B. (Hrsg.): Deutsches Geschlechterbuch, Bd. 107, Görlitz 1939, S. 127-152 (Lowe, M. S.) (Hrsg.): Bildnisse jetztlebender Berliner Gelehrten mit ihren Selbstbiographien, 1. Sammig. (Berlin 1806), S. 1-32 Neuer Nekrolog der Deutschen, 4. Jg. 1826, 2. Teil, Ilmenau 1828, S. 688-696 Royal Society of London (Hrsg.): Catalogue of Scientific Papers 1800-1863, Vol. 1, London 1867, S. 449 f. Schröder, H.: Lexicon der Hamburgischen Schriftsteller, Bd. 1, Hamburg 1851, S. 282-291 Schumacher, H. C : Bodes Tod, in: Astronom. Nachrichten 5 (1827), Sp.255 f. u. 367 f. Schwemin, F.: Joh. E. Bode, Skizze zu Leben u. Werk, in: Sitzungsber. d. Ges. Naturforsch. Freunde zu Berlin (N. F.), Bd. 22, Berlin 1982, S. 99-117 ders.: Joh. E. Bode, Leben u. Leistungen eines Astronomen der Goethe-Zeit, in: Sterne u. Weltraum 23 (1984), S. 184-188 Sticker, B., in: Dictionary of Scientific Biography, Vol. 2, New York 1970, S. 220 f. Thieß, J. O.: Versuch einer Gelehrtengeschichte von Hamburg, Bd. 1, Hamburg 1780, S. 54-56 Wattenberg, D.: Die Sternkarten von Joh. E. Bode, in: Sternzeiten (Hrsg. G. Jakisch), Bd. 1, Berlin 1977, S. 53-68 Wünschmann, F.: Die alte Sternwarte um 1800 unter Joh. E. Bode, in: Monatsber. d. Deut. Akad. d. Wiss. zu Berlin 2 (1960), S. 250-257 Anschrift des Verfassers: Friedhelm Schwemin, Bambergstraße 86a, 4709 Bergkamen 287

Die Walkieferknochen der Pfaueninsel Von Michael Seiler Hat der Besucher den Boden der Pfaueninsel nach dem Verlassen der Fähre betreten und wendet sich nach links, dem Hinweisschild „Schloß" folgend, so führt der Weg nach einer kurzen Strecke rechts sich in zwei Laubengänge teilend, einmal steil, einmal allmählicher auf die Höhe des Inselplateaus. Am Beginn dieser Teilung liegen verkannt drei große Knochenfragmente. Es handelt sich um Walkieferknochen. Wie kamen sie dorthin? Welche Rolle spielten sie bei der Gestaltung der Insel? Am 17. April 1821 schrieb der Kapitän Kolle mit der Absenderadresse Berlin, Lutter und Wegener, Charlottenstraße Nr. 32, an den König: „Voll Zutrauen zu Euer Königl. Majestät, wagte ich es in meiner allerunterthänigsten Vorstellung vom 30. Januar d. J. um die Erlaubnis zu bitten ein Paar Walfischbarden von seltener Größe an einen von allerhöchst dieselben zu bestimmenden Orte aufstellen zu dürfen. Mit diesen Walfischbarden bin ich nun hier angekommen, und würde es nicht wagen meinen ehrerbietigsten Antrag zu wiederholen, wenn sie nicht ungefähr 24 Fuß lang wären, also von einen so großen Fische herrührten, wie er seit mehreren Jahren nicht gefangen ist. Ich erwarte demnach Euer königl. Majestät allerhöchsten Befehl wegen Ablieferung dieser Walfischbarden in tiefster Ehrfurcht. Euer königlichen Majestät allerunterthänigster J. F. Kolle"1 Schon am 29. April lieferte der Gartendirektor Lenne dem Intendanten der Schlösser und Gärten, Herrn von Maltzahn, eine gründliche Erörterung über die mögliche Verwendung der angebotenen Walkieferknochen. Er schrieb: „Euer Hochwürden Hochwohlgeboren geruhten meine Ansichten und Vorschläge über den Gebrauch und die passende Lokalität, zur Aufstellung der Seiner Majestät dem Könige von dem Schiffskapitäne Herrn Kolle aus Hamburg, angetragenen Wallfischbarden, zu befehlen. Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht würde die Aufstellung dieser Wallfischbarden am passendsten in der Nähe des Wassers stattfinden können, und bieten sich dafür nach meinem Dafürhalten, nachfolgende Lokale als vorzüglich geeignet, dar. nens Auf jgj pfauen-Insel unmittelbar am Ufer, wo gewöhnlich bei der Überfahrt gelandet wird. 2tcns Auf dem der Pfauen-Insel entgegengesetzten Ufer bei dem neuangelegten Landungsplatze, in der Nähe des zu dem Russischen Hause hinführenden Weges. In beiden Fällen, würden die beiden Wallfischbarden dem allerhöchsten Befehle gemäß, in der Art aufgestellt werden können, daß sie einen, nach gothischer Form zugespitzten Thorweg oder Portal bilden. Der Vorschlag ad 1, hat die Vorzüge, daß die Umgebung hinlänglich Raum gewähren würde, um passende Dekorationen, die mit diesem Portal in Verbindung gebracht werden könnten, anzubringen. Zu diesen Verzierungen eignen sich vorzüglich schönblühende Schlingpflanzen, die das eigenthümlich gestaltete Portal umwinden, wodurch ein grüner mit manchfaltigen Blumen geschmückter Eingang bei dem Anfahrtsplatze auf der Pfauen-Insel gebildet würde. Der Vorschlag ad 2 gewährt die genannten Begünstigungen, bezüglich auf Lokalität und Decorationen nicht; und würde nur in so fern in Erwegung zu ziehen sein, als die Kiefern eines Nordischen Seethieres mit einem Nordischen Gebäude in Verbindung gebracht werden. 288

Abb. 1: Pfaueninsel, Fragmente der beiden 1821 dorthin gebrachten Walkieferknochen, Foto Seiler 1984. Ich habe mehrmalen in naturhistorischen Sammlungen ähnliche Wallfischbarden gesehen; so imposant und gigantisch dieser Anblick auch ist; so ist der Anblick derselben doch nichts weniger als angenehm, und würde die Aufstellung derselben als Thorweg in einem der Königl. Gärten eher einen störenden als freundlichen Eindruck hervorbringen. Über den Werth dieser Wallfischbarden von so seltener Größe muß ich mich jedes Urteils enthalten; da ich hiervon gar keine Kenntnis habe; die pekuniäre Lage des Herrn KoUe, soll jedoch nach zufällig von mir eingezogenen Erkundigungen der Art sein, daß der seiner Königl. Majestät gemachte Antrag wohl nicht eines pekuniären Vorteiles wegen gemacht worden ist und der p. KoUe vermutlich eine andere passende Auszeichnung vorziehen dürfte. Sans-souci am 29tcn April 1821 Lenne"2 Dieser Schriftsatz macht deutlich, mit welchen Einzelheiten Lenne sich in den königlichen Gärten beschäftigen mußte und wohl auch wollte. Er machte zwar den Vorschlag eines aus Knochen gebildeten gotischen Portals, umrankt von blühenden Schlingpflanzen, riet aber gleichzeitig von einer derartigen Gartendekoration ab. Am 2. Mai 1821 notierte Herr von Maltzahn folgenden Vermerk: „Da die von dem Lenne gemachten Vorschläge die Wallfischbarden aufstellen (sie) von Sr. Majestät dem Könige nicht genehmigt sind, so schlage ich allerunterthänigst vor selbige so lange zurückzulegen bis es gewiß ist, ob der von S. K. H. dem Prinzen von Oranien angebotene Elephant ankommt, in welchem Falle sie am Eingange des Vorhofes zu diesem Thier angebracht werden könnten. Sollte dieses auch nicht angenommen werden, so würde ich vorschlagen, sie bei der Meierei im Neuen Garten aufzustellen, da wo man von der Hirschbucht nach der Meierei heruntergeht, oder im Pfingstberge oben im Eingange von der Mühle zu."3 Am 6. Mai teilte KoUe dem König aus Potsdam mit, daß er an diesem Tage die Walfischknochen auf der Pfaueninsel abgeliefert habe. Am 11. Mai 1821 ging das folgenden Schreiben des Königs an den Schiffer KoUe: „Dem Schiffer KoUe bezeige ich auf die Anzeige vom 6. d. M. für die Ablieferung der beiden Wallfisch-Kiefern auf der Pfaueninsel hierdurch meinen Dank, mit welchem derselbe beykommende goldene Dose als ein Geschenk empfängt."4 289

Die Firma Lutter und Wegener bescheinigt am 16. Mai 1821, daß ihr für den Schiffsbesitzer Kolle eine goldene Dose eingehändigt wurde. Am 1. Juni 1821 sandte Kolle aus Hamburg einen Brief an den König, in dem er sich für die Dose bedankte.5 In seiner Beschreibung der Pfaueninsel von 1838 sagt Gustav Adolf Fintelmann, daß die Walunterkiefer und ein Schulterblattknochen vor der Nische des Schlosses mit dem Ölbild lagen. Fotos vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigen die Walkieferknochen rechts und links vom königlichen Landungssteg vor dem Kastellanshaus. Vor dem Zweiten Weltkrieg sieht man sie dann auf einem Foto an der offiziellen Fährlandestelle vor dem Fährhaus. Von dort kamen sie offensichtlich an ihren gegenwärtigen Ort. Es ist beabsichtigt, diese nun schon seit 164 Jahren auf der Insel liegenden Knochen zu konservieren und an der Fassade des Fährhauses so anzubringen, daß sie vor Beschädigungen durch das Publikum gesichert sind und den Vorstellungen Lennes entsprechend in einem Bezug zum Wasser stehen. Die Pfaueninsel blieb nicht der einzige Garten in Preußen, der mit Walkieferknochen geziert wurde. In dem von Lenne angelegten Park des Landrats Ziethen zu Wustrau am Ruppiner See stand in Ufernähe ebenfalls ein Walunterkieferpaar, dessen Reste heute an der Wustrauer Dorfkirche befestigt sind (Abb. 2). Ein Bild davon, wie Lennes nichtausgeführter Aufstellungsvorschlag auf der Pfaueninsel gewirkt hätte, kann man sich heute noch im Park des Schlosses Mystakovice (früher Erdmannsdorf) machen (Abb. 3). 1831 erwarb Friedrich Wilhelm III. Erdmannsdorf, Schinkel wurde mit dem Umbau des Schlosses beauftragt und Lenne mit der Parkgestaltung. Die Abwicklung sowohl der Bau- als auch der Gartenarbeiten lag in den 290

Abb. 3: Mysiakovice, VR Polen (früher Erdmannsdorf), als Bogen aufgestelltes Walkieferknochenpaar im Schloßpark, Foto A. Schendel.

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Händen des Ministers von Rother, der auch Präsident der Preußischen Seehandlung war. So ist es möglich, daß durch die exotischen Erwerbungen der Preußischen Seehandlung, die in erster Linie für die Pfaueninsel bestimmt waren, Lenne dort ein zweites Mal in die Lage kam, Walkieferknochen in einer Parkanlage anzubringen. Anmerkungen 1. 2. 3. 4. 5.

ZStA Merseburg, 2.2.1 Nr. 20714, S. 37. a.a.O. , S. 34, 35, 38. a.a.O. ,S.33. a.a.O. , S. 29, 39. a.a.O. , S. 32, 30, 31. Anschrift des Verfassers Michael Seiler, Pfaueninsel, 1000 Berlin 39

Bitte an unsere Mitglieder Der Verein für die Geschichte Berlins plant anläßlich der 750-Jahr-Feier unserer Stadt eine Ausstellung über die Vereinsgeschichte. Da Ausstellungen wesentlich vom Anschauungsmaterial leben, bitten der Vorstand und der Ausschuß zur 750-Jahr-Feier diejenigen Mitglieder, die Fotos, Landkarten, Medaillen, Programme auch von Fahrten in die Mark Brandenburg, Briefe oder sonstiges aus der Vergangenheit unseres Vereinslebens besitzen sollten, diese doch freundlicherweise als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Zur telefonischen Kontaktaufnahme in dieser Angelegenheit stehen die Geschäftsstelle, Frau Lieselott Gründahl, Telefon 3 23 28 35, der Vorsitzende, Herr Dr. Gerhard Kutzsch, Telefon 3 625808, der Ausschußleiter, Herr Dr. Jürgen Wetzel, Telefon 60183 37, und der Veranstaltungsleiter, Herr Günter Wollschläger, Telefon 8 5127 39, zur Verfügung. Der Ausschuß und der Vorstand würden sich über ein lebhaftes Echo aus dem Mitgliederkreis sehr freuen.

Aus dem Mitgliederkreis Ernst Alberts, langjähriger erster Vorsitzender des Grundbesitzer-Vereins Berlin-Frohnau e.V., wurde zu dessen Ehrenmitglied ernannt. SchB.

Nachrichten Studienfahrt ins Ravensberger Land Die diesjährige Studienfahrt unter Leitung des Schriftführers Dr. H. G. Schultze-Berndt führt vom 13. bis 15. September 1985 in das Ravensberger Land mit Herford als Standquartier. Das Programm sieht nach dem Eintreffen die Besichtigung eines für diese Landschaft typischen Industriebetriebes vor. Am Sonnabend sind zunächst der Besuch der Stiftskirche und des Widukind-Museums in Enger vorgesehen, die Besichtigung des Sattelmeierhofes Nordmeyer und das Mittagessen gleichfalls in Enger. Am Nachmittag steht ein Besuch der Sparrenburg in Bielefeld auf dem Programm (Kaffeetafel am selben Ort). Der Sonntagvormittag dient dem Kennenlernen der Stadt Herford und ihrer Geschichte. Die Gespräche zu diesem Besuchsteil laufen noch. Das ausführliche Programm wird im Juliheft der „Mitteilungen" veröffentlicht. SchB.

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Im I. Vierteljahr 1985 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Borchardt, Wolf-Rüdiger, Dipl.-Ing. Lindenallee 28, 1000 Berlin 19 Tel. 3023096/57 (Riedel) Davies, Karin, Angestellte Alt-Moabit 20, 1000 Berlin 21 Tel. 3945789 (Gründahl) Dr. Klaus Dettmer, Archivar Wilhelmshavener Straße 65, 1000 Berlin 21 Tel. 3952733 (Schriftführer) Dorit Münchmeier, Dipl.-Bibl. i. R. Tempelhofer Damm 74, 1000 Berlin 42 Tel. 7868437 (Rücken) Dora Prentke Calvinstraße 8, 1000 Berlin 21 Tel. 3936108 (Steffen)

Hans Joachim Teymann, Dipl.-Ing. Rumeyplan 2, 1000 Berlin 42 Tel. 785 7553 (Riedel) Michael Wagner, Dipl.-Ing. Sesenheimer Straße 15,1000 Berlin 12 Tel. 3134733 (Bunsas t) Rainer Wilke, Studienrat Schönwalder Straße 23,1000 Berlin 65 Tel. 46134 58 (Wilke) Denis Will, Dipl.-Ing. Johann-Sigismund-Straße 11, 1000 Berlin 31 Tel. 8924622 (Gründahl) Gertrud Will, Dipl.-Ing. Johann-Sigismund-Straße 11,1000 Berlin 31 Tel. 8924622 (Gründahl)

Buchbesprechungen Fritz Wegener: So lebten Ludwig Fritz Wegener, ein Berliner Kutschersohn, und Luise Lau, ein Landmädchen, bis zu ihrer Heirat, Berlin 1903. 1970. 52 S., 3 DM. Ders.: So lebten wir 1913 bis 1933 in Berlin. 1971. 214 S., 11 DM. Ders.: So lebten wir 1933 bis 1938 in Landsberg (Warthe). 1971. 117 S., 6 DM. Ders.: So lebten wir 1938 bis 1945 in Dessau. 1972. 229 S., 11 DM. Ders.: So lebten wir 1945 bis 1951 in Dessau und Berlin Ost/West. 1976. 259 S., 13 DM. Ders.: Ahnenliste Wegener mit Exkurs: Die Lehmpfuhls, eine Schäferfamilie im Lande Lebus. 1985. 252 S., 13 DM. Selbstverlag Dr. Fritz Wegener, Ladenbergstraße 1, 1000 Berlin 33. Alle Hefte kartoniert, mit festem Rücken, Format DIN A5, mit Abbildungen und Anmerkungen. Es handelt sich um die Reihe A der familiengeschichtlichen Arbeiten unseres Mitgliedes Senatsrat a. D. Dr. Fritz Wegener, von der soeben mit der Ahnenliste Wegener der letzte Band erschienen ist. (Die Reihe B, auf die wir noch zurückkommen werden, behandelt die Vorfahren der aus der Charlottenburger Familie Reimerdes stammenden Ehefrau des Verfassers.) Die weit über die Familiengeschichte hinausgreifende Buchreihe verdient vorbehaltlose Zustimmung. Für den Verfasser war die Beschäftigung mit der Geschichte seiner Familie nicht Selbstzweck. Er hat aus dem zusammengetragenen Material wichtige Schlüsse gezogen und im Spiegel der Geschichte seiner Familie ein Stück Heimat-, Orts-, Landes- und Zeitgeschichte lebendig gemacht. Einen besonderen Berlinbezug haben die oben an erster, zweiter, fünfter und sechster Stelle genannten Bände. Der erste Band enthält eine wirklichkeitsnahe Schilderung des Lebens hartarbeitender Menschen, der Eltern des Verfassers, in Berlin und in der Neumark. Im zweiten Band schildert der Verfasser seine Kindheit in der Luisenstadt (Kreuzberg). Wir lernen hier, wie die Welt um den Moritzplatz vor dem Ersten Weltkrieg und im Ersten Weltkrieg einem Arbeiterkind erschien. Dieser Band vermittelt auch wichtige psychologische und soziologische Erkenntnisse. Es ist dem Arbeitersohn, der 1918 mit vierzehn Jahren auf die gerade neugegründete Berliner Begabtenschule kam, 1924 die Reifeprüfung ablegte, anschließend als Werkstudent Volkswirtschaft studierte und magna cum laude zum Dr. rer. pol. promoviert wurde, zunächst nicht leicht gefallen, sich in einer für ihn fremden, „vornehmen" Welt zurechtzufinden. Die sozialen Klassen waren vor sechzig Jahren durchaus Realitäten, getrennt durch Schranken, die man innerhalb einer Generation nicht so leicht und vor allen Dingen nicht ohne Schmerzen überwinden konnte. Im fünften Band werden die in der damaligen sowjetischen Besatzungszone sowie in Ost-Berlin verlebten ersten Nachkriegsjahre geschildert, in denen der Verfasser sich mit den verschiedensten Tätigkeiten durchschlug, bis sich die vielköpfige Familie 1951 nach West-Berlin absetzen konnte. Der soeben erschienene sechste Band enthält nicht nur die

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komplette Ahnenliste, sondern im Geflecht mit ihr in einem hundertseitigen Textteil „Bilder aus der deutschen Vergangenheit", orts-, zeit- und kulturgeschichtlich Interessantes, das im Zusammenhang mit den erfaßten Vorfahren erforscht werden konnte. Die in jeder Hinsicht hervorragende, in einer klaren Sprache geschriebene, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und in vorbildlicher Weise mit Anmerkungen, Quellen- und Literaturangaben sowie Registern versehene Buchreihe ist ein glänzendes Beispiel für die Möglichkeiten genealogischer Forschung: Die Geschichte einer einzigen Familie kann - wie hier - ein wichtiger Beitrag zur Orts-, Heimat- und Zeitgeschichte sein. Dr. Otto Uhlitz Denkmal Berlin. 28 Zeichnungen Berliner Bauten (vom Schloß Charlottenburg bis zur Berliner Mauer) von Kurth Thiede. Stadthaus Verlag, Schudomastraße 50, 1000 Berlin 44. September 1984. Der pensionierte Architekt Kurth Thiede (Jahrgang 1904) hat sich die Aufgabe gestellt, die Baukunst Berlins mit dem Zeichenstift festzuhalten. Als das Berliner Stadtschloß abgerissen wurde und mit dem Bau der Mauer weitere historische Gebäude fielen, hatte er sich entschlossen, die noch vorhandenen Baudenkmäler Berlins zu zeichnen. Zunächst stellte er seine Arbeit unter das Motto „Die Mauer mit nahestehenden Bauten von Kreuzberg bis zum Reichstag". Diesen 70 Stadtansichten ließ er 101 Bilder von Baudenkmälern „Vom Reichstag bis zum Charlottenburger Schloß" folgen. Standbildern historischer Persönlichkeiten im Tiergarten sind 39 Bilder gewidmet; Thiedes letzte Arbeiten umfassen alte Bauwerke im früheren Rixdorf. Die hier vorliegende Mappe bietet einen guten Querschnitt durch das Schaffen des Künstlers und bringt Beispiele aus den von ihm behandelten Gebieten diesseits der Mauer. SchB. Nikolas von Safft: Haltestellen des Lebens. S-Bahnhöfe in West-Berlin. 92 Seiten, 75 farbige Abbildungen, 14,80 DM. Gemalte Illusionen. Wandbilder in Berlin. Herausgegeben von Gritta Hesse. 158 Seiten, 19,80 DM. Jürgen Spohn: Kommen und Gehen. Treppenhäuser in Berlin. 107 Seiten, 19,80 DM. Arnulf Kutsch und Hans Bohrmann: Berlin zu Kaisers Zeiten. Eine historische Foto-Dokumentation. 224 Seiten, 16,80 DM. Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 324, 384, 395, 398. Harenberg Kommunikation, Dortmund 1982/1983. 1838 wurde die erste Eisenbahnstrecke Preußens zwischen Berlin und Potsdam eröffnet. Die Berliner Stadtbahn folgte 1882. Die erste elektrisch betriebene Versuchsstrecke entstand 1900 auf der Wannseebahn. Das Steckennetz der Reichsbahndirektion Berlin belief sich 1939 auf 1185 km, davon 536 km für die S-Bahn. Bis zum 25. April 1945 fuhr die S-Bahn, die am 6. Juni 1945 den Verkehr wieder aufnahm. 80 ihrer Viertelzüge bildeten den Anfang für die polnische Staatsbahn. - Die Aufnahmen dieses Bandes sind von 1978 an entstanden. Nikolas von Safft schreibt: „Ich wäre glücklich, wenn sie eines Tages nur mehr als historische Dokumente gelten könnten ... dann nämlich, wenn die S-Bahn wieder wichtigstes Verkehrsmittel von Berlin ist." Bis auf den Superlativ ist die Hoffnung inzwischen in Erfüllung gegangen. Die Abbildungen belegen die Vielfalt der Baustile. Das Datum der Errichtung oder der Eröffnung ist jeweils mitgeteilt worden. Zu den Olympischen Spielen 1936 wurde nicht der Bahnhof Olympiastadion, sondern Reichssportfeld eröffnet. Die amerikanische „Street-Art"-Bewegung hat ihre Vorläufer in der mexikanischen Monumentalmalerei und in den Wandbildern des Förderungsprogramms für Künstler zur Zeit des New Deal. In Berlin hat sich die Stadtbemalung erst spät, aber mit erstaunlicher Vehemenz durchgesetzt. Die Zahl spontaner Malereien ist groß und wächst, ihre technische Qualität ist aber häufig schlecht und die Lebensdauer kurz. In Ost-Berlin ist man bei den Wandbildern vom erzieherischen Element zu einer (unverbindlich) freien Themenwahl übergewechselt. Die Herausgeberin, Diplom-Bibliothekarin an der Amerika-Gedenkbibliothek, erklärt, auf vielfältige Weise ließe sich aus den Wandbildern ablesen, was die Berliner heute bewegt. Im weitesten Sinne werden Illusionen widergespiegelt. Man darf gespannt sein, wie sich die Wandbilder in den kommenden Jahren entwickeln werden. - Nicht nur ganze Fassaden werden auf den Farbfotos der insgesamt 65 Objekte wiedergegeben, ebenso bemalte Türen oder Wandstreifen. Beliebtes Objekt ist auch die Mauer. Der Standort wird in der Bildunterschrift mitgeteilt, die Auftraggeber reichen vom Land Berlin bis zu Hausbesetzern. Auch Hausbesitzer sind darunter, so Bernhard Koslowski mit dem Till-Eulenspiegel-Motiv in der Glasgower Straße 31-33. - Das im Anhang abgedruckte Verzeichnis der Wandbilder in Berlin ist von der Amerika-Gedenkbibliothek auch separat herausgegeben worden, die gleichfalls eine Literaturauswahl „Wandmalerei heute und ihre Vorgeschichte" vorgelegt hat. 294

Jürgen Spohn, Jahrgang 1934, ist Professor für visuelle Kommunikation und Grafik-Design in Berlin. In mehr als zwei Jahrzehnten ist er dieser Stadt auch mit seiner Kamera nähergekommen. Die von ihm zu diesem Buch vereinten 100 Treppenhäuser sind vor allem im Westen der Stadt anzutreffen, selbst wenn die Aussage bezweifelt werden muß, daß die „Boombauern... ihre Milliönchen in repräsentative Wohnkultur investierten, z.B. ... in den Kurfürstendamm-Nachbarschaften". In den Treppenhäusern, „Nahtstelle zwischen Drin und Draußen, zwischen Ein und Aus", faszinieren nicht nur die Facettenspiegel, die den Luftkrieg überstanden, sondern auch Messingtürklinken, Schlösser und gedrechselte Treppengeländer, bis diese von Bubenhand demontiert und auf dem Trödelmarkt versilbert werden. Mit den Trabantenstädten hält es der Autor nicht - „vorprogrammierte (sie) Slums" nennt er sie und setzt ihnen seine Aufnahmen von Treppenhäusern aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entgegen. Über deren Standort und Baujahr erfährt man nichts. Nur einmal unterrichtet ein stummer Portier, daß es sich um das Haus Mehringdamm Nr. 50 handelt. „Berlin zu Kaisers Zeiten" wird in 107 Fotografien gezeigt, Bahnhöfe, Schulen, Museen, Postgebäude, Kirchen, Verwaltungsgebäude, aber auch Wohnhäuser und Villen. Die als Lichtdruck reproduzierten Fotografien Wilhelm Wickes aus Groß-Lichterfelde wurden von ihm im Selbstverlag veröffentlicht und dienten den Architekturstudenten als Anschauungsmaterial. Die Herausgeber haben jeweils die Straße aufgeführt, an der das Gebäude lag, und recherchiert, wann und von wem es errichtet wurde. Auch das Schicksal der Bauten, etwa zerstört oder abgebrochen, wird mitgeteilt. Ein Register der Architekten und Baumeister sowie ein Gebäuderegister sind ein gutes Hilfsmittel. Da auf historisch bedeutende und deswegen vielfach fotografisch festgehaltene Bauten verzichtet wurde, aber auch Fabrikgebäude, Brücken usw. vollständig fehlen, ist die Auswahl der von Wilhelm Wicke fotografierten Gebäude nicht repräsentativ. Aber auch so gewinnt das Berlin der Kaiserzeit Konturen. H. G. Schultze-Bemdt

Eingegangene Bücher (Berlinliteratur, Besprechung vorbehalten) Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler Berlin/DDR, Potsdam. 524 Seiten, mit zahlreichen Grundrissen und Plänen, Ganzleinen, 42 DM. Bildhandbuch: Berlin, Mark Brandenburg. 3., verbesserte Auflage, 100 Seiten Text, 16 Farbtafeln, 368 ganzseitige Bilder, Ganzleinen, 45 DM. R. Handrick: Das alte Potsdam heute. 18 Farbaufnahmen, hrsg. im Henschelverlag, Kunst und Gesellschaft, DDR, 7,50 M. Horst Krüger: Der Kurfürstendamm. Glanz und Elend eines Boulevards. Hoffmann und Campe Verlag, 120 Seiten, davon 80 Seiten Bildteil, gebunden, 28 DM. Die Fahrzeuge der Deutschen Reichsbahn und der Berliner Stadtbahn im Bild. Eine von 1930 bis 1938 erschienene Schriftenreihe, hrsg. von Hermann Maey. Steiger Verlag, 1982, Ganzleinen, 230 Seiten, 250 Abbildungen, 58 DM. 1888. Ein deutsches Bilderbuch. Rembrandt Verlag GmbH, 1981, gesammelt und erläutert von Klaus J. Lemmer. 124 Seiten, mit 96 Abbildungen, 34,80 DM. Gültekin Emre: 300 Jahre Türken an der Spree. Ararat Verlag, 1983, 96 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen. Alfred Dreifuss: Deutsches Theater in Berlin. Fünf Kapitel aus der Geschichte einer Schauspielbühne. Henschelverlag, Berlin 1983. Joachim Günther: Es ist ja wie verreist... Berliner Spaziergänge. Henssel Verlag. Der Baum der Liebe. Liebesseufzer auf Neuruppiner Bilderbogen. Hrsg. von L. Riedel und W. Hirte. Arani Verlag. H. Schirmag: Albert Lortzing. Ein Lebens- und Zeitbild. Henschelverlag, Kunst und Gesellschaft, Berlin 1982. Klaus Scholder: Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932-1944. Verlag Severin und Siedler, 1982. Berlin. Von der Frontstadt zur Brücke Europas. Von Rainer Hildebrandt. Verlag Haus am Checkpoint Charlie. Machtergreifung Berlin 1933. Stätten der Geschichte Berlins, Bd. IL Rembrandt Verlag, Berlin 1982. 295

Tagesordnung zur Ordentlichen Mitgliederversammlung 1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes. 2. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer. 3. Aussprache. 4. Entlastung des Vorstandes. 5. Wahl des Vorstandes. 6. Wahl von zwei Kassenprüfern und Bibliotheksprüfern. 7. Verschiedenes. Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind bis zum 10. Mai 1985 der Geschäftsstelle einzureichen.

Veranstaltungen im II. Quartal 1985 1. Sonnabend, den 27. April, 18.00 Uhr: In Verbindung mit der Hugenottischen Mittwochsgesellschaft im Hinblick auf die Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg durch den Großen Kurfürsten Festveranstaltung im Hotel Berlin, 1000 Berlin 30, Kurfürstenstraße. Es spricht Herr Hans Wagner, Kassel, über „Hugenotten in aller Welt - Wann, weshalb und wohin fuhren sie?" Menüpreis 20 DM. Schriftliche Anmeldungen erbeten an Frau Erna Bailly, Klosterstraße 33,1000 Berlin 20, bis zum 24. April 1985. 2. Sonntag, den 5. Mai 1985,10.00 Uhr: „Vom südlichen Pankow zur nördlichen Oranienburger Vorstadt - die begrünte Weddinger Panke". Leitung der Führung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt: Wollankstraße/Nordbahnstraße (S-Bhf. Wollankstraße). Endpunkt: U-Bhf. Reinickendorfer Straße. Sonstige Fahrverbindungen Bus 70, mit kurzem Fußweg Bus 61. 3. Dienstag, den 14. Mai 1985, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Gero Kirchner: „Spaziergänge in der Priegnitz, dem Havelland und dem Fläming". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Dienstag, den 4. Juni 1985, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung, Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. (Die Tagesordnung ist vorstehend abgedruckt.) 5. Dienstag, den 25. Juni 1985,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Michael Seiler: „Neuer Garten, Paretz, Pfaueninsel - aus der Geschichte eines Landschaftsgartens". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg.

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 32328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin West (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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Fachabt. der Berliner Stadtbibliothek

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 81. Jahrgang

Heft 3

Oberpfarrer Dressel

Juli 1985

PJie Tagebücher und Chroniken des Charlottenburger Pfarrers Johann Christian Gottfried Dressel Von Henrike Hülsbergen Im Rahmen der Vorbereitungen zur 750-Jahr-Feier Berlins wird eine umfangreiche Bibliographie zur Geschichte Charlottenburgs erstellt. Zu den wichtigsten noch aufzuarbeitenden Quellen zur Frühgeschichte der Residenzstadt gehören die Chroniken und die Tagebücher des Johann Christian Gottfried Dressel, Pfarrer der Gemeinde in Charlottenburg in den Jahren von 1778 bis 1824.' Die in den Archiven von Berlin (West) vorhandenen Aufzeichnungen weisen Dressel als einen kritischen Zeitgenossen aus, der über das Leben in seiner Gemeinde, seine Amtszeit und zur Geschichte Charlottenburgs ausführlich, teilweise anekdotisch, aber historisch zuverlässig berichtet. Dreizehn Jahre nach seinem Amtsantritt, 1791, hat Dressel mit seinen Lebensbeschreibungen begonnen, die sechs Bände umfassen. Der dritte Band führt den Titel „Lebensbeschreibungen oder vielmehr Tagebuch". Ein weiterer siebenter Band ist von seinem Enkel Johann Gustav Dressel und dessen Sohn Johann Georg Dressel als Weiterführung der Familiengeschichte geschrieben worden.2 Die beiden ersten Bände der Dresseischen Lebensbeschreibungen umfassen die Jahre bis zu seinem Amtsantritt in Charlottenburg im Jahre 1778. Der dritte Band behandelt den Zeitabschnitt bis 1795, und die drei letzten Bände erstrecken sich bis in das Jahr 1824.3 Die ersten beiden Bände der Tagebücher befinden sich in der Verwaltungsbücherei des Bezirksamts Charlottenburg. Über den Verbleib der übrigen fünf Bände werden Nachforschungen angestellt. Im Jahre 1813 ergeht ein Befehl der Regierung Friedrich Wilhelms III. an alle Geistlichen, „die Tagesgeschichte jedes Ortes aufzuzeichnen und für die Nachwelt aufzubewahren" .4 Da Dressel auf seine Tagenbuchaufzeichnungen zurückgreifen kann, fällt es ihm nicht schwer, innerhalb von zehn Tagen die Pfarrchronik niederzuschreiben. Schon der Titel dieser Pfarrchronik weist auf das konzeptionell weitfassende historische Anliegen und über den engen Rahmen einer reinen Gemeindegeschichte hinaus: „Die Geschichte Charlottenburgs von der Erbauung dieser Stadt an bis auf die jetzigen Zeiten, besonders was das Kirch- und Schulwesen betrifft". Das Original der Pfarrchronik, die bis in das Jahr 1813 reicht, befindet sich im Besitz der Luisengemeinde. Eine Kopie des Originals weist das Magazin der Stadtbücherei Charlottenburg auf.5 Mit der Neubearbeitung der Pfarrchronik, der sogenannten Rathauschronik, die Dressel auf Wunsch des Magistrats verfaßte, wird schon im Titel seine Intention deutlich, die Geschichte der Gemeinde mit der Stadtentwicklung Charlottenburgs zu verknüpfen: „Aufgezeichnete Nachrichten vom Ursprünge, Ausbau und Vergrößerung des Königlichen Schlosses und der Stadt Charlottenburg, gesammelt aus Rathäuslichen Acten und eigenen Erfahrungen, vom zeitigen Oberprediger 1816 zu Charlottenburg, Johann Christian Gottfried Dressel". Dressel hat die langatmige Einleitung der Pfarrchronik gekürzt und die Rathauschronik bis ins Jahr 1817 vervollständigt.6 Das Original der Rathauschronik liegt in der Verwaltungsbücherei, eine maschinenschriftliche Kopie mit einem Registeranhang befindet sich im Bestand der Stadtbücherei Charlottenburg. Das Geheime Staatsarchiv Berlin Dahlem weist Schriften Dresseis zum Schul- und Armenwesen auf.7 Das Archiv der Luisengemeinde besitzt die Kirchenbücher aus der sechsundvierzigjährigen Amtszeit Dresseis, die mit vielen persönlichen Anmerkungen versehen sind.8 298

Johann Christian Gottfried Dressel wird am 22. September 1751 in Krossen als Sohn des Schulrektors Johann Christoph Dressel geboren. Er erhält, wie es in der Familie Tradition ist, eine Ausbildung für das Lehr- und Pfarramt. Nachdem er 1773 in Werder an der Halle die Schule geleitet hat, tritt er in Biesenthal eine Stelle als Rektor an. Nach dem Tode seiner Frau verheiratet er sich dort in zweiter Ehe mit der Tochter des Amtsmannes Bötticher, mit der er elf Kinder hat, wovon sieben überleben. Sein Schwager, der Kriegsrat und spätere Kammerdirektor Bötticher, empfiehlt Dressel, sich um die Stelle als Prediger in Charlottenburg zu bewerben. Er tritt denn auch 1778 die Nachfolge des Pfarrers Eberhard an, eines Freundes und Zeitgenossen der Aufklärer Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai, der nach vierjähriger Amtszeit in Charlottenburg einem Ruf als Professor der Philosophie nach Halle folgt.9 1802 wird J. Ch. G. Dressel zum Oberprediger der Stadt Charlottenburg ernannt, nachdem er beim Magistrat den Antrag auf Einstellung eines zweiten Predigers mit der Begründung der Arbeitsüberlastung gestellt hat. Sein Schwiegersohn, Rektor Engel, wird zum zweiten Prediger ernannt.10 Im Frühjahr 1814 wird Dressel zum Stadtverordneten gewählt, für kurze Zeit übernimmt er das Amt des Stadt verordneten Vorstehers." Am 16. Oktober 1824 stirbt er während des Umbaus der Kirche, den er selbst noch in die Wege geleitet hat. Als J. Ch. G. Dressel vor seinem Amtsantritt seinen Vorgänger Eberhard besucht, um Haus und Pfarrstelle kennenzulernen, beseelt ihn sofort der Wunsch, „Besitzer dieses Hauses ... zu werden".12 Bevor sich sein innigster Wunsch erfüllt, muß er noch gegen einige Mitbewerber bestehen, vor allem gegen den von der Königin Elisabeth Christine begünstigten Feldprediger Steinhardt. Aber weder die Protektion der Königin noch die Tatsache, daß Steinhardt bei seiner Probepredigt „gewaltig schrie"13, nützten diesem. Dresseis Predigt gefällt dem Magistrat besser, obwohl er „die ganze Predigt über auf Zehen stehen" muß, da der Küster es versäumt

Luisenkirche, 1826 299

hat, ihm einen Tritt hinzustellen, den sein ihn um einige Längen überragender Vorgänger Eberhard nicht gebraucht hat. „Da es nun überaus warm an dem Tage war, so kostete durch diese Anstrengung im Stehen auf den Zehen den Dressel viel Schweiß."14 Der Inhalt der Predigt und nicht zuletzt seine Verdienste und Kenntnisse als Schulmann geben den Ausschlag für Dresseis Ernennung. Am 3. Oktober 1778 bezieht er das Charlottenburger Pfarrhaus, und binnen kurzem fühlt er sich „mit Leib und Seele Pfarrer und der Gemeinde verbunden".15 Die Theologen in Preußen zur Zeit Dresseis üben einen entsagungsvollen Beruf aus. Lange Wartezeiten bis zum Erhalt einer Pfarrstelle, die dann häufig karg ausgestattet ist, und das niedrige Einkommen zwingen die Pfarrer, sich entweder nach Nebeneinkünften umzusehen oder den Lebensunterhalt durch häusliche Landwirtschaft etwas anzuheben.16 Obwohl die Charlottenburger Pfarre noch zu den einträglicheren gehört, reichen die Einkünfte von 1000 Talern jährlich (1801) selbst bei größter Sparsamkeit kaum zum täglichen Leben aus. So ist auch Dressel gezwungen, sich Nebeneinkünfte zu erschließen, wobei er sich als ausgesprochen findig erweist, was ihm den Ruf einträgt, er sei den materiellen Dingen durchaus nicht abgeneigt.17 Er unterscheidet sich von den durchschnittlichen preußischen Pfarrern, er ist gebildet, belesen, den geistigen Zeitströmungen, dem aufklärerischen Gedankengut aufgeschlossen.18 So schreibt Ernst Kaeber über Dressel: „... der einzige Repräsentant höherer Bildung im Charlottenburg des 18. Jahrhunderts, der Oberpfarrer Dressel, wurzelte mit seinen Interessen ganz in der Hauptstadt, wurde Anhänger der in ihr zur Herrschaft gelangten Lehren der philosophischen und theologischen Aufklärung."19 Nach Gundlach verharrt Dressel nicht in seiner ursprünglich orthodox-protestantischen Religionsauffassung, sondern macht sich die christliche Lehre in rationalistischer Auffassung zu eigen.20 Diese aufklärerische Religionsauffassung läßt ihn den unter Friedrich Wilhelm II. als Staatsminister und Chef der geistlichen Angelegenheiten eingesetzten ehemaligen Prediger Johann Woellner heftig kritisieren. 1788, kurz nach seiner Amtseinführung, hat Woellner ein Religionsedikt erlassen, das dem Vordringen aufklärerischer Gedanken in der Kirche Einhalt gebieten und - so Dressel - „die Orthodoxie unter den Geistlichen wieder herrschend machen" soll.21 Dressel setzt sich selbstbewußt über das Woellnersche Religionsedikt hinweg, das vorgesehen hat, die alten orthodoxen Agenden wieder einzuführen, indem er seine selbstverfertigte Agende und sein Lehrbuch der Religion beibehält. Die von den preußischen Herrschern, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität geförderte konfessionelle Toleranz und der religiöse Minderheitenschutz werden von Dressel täglich und tätig gelebt. Er zählt Juden zu seinem Freundeskreis, ungeachtet der Tatsache, daß Charlottenburg Juden zeitweilig nicht einmal für eine Nacht Unterkunft gewährt hat.22 Er spricht sich entschieden gegen „Proselytenmacherei"23 aus - er toleriert die Katholiken ebenso wie die Reformierten in seiner Gemeinde. Daneben fördert er alles, „was zur Hebung des gottesdienstlichen Lebens beitrug".24 Bereits im Jahre 1716 hat die Einweihung der ersten Kirche zu Charlottenburg stattgefunden, aber erst 1780 kann Dressel bei dem Brandenburger Orgelbauer Grünberg mit Hilfe von Spendengeldern eine Orgel bestellen. Auch die Anlage eines Friedhofs und den Neubau des Kirchturms verdankt Charlottenburg seinem unermüdlichen Bemühen. 1814 muß der Kirchturm, da er beim Läuten bedenklich schwankt, abgetragen werden. Um die Gunst Friedrich Wilhelms III. für die Finanzierung des Schinkelschen Entwurfs eines neuen Kirchturms zu gewinnen, führt Dressel die vom König selbst entworfene und von den kirchlichen Parteien allseits abgelehnte Agende in Charlottenburg ein. Im Jahre 1822 kann mit dem Bau des Kirchturms begonnen werden.25 Die äußerst rege Tätigkeit, die Dressel in seinem Amt zum Wohl der Gemeinde entfaltet, erstreckt sich auch auf das Schulwesen. 300

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird erstmalig die allgemeine Schulpflicht in Preußen eingeführt.26 Die inhaltliche und organisatorische Aufsicht über das niedere Schulwesen übernehmen die zuständigen Pfarrer. Häufig aber erteilen Dorfküster oder halbwegs lese- und schreibkundige Dorfbewohner den Unterricht. Dressel findet bei seiner Pfarreiübernahme die Charlottenburger Schulverhältnisse „in der elendesten Verfassung" vor.27 Die Kinder sind so unwissend, daß er glaubt, „unter Heyden gerathen zu seyn".28 Die beengten Raumverhältnisse fördern weder den regelmäßigen Schulbesuch noch die Durchführung eines ordentlichen Unterrichts. Die Zahl der schulpflichtigen Kinder ist 1769 bereits auf vierhundert angestiegen. Friedrich der Große hat seiner Residenzstadt die finanzielle Unterstützung zum Bau eines Schulhauses verweigert, da er sich infolge seiner Kriege zu äußerster Sparsamkeit gezwungen sieht. So finanziert Dressel den Bau mit Geldern aus der Lützower Kirchenkasse und gewinnt den Magistrat der Stadt, ihm Baufreiheitsgelder zu gewähren.29 Schließlich wird 1786 das erste Charlottenburger Schulhaus, das heute noch in der Gierkezeile steht, eingeweiht. Auch auf pädagogischem Gebiet erweist sich Dressel als Reformator.30 Er zeigt sich mit den wichtigsten pädagogischen Schriften seiner Zeit vertraut, mit den Werken Pestalozzis und Eberhard von Rochows „Unterricht der Jugend auf dem Lande".31 Dressel bekämpft die „von alten Frauen und liederlichen Kerls besetzten und dirigierten Winkelschulen" ,32 Im Jahre 1801 unterstützt Friedrich Wilhelm III. das Vorhaben der kurmärkischen Kammer, in fünf Städten, darunter auch in Charlottenburg, eine Industrieschule einzurichten. Dressel spricht sich in der Rathauschronik gegen diese Verbindung von Lern- und Arbeitsschule auf dem Dorf aus, denn „auf Dörfern brauchen Eltern ihre Kinder nöthiger... Wolle und Flachs zu spinnen lernt jede Mutter ihre Kinder, und die armen Kinder kommen früh genug ans Wollrad ... Zur Arbeit anzuwohnen ist wohl gut für die Kinder aber ihren Körper durch freye Bewegung in der Luft zu stärken ist wohl auch nicht übel... es ist die Zeit der Kindheit der sich der Arme in seinem Alter mit Freude erinnert."33 In den späteren Jahren seiner Amtszeit setzt sich Dressel erfolgreich für die Einrichtung einer Abendschule für arbeitende Jungen ein, für die Aufhebung des Schulgeldes und für die Finanzierung der Lehrergehälter aus den Einkünften der Stadt. Neben der Neuordnung der Schulverhältnisse verbessert er auch die städtische Armenpflege. Er erreicht durch den Bau eines Hospitals, daß Altersversorgung und Krankenpflege unter einem Dach möglich werden.34 Neben dem energischen Eintreten für das Wohl seiner Gemeinde verfolgt Dressel mindestens ebenso tatkräftig seine eigenen Interessen, die sich nicht immer mit der Würde seines Amtes vereinbaren lassen. Er läßt keine Gelegenheit ungenutzt, seine Amtseinkünfte durch Nebeneinnahmen aufzubessern, nimmt Sommergäste in seinem Haus auf und erbaut in späteren Jahren eine Pension für Sommergäste im Pfarrgarten.35 Als Spekulant und Makler bringt es Dressel zu beachtlichem Wohlstand. Im Jahre 1802 verwaltet er zunächst das Eckardsteinsche Besitztum. Nach dem Tode des Freiherrn von Eckardstein pachtet er die zum Besitz gehörende Meierei und betreibt sie auf eigene Rechnung. Über die Lauterkeit der Leitung einer Milchwirtschaft durch einen Prediger befallen ihn denn doch einige Zweifel, „ich muß gestehen, daß ich diese meine Dienstfertigkeit etwas unschicklich bei meinem Amte selbst finde", die er aber sofort mit der Rechtfertigung ausräumt, daß er sich am Ende nach seinem Tode „lieber den Vorwurf der allzu großen Tätigkeit machen" lassen will, „als mein Grab mit den Tränen der Kreditoren benetzen lassen, denen ich meine Schulden nicht bezahlen konnte".36 Die hier ausgewählten, kurz skizzierten historisch-literarischen Quellen zeigen deutlich, daß die Tagebücher und Chroniken des Johann Christian Gottfried Dressel nicht nur „eine unschätz301

bare Quelle für die Erkenntnisse der Kulturzustände"37 Charlottenburgs sind, sie spiegeln auch das Bild eines engagierten, eng mit den Problemen und dem Wohl der Gemeinde verbundenen Pfarrers wider. Weder Rücker, der Dressel als einen „rastlosen Pionier für Sitte und Kultur"38 idealisiert, noch Gundlach, der ihm eine fast ausschließlich materielle Gesinnung unterstellt39, werden dem eigenwilligen, engagierten und auch widersprüchlichen Prediger gerecht. Er handelt nicht aus Opportunitätsgründen 40 , vielmehr erweist er sich während seiner Amtszeit als mutiger Streiter wider den orthodoxen Zeitgeist. Er zeigt sich dem aufklärerischen Gedankengut gegenüber nicht nur aufgeschlossen, sondern verwirklicht die reformpädagogischen und theologischen Ideen zielstrebig in seiner Charlottenburger Gemeinde. Trotz mancher langatmigen Ausführungen lassen sich die Chroniken Johann Christian Gottfried Dresseis gerade wegen ihrer Widersprüchlichkeiten und Originalität gut lesen. Mit seinen umfangreichen Aufzeichnungen gehört Dressel aber auch „in die erste Reihe der Geschichtsschreiber des Berliner Raumes".41 Denn er hat nicht nur das Aufblühen Charlottenburgs und das Leben in der Gemeinde festgehalten, er hat auch zu Staats- und weltpolitischen Ereignissen seiner Zeit Stellung genommen. Die 750-Jahr-Feier Berlins ist der gegebene Anlaß, die Chroniken und Aufzeichnungen des Charlottenburger Pfarrers Johann Christian Gottfried Dressel zu überarbeiten, um sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Anmerkungen 1 So schreibt W. Gundlach: „Johann Christian Gottfried Dressel müßte in jeder Geschichte der Stadt Charlottenburg, auch wenn er sich um ihr Schulwesen und ihr Armenwesen nicht so hervorragende Verdienste erworben hätte, gewürdigt werden, weil er von seinem Pfarrhause aus das Leben und Treiben in der Stadt fast ein halbes Jahrhundert hindurch beobachtet... hat." In: Gundlach, Wilhelm, Geschichte der Stadt Charlottenburg, Bd. 1, Berlin 1905, S. 225 (im folgenden: Gundlach, Geschichte, Bd.l). 2 Diese Information habe ich im Laufe meiner Nachforschungen über den Verbleib der Tagebücher von dem letzten direkten Nachkommen J. Ch. G. Dresseis, Frau Dorothea Dressel, erhalten. 3 „... und die drei letzten Bände bieten den ungeänderten, desto wertvolleren Rohstoff der selbst auf Witterung und Kornpreise sich einlassenden Tagebuchaufzeichnungen, welche bis zum Ende des Jahres 1823 sich erstrecken - die Jahreszahl 1824 ist von Dresseis Hand noch geschrieben ..." Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 228. 4 Ders., a.a.O., S.229. 5 Eine Bearbeitung der Pfarrchronik ist 1877 mit angemessenen Kürzungen im IV. Jahrgang des „Neuen Charlottenburger Intelligenzblattes" in einundsechzig Abschnitten abgedruckt worden. Gundlach, Geschichte, Bd. 2, S. 388. 6 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 229, Bd. 2, S. XVIII. Kraatz Wilhelm, Geschichte der Luisengemeinde zu Charlottenburg. Ein Rückblick auf zwei Jahrhunderte, Charlottenburg 1916, S. 1/S. 80. 7 Geheimes Staatsarchiv, Berlin-Dahlem, Pr. Br. Rep. 2B, Nr. 4898, J. Ch. G. Dressel, Zuschrift an meine Gemeinde. Bei Gelegenheit eines neu erbaueten Schulhauses, Berlin 1786. 8 Siehe Eckelt, Klaus, Aus der Geschichte der Charlottenburger Luisenkirche und ihrer Gemeinde. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Jg. 73, H. 1 (1977), S. 288. 9 Ders., a. a. O., S. 285. Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 206. Knobloch, Heinz, Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Das Leben des Moses Mendelssohn, o. O., o. J., S. 220. 10 Rathauschronik, S.237. Kraatz, Wilhelm, Geschichte der Luisengemeinde, a.a.O., S.88. 11 Rathauschronik, S. 285-287. Kraatz, W., a. a. O., S. 79. 12 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S.226. 13 Rathauschronik, S. 106. 14 Ebenda, S. 109. 302

15 Eckelt, Klaus, a. a. O., S. 287. 16 Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen. In: Preußen. Zur Sozialgeschichte eines Staates. Eine Darstellung in Quellen (Preußen - Versuch einer Bilanz, Bd. 3), bearb. von Peter Brandt, unter Mitwirkung von Th. Hofmann und Reiner Zilkenat, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 152. 17 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 243. 18 „Die geringe theologische und menschliche Befähigung der durchschnittlichen Geistlichen war ein von führenden Kirchenmännern bitter beklagter Mißstand." Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen, a. a. O., S. 145. 19 Kaeber, Ernst, Vom Idyll zur Groß-Stadt. Eine Rede zur 250-Jahr-Feier Charlottenburgs. In: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 5 (1955), S. 9. 20 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 238. Vgl. auch: Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen, a. a. O., S. 142 ff., weiter Heinrich, Gerd, Religionstoleranz in Brandenburg-Preußen. Idee und Wirklichkeit. In: Preußen - Beiträge zu einer politischen Kultur (Preußen - Versuch einer Bilanz, Bd. 2), bearb. von Manfred Schlenke, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 62. 21 Rathauschronik, S.220. Das Woellner-Edikt gewährte den preußischen Herrschern in Fragen der kirchlichen Inhalte und der religiösen Auslegung stärkere Eingriffsmöglichkeiten. Vgl. Schule und Kirche als staatserhaltende Institutionen, a. a. O., S. 146. 22 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 238, Bd. 2, S. 363 und 393. Friedrich I. legte für Charlottenburg fest, „... daß Reformatii und Lutherani ihre Gotteshäuser aufrichten ... Juden aber werden auf Ewig hiervon ausgeschloßen und soll keiner derselben werden itzo noch künfftig darinnen zu wohnen oder Gewerbe zu treiben verstattet werden." Aus Schultz, Ferdinand, Chronik der Residenzstadt Charlottenburg, Charlottenburg 1887, S. 85. 23 Rathauschronik, S. 127-129. 24 Kraatz, Wilhelm, Geschichte der Luisengemeinde, a. a. O., S. 79. 25 Rathauschronik, S. 289 f. Vgl. Kraaz, W., a. a. O., S. 46. 26 Kirche und Schule als staatserhaltende Institutionen, a. a. O., S. 160. 27 Rathauschronik, S. 147. 28 Neugebauer, Wolfgang, Schule und Stadtentwicklung. Zweieinhalb Jahrhunderte Schulwirklichkeit in der Residenz- und Großstadt Charlottenburg. In: Ribbe, Wolfgang (Hrsg.), Von der Residenz zur City, 275 Jahre Charlottenburg, Berlin 1980, S. 111. 29 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 209. 30 Neugebauer, Wolfgang, a. a. O., S. 110. 31 Ebenda, S. 110. Geschichte der Erziehung, Berlin (Ost) 1982,13. Aufl., S. 180 f. 32 Neugebauer, W., a. a. O., S. 114. 33 Rathauschronik, S. 224. 34 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 221. 35 Rathauschronik, S. 203. Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 230. 36 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S. 232 f. 37 Ebenda, S. 225. 38 Rücker, H., Joh. Christ. Gottfried Dressel. Ein Blatt aus der Vergangenheit Charlottenburgs. In: Der Bär, Jg. 12, Berlin 1886, S. 242. 39 Gundlach, Geschichte, Bd. 1, S.243. 40 Ebenda. 41 Letkemann, Peter, Die Dresseische Chronik von Charlottenburg. In: Mitteilungendes Vereins für die Geschichte Berlins, Jg. 72, H. 2 (1976), S. 166. Anschrift der Verfasserin: Henrike Hülsbergen, Beerenstraße 41,1000 Berlin 37

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75 Jahre Gartenstadt Frohnau Von Dr. Christiane K n o p Wie Frohnau vor 75 Jahren gegründet wurde, ist anläßlich seiner Jubiläumsfeier im Mai 1985 vielfach erzählt worden.1 Die Rückbesinnung auf die Ortsteilgeschichte hat deutlich werden lassen, daß Frohnau mehr noch als die südlichen und westlichen Villenvororte eine geplante architektonische und gartenkünstlerische Einmaligkeit ist und bis auf einige häßliche Beispiele der Zersiedlung im letzten Jahrzehnt so erhalten werden konnte. Darum hat auch seine Bürgerschaft dieses Jubiläum besonders engagiert und dankbar ausgestaltet. Das Gründungskonzept war durch das vom Fürsten Donnersmarck favorisierte städtebauliche „Projekt Freiluft" der Architekten Joseph Brix und Felix Genzmer vorgegeben. Von den „Frohnauer [Bau-]Beschränkungen", die jede Art von Gewerbeeinrichtungen ausschlössen und anfangs nur Einfamilienhäuser zuließen, ist viel berichtet worden, desgleichen von der harmonischen Einfügung der mit vielen Bäumen bepflanzten Straßen ins wellige Waldgelände sowie der Anlage der Schmuckplätze um das Ortszentrum am Bahnhof mit seinen Anlagen samt Turm und den ersten Geschäftshäusern. Dabei ist erinnert worden an den intensiven Werbefeldzug für die „steuerfreie Stadt" und an die vor der Besiedlung angelegten 40 km granitgepflasterten Straßen.2 Das war eine hohe finanzielle Vorgabe aus Donnersmarckschem Kapital, wie sie heute vergleichsweise undenkbar wäre. Berücksichtigt man ferner die von Anbeginn an geplanten und vorfinanzierten sozialen Folgeeinrichtungen, wie Kirche, Schule, Rathaus und Krankenhaus, zu denen der Fürst durch seine Immobilienfirma, die Berliner Terrain-Centrale (BTC), den Anstoß gab, entsteht für den Chronisten eine gewisse Peinlichkeit: Der monarchischen und adligen Gesellschaft der Wilhelminischen Ära wird in ungewöhnlichem Maße Lob gezollt. Auch andere Besonderheiten, die den „Ortsteilforschern" zur Kenntnis gebracht wurden, verstärken diesen Zug. Die Gründung Frohnaus weicht völlig vom Schema der Entstehung einer Gartenstadt ab. Als 1909/10 Mitglieder der „Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft e.V." englische Gartenstädte besucht hatten, fanden sie dort nur zwei Typen vor, wie Hugo Nachtlicht 1910 in der „Bauwelt" berichtete. Es war entweder die genossenschaftlich organisierte oder die Gartenstadt eines Unternehmers (Lever/Port Sunlight), der das hineingesteckte Kapital in der intensivierten Arbeitskraft seiner Werksangehörigen amortisiert sah. Eine dritte Möglichkeit wurde als utopisch charakterisiert: „ein für die Idee begeisterter Großkapitalist, der ohne Aussicht auf die Verzinsung die nötige Summe in das Unternehmen hineinsteckt". Das soziale und wirtschaftliche Verhalten des Fürsten Donnersmarck scheint dieser Utopie ziemlich nahegekommen zu sein, so unglaublich dies auch erscheint. Über seine Motive kann heute nur spekuliert werden; keine der gegebenen Deutungen trifft wohl ausschließlich zu. Freude an der Bodenspekulation hat gewiß eine Rolle gespielt. Doch weist die Berufung des damals über Deutschland hinaus bedeutenden Gartenarchitekten Ludwig Lesser darüber hinaus.3 Die Wiedergabe einer Ansprache, die der Fürst anläßlich der Ausschreibung des Wettbewerbs vor den versammelten Städteplanern gehalten haben soll, hielten die Ortsteilforscher anfangs für eine verehrungsvoll erfundene Legende, bis ihr Wahrheitsgehalt von einer Zeitzeugin bestätigt wurde.4 „Hier bekommen Sie, meine Herren Baumeister, einen vielfachen Millionenauftrag. Platz ist reichlich da, noch dazu hüglige, schöne Landschaft mit alten Hochwaldbeständen. Geld ist da in Hülle und Fülle, und in der Nähe liegt die Riesenstadt mit den berufsmüden Menschen. Zeigen Sie, was Sie gelernt haben! Bauen Sie eine Stadt, die so schnell wächst, daß nicht zu viele Zinsen für all die Anlagen verloren gehen, die nun erst einmal 304

gemacht werden müssen. Man muß es dem ersten Gebilde von Ihrer Hand gleich ansehen können, was das Ganze einmal werden soll." Daß ihm ein ländlich anmutendes Ortsbild in Anpassung an moderne städtische Verhältnisse vorschwebte, davon zeugt außer dem Werbespot seiner BTC „In der Stadt arbeiten und auf dem Lande leben!" die Art, wie der zweite Ortskern, der sogenannte „Alte Gutshof' ausgestaltet wurde. Das war ein Wirtschaftshof für die Gartenverwaltung der BTC mit Ställen, Fuhrpark, Gespannen, Schmiede und Feuerwache, ferner die Villa für den Gartendirektor im Forsthausstil (Ausführung von Heinrich Straumer).5 Selbst der Urenkel, Guidotto Graf Henckel Fürst von Donnersmarck, kann über die Beweggründe wenig aussagen und verweist nur auf das hohe Alter seines Vorfahren. Er brachte als Achtzigjähriger Frohnau „auf den Weg". War er durch seinen Reichtum innerlich so unabhängig geworden, daß er es sich im Alter leisten konnte, etwas ganz Ungewöhnliches zu schaffen, im Vertrauen darauf, daß seine Intentionen weiterwirken würden? Mit der Anlage des Poloplatzes zog er vor 1914 Vertreter des Adels und der Hochfinanz zu Besuchen nach Frohnau. Seine Anregungen für die Gartenstadt führte eine bürgerliche Einwohnerschaft weiter.6 Dem Vorbild einer märkisch-ländlichen Bauweise paßten sich in allen Siedlungsphasen die Villen an, die zuerst von Heinrich Straumer und Paul Poser nach englischem Muster gestaltet wurden.7 Dort hatte man in Bedford Park und Letchworth zuerst mit diesen architektonischen Elementen experimentiert. Später baute man in Frohnau in Anlehnung an die Neue Sachlichkeit, aber auch nach Architekturmustern, wie sie überall in Deutschland zu finden sind. Im wesentlichen ist es qualitätsvoller Landhausstil. Unterstützt vom Fürsten, führten die ersten Ansiedler, zusammengeschlossen im Grundbesitzerverein, ihre Selbstverwaltung durch, zunächst als Gutsbezirk, später als Ortsteil von GroßBerlin. Die junge Gartenstadt war eine glückliche Verbindung mit den umliegenden Dörfern eingegangen; sie lieferten landwirtschaftliche Produkte und stellten Dienstleistungen für Hausund Gartenbau bereit und waren schließlich das landschaftlich reizvolle Umfeld. Frohnauer Leben ordnete sich bis 1961 (Mauerbau) um die Markierungspunkte, die zu seinen „Mutterdörfern" führten, voran nach Stolpe, dessen Dorfkirche (Mutter-Parochie) man über eine schöne Ahornallee durch die Felder erreichte. Ehe der von Berlin her Kommende Frohnau auf der alten Reichsstraße 96 (Fernstraße an die Ostsee) erreichte, passierte er den Sandkrug in Glienicke, eine alte Umspannstation für Pferdefuhrwerke; dann betrat er den Fürstendamm in Frohnau unterhalb der hölzernen Glienicker Brücke, die Straumer entworfen hatte. Von beiden Denkmälern zeugen heute nur Bilder und berichtete Erinnerungen. Die Brücke brannte 1945 ab, die Dörfer gehören zur DDR. Frohnau ist von drei Seiten durch die Mauer eingeschnürt; auch dies hebt es als eine Besonderheit von anderen Ortsteilen ab.8 War die Gründungsgeschichte ein Vorgang, den der Fürst und die ausführende BTC „nach Plan" gestalteten, kamen nach 1920 (Eingemeindung nach Groß-Berlin) neue, verschiedenartige Kräfte ins Spiel, die seine Entwicklung weitertrieben: Die bauliche Entwicklung und SiedlungsVerdichtung, die Erweiterung zur kirchlichen Verselbständigung beider Konfessionen, die Wirksamkeit des 1924 gegründeten Buddhistischen Hauses, die Entwicklung zum Standort verschiedenartiger Schulen ist ein vielschichtiger Vorgang, der von neuen politischen Voraussetzungen bestimmt wurde. Allerdings blieb bei allen Entscheidungen das Vorstellungsbild von der Gartenstadt immer wach.9 Auch die historisch-politische Entwicklung der NS-Zeit und der Nachkriegsjahre kann hier nur gestreift werden; sie ist ausführlich dargestellt worden.10 305

Es sei aber darauf hingewiesen, daß - wieder im Zusammenhang mit den Donnersmarcks sich Gegebenheiten aus der Gründerzeit zu besonderen Einrichtungen entwickelten, durch die Frohnau von sich reden machte. Die erste ist das „Vereinslazarett Frohnau", das das Fürstenpaaar aus eigenen Mitteln unterhielt und persönlich führte." Die dabei gewonnenen sozialen und medizinischen Erfahrungen münzte der Fürst 1916, jetzt 86jährig, in eine fortschrittliche Idee um: die Stiftung einer Militärkuranstalt zur Rehabilitation langfristig Kriegsbeschädigter mit modernster Therapie.'2 Er, der seit 1848 Herr eines Industrieimperiums und 1871 neben Bleichröder Bismarcks Finanzberater gewesen war, hatte vorausberechnet, daß das Deutsche Reich im Frieden Versorgungsansprüchen von solchen Ausmaßen nicht würde nachkommen können, und sprang mit 1000 Morgen Wald und 3 Mio. Reichsmark aus eigenen Mitteln ein. Der Plan ist bis 1919 nicht verwirklicht worden; das gestiftete Vermögen bildete aber den Grundstock für die heutige Fürst-Donnersmarck-Stiftung zur Rehabilitation bewegungsgestörter Jugendlicher. Auf einstmals Donnersmarckschem Gelände befindet sich die Invalidensiedlung, eine weitere Frohnauer Sehenswürdigkeit. In ihr wird ein modernes Programm der Kriegsversehrtenfürsorge praktiziert. Mit der Tradition des friderizianischen Invalidenhauses in der Scharnhorststraße verbindet ihre Bewohner heute nicht viel mehr als der Name. In ihr formierte sich aber im Dritten Reich ein wesentlicher Teil des Offizierswiderstandes, an dem ihr Kommandant Oberst Wilhelm Staehle und seine Frau maßgeblich beteiligt waren.13 Die Frohnauer Jubiläumstage vom 10. bis 18. Mai 1985 lagen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum 40. Gedenktag des 8. Mai 1945. Diese Rückbesinnung hat erneutes Fragen nach Anpassung und Widerstand evoziert; die Frohnauer wurden sich bewußt, daß bisher ein bedeutsames Ereignis unbeachtet geblieben war. Deshalb haben Senat und Bezirksamt von Reinickendorf Gedenkfeiern in der Invalidensiedlung abgehalten; man beabsichtigt ferner, dort eine dauernde Gedenkstätte für das Ehepaar Staehle zu errichten. Frohnau ist ebenfalls oft als Wohnort der Künstler erwähnt worden. Viele haben ihn als Lebensraum gewählt, weil das Wechselspiel von Zurückgezogenheit und Großstadtnähe befruchtend auf ihre Kunstausübung gewirkt hat. Ein Beispiel mag für das Wirken vieler stehen: das des Dichters Oskar Loerke, In seiner Erzählung „Maat" schildert er seine Ansiedlung in Frohnau im Jahre 1930: „Die dichten hohen Wälder des Berliner Nordens waren Wald, als wir (den Ort) zuerst betraten, und haben sich jetzt in einen jungen Garten verwandelt." Doch überhöht Loerke diese konkrete Schilderung Frohnaus in die Darstellung eines geistigen, ja transzendenten Raumes; es gilt, in der Waldnatur die Zeichenhaftigkeit umfassenden Lebens zu erkennen, nicht nur des menschlichen. „Sprachen unzähliger Leben umdrängen uns, und wenn wir auf den Hochmut verzichten, sie menschlich zu deuten, so vermehren sie ihre Vernehmlichkeit." Und er berichtet in dieser Erzählung, wie das kreatürliche Dasein sich im Frohnauer Wald dem Werden und Vergehen hingibt „mit voller Lust und ganzer Angst, ohne zu geizen und zu verschwenden." Doch auch die „Arbeit der Großstadt nach ihrem rauhen Willen und Gesetz"14 hat er in Frohnau getan. Er hat aufgrund seiner Position als Lektor im Fischer Verlag und als Sekretär der Sektion Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste sein Frohnauer Haus zum geselligen Ort gemacht, an dem sich bedeutende Geister wie Martin Buber, Thomas Mann, Alfred Döblin, Gottfried Benn, Ricarda Huch und Renee Sintenis begegneten. Ernst Deutsch hat in der alten Johanneskirche (Turnhalle) Loerkes Gedichte gelesen. Loerke hat sorgfältig Tagebuch geführt. Die Notiz eines einzigen Tages bezeugt wie für viele andere Tage seine intensive Tatkraft. Am 28. Dezember 1931 hat er unter Teilnahme von Prof. Julius Petersen im Auditorium Maximum über Formprobleme der Lyrik gesprochen, mittags eine Pressekonfe306

Ältere Frohnauer berichten glaubhaft, dieses Haus am Hubertusweg sei für Kaiser Wilhelm II. 1912/13 als Jagdhaus gebaut, aber nie benutzt worden. Es wurde dann von 1919 bis 1924 bewohnt von Prof. Dr. M. P. Neumann, dem Leiter des Instituts für Müllerei an der Versuchs- und Forschungsanstalt für Getreideverarbeitung in Berlin.

renz gegeben, danach eine Sitzung mit dem Kultusminister Becker geleitet, dann mit Eugenio Pacelli (später Papst Pius XII.) konferiert, abends ist er mit Thomas und Golo Mann zusammengetroffen. Seit 1933 hat er im Kulturleben zunehmend geistigen Verfall gespürt und darunter gelitten; Sterbensgedanken kamen in ihm auf, er notierte: „Wie merkwürdig, daß dies Leben ausgelöscht wird und weniger ist als eine Schrift auf der Schiefertafel." Das eigene Leben wurde ihm unter der Herrschaft der braunen Herren unwert; daraus erwuchs sein Wunsch nach namenloser Bestattung.16 Sein Begräbnis am 27. Februar 1941 schildert Elisabeth Langgässer17: „Der Frohnauer Waldfriedhof liegt hoch, und der Blick geht weit hinaus über wartende Felder... der Wind wehte leise und frisch ... und das Licht schien nur darauf zu warten, sich über all das auszugießen. In der hölzernen kleinen Friedhofskapelle, wo der Sarg unter unendlich vielen Frühlingsblumen aufgebahrt war, sprach der evangelische Pfarrer (Rackwitz) über das Pauluswort: ,Wir sind mit Christus verborgen in Gott', wobei er Loerkes Leben auf den tiefsten Grund als Gotteskind auszulegen bemüht war. Loerke hatte in seiner letzten Stunde gesagt: ,Ich habe keinen Willen mehr.' Als die Männer den Sarg unter Orgelspiel hinaustrugen, drang mit der Fülle des Lichts ein Strom von Heiterkeit herein. Freiheit! Und wir gingen hinter dem Sarg her wie Hochzeitsgäste, nicht wie Trauernde." 307

Als dritte Besonderheit mag das Buddhistische Haus erwähnt werden. Über seine Entstehung und Bedeutung wird im Frohnau-Buch berichtet.18 Sein Gründer, der Arzt Dr. Paul Dahlke, führte in seiner Zeitschrift „Neu-Buddhistisches Leben" die geistige Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen der zwanziger Jahre, so mit Freud, Blüher, Keyserling. Er wollte seine Gründung als Ort der Zuflucht verstanden wissen. In dieser Absicht entwarf er eine Hausordnung für alle dort Lebenden. In ihr heißt es unter anderem: „Es darf kein lebendes Wesen des Lebens beraubt werden. Mit diesem Hause wollen wir uns alle eine gesicherte Stätte der äußeren wie der inneren Reinlichkeit schaffen. Es soll keine bewußte Unwahrheit gesprochen werden. Dinge, die dem Luxus dienen, sind verboten. Die Insassen müssen sich der Wachsamkeit befleißigen, sich täglich allein oder in Gemeinschaft eine gewisse Zeit mit der Lehre beschäftigen." Zum Ortsbild von Frohnau gehören seit etwa 20 Jahren die Behinderten des Fürst-Donnersmarc k-Hauses. Die um 1965 dort aufgenommenen Kinder sind inzwischen Erwachsene geworden. Vom Betreben ihres Namenspatrons wissen sie nicht viel. Nach anfänglichen Zögern sind die Behinderten und die Frohnauer aufeinander zugegangen. Dazu gehören auch die vielen Alten in den Seniorenheimen. So ist mit dem Gründernamen noch immer das Streben nach praktischer Menschlichkeit verbunden.

Anmerkungen 1 B. und R. Hildebrandt, Christiane Knop, Gartenstadt Frohnau. Bürger erforschen ihren Ortsteil von der Gründung bis heute, Haude & Spener, Berlin 1985. Max Mechow, Frohnau. Die Berliner Gartenstadt, 2. Aufl., 1985. Der Nord-Berliner, Nr. 19, vom 9. Mai 1985. 2 Hildebrand/Knop, a. a. O., S. 15. 3 Über Lesser: Hildebrandt/Knop, a.a. O., S. 82 f. 4 Aus dem Schulaufsatz der Hildegard Weydemann, Tochter des Sanitätsrats Dr. Weydemann, dessen Familie mit der des Fürsten Donnersmarck freundschaftlichen Umgang pflegte. Der Fürst hatte 1910 die Arztstelle für die „demnächst zu erwartende Kolonie" ausgeschrieben und dem Bewerber eines der Musterhäuser der BTC so lange zur Verfügung gestellt, bis dessen eigenes Haus im Fischgrund fertig war. 5 Hildebrandt/Knop, a. a. O., S. 195 ff. („Rund um den Alten Gutshof). 6 Dies., a. a. O., S. 116 ff. („Soziale Einrichtungen") und S. 17 (1. Ansiedlerverzeichnis). 7 Dies., a. a. O., S. 71 ff. („Häuser in Frohnau"). 8 Dies., a. a. O., S. 179 ff. („Verkehr und Verbindungen"). 9 Dies., a. a. O., S. 95 ff. („Frohnauer Geschäftsleben") und S. 139 ff. („Schulen in Frohnau"). 10 Dies., a.a. O..S. 11-69. 11 Des., a.a.O., S. 118 ff. 12 Christiane Knop in „Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins", 79. Jg., Heft 2. 13 Dies., „Der Bär von Berlin. Jahrbuch 1984 des Vereins für die Geschichte Berlins". 14 „Erzählungen", Fischer Verlag. 15 Oskar Loerke, Tagebücher 1902-1939, hrsg. von Hermann Kasack, Heidelberg 1956, S. 177. 16 Tagebücher, a. a. O., S. 193. 17 Langgässer in: „Berlin", Prestel, München 1955, S. 380 18 Hildebrandt/Knop, a.a.O., S. 111 ff. In der Zeitschrift „Neu-Buddhistisches Leben" schildert Dr. Dahlke. daß er die buddhistische Lehre an sich nicht wie eine Erweckung erlebt hat, sondern als ein langsames Reifen, seit er 1898 zuerst die Südseeinseln und Indien erlebte. Dieser Prozeß war 1914 abgeschlossen. 1917 gründete er die erwähnte Zeitschrift, mußte aber wegen der Inflation 1923 ihr Erscheinen einstellen. Danach hat er erkannt, daß eine „örtliche Sammlung" nötiger sei als literarische Tätigkeit. Das Gelände wurde ihm 1923 durch die Direktoren Georg Bessler und Max Meyer von der BTC vermittelt und unter finanzieller Mithilfe der Gräfin Lavinia Monts und indischer Spenden gegründet. Er hat damit, wie er sagt, keine Klostergründung beabsichtigt, sondern einen Ort der 308

Nachdenklichkeit „in der Unrast der Zeit". - In dieser Zeitschrift rezensierte er den „Traktat über die Heilkunst" von Hans Blüher (1925) und schrieb selbst „Indische Reisebilder", schöne Erzählprosa. 19 Dr. Dahlke in „Neu-Buddhistische Zeitschrift", Verlag Dr. Dahlke, Berlin-Frohnau 1925. Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28

Die Offizierswohnhäuser zeigen den holländischen Charakter der Invalidensiedlung recht deutlich.

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Die Ravenes Von Konrad Beck Eigentlich müßte die Ravenestraße am Wedding nahe dem Nettelbeckplatz „Straße der Ravenes" heißen, denn jedes Mitglied dieser knapp seit dreihundert Jahren in Berlin ansässigen Hugenottenfamilie hatte sich an der Spree einen bekannten Namen gemacht. Die Spuren der Ravenes sind aus der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden, von der Stahlfirma mit Sitz in Tempelhof abgesehen. Bis auf das Mausoleum von Peter Louis Ravene (1792-1861) auf dem Französischen Friedhof an der Chausseestraße (heute Ost-Berlin) und das ehemalige Schloß Marquart am Schlänitzsee erinnert an Gebäuden nichts mehr an diese geschäftstüchtige und über Berlin hinaus bekannte Familie. Dabei ist die Geschichte der Ravenes in Ost-Berlin wieder aufgetaucht in Form einer Grundsteinkassette. Das Schatzkästlein kam am 23. August 1982 zutage, bei Aushubarbeiten an der Wallstraße in der Nähe des Spittelmarktes. Dort hatte von 1894 bis 1945 das Kaufhaus Ravene gestanden. Inhalt der Kupferkassette: Bilder der Familienmitglieder, Ansichten von Häusern, Münzen, Rechnungen, Geschäftsbücher, Kataloge, Preislisten und eine Lohnbescheinigung. Der Fund ist heute Inventar des Märkischen Museums. Wer waren die Ravenes? Die Familie stammte aus Metz, von dort warder Strumpfweber David Ravene nach der Aufhebung des Schutzedikts von Nantes am 8. Oktober 1685 aus Frankreich nach Preußen geflohen. Sein Sohn Jacob (1751-1828) erlernte in der Stralauer Straße nahe dem Molkenmarkt in der Eisenhandlung von Samuel Gottlieb Butzer das Kaufmannsgewerbe. Nach dem Tode seines Chefs führte Jacob Ravene die Geschäfte weiter, verlobte sich mit Butzers Tochter Dorothee, kaufte seiner künftigen Schwiegermutter den Laden ab und gab der Firma seinen Namen: Jacob Ravene. Das war am 27. November 1775, dem Tag, an dem der Hugenotte Bürger von Berlin und Mitglied der Französischen Kolonie geworden war. Das Geschäft lief gut. Waren aus Eisen und Stahl, Nägel, Werkzeuge, Nähnadeln und vieles andere wurden schwungvoll gehandelt. Dabei blieben Humor und das Gespür für Besonderes nicht aus. Als der alte Ravene von einem Bauern gefragt wurde, ob er Mistgabeln im Etui habe, ließ der pfiffige Kaufmann für seinen Kunden ein Futteral aus lila Samt anfertigen. 1824 übergab Jacob Ravene die Firma an seine Söhne Peter Carl (1777-1841), Peter Louis (1793-1861) und an den Schwiegersohn Carl Meister aus Stettin. Peter Carl, der Ältere der beiden, schied jedoch ein Jahr später wegen Zwistigkeiten aus und zog nach Potsdam. So trat Peter Louis Ravene in den Vordergrund. Der gelernte Goldschmied, der seiner korpulenten Meisterin jeden Morgen das Korsett schnüren mußte, wurde zunächst einmal Soldat, später Disponent in Stettin, schließlich Schwiegersohn seines Chefs. Der Handel in der Stralauer Straße blühte so, daß neue Räume in der Wallstraße 93 bezogen werden mußten. Neben Stahl und Eisen (so lieferte Ravene die ersten Schienen für die Potsdamer und die Anhalter Eisenbahn) ging es auch um Nürnberger Lebkuchen, Moselwein und englischen Tee. Mit einem handelte der Eisenkönig von Berlin nicht: mit wertvollen Gemälden; die sammelte er selbst. Ausstellungsort waren seine Geschäftsräume. Speziell Düsseldorfer und Berliner Künstler aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden in Peter Louis Ravene einen Gönner und Abnehmer ihrer Exponate. Die Sammlung bestand bis 1945. Sie war 1898 mit in das neue Kaufhaus am Spittelmarkt umgezogen. Im Gegensatz zu anderen privaten Galerien (wie die des Zeitungsverlegers Rudolf Mosse) wurde die Galerie Ravene nicht nur im „Grieben" oder „Baedeker" erwähnt, sie ist auch Mittelpunkt des Romans „L'Adultera" („Die Ehebrecherin") 310

Mausoleum von Peter Louis Ravene auf dem Französischen Friedhof, Chausseestraße, heute Ost-Berlin.

Baustelle Wallstraße 5-8, Ost-Berlin. Hier stand das Kaufhaus Ravene, hier wurde die Grundsteinkassette geborgen. Fotos: K. Beck 311

von Theodor Fontane. Die Leidenschaft des Sammeins von Kunst hatte Louis Friedrich Jacob Ravene (1823-1879) beibehalten. Seinem Vater August ließ er von August Stüler - gegossen im Eisenhüttenwerk Lauchhammer - ein würdiges Grabmal auf dem Französischen Friedhof an der Chausseestraße errichten. Im Gegensatz zum Friedhof an der Liesenstraße, wo Fontane und andere Mitglieder der Familie Ravene liegen, abgeschnitten im Grenzgebiet, ist das Mausoleum jederzeit zugänglich. Nach diesem Enkel des alten Jacob Ravene ist übrigens 1879 die Straße am Wedding benannt worden, weil sich dort einmal ein Lagerplatz der Firma befunden hatte. Die Raveneschule in Tiergarten ist ebenfalls auf den Kunstliebhaber zurückzuführen. In der Werftstraße hatte Kommerzienrat und k. u. k. Botschafter L. F. J. Ravene eine Villa samt Park und Gartenhaus stehen. Das Areal mußte in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts neuen Straßen weichen. Das Haus in der Wallstraße 5-8 brachte der Hugenottenfamilie in der Hitler-Zeit erheblichen Ärger ein. Ausgerechnet den „Volksgerichtshof wollte der „Führer" in diesem repräsentativen Haus unterbringen. Bereits 1933 hatten die Nazis die Herausgabe von Menzels Ölgemälde „Friedrich der Große auf Reisen" vorbereitet. Zunächst kam das Exponat unter „Nationalschutz" , ein Verkauf ins Ausland war damit verboten. Später sollte es „Geschenk an den Führer werden", schließlich mußte Louis Ravene das Bild für einen Spottpreis abgeben. Das Gemälde hing in Hitlers Führerresidenz in München, wurde im Krieg schwer beschädigt und befindet sich heute im Besitz der Stadt München. Louis Ravene und sein Sohn kamen in den Berliner Bombennächten des Zweiten Weltkriegs ums Leben. Mit ihnen verschwanden auch das Haus und die Gemäldesammlung. Anschrift des Verfassers: Konrad Beck, Müllerstraße 138 c, 1000 Berlin 65

Das Einsturzunglück des S-Bahntunnels zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor vor 50 Jahren Von Werner Schaumann Mit dem Bau des Bahntunnels vom Anhalter Bahnhof über Potsdamer Platz, Friedrichstraße, Stettiner Bahnhof bis S-Bahnhof Humboldthain sollte die Verbindung zwischen dem Berliner Süden und dem Norden hergestellt werden, um die Erholungsgebiete der Stadt für die Bevölkerung besser mit einem billigen und schnellen Verkehrsmittel zu erschließen. Das Bauprojekt wurde 1933 bekanntgegeben. Zahlreiche Firmen bewarben sich bei der Deutschen Reichsbahn. Die Berlinische BaugesesUschaft erhielt den Zuschlag. Die älteren Berliner werden sich noch an das Einsturzunglück während der Bauzeit des ca. 15 m tiefen Tunnels am 20. August 1935 entsinnen, bei dem 19 Arbeiter ums Leben kamen. Das Unglück hatte damals die Gemüter der Berliner stark erregt. Es geschah gegen Mittag im Streckenabschnitt zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor entlang der damaligen Hermann-Göring-Straße, heute Stresemannstraße. In einer Länge von ca. 70 m brach die nach der Tiergartenseite gelegene Schachtwand mit Donnergetöse zusammen und verschüttete in Sekundenschnelle den gesamten Schacht. Riesige Staubwolken bildeten sich unmittelbar über der Einsturzstelle. Ein gähnender Abgrund mit einem undurchdringlichen Gewirr von eisernen Trägern, verbogenen 312

Feldbahngleisen, geborstenen Betonpfeilern und zerbrochenen Stützbalken lag unter dem sich langsam senkenden Staub. Schnell wurden Einheiten der Feuerwehr, des Heeres, des Arbeitsdienstes, der Technischen Nothilfe und des DRK herbeibeordert, sogar eine Kompanie des 6. Pionierregiments Küstrin wurde nach Berlin in Marsch gesetzt. Die Polizei hatte das Katastrophengebiet hermetisch abgesperrt. Das ständige Nachrutschen von Erd- und Sandmassen und in der Tiefe unter Stromspannung stehende Kabel erschwerten die lebensgefährlichen Rettungsarbeiten. Um den Schacht nicht „absaufen" zu lassen, mußte die Feuerwehr Grundwasser absenken. Da die Bergungs- und Aufräumungsarbeiten nur schrittweise vor sich gingen und Eile geboten war, zog man noch zwei Bergarbeiterkolonnen aus Essen und Hannover hinzu. Insgesamt arbeiteten 2500 Männer in drei Schichten Tag und Nacht an der Bergung der Verunglückten. Erst nachdem ein 7 m breiter und 25 m langer Hilfsstollen vorgetrieben war, konnten am 31. August 1935 die Arbeiten endgültig beendet werden. In dem vor der 11. Großen Strafkammer des Schwurgerichts in Moabit eingeleiteten Verfahren zur Klärung der Einsturzursache sagte später der mitangeklagte Bauleiter: „Ich ging über den Bohlenbelag längs der Straßenbahngleise auf der Westseite des Tunnels ... Da hörte ich plötzlich ein Pfeifen, als wenn ein Gegenstand durch die Luft schlägt und spürte eine Erschütterung im Bohlenbelag. Ich lief ein paar Schritte nach Süden und drehte mich dann um. Da sah ich, wie der erste Baum in die Baugrube hineinstürzte. In dem Moment beobachtete ich, wie sich in der Mitte der Baugrube auf der Westseite ein großer Trichter bildete. Sogleich erhob sich die erste große Staubwolke. Als sie verzogen war, konnte man auf der Ostseite noch keine Bewegung der Erdmassen sehen. Dann aber ging es Schlag auf Schlag hintereinander, bis die Baugrube völlig zusammengestürzt war." Ein Oberleutnant vom Wachregiment sagte aus, daß er sich am Unglückstag auf der vorderen Plattform der in Richtung Potsdamer Platz fahrenden Straßenbahn befand und von dort aus gesehen habe, wie im Augenblick der Katastrophe die unteren Sandmassen nach der Tiergartenseite in den Schacht wegrutschten und dann die darüberliegenden Erdmassen nachgaben. Diese Aussage wurde durch weitere Zeugen bestätigt. Der Geheime Oberbaurat und Reichsbahndirektor Schaper, der die Aufräumungsarbeiten leitete, hatte geäußert, daß offenbar zu tief ausgeschachtet worden sei und daß handwerkliche Mängel als Mitursache der Katastrophe in Frage kämen. Die Bergungsarbeiten lieferten den Beweis, daß mehrere der Opfer auf der endgültigen Tunnelsohle lagen, während nach den gegebenen Anordnungen über der endgültigen Tunnelsohle noch ein Bankett von l'/2 bis 2 m hätte stehenbleiben sollen, damit die Rammträgerfüße gesichert wären. Der Landmesser mußte die Tiefenlage nachprüfen. Das Ergebnis bestätigte vollauf die Annahme, daß tatsächlich unzulässig tief ausgeschachtet worden war. Nach mehr als 50 Verhandlungstagen schloß das Landgericht das Verfahren ab. Drei Bauräte der Reichsbahn und zwei Bauführer wurden im Mai 1936 zu Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren verurteilt. Anschrift des Verfassers: Werner Schaumann, Sundgauer Straße 9, 1000 Berlin 37

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Aus dem Mitgliederkreis Mitgliederversammlung Zur ordentlichen Mitgliederversammlung am 4. Juni 1985 im Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg hatten sich 37 Mitglieder eingefunden, um den Tätigkeitsbericht und die Berichte der Prüfer entgegenzunehmen. Beanstandungen seitens der Prüfer gab es nicht. Die Bibliothek ist um 205 Bücher reicher geworden, so daß sich der Bestand an Bänden auf 13 830 erhöht hat. Die Bibliothek erfreute sich eines regen Zuspruchs. Es wurde angeregt, acht Regale zu beschaffen, um die Zugänge an Büchern ordnungsgemäß einstellen zu können. Herr Kretschmer beantragte die Entlastung des Vorstandes, die mit überwiegender Mehrheit erfolgte. Der als Kandidat für den 1. Vorsitz vorgeschlagene Herr Kollat legte seine Ansichten über die Führung des Vereins dar, schlug aber vor, die Neuwahl des Vorstandes zurückzustellen, um allen Beteiligten die Möglichkeit zu geben, die Wahl noch einmal zu überdenken. Die Neuwahl des Vorstandes wurde daher auf den 12. November 1985 festgelegt. Bis dahin bleibt der bisherige Vorstand im Amt. Beanstandet wurden das Fehlen des Voranschlags für 1985 und Umfang und Erscheinungstermin der „Mitteilungen". Gründahl * Unserem Mitglied Axel Springer ist die Goldmedaille als höchste Auszeichnung des B'nai B'rith, der ältesten jüdischen Weltorganisation, verliehen worden. Damit will der B'nai B'rith dem Verleger A. Springer Dank und Anerkennung für sein Engagement für das jüdische Volk aussprechen. SchB. * Unser Mitglied Alexander Langenheld wurde zum neuen Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg gewählt. Auch von dieser Stelle seien ihm zu diesem einstimmigen Vertrauensbeweis herzliche Glückwünsche übermittelt. SchB.

Nachrichten Die Friedrichstraße wird wiederbelebt Bis zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 sollen wesentliche Teile der rund 2 km langen Friedrichstraße zwischen Leipziger Straße und Oranienburger Straße wiederbelebt werden. Die Arbeiten konzentrieren sich auf den südlichen Abschnitt der Friedrichstraße zwischen den Linden und der Leipziger Straße sowie nördlich im Gebiet der Weidendammer Brücke um den Friedrichstadtpalast unter Einschluß des Bahnhofs Friedrichstraße. Insgesamt ist daran gedacht, etwa 2500 Wohnungen mit Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen neu zu bauen oder zu modernisieren. Rund 170 Geschäfte sowie 35 Restaurants, Bierstuben und Cafes sollen das Angebot ergänzen. Der Bahnhof Friedrichstraße erhält ein neues Empfangsgebäude, gegenüber dem Internationalen Handelszentrum sollen ein Uraufführungskino und ein Etablissement in der Art des einstigen „Wintergartens" entstehen. SchB.

Zunftzeichen in Ost-Berlin Im Zusammenhang mit dem Schmuck von Häusern, in denen bedeutende Persönlichkeiten gewohnt haben, durch Tafeln aus einer Stiftung der Sparkasse der Stadt Berlin West zur 750-Jahr-Feier unseres Gemeinwesens verdient es Interesse, daß im Laufe des Jahres 1985 auch in Ost-Berlin 250 neue Zunftzeichen und Schilder an Handwerksbetrieben und Geschäften vornehmlich des Einzelhandels angebracht werden. Hersteller dieses historischen Straßenschmucks ist das Kombinat Zentraler Industrieanlagenbau der Metallurgie ZIM. Im Mai 1985 wurden die ersten derartigen Schilder in der Klement-Gottwald-Allee in Weißensee angebracht. Ein Weinfaß symbolisiert beispielsweise Restaurants, eine Kaffeetasse führt zu einem Cafe, Kuchen steht für Bäckereien und Nadel und Zwirn für Kurzwaren. SchB. 314

28 000 Bände zur Geschichte Berlins in der Berliner Stadtbibliothek Die Berlin-Bibliothek, eine Fachabteilung der Berliner Stadtbibliothek in Ost-Berlin, verfügt über einen Fundus von rund 28 000 Bänden über die Geschichte und Entwicklung aller Lebensbereiche Berlins. Die Bestände dieser stadtgeschichtlichen Sammlung reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Da es sich um eine Präsenzbibliothek handelt, steht auch ein Disesaal mit zwölf Plätzen zur Verfügung. SchB.

Berliner Bär im Wappen des neuen Fuldaer Oberhirten Der bisherige Apostolische Pro-Nuntius in Liberia und Gambia und Apostolische Delegat für Guinea und Sierra Leone, Erzbischof Dr. Johannes Dyba, ist am 4. September 1983 als neuer Oberhirte der Diözese Fulda inthronisiert worden. Sein von ihm selbst gewähltes Wappen mit dem Wahlspruch „Filii dei sumus (Kinder Gottes sind wir)" zeigt einen schwarzen Bären (rot bewehrt, d. h. rote Zunge und Krallen) auf goldenem Grund (Berlin), schräg gegenüber drei goldene Kronen auf rotem Grund (Köln), auf den beiden restlichen Feldern das Fuldaer Stiftskreuz. Erzbischof Dr. J. Dyba gab dazu die folgende Erklärung: „Der Bär im Wappen weist auf Berlin als meine irdische Heimat hin, die drei Kronen weisen auf Köln, meine geistliche Heimat." SchB.

Ältestes Fachwerkhaus in Potsdam wird wiederhergestellt Das älteste Fachwerkhaus Potsdams „Zum güldenen Arm" wird gegenwärtig wiederhergestellt. Es entstand 1738 und war das Wohnhaus des Bildhauers Erhard August Melchior. Es gehört zu einer Gruppe von insgesamt 12 Objekten, die erhalten werden. Bis Jahresende sollen darin rund 60 Wohnungen eingerichtet werden. Das im Zentrum der Stadt gelegene Gebäude stammt aus der zweiten Stadterweiterung (1733-1742). Im Gegensatz zu den Nachbarhäusern mußte es keinem Neubau weichen und ist somit einziger Zeuge barocker Fachwerkbaukunst in Potsdam. Einzigartig für ein solches Bürgerhaus ist auch das reich geschnitzte Eichenholzportal, das ebenfalls erneuert werden muß. SchB.

Dokumentation über alte Schwengelpumpen in Ost-Berlin Die Interessengemeinschaft „Technische Denkmale", eine Gruppe von Amateurstadthistorikern des Kulturbundes der DDR, hat eine Dokumentation über die noch erhaltenen alten Schwengelpumpen in der Stadt vorgelegt. Dies hat dazu geführt, daß in Kürze derartige alte Pumpen nach neuangefertigten Modellen wieder gegossen und funktionsfähig im historischen Stadtzentrum aufgestellt werden sollen. Eine in der Binzstraße abgebaute alte Pumpe war die Grundlage für den Nachbau. SchB.

Preisträger des Deutschen Preises für Denkmalschutz 1984 Im Simeonstift zu Trier wurden 13 Persönlichkeiten oder Gruppen ausgezeichnet, die sich um die Erhaltung des baulichen Erbes bemüht oder auf seine Gefährdung aufmerksam gemacht haben. Mit dem Karl-Friedrich-Schinkel-Ring wurde unter anderem ausgezeichnet: WolfJobst Siedler, Berlin. Wolf Jobst Siedler hat durch seine publizistische Tätigkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten entscheidend zur Durchsetzung des städtebaulichen Denkmalschutzes in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen. Er hat sich dabei engagiert und wirkungsvoll gegen jene städtebaulichen Fehlentwicklungen der Nachkriegszeit gewandt, die zu weiteren umfangreichen Zerstörungen historischer Stadtgefüge führten. Ein Reisestipendium erhielt: Dr. Richard Schneider, Sender Freies Berlin. Dr. Richard Schneider, Redakteur bei der Abendschau des SFB, hat im Jahre 1983 sechs Spaziergänge durch Berliner Stadtteile zum Thema von kurzen Filmbeiträgen gemacht. Ausgehend von einem U- oder S-Bahnhof, führt er den Zuschauer jeweils auf einem Rundweg zu beachtenswerten Bauwerken, auf deren wesentliche Eigenarten er knapp und sachlich hinweist. Er schärft so den Blick für Sehenswertes, das - meist allzu gewohnt - oft übersehen wird. Er weckt beim Zuschauer die Lust, diese Spaziergänge nachzuvollziehen und auch selbständig auf Entdeckungen auszugehen. So fördert er die wichtigste Voraussetzung für eine wirksame Denkmalpflege: die bewußte Zuwendung der Bürger zu den historischen Bauwerken ihrer Stadt. Die Resonanz auf die „Spazierwege", die auch in gedruckter Form vorliegen, ist beträchtlich.

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Mit besonderer Freude werden es die Teilnehmer an der Studienfahrt 1983 nach Göttingen vermerken, daß mit der silbernen Halbkugel ausgezeichnet wurde: Dr. theol. Friedrich Eilermeier, 2. Burgmannshof, Hardegsen. Mit außergewöhnlichem und finanziellem Engagement ist es Dr. Ellermeier in jahrelanger Arbeit gelungen, den von der Gemeinde Hardegsen zum Abbruch bestimmten und auch von der Denkmalpflege schon aufgegebenen 2. Burgmannshof zu neuem Leben zu erwecken. Durch unermüdliche Forschung konnte der Bau erstmals auch zeitlich richtig eingeordnet und damit in seiner ganzen überregionalen Bedeutung gewürdigt werden. In vorbildlicher Weise wurde jeder Schritt der Wiedergewinnung eines Baudenkmals dokumentiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. SchB.

Programm der Studienfahrt ins Ravensberger Land Freitag, 13. September 1985 6.00 Uhr: Abfahrt Hardenbergstraße (Berliner Bank) 12.30 Uhr: Eintreffen in Herford, gemeinsames Mittagessen (Westfälisches Pfefferpotthast) auf Einladung der Brauerei Felsenkeller Gebr. Uekermann 13.30 Uhr: Besuch der Brauerei Felsenkeller Gebr. Uekermann 19.00 Uhr: Zwangloses Beisammensein mit Abendessen im Hotel-Restaurant Waldesrand Sonnabend, 14. September 1985 9.00 Uhr: Rundgang durch Herford, die ehemalige Sancta Hervordia, Führung Otto Lewe und Obervermessungsrat i. R. Günther Schlegtendal 12.00 Uhr: Mittagessen im Elisabeth-Cafe des Stadtgartens Schützenhof Herford (Schweineschnitzel, Salzkartoffeln, gemischter Salat, 11 DM) 13.30 Uhr Fortsetzung des Stadtrundgangs in Herford 15.30 Uhr Besichtigung des Widukind-Museums in Enger, Führung Museumsleiter Gerd Kaldewei 16.30 Uhr Kaffeetafel im Schützenheim in Enger-Mitte 17.30 Uhr Besichtigung der Stiftskirche Enger (12. Jahrhundert, mit dem Sarkophag Widukinds), Führung Küster Rolf Hoffmann 18.30 Uhr: Besuch des Wasserschlosses Oberbehme in Kirchlengem, Führung Frau Elisabeth von Laer, geb. von Kleist 19.30 Uhr: Abendessen „Brünger in der Wörde" in Enger (westfälische Spezialitäten ä la carte, z. B. Westfälischer Lappen-Pickert mit Apfelmus und Butter, 7,50 DM, oder Westfälisches Blind-Huhn mit geräucherter Mettwurst, 9,50 DM) Sonntag, 15. September 1985 8.30 Uhr: Abfahrt 9.00 Uhr: Besichtigung des Sattelmeierhofs Nordmeyer in Enger-Mitte 10.30 Uhr: Besuch der Sparrenburg Bielefeld, Führung Stadtarchivdirektor Dr. Vogelsang 12.00 Uhr: Mittagessen im Restaurant Sparrenburg (gemischte Bratenplatte mit feinen Erbsen und Möhren, dazu Salzkartoffeln, 15,50 DM) 13.30 Uhr: Heimfahrt ca. 20.00 Uhr: Ankunft in Berlin Alle Mitglieder sind mit Begleitern herzlich zur Exkursion eingeladen. Meldeschluß ist der 8. August 1985, die Meldungen sind zurichtenan den Schriftführer Dr. Hans G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, der unter der Telefonnummer 45 09-291 (tagsüber) auch gern Auskünfte erteilt. Für die Übernachtung stehen im Hotel Stadt Berlin in Herford, Bahnhofsplatz 6, Zimmer zur Verfügung; diese kosten je nach Ausstattung pro Nacht einschließlich Frühstück zwischen 49,50 und 72,00 DM (Einzelzimmer) bzw. 103,50 und 117,00 DM (Doppelzimmer). Der Teilnehmerbeitrag beläuft sich pro Person auf 77,00 DM. Er schließt die Omnibusfahrt, alle Führungen und Eintrittsgelder ein. Allen Teilnehmern werden spätestens in der ersten Septemberwoche brieflich die noch fehlenden Einzelheiten mitgeteilt und etwa noch nötige Informationen vermittelt. In der zweiten Augusthälfte weilt der Schriftführer im Urlaub. SchB.

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Bitte an unsere Mitglieder Der Verein für die Geschichte Berlins plant anläßlich der 750-Jahr-Feier unserer Stadt eine Ausstellung über die Vereinsgeschichte. Da Ausstellungen wesentlich vom Anschauungsmaterial leben, bitten der Vorstand und der Ausschuß zur 750-Jahr-Feier diejenigen Mitglieder, die Fotos, Landkarten, Medaillen, Programme auch von Fahrten in die Mark Brandenburg, Briefe oder sonstiges aus der Vergangenheit unseres Vereinslebens besitzen sollten, diese doch freundlicherweise als Leihgaben zur Verfügung zu stellen. Zur telefonischen Kontaktaufnahme in dieser Angelegenheit stehen die Geschäftsstelle, Frau Lieselott Gründahl, Telefon 3 23 28 35, der Vorsitzende, Herr Dr. Gerhard Kutzsch, Telefon 3625808, der Ausschußleiter, Herr Dr. Jürgen Wetzel, Telefon 60183 37, und der Veranstaltungsleiter, Herr Günter Wollschlaeger, Telefon 8 5127 39, zur Verfügung. Der Ausschuß und der Vorstand würden sich über ein lebhaftes Echo aus dem Mitgliederkreis sehr freuen.

Buchbesprechungen Mappe „Das alte Berlin". 12 Handsiebdrucke, ein- bzw. zweifarbig, Querformat, Ladenpreis 38 DM. Göpfert-Handpresse, Skalitzer Straße 101, 1000 Berlin 36, Telefon (030) 6182298. Es ist auf diese Ausgabe von Handsiebdrucken mit Altberliner Motiven hinzuweisen, die inzwischen auch in einer kartonierten Mappe zum selben Preis erschienen ist. Dieselbe Offizin gibt auch einen „BerlinCalender 1984" mit 12 ein- bzw. zweifarbigen Siebdrucken im Format 58 X 67 cm im Handsiebdruck heraus. Der Preis beläuft sich auf 49 DM, mit 12 signierten Drucken auf 90 DM. Ausgewählte Sujets vereinen sich auf diesen großformatigen Grafiken mit der Eigenart des Siebdrucks, für dessen Druckqualität die Handpresse Göpfert bürgt. SchB. Christoph Rueger: Soli Deo Gloria/Johann Sebastian Bach. Erika Klopp Verlag Berlin 1985, 285 S., 90 Abb., Leinen, 29,80 DM. Christoph Rueger, o. Professor für Musiktheorie und Tonsatz an der hiesigen Hochschule der Künste, in Sachsen geborener Pfarrerssohn, war Mitglied des weltberühmten Leipziger Thomanerchors unter Ramin, Tietze und Thomas, später schrieb er an der Leipziger Universität seine Dissertation über Alexandr Skrjabin. Sein kluges, ungemein kurzweilig geschriebenes Bachbuch liest sich für den Fachmann so interessant wie für den musikalischen Laien verständlich und informativ. Christoph Rueger, der selbst komponiert, weiß, wovon er spricht, weiß in den 16 Kapiteln die Fakten so gut zu gestalten, daß nie professorale Besserwisserei anklingt, obwohl er erstaunlich viel historischen Kontext einbringt, so daß sich sein Buch wie eine ungemein unterhaltsame Zeitgeschichte liest, freilich mit dem Komponisten Johann Sebastian Bach als Mittelpunkt. Jedem Barockmusikfreund, der mehr über das Leben und die Kunst Johann Sebastian Bachs aus einem geistes- und kulturgeschichtlichen Zuammenhang erfahren möchte, ist dieses Buch zu empfehlen. K. H. Wahren Die Entdeckung Berlins. Vierzehn Cartoonisten sehen die Stadt. Edition Jule Hammer. 112 Seiten, Format 22,3 X 24 cm. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin 1984. 19,80 DM. In diesem Buch sind 80 Cartoons von F. W. Bernstein, Gerhard Brinkmann, Robert Gernhardt, Walter Hanel, Hans Hillmann, Manfred Limmroth, Marie Marcks, Luis Murschetz, Chlodwig Poth, HansGeorg Rauch, Jules Stauber, Ivan Steiger, Bohumil Stepän f und Friedrich Karl Waechter versammelt. Die Porträts der Künstler und der Lebensläufe (mit den üblichen kleinen Unrichtigkeiten - 1930 gab es noch keine CSSR!) sind im Anhang abgedruckt. Das Vorwort steuerte Hans Christoph Knebusch bei, der sich gegen den Vorwurf wehrt, diese Karikaturisten seien nicht in der Lage gewesen, bei ihrem einwöchigen Berliner Aufenthalt die Charakteristika dieser Stadt zu erfassen und darzustellen. Es sind sämtlich 317

westdeutsche Karikaturisten, die der Aufforderung oder Einladung folgten, in und über Berlin Arbeiten zu schaffen. So unterschiedlich Zeichenstift und Sicht der Künstler sind, so verschiedenartig ist auch das Bild, das sie im wahrsten Sinne des Wortes von Berlin zeichnen. Ein guter Querschnitt ist es allemal. SchB.

Gustaf Gründgens (1899-1963); Gedichte und Prosa. Hrsg. von Franz-Josef Weber. Vergessene Autoren der Moderne V, hrsg. von Franz-Josef Weber und Karl Riha. Universität-Gesamthochschule Siegen, Siegen, 1984, DIN A5, maschinenschriftlich, 39 Seiten. Karl Riha ist bekannt für seine Ausgrabungen, zu denen jetzt auch Gustaf Gründgens gehört, selbst wenn man ihn nur mit Vorbehalt zu den vergessenen Autoren zählen kann, weil man ihn nämlich als Autor gar nicht kennt, Das Heft ist gerade zum 85. Geburtstag des bedeutenden Theatermannes erschienen, der fast zwei Jahrzehnte (1928 bis 1947) und damit die Hälfte seiner Zeit als Schauspieler, Regisseur und Intendant in Berlin zubrachte. Die meisten der hier wiedergegebenen Gedichte und kurzen Prosatexte sind in der von Hans Reimann herausgegebenen Zeitschrift „Stachelschwein" erschienen. Daß damit zum ersten Mal die literarischen Texte Gustaf Gründgens' gesammelt vorliegen, wie Franz-Josef Weber in seinem Nachwort schreibt, erstaunt, weil man von ihm eigentlich mehr literarische Äußerungen erwartet hätte. SchB. Deutscher Bund für Vogelschutz. In der Reihe „Brennpunkte des Naturschutzes", gefördert durch die Stiftung Naturschutz Berlin, legt der Deutsche Bund für Vogelschutz, Landesverband Berlin e.V. (anerkannter Verband nach § 29 Bundesnaturschutzgesetz) seine vier ersten Hefte des Formats DIN A5 mit 18 bis 47 Seiten Umfang vor. Die ersten beiden Schriften berichten aus der Arbeit der ornithologischen Feldbeobachter: „Die Brutvögel der Müllund Schuttdeponie am Hahneberg in Spandau" (Dr. Dieter Westphal) und „Bestandsentwicklung der Mehlschwalbe (Delichon urbica) in Berlin (West) 1969 bis 1979" (Dr. Klaus Witt und Dr. Michael Lenz). Das dritte Heft berichtet von der Arbeit der BLN (Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz e.V.): „Die Tierwelt des Freizeitparkes in Berlin-Marienfelde (ab 1980)". Vor 1980 bestand hier eine Mülldeponie der Berliner Stadtreinigung. Unter dem Titel „Die Vogelwelt der Pfaueninsel" wird schließlich von Hinrich Elvers ein vogelkundlicher Führer vorgelegt. Der Einzelpreis der Hefte beträgt 1,20 DM mit Staffelpreisen (vier Hefte 3,00 DM). Zu beziehen sind diese Schriften gegen Voreinsendung von Briefmarken beim Deutschen Bund für Vogelschutz, Landesverband Berlin e.V., Geschäftsstelle, Werner Wunderling, Bosestraße 30 a, Telefon 7 52 30 79, D-1000 Berlin 42. SchB.

Wolfgang Menge: So lebten sie alle Tage. Bericht aus dem alten Preußen. Dokumentation und Mitarbeit Emanuela Wüm. 255 Seiten, ca. 50 Abb., geb., Quadriga Verlag J. Severin, Berlin, 1984, 29,80 DM. Im Frühjahr 1984 lief im Fernsehen die vom WDR ausgestrahlte Serie „So lebten sie alle Tage" mit dem Untertitel „Geschichten und Berichte aus dem alten Preußen", deren fünf Folgen unter der Regie von Ulrich Schamoni mit interessanten Themen und guten Schauspielern aufwarten konnten, u.a. Horst Bollmann, Stefan Wigger und Hans Clarin. Das Buch des auch für das Drehbuch verantwortlichen Wolfgang Menge, im Waschzettel als „bekannter Film- und Fernsehjournalist..., mit allen bedeutenden Film- und Femsehpreisen ausgezeichnet", vorgestellt, folgte der Sendung auf dem Fuße. Mit einer Vielzahl gut ausgewählter Abbildungen wendet es sich nach dem Willen des Autors nicht an diejenigen, die sich ohnehin mit Geschichte befassen, sondern an jene anderen, deren Neugier geweckt werden soll. So ist auch keine Geschichte des Alltags in Preußen des 18. Jahrhunderts entstanden, sondern es wurden nur Geschichten aus dem Alltag aneinandergereiht. Man spekuliert dabei auf das vom Fernsehen ausgelöste allgemeine Interesse, „das sonst nur einer Minderheit vorbehalten bleibt". Dieser allerdings wäre eher damit gedient, wenn man die dreispaltig in den Text eingefügten Verordnungen und Dokumententexte nicht über den Leisten der Lesbarkeit geschlagen und auf den Nachweis der Fundstelle jedes Zitats verzichtet hätte. Das Lesenswerte eines Stoffes und die weiterführenden Lesehilfen sind nämlich kein Gegensatz. Der Band, zu dem auch Marie Louise von Plessen mit einer Dokumentation beigetragen hat, führt als Quellen auch Mitteilungen und Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins und unter der Sekundärliteratur dessen Jahrbuch „Der Bär von Berlin" auf. Er stellt Fragen und erweckt hohe Ansprüche. Ob sie erfüllt werden, muß jeder Leser selbst beantworten. H. G. Schultze-Bemdt

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Georg Holmsten: Die Berlin-Chronik. Daten, Personen, Dokumente. Droste Verlag GmbH, Düsseldorf 1984, Leinen, 506 Seiten, 39,80 DM. In seinem Vorwort bezeichnet unser Mitglied Georg Holmsten dieses Buch in der umfangreichen Literatur über Berlin als „die erste Chronik, die einen zusammenfassenden Überblick über die Geschichte der Stadt in der Art eines exakten Kalendariums gibt". Es werden genaue Angaben über Begebenheiten, Personen, politische, wirtschaftliche, kulturellle und gesellschaftliche Verhältnisse im Gebiet unserer Stadt mitgeteilt. Urkunden, Berichte von Zeitgenossen und andere Dokumente werden zitiert, zumeist unter Angabe der Quelle. Dadurch wird die Chronik so lebendig, daß sie nicht nur ein gerade im Hinblick auf die anstehende 750-Jahr-Feier unentbehrliches Nachschlagewerk wird, sondern daß man in ihr auch mit Spannung und Genuß lesen kann. Je näher das Kalendarium der Gegenwart rückt, um so größer wird die Fülle der Daten, die G. Holmsten klug auszuwählen und zu bändigen versteht. Für die Zeit von 1920 bis 1933 wird immer wieder das Tagebuch des Bürgermeisters Friedrich Lange (SPD) herangezogen, das jetzt in einer neuen Ausgabe vorliegt. Bemerkenswert erscheinen Zahlen wie etwa die 80000 Zuschauer im Olympia-Stadion, die am 11. Februar 1951 dem ersten internationalen Fußballstädtekampf nach dem Krieg beiwohnten (Berlin Zürich 2 :2) oder die mehr als 100 000 Berliner, die am 30. Dezember 1952 in einer Trauerkundgebung des an der Grenze zur DDR bei Frohnau getöteten Polizisten Herbert Bauer gedachten - wie viele kämen wohl heute? Nach der Spaltung wird die Geschichte beider Teile der Stadt getreulich festgehalten bis hin zu so vermeintlich abwegigen Daten, daß das seit Ende 1982 mit 20 000 Ausstellungsstücken in einem alten Gesindehaus im Pankower Ortsteil Blankenburg untergebrachte „Ostberliner Hundemuseum, das einzige seiner Art in Europa, im ersten Jahr seines Bestehens von 8400 Personen besucht (wurde)". Selten wünscht man sich Ergänzungen des Textes, etwa auf Seite 348, wo beim BVG-Streik 1932 das gemeinsame Auftreten von KPD und NSDAP berichtenswert gewesen wäre, oder am 16. Dezember 1948, wo der Name des französischen Stadtkommandanten (General Ganeval), der während der Blockade die Sendetürme des Berliner Rundfunks in Tegel sprengen ließ, seines historischen Ranges wegen hätte mitgeteilt werden können. Ob der Marmor der Reichskanzlei nun das Ehrentor des sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten schmückt, wie angegeben, oder nicht doch vielleicht das Treptower Denkmal, sei hier nicht untersucht. Angesichts des Umfangs ist auch die Zahl der Druckfehler als sehr gering zu bezeichnen. Auf Seite 21 heißt der Edelherr Gans zu Putlitz. Der auf den Seiten 88 und 92 erwähnte Abt von Sponheim, Johann Trittenheim (Trithemius), wird wohl so richtig geschrieben, und auch das bekannte Cafe Spargnapani Unter den Linden sollte eine einheitliche Schreibweise finden (S. 202 und 233). Als Beispiel für die Ausführlichkeit des Buches seien die Erwähnungen des Vereins für die Geschichte Berlins aufgeführt, beginnend schon 1846 bei Ernst Fidicin, dem ersten Stadtarchivar Berlins, dessen „Berliner Chronik von 1225-1571" 1868 von unserem Verein herausgegeben wurde. Im Wortlaut sei der Bericht über die Gründung wiedergegeben: 1865,28. Januar. Verein für die Geschichte Berlins gegründet. Die „Berlinischen Nachrichten" berichten über die Gründungsversammlung der bis heute bestehenden Vereinigung: „Der praktische Arzt Dr. Julius Beer hat in den letzten Wochen den sehr anerkennenswerthen und erfolgreichen Versuch gemacht, einen Verein für die Geschichte Berlins ins Leben zu rufen. Er hat mit diesem Gedanken nicht nur bei Denen, die sich von jeher die Forschung in der Geschichte Berlins und der Mark Brandenburg angelegen sein lassen, sondern auch bei den Spitzen unsrer städtischen Behörden und vielen andern Freunden der Wissenschaft lebhaften Anklang gefunden. So war denn am vorigen Sonnabend (28. Januar) eine zahlreiche Versammlung im Cafe Royal unter den Linden zusammengekommen, um den Verein zu constituieren. Wir bemerkten unter den Anwesenden den jetzigen Ober-Bürgermeister Geh. Rath Seydel, den frühem Ober-Bürgermeister Wirkl. Geh.Rath Krausnick, den Polizei-Präsidenten v. Bernuth (weiter u. a.), Archivar Fidicin, Hofrath Schneider, Oberlehrer Holtze, Dr. Kletke, Pol.-Secretär Ferd. Meyer, Lehrer Cotta und Andere, die sich um die Denkmäler und Erinnerungen Berlins verdient gemacht haben." - Seit 1866findenöffentliche Vorträge des Vereins im Hörsaal des Gymnasiums zum Grauen Kloster statt. 1875 erhält der Verein für seine Sitzungen und die Bibliothek Räume im Deutschen Dom am Gendarmenmarkt. Schließlich wird auch unter dem 29. April 1949, wenige Tage vor dem Ende der Blockade, die konstituierende Sitzung des Vereins für die Geschichte Berlins für festhaltenswert befunden, wobei der Kommentar, daß er seine Arbeit „zunächst nur in West-Berlin" wieder aufnimmt, eine gemeinsame Hoffnung an die Zukunft ausspricht. Wenn in einer solchen Chronik, die man ein Standardwerk zu nennen nicht scheut, dem Verein eine derartige Beachtung geschenkt wird, ist eine eigene Darstellung im Rahmen des Jubiläumsjahres 1987 sicher gerechtfertigt. Hier ist etwa an die angestrebte Ausstellung der Vereinsgeschichte zu denken. Hans G. Schultze-Berndt 319

Veranstaltungen im III. Quartal 1985 1. Montag, den 29. Juli, 10.00 Uhr: 3-Stunden-Kanalfahrt über Spree und Landwehrkanal. Treffpunkt: 9.30 Uhr, Hansabrücke, Altonaer Straße, Nähe U-Bahnhof Hansaplatz. Fahrpreis 7,50 DM. Möglichkeiten zum Imbiß an Bord. Telefonische Anmeldungen bis zum 26. Juli, .nadn 19.00 Uhr, unter der Rufnummer 8 5127 39. Sommerpause im August. 2. Dienstag, den 3. September, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dr. Clemens Alexander Wimmef: „Abriß der Geschichte des Charlottenburger Schloßparks". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Freitag, den 13. September, bis Sonntag, den 15. September. Studienfahrt 1985 in das Ravensberger Land. Leitung Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt. 4. Donnerstag, den 26. September, 13.00 Uhr: Historische Busfahrt durch die Gartenstadt Frohnau. Leitung Frau Dr. Christiane Knop. Treffpunkt: S-Bahnhof Frohnau am Ludolfinger Platz. Nach der Fahrt geselliges Beisammensein im Restaurant Wintergarten, Welfenallee. Telefonische Anmeldungen erbeten bis zum 15. September nach 19.00 Uhr unter der Rufnummer 8 5127 39. Ein Kostenbeitrag ist hier nicht auszuschließen, da der Bus eventuell gemietet werden muß.

Im II. Quartal 1985 haben sich folgende Damen und Herren zur Aufnahme gemeldet: Angelika Eckert, Lehrerin Am Rathaus 2, 1000 Berlin 62 Tel. 7817885 Henrike Hülsberger, Angestellte Beerenstraße 41,1000 Berlin 37 Tel. 8016275 Horst Kollat, Studienrat Stegeweg 10,1000 Berlin 51 Tel. 495 35 85

(Gründahl) (Dr. Kutzsch)

Ilse Pilz, Med.-techn. Assistentin Luisenstraße 22,1000 Berlin 45 Tel. 7734735 Klaus Strakos, Beamter Alt-Tegel 45 E, 1000 Berlin 27 Tel. 4335113

(Gründahl) (Franz)

(Dr. Besser)

Dieser Ausgabe der „Mitteilungen" liegt ein Prospekt des Berlin-Antiquariats, Karl-Heinz Than, Zimmermannstraße 17,1000 Berlin 41, bei. Wir bitten um freundliche Beachtung. Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 32328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berün 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berün 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 320

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 81. Jahrgang

Heft 4

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fi| Die Kleine Orangerie in Charlottenburg mit Steiners Wohnhaus Originalzeichnung um 1820, Staatl. Schlösser und Gärten. Berlin 19

George Steiner, Königlich preußischer Hofgärtner Von Dr. Clemens Alexander Wimmer Bei meiner Doktorarbeit stieß ich auf eine Forschungslücke: Es gab keine Literatur über Hofgärtner. Inzwischen konnte ich einiges über diesen Berufsstand im Katalog der Ausstellung „Kraut und Rüben" schreiben, und der Berliner Gartendenkmalpfleger hat mir die gründliche Erforschung aller preußischen Hofgärtner ermöglicht. Jeder fürstliche Garten stand unter der Leitung eines Hofgärtners, dessen Stellung eine gehobene und angesehene war. Hin und wieder ziehen einzelne Hofgärtnerschicksale die besondere Aufmerksamkeit auf sich. So hat der große preußische Historiker Friedrich Backschat 1937 über das Leben Joachim Ludwig Heyderts geschrieben, des Hofgärtners zu Potsdam-Stadt.1 Eine weitere Biographie sei hier hinzugefügt. In Potsdam lebte unter Friedrich IL der Gastwirt George Puhlmann. Sein Haus, das Weiße Roß genannt, stand in der Allee nach Sanssouci an der Ecke des späteren Brandenburger Platzes und erfreute sich großer Beliebtheit bei den zahlreichen Besuchern, die von nah und fern kamen, um die Anlagen von Sanssouci zu bewundern.2 Im Jahre 1773 wurde Puhlmanns Tochter Maria Sophia Elisabeth, genannt Mieke, damals 20 Jahre alt, schwanger. Von wem, das wurde fast 200 Jahre lang verschwiegen, bis 1968 eine 78jährige Nachfahrin in einem Brief eine Indiskretion beging: Der Prinz Friedrich Wilhelm war der Schwängerer. Dieser Brief, zur sofortigen Vernichtung bestimmt, fiel 1982 in meine Hände. Mieke Puhlmann mußte verheiratet werden. Im fünften Monat wurde sie am 17. Oktober 1773 dem 34jährigen Hofgärtner Johann George Steinert* angetraut.3 Dieser hatte zunächst beim Prinzen Heinrich in Rheinsberg gewirkt, bis ihn Friedrich II. 1769 nach Sanssouci geholt hatte.4 Hier war ihm die Pisang-(Bananen)treiberei unterstellt worden, denn der König hatte gehört, Bananensaft hülfe gegen seine Gichtbeschwerden. Steinert machte ein großes Geheimnis aus seiner Kunst und ließ niemanden die Bananenhäuser betreten.5 Überhaupt war er als eingebildet und widerspenstig verschrieen.6 Am 26. März 1774 kam das Kind zur Welt, ein Sohn, der nach seinem Großvater George getauft wurde. Bei der Taufe in der Potsdamer Garnisonkirche waren zehn Paten zugegen, die höchste zulässige Zahl, aber nur Bürgerliche.7 Der Hofgärtner Steinert wohnte in einem der 1752 von Knobelsdorff erbauten Gärtnerhäuser am Fuße der Terrassen von Sanssouci, und zwar in der nördlichen Hälfte des westlichen Hauses8, wo später Lenne wohnte. Südlich des Hauses lagen die Bananen- und Melonentreibereien, die Steinert zu betreuen hatte. Der zwei Jahre ältere Bruder der jungen Mutter, Johann Gottlieb, der einzige überlebende Sohn des Gastwirts, wollte Maler werden. Kurz nach der Geburt unseres Georges, am 12. Juli 1774, brach er zusammen mit Franz Hillner, dem Sohn des königlichen Hofgärtners Anton Hillner, der für die Orangentreibereien in Sanssouci zuständig war, nach Rom auf. Dort studierten beide bei dem von Friedrich II. geschätzten Maler Pompeo Batoni. Puhlmann blieb 13 Jahre in Rom.9 Die zweite der überlebenden Töchter Puhlmanns, Louise, heiratete am 20. August 1775 den Hofgärtner zu Rheinsberg, Christian Friedrich Müller (1749-1833), der vermutlich der Nachfolger Steinerts in Rheinsberg war. Die Tochter aus der Ehe Müller heiratete wieder einen Steinert, ihren Vetter, den Hofbaurat Carl Friedrich Heinrich Steinert.10 Um die verwickelte genealogische Darstellung abzuschließen, sei hier gleich erwähnt, daß auch der Maler Puhl* sein Sohn George nannte sich später Steiner 322

mann eine Hofgärtnertochter heiratete: die jüngste Tochter des Hofgärtners im Terrassenrevier Friedrich Zacharias Saltzmann, mit der er am 19. Mai 1796 verehelicht wurde." Unser George hat zweifellos seine erste Gärtnerausbildung bei seinem Pflegevater erhalten. Es war üblich, daß die Söhne der Hofgärtner den Beruf ihrer Väter erlernten und wenn möglich deren Nachfolger wurden. Die Hofgärtner nahmen nur als Gesellen an, wer auch bei einem Hofgärtner gelernt hatte.12 Eine weitere Ausbildung erhielt George in Herrenhausen. Mit 21 Jahren kam er dann in die Gärten des Landgrafen Wilhelm IX. in Kassel, wo er zwei Jahre, vermutlich als Geselle, blieb. Näheres konnte ich hierüber nicht erfahren. Friedrich Wilhelm II. hat die Familie Steinert-Puhlmann sehr gefördert. Johann Gottlieb Puhlmann schrieb 1782 wie selbstverständlich aus Rom an seine Eltern: „Bitten Sie den Kronprinzen, ob er nicht etwas zu meiner Unterstützung beitragen könnte." 1785 begann er, ein Bild zu malen, das er Friedrich Wilhelm verehren wollte. Das Thema war - ausgerechnet Leda mit dem Schwan. Während das Bild von Rom aus unterwegs war, starb der verhaßte König Friedrich. „Die Umstände des Todes und Begräbnis des Königs haben mir und viele andere, die es gelesen, ein Vergnügen gemacht", schreibt er. Friedrich Wilhelm empfing das Bild als König und berief Puhlmann als Inspektor der Bildergalerie nach Sanssouci. Seitdem übte Puhlmann einen großen Einfluß auf das Kunstleben unter Friedrich Wilhelm II. aus, der nach dessen Tode wieder erlosch.13 Der junge Steinen erhielt von König Friedrich Wilhelm, solange er in Kassel war, jährlich einen Zuschuß von 291 Talern. Das war eine außerordentlich hohe Summe, wenn man bedenkt, daß ein gewöhnliches Gesellengehalt, das Steinen ja in Kassel auch beziehen mußte, bei 70 Talern lag. Wie sollte es Steinen ergehen, als sein väterlicher Gönner nach nur elfjähriger Regierungszeit starb? Steinen bat, ihm die Unterstützung nicht nur zu lassen, sondern zu erhöhen, und erhielt von Friedrich Wilhelm III. am 3. Januar 1798 zur Antwon: „Da S. Kgl. Majestät von Preußen etc. auf die von dem Gärtner Georg Steinen unterm 8. v. M. eingereichte Vorstellung resolvirt haben, demselben zu seinen Reisen die bisherige Unterstützung von 291rthlr.noch auf ein Jahr zu lassen, und solche mit 200 rthlr., um nach England zu gehen, zu vermehren, indem in Frankreich für die Gärtnerei nicht viel zu profitieren ist, so lassen Höchstdieselben ihm solches in Antwort und zur Achtung bekannt machen ..." M Leider ist auch über Steiners Englandreise nichts bekannt. Alsbald wurde ihm die erste Exspektanz (Anwärterschaft) auf eine Hofgärtnerstelle übertragen. Als der Hofgärtner im Terrassenrevier zu Sanssouci, Friedrich Zacharias Saltzmann, gestorben war, übertrug der König auf Vorschlag seines Hofmarschalls und Gartenintendanten Valentin v. Masso w Steiner am 5. Dezember 1801 dessen Stelle. Am 1. März kommenden Jahres sollte er sie antreten. Da starb ganz unerwartet auch der Hofgärtner zu Charlottenburg, Johann August Eyserbeck. Sanssouci war damals uninteressant geworden, und die königlichen Bemühungen galten seit dem Tode Friedrichs IL anderen Gärten, darunter besonders Charlottenburg. Was war also zu tun? Der königlichen Verfügung zufolge mußte nun der Sohn des verstorbenen Saltzmann, Johann Zacharias, die freie Stelle erhalten. „Da aber der Hofgärtner Steiner jun.", schrieb Massow an den König, „mehr botanische Kenntnisse besitzt, und dieses Fach in Herrenhausen studirt, auch in Hinsicht auf Anlagen in Englischen Gärten während seines zweijährigen Aufenthalts in Cassel sich zu bilden Gelegenheit hatte", Saltzmann jun. hingegen nur bei seinem Vater in Lehre gestanden hätte, schlüge er, Massow, einen Stellentausch vor. Er hatte die beiden jungen Leute gefragt, ob sie dieses Arrangement annehmen wollen, und sie hatten bejcht. 323

Friedrich Wilhelm III. genehmigte am 2. Januar 1802 den Vorschlag seines Hofmarschalls und verfügte überdies, daß Steiner zu seiner Einrichtung das Gehalt von fünf Monaten im voraus erhalten sollte. Steiner bekam mit Rücksicht auf seine Jugend nur das Gehalt von 380 Talern, das ihm in Sanssouci zugestanden hätte, statt der 500 Taler, die Eyserbeck verdient hatte, zuzüglich 80 Taler „für die Nutzung der Gräsereien des Gartens." Der junge Saltzmann, der bisher als Geselle 40 Taler verdient hatte, erhielt nun 324. Am 6. März 1804 beklagt Steiner (wie er und seine Nachkommen sich stets schreiben): „Von diesen 460 rt kann ich, auch mit der größten Sparsamkeit, als treuer Diener Euer Königlichen Majestät, selbst unverheiratet, bei meinem Posten nicht leben, da es meine Schuldigkeit ist,... jeden Reisenden aufzunehmen, und die Nähe der Hauptstadt, bei der Beträchtlichkeit und den zunehmenden Verschönerungen meines Reviers, mir so häufige Besuche von Kunstgenossen zuzieht, daß bei dem hohen Preise aller Lebensmittel schon dies einen ansehnlichen Teil meiner geringen Einkünfte wegnimmt." Steiner wollte heiraten, „aber ich würde gewissenlos handeln, wenn ich eine Familie ins Elend versezzen, oder vom graden Wege abgehn wollte, dessen Verfolgung meine Beruhigung ist." Massow kommentiert Steiners Gesuch mit den Worten: „Seine Verhältnisse in Charlottenburg da er den großen Lustgarten und auch die exotischen Gewächse unter seiner Direction hat, sind von der Art, daß ein jeder reisende Gärtner, entweder aus Neugierde oder um etwas zu erlernen, bei ihm anspricht, und es ist bei der Gärtnerei in ganz Teutschland eingeführt, daß ein jeder reisende, wenn er bei einem großen Gärtner anspricht, wenigstens auf einen halben Tag aufgenommen, und beköstigt werden muß. Wollte ein Gärtner sich dessen weigern, so würde er und sein Garten nach der alten Verfassung, und wie es auch bei Handwerkern in Mode ist, geschimpft, und kein Geselle dürfte bei ihm zuziehen, und seine Gesellen und Lehrburschen würden anderweitig nicht angenommen werden." Massow erwähnt noch, daß Steiner eine Köchin halte, und befürwortet seine Bitte mit Nachdruck : „Ich kann dem Hofgärtner Steiner das Zeugniß geben, daß er bis jetzo mit einer wirklich exemplarischen Gewissenhaftigkeit die Interesse Ew. Königlichen Majestät wahrnimmt und sich noch nie eines unerlaubten Vortheils hat zu Schulden kommen lassen." Ohnerachtet, daß der Garten durch seine mehreren Anlagen mehrerer Unterhaltung bedarf, (habe Steiner) den Etat noch nicht überstiegen, welches ich wohl seiner beständigen Aufmerksamkeit, daß die Arbeiter sich zur rechten Zeit einfinden, und während der Arbeitsstunden nicht faulliegen, sowie auch seiner Gewissenhaftigkeit, daß die Leute zu keiner ander'n als zu Ew. Königl. Majestät Gärtnerei angestellt werden, zu verdanken habe." Der König bewilligte, „unerachtet", daß Steiner „mit noch der jüngste unter den Hofgärtnern ist", 160 Taler mehr. 200, wie gefordert, wollte er nicht geben, da die ältesten Hofgärtner schon mehr als Steiner bekamen.15 Steiner führte im Park die landschaftliche Umgestaltung des Karpfenteichs aus, wobei er eine Menge Alleelinden verpflanzte und am Ufer den Platz für die Karpfenfütterung anlegte. 1806 legte er vor dem Vorgarten des Neuen Flügels einen Platz an. Seine Erläuterung des Entwurfs schließt mit dem Satz: „Glücklich, unter den Augen Ew. Königlichen Majestät arbeiten und gemeinnüzzig seyn zu können, werde ich alles anstrengen, um die Sache bald und zu Allerhöchstdero Zufriedenheit mit der möglichsten Sparsamkeit zu beendigen." Drei Wochen später kann er sich rühmen: „Des Königs Majestät hat zu erlauben geruht, daß ich den Platz Luisenplatz nennen dürfe."16 Neben den Entwürfen zum Karpfenteich und zum Luisenplatz sind von Steiners Hand zwei große Pläne des gesamten Schloßgartens überliefert. Der eine, 1812 angefertigt, zeigt den 324

damaligen Zustand des Gartens, der zweite, undatiert, ist ein Verbesserungsvorschlag. 1812 war Steiner in Wörlitz, um in der dortigen vorbildlichen Gartenanlage Anregungen zu schöpfen.17 Steiner spielte eine führende Rolle in der Berliner Gartenkunst. So sind drei Briefe Schinkels an ihn bekannt. Der erste vom 6. Oktober 1814 lautet: „Eurer Wohlgeboren gebe ich mir die Ehre anzuzeigen, daß ich endlich, bei dem jetzt stattfindenden Mangel an jungen Leuten, die sich mit dem Planzeichnen befassen, einen Brouillonplan des Tiergartens behufs unseres Vorhabens zustande gebracht habe. Wäre es vielleicht Euer Wohlgeboren genehm, heute Donnerstag Nachmittag mit mir eine kleine Wanderung im Tiergarten zu unternehmen, da das Wetter gut scheint: ich glaube, daß wir uns sehr bald über die vom Brandenburger Tor an bis nach Bellevue zu machenden Veränderungen vereinigen würden ..." Am 3. Dezember 1814 bittet er Steiner nochmals, „mich auf ein halbes Stündchen zu besuchen, um auf dem großen Plan nachzusehen, ob ich alles so eingetragen, wie wir gemeinschaftlich übereingekommen sind. Etwa in vierzehn Tagen werde ich so weit sein, daß Euer Wohlgeboren dies mit einiger Klarheit übersehen können, und werde ich mir dann die Ehre geben, Sie davon zu benachrichtigen ..." Dementsprechend schreibt er am 14. Januar 1815: „Eurer Wohlgeboren zeige ich hierdurch ergebenst an, daß ich mit dem Aufzeichnen des von uns gemeinschaftlich an Ort und Stelle entworfenen Plans zur Verschönerung des Tiergartens fertig bin. Bevor ich denselben vom Reißbrett abschneide und mit der sehr nötigen Beschreibung... versehe, würde es für die Sache von großem Nutzen sein, wenn wir noch einmal darüber sprechen könnten .. ."'8 Im Jahre 1815 war es auch, daß der Charlottenburger Pfarrer Dressel in der heutigen Guerickestraße einen neuen Friedhof anzulegen beschloß. Er schreibt darüber in seiner Chronik:19 „Der Dressel wollte diesen Platz also anlegen [folgt Skizze ...] es ward der Begräbnißplatz in 4 Felder eingetheilt und durch den Creutz= Fuhrweg verlor man nur wenig Terrain zum begraben [...] nur dieser Creuzweg sollte mit einer Allee von Bäumen bepflanzt werden [...] Als aber der Dressel schon im planiren, wo Hügel waren, begriffen war, da rieth ihn der Burgermeister Sydow doch wegen der Anlage, den p. Steinert zu Rathe zu ziehen, weil dieser gewiß was recht schönes zu Stande bringen würde. Der OberPr[ediger] Dressel der mit diesem eingebildeten und fast unerträglichen Menschen im Umgange nicht gerne etwas zu schaffen haben wollte, überwand sich endlich doch, um für sich vor Vorwürfe in der Folge zu sichern, zu ihm hinzugehen und seinen Plan, ihm zur Beurtheilung vorzulegen. Dieser Steinert fand das für sich schmeichelhaft und erklärte anfänglich, daß er wider diese Eintheilung in 4 Felder nichts haben könnte, setzte aber nachher hinzu: (da ihm der Dressel sagte: es könnte die Einfahrt auch gegen Abend, da wo sie jetzt ist, angebracht werden und sie würde von ihm als schicklicher und bequemer gleich dahin auf dem Riß angezeigt worden seyn, wenn er nicht die lange Allee gewünscht hatte) ich will ihnen morgen schon einen andern Plan zeichnen und vorlegen. Und nun sandte er den Riß ein, nach welchem nachher die innere Anlage gemacht worden ist. Er machte sich sehr schön aufs Papier, und obgleich der Dressel gleich besorgte, es würde durch die Rundung der Felder und nochmehr durch die vielen breiten Wege viel Terrain verloren gehen; so wußte der Steinert doch hiervon das Gegentheil zu behaupten, und man sah sich also gleichsam genöthiget des Steinerts Plan zu genehmigen zu mahl da er sich zur Ausführung desselben erboth." Steiner erreichte, daß die Anlage um ein Ackerstück erweitert wurde, das Dressel nicht vorgesehen hatte. Der ganze Platz wurde mit einem „Gehege" eingezäunt. Am Eingang sah Steiner „Colossalische Pfeiler" vor, 10 Fuß breit, 6 Fuß tief und 14 Fuß (4,4 m) hoch. „Oben 325

sollten sie offen seyn, damit Epheu darinne wachsen und dann die Pfeiler ganz beziehen sollte." Auf dem mit Linden und Eichen bepflanzten Versammlungsplatz plante er einen gemauerten Altar. Es gelang Dressel, die Pfeiler nur vier Fuß im Quadrat mauern zu lassen, im übrigen aber wurde nach Steiners Angaben verfahren. Dressel vermerkt mit Genugtuung, daß der Altar, „von viel zu kleinen Steinen erbauet, kein Jahr dem Regen trotzen" konnte und daß auch in die Pfeiler Wasser eindrang, und den Putz zerstörte, „gleichwohl war oberhalb noch nichts grünes zu sehen." An anderer Stelle schreibt Dressel, Steiner müsse sich, „nach seinem Aufwände zu urtheilen, sehr gut stehen; da er mit Kutschen und Pferden und blanken Geschirren fährt und nach meiner Meinung dadurch endlich das Mißtrauen und Mißfallen des Königs erregen wird."20 Karoline Schulze (1794-1881), die Tochter des Potsdamer Gartendirektors Johann Gottlob Schulze, äußerte sich ähnlich über Steiner: Er „war eben ein so anmaßender Gärtner, wie sein H[err]. Vater, aber in einer so liebenswürdigen und höfischen Weise, daß wer ihn nicht näher kannte, ihn für ein lumen mundi [ein großes Licht] halten mochte."21 Im Oktober 1809 heiratete Steiner Auguste Caroline, die 20jährige Tochter des Berliner Juweliers August Wilhelm Hanff. Am 22. Juli 1810 wurde eine Tochter geboren, die nach der drei Tage zuvor verstorbenen Königin Luise genannt wurde.22 Der am 4. November 1811 geborene erste Sohn Steiners, Friedrich Wilhelm Leopold, konnte sich hoher Paten rühmen: 1. S. M. der König 2. S. D. Fürst v. Hatzfeld 3. H. Geh. Oberfinanzrath Graf v. Hagen 4. H. Generallieutenant v. Köching Exe. 5. Fr. Geh. EtatsMinister Gräfin v. Goltz geb. Baronesse v. Schack 6. Fr. Geh. Staatsräthin Baronesse v. Itzenplitz geb. v. Friedland Hofprediger Ferdinand Stosch taufte das Kind im Dom, ebenso die vier weiteren Kinder Steiners, die allerdings keine bedeutenden Paten mehr hatten.23 Die Familie wohnte in dem geräumigen, 1790 für Eyserbeck erbauten östlichen Kopfbau der Kleinen Orangerie in Charlottenburg, wo nach dem Wiederaufbau jetzt ein Restaurant ist. Steiners Stellung änderte sich durch das Auftreten des 25 Jahre jüngeren Peter Joseph Lenne, der 1816 in Potsdam angestellt wurde und einen kometenhaften Aufstieg als führender preußischer Gartenkünstler erlebte. Schon 1818 wurde er allen Hofgärtnern vorgesetzt. Steiner schreibt nie anders als höflich und Lennes Talent achtend. Dennoch begann er jetzt, sich zurückgesetzt zu fühlen. Anläßlich seines 20jährigen Dienstjubiläums 1822 schreibt er an den Freiherrn von Maltzahn, der seit 1811 Gartenintendant war und Lenne an den Hof gezogen hatte: „Wie glücklich schätze ich mich, in den ersten drei Jahren die vielen Buchsbaumpartien und Hecken, welche unmittelbar auf dem Parterre standen und den Karpfenteich umgaben, fortschaffen zu dürfen . . . Fünf Parallelgräben habe ich in zwanzig Jahren bei damals ängstlicher Ökonomie spurlos verschwinden gemacht... Könnte ich diese Sümpfe, Kanäle, Brückchen und Alleen, eine an die andere wieder vor's Auge stellen", Maltzahn würde ihm für seine Erfolge Gerechtigkeit widerfahren lassen. Hier schmückt sich Steiner eindeutig mit Arbeiten, die schon sein Vorgänger Eyserbeck ausgeführt hatte. Und: „Hätte des Königs Majestät jenen Plan welchen der verstorbene Landgraf von Hessen auf meine Bitte gab, damals zu genehmigen geruht, würden die Ufer der Spree grandios benutzt und dieser Garten gewiß schön geworden sein. Allein dafür hatten S. M. kein Gehör." Noch 1824 wurde Steiner Vorsteher des Ausschusses für Bildende Gartenkunst in dem 1822 gegründeten Verein zur Beförderung des Gartenbaus in den Königlich Preußischen Staaten, 326

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Entwurf zu einigen Veränderungen im Königlichen Garten zu Charlottenburg. Foto nach verschollenem Original Staatl. Schlösser und Gärten, Berlin 19

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der dank einer bedeutenden Mitgliederschaft rege Wirksamkeit in Preußen und darüber hinaus entfaltete. Der Botanische Gärtner Friedrich Otto und Lenne waren die anderen Ausschußmitglieder. Es stimmt nachdenklich, daß Steiner am 1. Januar 1829 aus den Vereinsprotokollen verschwunden und Lenne an seiner Stelle Ausschußvorsitzender ist.24 Einen Schaden am Karpfengitter im Schloßpark zeigt Steiner am 11. Februar 1825 so an: „Da mir allerdings Nachlässigkeit zur Last gelegt werden könte, wenn ich Euer Wohlgeboren nicht darauf aufmerksam machte, so ersuche ich Sie, davon Notiz zu nehmen, wie ich mich dann jedenfalls auf dieses mein Schreiben beziehen würde."25 Am 5. November 1827 beauftragte Maltzahn Steiner, „einen recht genauen Situationsplan" des gesamten Schloßgeländes „nach bestem Wissen der Grenzen anfertigen zu lassen." Innerhalb der folgenden zwölf Monate ergingen vier Mahnungen an Steiner, ohne daß dieser antwortete. Nachdem die letzte ihm gesetzte Frist verstrichen war, schrieb er am 28. Januar 1829 zunächst an den Registrator Richter, der für seine Sache zuständig war: „Seit zwei Jahren in den drükkendsten Verhältnissen gegen diesen meinen mir früher so gnädigen Chef (Maltzahn), nachdem ich 26 Jahr lang mit Freude und Liebe und Eifer zu des Königs Majestät und meiner Vorgesetzten Zufriedenheit gedient, wovon ich der schriftlichen und thätigen Beweise genug in den Händen habe, selbst von Ihm, sind mir diese so lastender und schmerzlicher, da ich früher eher mehr als meine Pflicht getan, als sie verabsäumt. Man kann sich nur mit meinem Bewußtsein im Busen in meine Stelle sezzen, um meinen Schmerz und meine Verzweiflung darüber mit zu fühlen, daß ich seit 2 Jahren - nichts verstehe, zu gar nichts nuz, keines Vertrauens mehr werth bin! Nehmen Euer Wohlgeboren die kärglichen Uebel dazu, welche mich periodisch gepeinigt haben, und daß ich - mit Genehmigung Sr. Excellenz - ein mehr der Zukunft meiner Kinder als mir selbst angehöriges gemeinnüzziges Unternehmen anfing, bei welchem ich, um Geld zu machen, die ersten und sichersten Hypotheken mit großen Vertrauen cediren und großen Verlust leiden muste, wie eben noch am lsten October der Fall war; ich, der ich selbst mit dem menschenfreundlichsten Zuvorkommen gedient hatte, wo ich nur irgend Sicherheit sah. So werden Euer Wohlgeboren es natürlich finden, daß ich im höchsten Unmuth hinbrütend nur zu oft nachläßig im papiernen Dienst war, aber gleich wie im praktischen, welcher eher mich zerstreut und das Gelingen meiner landwirthschaftlichen Unternehmung allein erheitert hat. Von niemand unterstützt oder auch nur begünstigt, obgleich Anderen bei Kleinigkeiten im Vergleich tausende geradezu geschenkt worden sind, bin ich lieber angefeindet und aufs lächerlichste und unwahrste besprochen worden. Dies Wohlwollen Seiner Excellenz wieder erwerben zu können, so glücklich es mich als Königlichen Diener und als Familienvater machen würde, habe ich keine Hoffnung mehr, obgleich ich das mir anvertraute königliche Eigenthum ohne Scheu mit jedem Andern gleicher Branche zu vergleichen gar nicht scheu. Hochderselbe ist zu sehr gereizt, ich zu tief und zu bitter ins innerste Leben verwundet, und ruhiges Anhören darf ich nicht mehr erhoffen. Möchte Seine Menschenfreundlichkeit mich wenigstens um meiner Familie willen noch einige Zeit ertragen!" Vier Tage später schrieb Steiner an Maltzahn und bat um Aufschub bis August, „da die Anfertigung dieser Pläne mit richtiger Gränzbestimmung einen von Morgen bis Abend beschäftigten Zeichner wenigstens ein volles Monat Zeit kosten würde . . . Ich kann dazu nur die meinen eigentlichen Arbeiten entübrigte Zeit anwenden, der Winter und Frühjahr sind dazu nicht geeignet, und ich sehe bei Lichte nicht einen Cirkelstich, kann bei Tage mit der Brille, die ich bei 54 Jahren meine Augen seit zwei Jahren durch Mancherlei sehr gelitten haben." Der Registrator Richter, der Steiner freundlich gesonnen war, erreichte, daß ihm der Aufschub gewährt und auch ein Kondukteur zugestanden wurde.26 328

Jedoch lag am 28. Juli 1832 der Plan immer noch nicht vor, und der Hofrat Bußler ließ deswegen eine Verfügung an Lenne ergehen, damit er den Plan aufnehmen ließe.27 Am 4. Februar 1834 starb Steiner, noch nicht 60 Jahre alt.

Anmerkungen 1. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams Neue Folge, Bd. 7, H. 4, Potsdam 1937, S. 290-321. 2. Eckardt, Götz: Ein Potsdamer Maler in Rom. Briefe des Batoni-Schülers Johann Gottlieb Puhlmann aus den Jahren 1774 bis 1787, Berlin (Ost) 1979, S. 5. 3. Geheimes Staatsarchiv, Berlin 33, MKB 661. 4. Kopisch, August: Geschichte der Königlichen Schlösser und Gärten zu Potsdam, Berlin 1854, S. 130. 5. ebd. I. H. A. Rep. 94, Nr. 814, S. 288. 6. Backschat, S. 316. 7. Geheimes Staatsarchiv, MKB 580, S. 136. 8. wie Anm. 6, S. 233 ff. 9. Eckardt, S. 8. 10. Eckardt, S. 229. 11. Geheimes Staatsarchiv, MKB 590. 12. Wimmer, Clemens Alexander: „Wir sämtliche hier unterschriebene Hoff- und Kunstgärtner der Königl. Preuß. Lande..." Zum Lebensbild eines untergegangenen Berufsstandes, in: Berlin durch die Blume oder Kraut und Rüben, Berlin 1985, S. 33-40. 13. Eckardt, S. 170, 215,16-19. 14. Sello, Georg: Potsdam und Sanssouci, Breslau 1888, S.420. 15. Zentrales Staatsarchiv Merseburg, H. A. Rep. 148, Nr. 7, p. 2-15. 16. Wimmer, Clemens Alexander: Die Gärten des Charlottenburger Schlosses, Berlin 1985, S. 57-59. 17. ebd., S. 61-63. 18. Schinkel, Das Lebenswerk, Hrsg. Paul Ortwin Rave, Bd. II, Berlin 1948, S. 32. 19. Aufgezeichnete Nachrichten vom Ursprünge, Anbau und Vergrößerung des Kgl. Schlosses und der Stadt Charlottenburg, Charlottenburg 1816, S. 297-303 (Ms. in der Verwaltungsbücherei Charlottenburg, vgl. Henrike Hülsbergen in H. 3/1985 dieser Zeitschrift. 20. ebd., S. 12. 21. wie Anm. 6, p. 529. 22. Kirchenbücher der Luisengemeinde, Charlottenburg. 23. Evangelisches Zentralarchiv, Berlin 12. 24. Wimmer, Die Gärten, S. 11 f. 25. Verwaltung der Staat. Schlösser und Gärten, Berlin 19, CSG, vol. 4, p. 96. 26. ebd., HMA Schloß, vol. 4, p. 2-8. 27. ebd., p. 29. Anschrift des Verfassers: Dr. C. A. Wimmer, Emser Straße 14, 1000 Berlin 31

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Die Abdeckerei in der Jungfernheide Umweltprobleme vor 125 Jahren Von Arne Hengsbach Am 13. Oktober 1861 erschien in der „Vossischen Zeitung" ein Aufsatz unter dem Titel „Der Nordwesten von Berlin", der Verfasser blieb anonym, er zeichnete nur mit einem „R". Dieser Artikel steht außerhalb der zu jener Zeit in den Zeitungen erschienenen Beiträge zu Berlin betreffenden Fragen. In seiner etwa eine Quartseite des damaligen Zeitungsformats umfassenden Darstellung beschäftigt sich der Autor - noch dazu in einer ungewohnten Art - mit einem Gegenstand, der sonst kaum Beachtung gefunden hat: Mit der damaligen Berliner Abdeckerei. Derartige Einrichtungen hatten einst das verendete oder gefallene Vieh zu beseitigen und waren berechtigt, die anfallenden Kadaver wirtschaftlich zu verwerten. Die Abdeckereien waren in früheren Zeiten Vorläufer chemischer Fabriken, aus den Tierkörpern, den Knochen usw. gewann man u. a. Fette für die Seifenherstellung, Leime, Knochenmehle. Für die Herstellung derartiger Produkte betrieben die Abdeckereien z.B. Leimsiedereien, Talgschmelzen, Knochenmühlen, Gerbereien. Schon bei der Lagerung der Tierkörper, dann aber auch bei der Aufbereitung der Erzeugnisse, z. B. beim Auskochen, entstanden penetrante, unerträgliche Gerüche, die die Nachbarschaft, je nach den Windverhältnissen, mehr oder weniger stark verpesteten. Schon früh verlegte man daher die städtischen Abdeckereien weit hinaus an den äußersten noch unbewohnten Stadtrand, wo sie ihre Umwelt noch kaum stören konnten. Sie waren in jenen auch abseits der Vorstädte gelegenen Zonen die ersten Ansiedlungen. Auch in Berlin hat die Abdeckerei im Laufe der Zeit verschiedene Standorte am jeweiligen äußeren Stadtrand gehabt. Der Glaesersche Stadtplan von Berlin aus dem Jahre 1825 verzeichnet die „neue Scharfrichterei" am damaligen Ostrande der Jungfernheide, die sich noch über die Seestraße hinaus nach Osten vorschob. Sie hat auf dem Gelände des heutigen Rudolf-Virchow-Krankenhauses westlich vom Augustenburger Platz gelegen. Die Bezeichnung „Scharfrichterei" wurde häufig auch für die Abdeckerei verwendet, weil in früheren Zeiten der Scharfrichter auch die Abdeckerei betrieben hatte. Das 1817 erschienene „Ortschafts-Verzeichnis des Regierungs-Bezirks Berlin" führte die Abdeckerei in dieser Gegend noch nicht auf, auch die Pläne aus der Zeit bis 1820 zeigen sie nicht. So ist anzunehmen, daß sie in den frühen zwanziger Jahren eingerichtet worden ist, ungefähr zur gleichen Zeit, als der Berliner Magistrat die Weddingsländereien weiter östlich parzellierte. Die Abdeckerei befand sich nicht nur auf fiskalischem Forstgelände, sie war auch vom Fiskus angelegt worden, der sie verpachtete und unter dessen Aufsicht sie stand. Bei der abseitigen Lage am Rande eines ohnehin nur dünn besiedelten Gebietes blieb die Abdeckerei in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens ziemlich unbeachtet. Über die Produkte, die hergestellt wurden, sind wir nur lückenhaft unterrichtet. Die „Vossische Zeitung" vom 26. August 1859 brachte eine kurze Notiz: „In der Jungfernhaide ist vom Scharfrichterei-Pächter Bitter eine neue Gelatinefabrik errichtet, welche Öl für Tuchmacher liefert, welches noch vor wenigen Jahren größtenteils aus England bezogen wurde. Diese Fabrik arbeitet bereits mit Dampf." Unklar bleibt, ob damit eine Dampfmaschine gemeint war. Die „Berliner Scharfrichterei an der Jungfemheide", zum Forstrevier Tegel gehörig, zählte 1861 9 Bewohner, die in einem Wohnhaus lebten, außerdem waren 5 gewerblich genutzte Gebäude vorhanden, als Betriebsart führt die Statistik „Leimsiederei" an. Sowohl für die Leim- als auch für die 330

Gelatinefertigung wurden Knochen, Klauen usw. verwendet. Eine Talgschmelze wird zwar nicht erwähnt, aber auszuschließen ist ein solcher Betriebszweig nicht. Zu dieser Zeit aber bildete die Abdeckerei bereits eine erhebliche Umweltbelastung durch die von ihr ausgehenden übelriechenden Abgase. Damit beschäftigte sich nun der eingangs erwähnte Aufsatz in der „Vossischen Zeitung". Er schildert die Auswirkungen des Gestankes auf die nähere und weitere Nachbarschaft der Abdeckerei, ohne diese als Verursacher jedoch mit Namen zu nennen. Er spricht vielmehr wiederholt von einem „Gifttal" und lädt den Leser zu einer Wanderung durch eine „liebliche", nun aber verpestete Gegend ein. Dieser Spaziergang auf der Seestraße ist insofern von Interesse, als er - neben der auf die Hervorhebung der Mißstände ausgerichteten Tendenz - einige Hinweise zur historischen Topographie der Gegend zwischen Wedding und Plötzensee bringt: „Wir fangen unsere Wanderung am Gesundbrunnen an, einst ein angenehmer ländlicher Aufenthalt, jetzt wegen vielfacher Soldaten- und anderer Schlägereien leider in seinem guten Ruf zurückgekommen. Vom Gropiusschen Park bei der Wassermühle vorbei, wenden wir uns nordwärts und dann nach ungefähr fünf Minuten westwärts, wo wir eine schnurgerade Landstraße vor uns haben, die erst durch Gärten und Anpflanzungen laufend, die Oranienburger Chaussee schneidet, dann durch die Jungfernheide über den neuen Kanal führt und direkt auf den Turm des Charlottenburger Schlosses auszulaufen scheint, der deutlich schon vom Gesundbrunnen sichtbar ist und stolz die Gegend überschaut." Der Gropiussche Park war der alte Gesundbrunnen, auch „Louisenbad" oder Luisenbrunnen genannt, an der Panke, einstmals ein Badeort, später ein gern besuchtes Ausflugsziel der Berliner. Der Wanderer hat durch die Schwedenstraße die Seestraße erreicht, deren einstiger nördlicher Teil seit 1957 den Namen „Reginhardstraße" führt. Mit der „Oranienburger Chaussee" ist die Müllerstraße gemeint. Die Seestraße, die heute am Goerdelerdamm endet, führte früher geradlinig weiter durch die Charlottenburger Feldmark bis zur heutigen Gaußstraße. Dann ging der alte Weg in Verlängerung der Seestraße im Zuge der nachmaligen Gauß-, Kepler- und Mierendorffstraße bis zur Schloßbrücke gegenüber vom Charlottenburger Schloß. In Charlottenburg hieß der Weg von der Abzweigung aus der späteren Keplerstraße bis zur Seestraße „Schönhauser Weg", weil er in Richtung auf Niederschönhausen verlief. Auch Riesel (Das romantische Havelland II, S. 38,1869) bemerkt übrigens: „Die Seestraße stößt nach links hin ... gerade auf Charlottenburg, dessen Schloßturm den deutüchen Hintergrund der Straße bildet..." - Der Verfasser unseres Artikels fährt fort: „Diese Straße kaum betreten, müssen wir, wenn der Wind ungünstig steht oder an schönen wannen Sommertagen in jedem Falle schon unsere Schritte in ein lebhafteres Tempo setzen. Einer Empfehlung dazu bedarf es nicht, die Sache macht sich so ganz von selbst. Wir überschreiten die Chaussee und befinden uns bald in dem südlichsten Teil der Jungfernheide. Liebliche Waldesstille, kaum unterbrochen von dem Zirpen der Grille, denn die Singvögel lieben diese Gegend nicht, umgibt uns. Anhöhen ziehen sich zu beiden Seiten hin und gestatten von einem Punkt aus eine weite Aussicht; links auf den Hamburger Bahnhof und die zunächst gelegenen Stadtteile, rechts auf das industrielle Moabit mit seinen hundert rauchenden Schornsteinen und dem rastlosen Geräusch seiner gewaltigen Fabriken, das deutlich herübertönt." Mit den Anhöhen sind wohl die ehemaligen „Wurzelberge" gemeint, die sich damals zu beiden Seiten der Seestraße dahinzogen. An der Nordwestseite der Straße sind letzte Reste dieses einstigen Bodenreliefs noch aus dem Friedhof der St. Pauls-Gemeinde zu erkennen. Von der Südostseite der Seestraße aus erstreckten sich die Wurzelberge über die Grundstücke des Instituts für Gärungsgewerbe und des Rudolf-Virchow-Krankenhauses ostwärts, auch nördlich der Triftstraße und an der Amrumer Straße lagen diese „Berge" oder besser gesagt Dünen. 331

Sie erreichten bestenfalls eine Höhe von 6 bis 8 Meter über Terrain, boten also tatsächlich über das noch kaum bebaute Gelände einen Blick auf das 2 bis 3 Kilometer entfernte Moabit. Wenige Jahre später, 1869, hat auch Riesel (a. a. O. II, S. 25/26) diese Landschaft beschrieben: „Wer wissen will, was Berliner Sand ist, der muß die Gegenden hinter der Fenn- und Triftstraße und rechts und links von der Müllerstraße durchwaten: rechts und links Steppe und in der Mitte - auch Steppe! - Die Farbe ist ein angenehmes mattes Gelb, das schon mehr in Weiß übergeht; die Oberfläche nicht eben, sondern durch sanfte Wellen gekräuselt... Fort und fort vergnügt sich der Wind, die Gestalt der Oberfläche dieser kleinen Wüste zu verändern; heute baut er sich dort einen kleinen Hügel auf, um ihn morgen wieder einzureißen und woanders hin zu transportieren . . . Der kleine östliche Teil des großen afrikanischen Sandmeeres ist bekanntlich die lybische Wüste: die Gegend hinter der Triftstraße ist die lybische Wüste Berlins ..." Und weiter geht die Wanderung: „Bald gelangen wir an die lange schöne, steinerne Kanalbrücke mit ihrer geschmackvollen Einfassung, die einen Blick auf den von alten hohen Waldbäumen umgebenen Plötzensee gestattet, welcher die dunklen Waldesschatten in seinen tiefen und klaren Wassern in melancholischer Ruhe widerspiegelt. Wahrlich ein herrlicher Anblick! Wie schön ließe sich unter diesen Kiefern ruhen. Wie angenehm wäre eine Wasserfahrt auf diesem See und wie gern möchten wir ihn rings um wandern, aber es ist unmöglich, darum weiter in Eile! Wir gehen über die Brücke, immer ist uns der Charlottenburger Schloßturm mit seiner majestätischen Kuppel ein Compaß. Wir glauben in den Schloß garten hineinsehen zu können, aber rechts die Anhöhen verleiten uns doch zu einer kleinen Abschweifung. Hier endigt, in einem weiten Bogen zurücktretend, die Jungfernheide, und vor uns öffnet sich plötzlich eine Landschaft von überraschender Schönheit. So weit das Auge reicht, dehnt sich eine Niederung, bedeckt mit üppigen Wiesen, die gegen das Dunkel des Kiefernwaldes angenehm abstechen, aus. Deutlich sehen wir den roten Turm von Spandau, gerade vor uns Charlottenburg mit dem Bock und dem Anfange des Grunewaldes; links Moabit, die gesamte Flächen durchschnitten von der Hamburger Eisenbahn, auf der wir den weißen Rauch der Züge fast meilenweit sehen können. . . . Wir wüßten wenige Stellen Berlins, ja vielleicht keine, die des Mannigfaltigen soviel bietet. Aber - der Wind hat sich gedreht, schnell, schnell von dannen, hier kann unseres Bleibens nicht länger sein. Wohin wenden wir uns? Nach Moabit? Nicht doch, da kommen wir ja wieder in das Gifttal hinein, und in den ersten Straßen kann man sein Dasein, so fern es auch ist, deutlich verspüren. Also nur vorwärts nach Charlottenburg, dort werden wir ja wohl mit Gottes Hilfe geborgen sein!" Anzumerken wäre, daß die damalige Seestraßenbrücke über den Spandauer Schiffahrtskanal eine Holzbrücke gewesen ist. Mit der „Anhöhe rechts" können nur die Aaskutenberge gemeint sein, die allerdings im wesentlichen auf der linken Seite der weiter nach Charlottenburg führenden Seestraße gelegen haben und zwar auf dem Gelände des heutigen Großmarktes nördlich der Ringbahn und westlich der Beusselstraße. Ein kleiner Teil dieser Bodenerhebung hat sich nach einigen Karten jener Zeit noch bis an den jetzigen Goerdelerdamm und an die Südgrenze der neuen Frauenhaftanstalt Plötzensee erstreckt. Der Name „Aaskutenberge" kommt auf den Karten seit etwa Mitte der zwanziger Jahre vor; nach 1860 verschwindet er wieder. Nach dem 1866 begonnenen Bau des Charlottenburger Verbindungskanals bei Plötzensee ist vermutlich der kleine Höhenzug planiert worden, um Platz für das Kanalbett bzw. die projektierten Uferstraßen zu gewinnen. Der Name erinnert wiederum an das Abdeckereiwesen, dort wurde das Aas, das gefallene Vieh, soweit nicht verwertbar, verscharrt. Beziehungen zwischen den Aaskutenbergen und der Abdeckerei in der 332

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Jungfernheide lassen sich nicht nachweisen. Die Aaskutenberge lagen außerhalb der Charlottenburger Feldmark, die bei Gundlach, Geschichte von Charlottenburg Bd. II, S. 361 erwähnten „Aaskutenenden" haben sich auf andere Aaskutenberge in der Gegend des Magdeburger Platzes bezogen (vgl. H. Patzig, Alte Ortsnamen im Westen Groß-Berlins, S. 6). Von den Aaskutenbergen aus konnte man tatsächlich das in dem Aufsatz geschilderte Panorama auf Charlottenburg usw. genießen. Die „üppigen Wiesen" gehörten zum Pfefferluch, das sich als breite Zunge in das Waldgebiet der Jungfernheide hineinschob. Die Grenze der Jungfernheide, die bis dahin die Seestraße zu beiden Seiten begleitet hatte, verlief nun zunächst etwa auf der Südgrenze der neuen Frauenhaftanstalt Plötzensee, sprang dann aber nach Nordosten zurück. Das Pfefferluch ging vom Spandauer Schiffahrtskanal im Norden bis etwa zur Eisenbahn im Süden. In seinem Gelände befand sich später das seinerzeit bekannte Ausflugslokal „Carlshof', heute die sogenannte Spreeplatte, außerdem entstand auf dem vormaligen Pfefferluch das Industrie- und Gewerbegebiet am Friedrich-Olbricht-Damm und am Stieffring. Der mittlere und südliche Teil des Pfefferluchs bis zum Goerdelerdamm ist heute von zahlreichen Kleingartenkolonien besetzt. Der östliche Teil der Paul-Hertz-Siedlung liegt ebenfalls auf den einstigen Pfefferluchwiesen. Mit dem „roten Turm" von Spandau ist die dortige Nikolaikirche gemeint. Soviel zu den Schilderungen des Geländes an der Seestraße im Jahre 1861. Der anonyme Verfasser stellt dann noch Betrachtungen darüber an „warum der gesamte Nordwesten von Berlin, der vorzugsweise der Industrie seinen Boden geliehen hat, in seiner Ausdehnung gehemmt wird durch das Gifttal, dessen Herd keine zweihundert Schritt vom Plötzensee und ganz nahe schon an einigen verschobenen Straßen sich befindet, die es im eigentlichen Sinne des Wortes verpestet..." Er schließt: „ ... und wenn man's weiter so läßt, so kann's noch kommen, daß der Seh... anger zuletzt in der Stadt liegt." Bemerkenswert ist hier zunächst ein sprachliches Kuriosum. Das heute auch in die Schriftsprache eingegangene Wort „Scheiße" war damals streng verpönt. Daß es hier immerhin andeutungsweise gebraucht wurde, noch dazu in einer soliden Zeitung, war seinerzeit schon etwas Gewagtes. Im übrigen aber behandelt der Autor ein Stadtrandproblem, das für jenen Zeitraum bezeichnend war. Die äußere Stadtrandzone war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn überhaupt, dann nur sehr dünn besiedelt, es bestanden allenfalls einige Kolonistenhäuser, Landwirtschaften, Gärtnereien und Mühlen. In diesen Gegenden vor der Stadt ließen sich seit den 1820er Jahren in zunehmenden Maße gewerbliche Unternehmen nieder, von denen oft übelriechende Abgase, Dämpfe, aber auch Ruß, Staub usw. ausgingen. Zum Teil wurden Öle und Fette erzeugt oder verarbeitet. Die Standorte am Stadtrand wurden gewählt, weil hier keine Beschwerden der Öffentlichkeit zu gewärtigen waren, die sich durch Immissionen belästigt fühlte; so waren auch gewerbepolizeiliche Auflagen für den Betrieb kaum zu erwarten. In den vierziger und fünfziger Jahren nahm die Zahl dieser „Fabriken", wie diese kleinen Unternehmen genannt wurden, am Stadtrand erheblich zu. Auch am Wedding und auf dem Gesundbrunnen stieg die Zahl derartiger Betriebe, so waren 1861 in diesen soeben in Berlin eingemeindeten Stadtteilen u.a. vorhanden: 5 Leimsiedereien, 4 Wachstuchfabriken, eine Lack-Firnis- und Farbenfabrik, eine Dachpappenfabrik. In der Nähe der Abdeckerei wurde 1856 eine „Düngpulverfabrik" angelegt, die im Hinterland der Müllerstraße in der Gegend der heutigen Lütticher Straße lag. Sie hat u.a. Fleisch, Blut, Knochen und Fäkalien zu Düngermehl verarbeitet; es entstand bei der Produktion ein unerträglicher Gestank. Einen Teil der Rohstoffe könnte sie von der benachbarten Abdeckerei bezogen haben. Zugleich mit dem Aufkommen derartiger gewerblicher Niederlassungen wurde aber auch die Besiedlung und Bebauung der z. T. noch landwirtschaftlich genutzten Flächen immer inten334

siver. Die Neubauten rückten auch immer näher an die Abdeckerei heran. Die ursprünglich getrennt gewesenen frühen Besiedlungsschichten des Stadtrandgebietes begannen sich zu vermischen, der bisherige fast menschenleer gewesene äußere Stadtrand entwickelte sich zur Vorstadt. Die Baulust wurde zunächst durch die schädlichen und widerlichen Abgase der Abdeckerei und ähnlicher Betriebe keineswegs aufgehalten, aber mit fortschreitender Bebauung in der weiteren Nachbarschaft wurden die Beschwerden der Betroffenen immer häufiger und dringender. So schrieb die Forst- und Oekonomiedeputation des Magistrats am 24. Oktober 1869 in einer Vorlage: „... Es hat auch in der Nähe des jetzigen AbdeckereiTerrains bereits ein starker Anbau von Privathäusern und Wohltätigkeitsanstalten stattgefunden; wir verweisen in dieser Beziehung auf das Johannesstift, das Magdalenenstift, das neue Steuergebäude am Plötzensee, deren Bewohner durch die aus dem Abdeckerei-Betriebe sich entwickelnden üblen Gerüche erheblich belästigt werden." Schließlich schufen die zuständigen Behörden doch Abhilfe. Bei einer Grundstückbereinigung, die durch den Bau des 1859 fertiggestellten Spandauer Schiffahrtskanals notwendig wurde, vereinbarten der Fiskus und die Stadt Berlin 1864 einen Grundstückstausch; die Stadt übereignete dem Fiskus die Grundstücke des großen und kleinen Plötzensees, während dieser Berlin eine etwa 135 Morgen große Teilfläche der Jungfernheide an der Seestraße abtrat. Auf dieser Forstparzelle befand sich auch die Abdeckerei. Die Stadt Berlin übertrug dem Fiskus ein 10 Morgen großes Grundstück an der Müllerstraße 81, hart an der damaligen Weichbildgrenze. Dorthin sollte der Fiskus seine Abdeckerei aus der Jungfernheide verlegen. Doch zog sich die Ausführung dieses Teils des Vertrages noch Jahre dahin. Den städtischen Behörden müssen offensichtlich Bedenken gekommen sein, die Abdeckerei an das Ende der Müllerstraße zu verlegen, vielleicht, weil man in Anbetracht der baulichen Entwicklungen befürchten mußte, daß auch der neue Standort in absehbarer Zeit wiederum Anlaß zu Klagen über Geruchsbelästigungen geben werde. Man plante daher in der Reinickendorfer Bauernheide ein entsprechendes Grundstück zu erwerben, als aber die Stadt Berlin im Jahre 1869 einen Teil des Dalldorfer Gutes für die Anlage einer Irrenanstalt (heute Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik) angekauft hatte, mußte der Gedanke, ein Abdeckerei-Grundstück in dieser Gegend zu beschaffen, aufgegeben werden, da die Ausdünstungen den Krankenhausbetrieb gestört hätten. Da auch an anderen Stellen Grundstücke für die ungeliebte Abdeckerei nicht zur Verfügung standen, blieb schließlich nur übrig, diese doch nach der Müllerstraße zu verlegen. Dort wurde der Betrieb 1873 eröffnet. Die Klagen über die unerträglichen Geruchsbelästigungen, den pestilenzialischen Gestank und die von der neuen Abdeckerei ausgehende Ungezieferplage nahmen mit fortschreitender Bebauung zu. Da der Abdeckereibetrieb auf die Dauer den veterinärpolizeilichen Vorschriften nicht mehr genügen konnte, auch die technische Ausrüstung ungenügend war, beschloß der Staat 1903, seine fiskalische Abdeckerei eingehen zu lassen und ersuchte die Stadt, eine eigene Kommunalanstalt zu errichten. Die Stadt Berlin kam diesem Verlangen nach und legte in Rüdnitz bei Bernau, Kreis Oberbarnim, die städtische „Fleischvernichtungs- und Verwertungsanstalt" an, die am 1. Juni 1908 in Betrieb genommen wurde. Nun erst war eine Einrichtung aus dem Weichbild verschwunden, die zu den ältesten und typischen Ansiedlungen an den jeweiligen äußeren Stadtrandzonen gehört hatte. Auch als die Abdeckerei längst verfallen war, sorgte sie nochmals für ein negatives Image: im Jahre 1925 wurde in den verkommenen Gebäuden eine geheime Schnapsbrennerei ausgehoben. Anschrift des Verfassers: Arne Hengsbach, Joachim-Friedrich-Straße 2, 1000 Berlin 31 335

Buchbesprechungen Friedrich Gilly 1772-1800 und die Privatgesellschaft junger Architekten, Katalog einer Ausstellung im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 - Berichtsjahr 1984. Vom 21. September bis 4. November 1984 vom Senator für Bau- und Wohnungswesen im Berlin-Museum veranstaltet. Konzept der Ausstellung und des Kataloges: Hella Reelfs und Rolf Bothe, Verlag Willmuth Arenhövel, Berlin. Dieser Katalog ist auch über die Ausstellung hinaus, die der Verein für die Geschichte Berlins am 25. Oktober 1984 unter der sachkundigen Führung von Frau Reelfs besucht hat, von bleibender Bedeutung. Dafür bürgen schon die geistreichen einführenden Aufsätze „Friedrich Gillys kurzes Leben, sein ,Friedrichs-Denkmar und die Philosophie der Architektur" von Werner Oechslin und „Eine neue Welt entschleiert sich - Von Friedrich Gilly zu Mies van der Rohe" von Fritz Neumeyer. Oechslin und Neumeyer bedienen sich leider einer etwas zu schwärmerischen Ausdrucksweise. Eine solche ist zwar bei manchen Kunsthistorikern üblich, sollte aber vermieden werden, um nicht beim Leser Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Ausführungen aufkommen zu lassen. Beide Autoren sollten sich den sachlichen Stil des Kunsthistorikers Rolf Bothe zum Vorbild nehmen, von dem ein lesenswerter einleitender Aufsatz über die Bewertung Friedrich Gillys in der kunst- und bauhistorischen Forschung abgedruckt ist. Dem hohen Gedankenflug, mit dem Neumeyer eine Verbindung zwischen Friedrich Gilly und Mies van der Rohe herzustellen versucht, vermag ich leider nicht zu folgen. Das liegt möglicherweise daran, daß ich nur ein interessierter Laie bin. Meine Phantasie reicht lediglich aus, um eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Bauten des Dritten Reiches und den durchaus monumental wirkenden Architekturphantasien Friedrich Gillys feststellen zu können. Diese Verwandtschaft hat Neumeyer auch gesehen, was ihn veranlaßt, seiner Empörung über die nationalsozialistischen „Scharlatane des Klassizismus" beredten Ausdruck zu verleihen. Er sollte nicht alles in einen Topf werden und nicht vergessen, daß der in der NS-Zeit praktizierte neoklassizistische Stil in den dreißiger Jahren der Stil der Repräsentationsarchitektur überall in der Welt war, insbesondere auch in den USA und in der UdSSR. Allerdings darf man dabei nicht an die Parteitagsbauten in Nürnberg und an die die antiken und klassizistischen Vorbilder maßlos vergröbernden Entwürfe für die an der „Großen Straße" in Berlin zu errichtenden Bauwerke denken (vgl. die seinerzeit im Landesarchiv gezeigte Ausstellung „Von Berlin bis Germania"), die in ihrer Maßstabslosigkeit und Stadtfremdheit nur noch von den sechziggeschossigen Wolkenkratzern übertroffen worden wären, die Le Corbusier nach seinem Beitrag zum Wettbewerb von 1959 in die Berliner Stadtlandschaft stellen wollte. Der eigentliche Katalogtext stammt von der Berliner Kunsthistorikerin Hella Reelfs, der wohl auch die Zusammenstellung der Ausstellung zu verdanken ist. Frau Reelfs stand dabei vor schwierigen Problemen, denn Gilly, der „Lehrer Schinkels", hat selbst kaum gebaut und das, was er gebaut hat, ist zerstört worden. Verlorengegangen ist auch der größte Teil der nachgelassenen Zeichnungen. Man mußte daher, um eine passable Ausstellung zustande zu bringen, auf zeitgenössische Kopien von dritter Hand und auf Photos zurückgreifen sowie Material von Mitgliedern der von Friedrich Gilly 1799 gegründeten „Privatgesellschaft junger Architekten" heranziehen. Manche Zuschreibungen an F. Gilly sind zweifelhaft und auch von der Autorin des Katalogteiles mit einem Fragezeichen versehen worden. Die Aufnahme derartiger Arbeiten ist verdienstvoll, da dadurch weitere Forschungen angeregt werden können. Die Steinhöfeier Aquatintas dürfen nicht zu der Annahme verleiten, daß die abgebildeten Bauten von Friedrich Gilly stammen. Sie sind seinem Vater David zuzuschreiben. Das Gegenteil ist nicht bewiesen. In einer Ausstellung des Berlin-Museums vermißt man als Berliner Friedrich Gillys einziges in Berlin ausgeführtes Architekturprojekt, nämlich die Fassade des Hauses des Grafen Lottum in der Behrenstraße 68 (später Palais der Grafen von Solms-Baruth), und den Entwurf Gillys zum Berliner Münzfries, dessen meisterhafte Ausführung durch Schadow sogar hier in West-Berlin bewundert werden kann. Der Münzfries (vgl. die Arbeiten des Rezensenten über ihn im Bär von Berlin, 1978 und 1979) wird im gesamten Katalog noch nicht einmal erwähnt. Frau Reelfs kennt ihn natürlich, denn sie hat u.a. über ihn am 20. Februar 1981 vor der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft in Berlin referiert. Wollte man dem Veranstalter und Geldgeber der Ausstellung, dem Senator für Bau- und Wohnungswesen, einen Gefallen tun und öffentlich nicht daran erinnern, daß dieses Meisterwerk klassizistischer Bildhauerkunst in völliger Verkennung seines Ranges von der genannten Senatsverwaltung an eine Wohnungsgesellschaft „verliehen" und von dieser in die Fassade eines Altenwohnheimes am Charlottenburger Spandauer Damm eingelassen worden ist, wo es noch immer sein Dasein fristet, obwohl nur eine bereits vor fünfzig Jahren vorgesehene museale Verwahrung angemessen ist? Es wäre zu bedauern,

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wenn Rücksichtnahmen auf Geldgeber oder ähnliche unsachliche Motive in der kunstgeschichtlichen Forschung oder bei der Repräsentation künstlerischen Schaffens in Ausstellungen Schule machen würden. Dr. Otto Uhlitz Erinnerungen an Berlin. Neue Berliner Lieder und Chansons. LP Hansa/Ariola 206 508-315, auch als Kassette MC 406 508-355. Es war lange genug still um das Berliner Chanson. Die goldenen Zeiten der Nelson, Hollaender und G. Neumann sind längst vorbei, die großen Diseusen wie Marlene Dietrich, Blandine Ebinger und Tatjana Sais sind Geschichte, aber der Berliner und das Berlinische leben weiter. Und daß Berlin nicht nur „Schnauze", sondern und vor allem „Herz" hat, wollen diese neuen Beiträge zur alten Gattung zeigen. Die Texte stammen von Kurt Steinkrauss, einem warmherzigen, humorigen Alltagsdichter, als Kabarettist einst „Lehrling" bei Hans Albers, dann Religionslehrer, später Sozialfürsorger, heute Rentner in Britz. Die Themen sind ewig zeitlos und aktuell zugleich: die einsame alte Frau im Cafe („denn Kuchen macht mir frei!"), der „lange Lulatsch" als Symbol für „schnoddrige Jelassenheit, Treue und Besessenheit", die Oma im Tagebuch einer 17jährigen („Ich hab oft an ihr jedacht...") und vieles andere mehr. Mit dem Berlinischen bestens vertraut seit ihren Studientagen ist die Solistin Doris Bierett. Sie selbst nennt sich „Singende Schauspielerin", denn gelernt hat die vielseitige Diseuse und Musicalsolistin ihr Handwerk auf der Max-Reinhardt-Schule in Berlin. Zu ihren Lehrern gehörten noch die Altmeister des Chansons allen voran Friedrich Hollaender. Doris Bierett eroberte sich eine Musicalrolle nach der anderen, denn sehr bald hatte man ihre Dreifachbegabung entdeckt, die für dieses Fach Voraussetzung ist: Singen, Spielen, Tanzen. „Das ist in unseren Breitengraden heutzutage schon eine Seltenheit, daß sie die ernste und heitere Muse gleichermaßen bedient" (Berliner Morgenpost). Sie sang die Anna I aus Brechts/Weills „Sieben Todsünden". An der Deutschen Oper Berlin gastierte sie als „Öffentliche Meinung" in „Orpheus in der Unterwelt". Seit zwei Jahren arbeitet sie mit Christoph Rueger zusammen, ihrem Partner am Piano; aus dieser Verbindung entstanden mehrere literarisch-musikalische Soloprogramme. Beide haben als „Liebeserklärung an diese herrliche, vitale Stadt" Berlin die vorliegende LP eingespielt. Die stilistische Palette ist bewußt breit gehalten: Streichquartett, Cafehaus, Blasmusik, Latin, Jazzoides, Sentimentales, Deftiges, Leises. Rueger, der 15 Jahre Kabarettpraxis in der DDR mitbringt, bezeichnet seine pluralistische Musik als „Stile misto" und hat diesen schon mit großer Resonanz in einem Musical „Farm der Tiere" 1982 auf die Bühne gebracht. An der Platte überraschen neben der komödiantischen Vielseitigkeit der Solistin, der Vielfalt der Kompositionen und den farbigen Arrangements auch die virtuose Ausführung der Instrumentalpartys. Eine mutige, ungewöhnliche und solid gearbeitete Schallplatte! H. H.

Steglitzer Heimat. Mitteilungsblatt des Heimatvereins für den Bezirk Steglitz gegr. 1923 E.V. Im 29. Jahrgang erscheinen jetzt die Halbjahresblätter „Steglitzer Heimat" des rührigen Heimatvereins für den Bezirk Steglitz, jeweils 32 Seiten stark (DIN A4). Aus ihnen erfährt der Leser neben den Vereinsinterna (Veranstaltungskalender, Nachrufe, Stiftungen, auch Hinweise auf den neuen Jahresbeitrag von 48 DM) interessante Einzelheiten aus Geschichte und Gegenwart des Bezirks Steglitz. Hier seien etwa die Aufsätze „Aus dem Groß-Lichterfelder Musikleben", ein Beitrag „550 Jahre Schützengilde Berlin Korporation" aus der Feder Gert Lehnhardts, eine Gedenkrede für Otto Morgenstern und „111 Jahre Goethe-Oberschule Ein Stück Lichterfelder Schul- und Ortsgeschichte" erwähnt. „Vom Werden und Wesen zweier Dörfer Lichterfelde und Giesensdorf im Mittelalter" handelt ein Beitrag von E. Reinhold. Voll Stolz kann der Verein aufsein Haus Drakestraße 64 a, Heimstatt auch des Museums, verweisen, das 80 Jahre nach seiner Errichtung mit Gesamtkosten von rund 1,12 Mio. DM wieder hergerichtet werden konnte. In unserer Vereinsbibliothek steht das Mitteilungsblatt „Steglitzer Heimat" für die Ausleihe zur Verfügung. SchB.

Eingegangene Bücher (Besprechungen vorbehalten) Ch. W. Allers: Spreeathener Berliner Bilder 1889. Neu herausgegeben und kommentiert von K. J. Lemmer, Rembrandt Verlag, 34 Seiten, gebunden, 24,80 DM. 337

Edition Photothek: III. Willy Römer: Ambulantes Gewerbe Berlin 1904-1932. VIII. G. Gronefeld: Frauen in Berlin 1945-1947. IX. W. Römer: Bürgerkrieg in Berlin März 1919. Erschienen bei Dirk Nishen Verlag in Kreuzberg, das Heft zu 8 DM. Ch. Funke, D. Kranz: Theaterstadt Berlin. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, 184 Seiten, 12 Zeichnungen, Broschur, 8 M. Abhandlungen aus der Pädagogischen Hochschule Berlin, Band VI: Beiträge zur Geschichte der Pädagogischen Hochschule Berlin, 250 Seiten, Leinen, 68 DM. Dieter Borkowski: Für jeden kommt der Tag ... Stationen einer Jugend in der DDR. S. Fischer Verlag GmbH, gebunden, 455 Seiten. Uwe Schlicht: Trotz und Träume. Jugend lehnt sich auf. Mit Texten von verschiedenen Autoren, Verlag Severin und Siedler, Berlin, 266 Seiten, kartoniert, 19,80 DM. Louis F. Prinz von Preußen: Im Strom der Geschichte. Langen Müller Verlag, 384 Seiten, mit zahlreichen Fotos, 39,80 DM. Wolfgang Genschorek: Robert Koch. Humanisten der Tat. Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig, 224 Seiten, 96 Abbildungen, Leinen, 14 M oder 19,80 DM. UlfMiebe: Lilli Berlin. Roman. Piper Verlag, 227 Seiten, gebunden, 28 DM. Ekkehard Verchau: Otto von Bismarck. Droemer und Knaur Verlag, 232 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Taschenbuch, 9,80 DM. Irmg. Ackermann (Hrsg.): Kurt Tucholsky. Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung. Verlag Edition Text und Kritik GmbH, 208 Seiten, geleimt. Utta Danella: Sophie Dorothee - eine preußische Geschichte. Bastei Lübbe Verlag, Taschenbuch Sonderband, 128 Seiten, 5,80 DM. W. Requardl und M. Machauke: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Erich Schmidt Verlag, 269 Seiten, 16 Tafeln und 1 Faltblatt, mit insgesamt 42 Abbildungen und 3 Karten, kartoniert, 78 DM. G. Sichelschmidt: Große Preußen. Zwölf biographische Skizzen. Türmer Verlag, 256 Seiten, 12 Tafeln, Ganzleinen, 28,80 DM. Potsdamer Schlösser in Geschichte und Kunst. VEB Brockhaus Verlag, Leipzig, Format 24 X 28 cm, 208 Seiten, Leinen, mit vielen Bildern und Reproduktionen, 62 DM.

Nachrichten Um das Knoblauchhaus im Viertel um die Nikolaikirche Das historische Viertel um die Nikolaikirche ist gegenwärtig vollständig abgeschlossen, an der Renovierung bestehender Bauten wird ebenso gearbeitet wie am Einfügen historisch nachempfundener Neubauten, von denen einige etwas putzig wirken und mit ihren Giebeln eher in Hansestädten an der Ostsee angebracht wären. In dem neuen Wohngebiet am Marx-Engels-Forum sollen bis zur 750-Jahr-Feier 1987 Gaststätten mit insgesamt 1200 Plätzen entstehen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem 1759 errichteten schönen Bürgerhaus in der Poststraße zu, dem Knoblauchhaus, in dem nach der Neugestaltung auch die „Historischen Weinstuben" ihre Pforten wieder öffnen werden. Rund 170 Jahre lang war das Haus im Besitz der bedeutenden Berliner Familie Knoblauch, der eine Reihe berühmter Persönlichkeiten entsprossen ist. Neben dem Architekten Eduard Knoblauch sind hier der Mitgründer der Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin (VLB), Armand Knoblauch, und sein Bruder, Kommerzienrat Bernhard Knoblauch, Direktor des Böhmischen Brauhauses, zu nennen. Schließlich gehört auch Richard Knoblauch in diese Reihe, der eine Vielzahl brauhistorischer Arbeiten verfaßt hat, aber auch über „Die Löwenbrauerei-Böhmisches Brauhaus AG Berlin Vergangenheit - Gegenwart" (1930). In der Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins erschienen von 1934 bis 1942 seine Aufsätze über „175 Jahre Knoblauchsches Haus". SchB. 338

Kern des ehemaligen märkischen Dorfes Marzahn wird neu gestaltet Inmitten des großen Neubaugebietes Berlin-Marzahn im 21. Stadtbezirk des einstigen Groß-Berlins wird der Kern des ehemaligen märkischen Dorfes Marzahn nach historischem Vorbild neu geschaffen, wobei bestehende Häuser wieder hergerichtet oder neu erbaut werden. Das älteste Gebäude des Dorfes, eine Kate mitten auf dem Anger, wird Museum. Die beiderseits des Dorfangers angesiedelten kleinen Häuser werden künftig Handwerksbetriebe aufnehmen, darunter eine Buchdruckerwerkstatt, eine Kurbelstickerei, eine Polsterei, einen Stukkateurbetrieb und eine mechanische Werkstatt. Eine Windmühle, die als technisches Denkmal voll funktionsfähig ist, soll dabei eine Attraktion bilden. Das Straßenpflaster entspricht dem dörflichen Charakter, Schilder, Lampen und alte Zunftzeichen unterstreichen den historischen Zweck. SchB.

* Aus Anlaß des 90. Geburtstages unseres - 1969 verstorbenen - Vereinsmitgliedes Egon Jameson (2. Oktober 1985) stellt die Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor in einer Ausstellung von Dezember 1985 an Bilder und Bücher zu Leben und Werk des Berüner Publizisten vor.

Aus dem Mitgliederkreis Dank freundlicher Fürsprache unserer Bibliothekshelferin Frau Margot Hentschel haben die Rechtsanwälte und Notare Günther Rißmann und Wolf Schuler, Mommsenstraße 71, 1000 Berlin 12, unserem Verein zwei Schreibmaschinen gespendet, die beide in der Bibliothek Aufstellung gefunden haben. Es sei herzlicher Dank bekundet. SchB.

* Dr. med. Ingeborg Falck, außerplanmäßige Professorin an der Freien Universität Berlin, hat einen Ruf auf eine C-3-Professur für Geriatrie am Universitätsklinikum Charlottenburg der Freien Universität Berlin erhalten. SchB.

* Der Berliner Senat hat Dr. Ernst Gottfried Lowenthal in Anerkennung seiner hervorragenden Verdienste auf dem Gebiet der Wissenschaft um Berlin den Titel „Professor e. h." verliehen. Professor E. G. Lowenthal ist auch als Autor in Publikationen unseres Vereins hervorgetreten. In der Gratulation des Vereins zu dieser außerakademischen Ehrung hatte es geheißen: „Damit sind Ihre Verdienste, die Sie gerade auch auf wissenschaftlichem Gebiet außerhalb des Hochschulbetriebes geleistet haben, von der Öffentlichkeit anerkannt und mit einem Titel ausgezeichnet worden, der in der deutschen Übersetzung ja wohl Bekenner heißt. Mit unserer Freude wollen wir nicht zurückhalten, sondern Ihnen und uns wünschen, daß Sie noch lange so fruchtbar tätig sind wie bisher und aus allem Tun Freude und Genugtuung empfinden." SchB.

Tagesordnung zur Außerordentlichen Mitgliederversammlung 1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und des Bibliotheksberichtes. 2. Bericht der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer. 3. Aussprache. 4. Entlastung des Vorstandes. 5. Wahl des Vorstandes. 6. Wahl von zwei Kassenprüfern und Bibliotheksprüfern. 7. Verschiedenes. Anträge aus dem Kreis der Mitglieder sind bis zum 28. Oktober 1985 der Geschäftsstelle einzureichen. 339

Veranstaltungen im IV. Quartal 1985 1. Mittwoch, den 30. Oktober 1985,15.00 Uhr: Besuch des neu eröffneten Verkehrsmuseums, Trebbiner Straße 9. Führung Frau Sigrid Döpfner. 2. Dienstag, den 12. November 1985,19.45 Uhr: Außerordentliche Jahreshauptversammlung, Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung s. o. 3. Freitag, den 6. Dezember 1985,19.45 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Dieter Brozat: „Die Hohenzollerngruft im Berliner Dom". Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Sonntag, den 15. Dezember 1985,16.00 Uhr: Vorweihnachtlicher Spaziergang um die Dorfaue Dahlem mit Besichtigungen von Domäne und St.-Annen-Kirche. Leitung: Herr Günter Wollschlaeger. Anschließend zwangloses geselliges Beisammensein im „Alten Krug" um 18.00 Uhr. Menü: Tomatencremesuppe, Jungschweinrückensteak vom Rost „Schweizer Art" mit Käse überbacken in Kräuterrahm mit feinen Buttererbsen und Herzoginkartoffeln, Fruchtsalat mit Zitroneneis. 33,50 DM. Telefonische Anmeldungen bis zum 10. Dezember 1985 nach 19.00 Uhr unter 8 54 5816.

Neue Mitglieder im III. Quartal 1985 Helmut Grunwald, Jurist Bayernallee 27,1000 Berlin 19 Telefon 3 05 57 54 (Schriftführer) Karl Heinz Rose, VHS-Direktor Flensburger Straße, 27,1000 Berlin 21 Telefon 3 9167 50 (Kollat) Joachim F. Sebaldt, Verlagskaufmann Sybelstraße 47,1000 Berlin 12 Telefon 3 23 2168 (Bibliothek)

Roland Schröter, Stadtrat a. D. Brauerstraße 31,1000 Berlin 45 Telefon 7 72 34 35 (Kollat) Karl-Heinz Than, Antiquar Zimmermannstraße 24, 1000 Berlin 41 Telefon 7 92 05 20 Helga Weiner, Diplom-Bibliothekarin Dortmunderstraße 7, 1000 Berlin 21 Telefon 3 914174 (Wollschlaeger) Christine Wolf Bautzener Straße 13,1000 Berlin 62 Telefon 7816649

Vorsitzender: Dr. Gerhard Kutzsch, Königin-Elisabeth-Straße 12,1000 Berlin 19. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 323 28 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-AUee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Dr. Gerhard Kutzsch, Günter Wollschlaeger, Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 340

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 82. Jahrgang

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Ratsbibliothek

Expressionistisches Formengut in der Zufahrtzone Müllerstraße des ehemaligen Straßenbahnbetriebshofes von Jean Krämer im Wedding

Januar 1986

Siedlungsplanung und Architektur der zwanziger Jahre in Berlin Von Günter Wollschlaeger Stadtlandschaft in der Entwicklung: Geschäfts- und Bürohäuser drängen in die City und treiben oft über engem Grundriß die Baukörper in bisher unerreichte Höhen. Flächige Wohnbereiche umranden in weitläufigen Horizontalen die Zentren der Produktionsstätten und Industrieanlagen an der Peripherie. Parke und Grünzüge verbinden sie. Baukunst als Raumkunst heißt das Postulat. Architektur und Natur verschleifen nicht mehr wie einst im Biedermeier, sondern durchdringen sich. Die Häuserreihen werden zu in sich geschlossenen Quartieren zusammengefaßt, große Wohnanlagen entstehen oder menschlich angemessene Siedlungen. Neue Raumvorstellungen suchen nach neuen architektonischem Ausdruck. Formvollendung und Zweckmäßigkeit soll er vereinen. Es wiederholt sich, was im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch Schinkel von Berlin auf Europa ausstrahlte. Die Berliner Architektur der zwanziger Jahre wird wesentlich die Architektur des 20. Jahrhunderts beeinflussen. Aber so neu ihre Schöpfungen auch erscheinen mögen, wurzeln sie doch in der architektonischen Arbeit der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin war im Jahre 1918 zwar nicht zerstört, aber eine ausgehungerte und verzweifelte Metropole wie 1945. Die ungenügende Situation im Wohnbau verlangte radikal nach neuen Lösungen. Hoffnungslosigkeit und Resignation mündeten jedoch wie immer nach lebenserschütternden Katastrophen sehr bald im kulturellen Aufbruch. Ein ungeheures Verlangen nach geistiger Produktivität und umfassender Neugestaltung durchflutete mit dem Zentrum Berlin das geschlagene Deutschland. Es brach, wie in Paris und in Moskau, zuerst in den Künsten auf, vor allem in der Baukunst, inspiriert von der modernen Malerei auch der Russen, fußte sie doch in überzeugender Folgerichtigkeit auf der Kontinuität der Schinkeltradition. Kein Geringerer als Bruno Taut hatte das schon sehr früh erkannt. Die Erneuerung allen ästhetischen, sozialen und politischen Lebens wollte man mit den Mitteln von Technik und Industrie vollziehen. Dezentralisierte Siedlungen mit nur wenigen Verkehrserschließungsstraßen, die den Freiraum, den Garten oder die Grünanlage, als Gemeinschaftsraum in den Wohnbereich einbezogen, sollten die Möglichkeit hierzu bieten, um die Anonymität des einzelnen in der Großstadt aufzuheben. Bauen bedeutete also mehr als die Schaffung ausreichenden Wohnraumes für die Familie. Städtebau sei Landschaftssteigerung, meinte zum Beispiel Ernst May, der seit 1925 Baudezernent in Frankfurt am Main war. Man konnte hierbei auf die bei der Anlage der „Gartenstädte" gemachten Erfahrungen des letzten Jahrzehntes zurückgreifen. Schon 1911 hatte P. Clauswitz diese in der Publikation der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft e.V. in Berlin-Schlachtensee „Die deutsche Gartenstadtbewegung" wie folgt definiert: „Eine Gartenstadt ist eine planmäßig gestaltete Siedlung auf wohlfeilem Gelände, das dauernd in Obereigentum der Gemeinschaft (Staat, Gemeinde, Genossenschaft u. a.) erhalten wird, derart, daß jede Spekulation mit dem Grund und Boden für immer ausgeschlossen und der Wertzuwachs der Gemeinschaft gesichert bleibt. Diese soziale und wirtschaftliche Grundlage bringt und erhält der neu entstehenden Stadt auch den Garten - selbst für den Minderbemittelten -, macht sie zur Gartenstadt." Zwei Richtungen zeichneten sich in der Architektur ab, um diese Forderung zu erfüllen: die des wiederauflebenden Expressionismus, der seinen Schöpfungen als sichtbaren Protest gegen den Moloch Technik mit alten Materialien und in handwerklich-traditioneller Produktion Gefühl und Phantasie zugrunde legte, und die der Neuen Sachlichkeit, die die Architektur vernunftgemäß nach dem Grundsatz, Form habe der Funktion zu folgen, entwickeln wollte. Eine große Anzahl junger Architekten machte sich voller Elan und Ideenreichtum daran, die neuen 342

Gedanken zu verwirklichen. Alfons Anker, Fritz Bräuning, Richard Ermisch, Emil Fahrenkamp, OttoFirle, Walter Gropius, Erwin Gutkind, Hugo Häring, LudwigHilberseimer, Fritz Höger, Jean Krämer, Hans und Wassili Luckhardt, Werner March, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe, Ernst und Günther Paulus, Hans Poelzig, Martin Punitzer, Adolf Rading, Otto Rudolf Salvisberg, Hans Scharoun, Bruno und Max Taut und Martin Wagner mögen hier stellvertretend für sie genannt werden. Schon von 1914 bis 1917 hatte Paul Schmitthenner die Gartenstadt Staaken angelegt. Historische Formeln sollten hier mit Leben erfüllt dem Großstädter ein neues geistig-sittliches Lebensniveau und Heimatgefühl vermitteln. Reihen verputzter Giebel mit winzigen Freitreppen an kurvig geführten Straßenseiten, Ausluchten und Erker wechseln mit kleinen Steildachhäusern. Stille Plätze sollten an die verträumten Winkel überkommener Kleinstädte erinnern. Bei gleichem Grundriß aller Reihenhäuser entstanden durch wechselnde Häuserzeilenfronten immer wieder neue Straßenbilder. Von der Renaissance bis in das 19. Jahrhundert hinein findet man eigenständig verarbeitete Anleihen aus der Baugeschichte. Die Fach- und Laienwelt war sich einig in ungeteilter Anerkennung, und Fritz Stahl schrieb: „Man geht durch die Straßen, deren Wesen Stattlichkeit ist, man wandelt »Zwischen den Giebeln' in einer kurvierten Gasse mit bewegten Linien, dann wieder zwischen grünbewachsenen Häusern oder an Reihenhäusern mit Bauerngärten vorbei, wo es die Heimlichkeit gibt, die wir alten Städten beneiden." („Die Gartenstadt Staaken von Paul Schmitthenner", Berlin 1917.) In der Siedlung Lindenhof im Formengut von Expressionismus und Jugendstil zwischen Eythund Arnulfstraße in Schöneberg legt Martin Wagner in den Jahren von 1918 bis 1921 an die Stelle der kleinen Gassen große binnenhofähnliche Freiräume mit den Mietergärten und Stallungen an, die er mit einer vorwiegend geschlossenen Randbebauung umgürtelt. Kurvige, gewinkelte oder gerade Straßen führen hier auch unter Überbauungen als beliebtes Motiv dieser Zeit in die einzelnen Wohnbereiche. Mit eingestellten Baukörpern und Fußgängerwegen bilden sie die Kleinstadtanklänge, die sich in expressivem Realismus um die natürliche Mitte eines Teiches als Bezugspunkt der Siedlung gruppieren. Neu ist die einheitliche Gestaltung der Häuserzeilen unter bewußter Prägung von Garten- und Straßenseite. Auf diesen Planungsgedanken werden nun die ein- und zweigeschossigen Wohnanlagen der kommenden Jahre fußen (Abb. 1). Auch die Architektengemeinschaft PaulMebes und Paul Emmerich läßt in den Jahren 1923 und 1924 in der Siedlung Heidehof für die Wohnstätten GmbH Berlin zwischen Potsdamer Chaussee und Niklasstraße in Schlachtensee diese binnenhofähnlichen Freiräume im natürlichen Zustand des dortigen Waldgeländes. Beide Siedlungen bieten ländliche Bezüge in der Großstadt, der Lindenhof mit seinen malerisch gruppierten Putzbauten, der Heidehof im warmen Kontrast seiner roten Backsteinhäuser zum tiefen Grün der Kiefern. Auch hier verbinden sich Reminiszenzen an alte Städte in Durchgängen und Lauben, Fensterläden, Haustüren und Fledermausgauben, Stufen vor den Reihenhäusern mit moderner Haltung und expressionistischer Formensprache in Spitzbögen, Zickzackbändern und spitz vorstoßenden dreieckigen Erkern. Überall in den Außenbezirken Berlins werden Siedlungsprojekte in Angriff genommen und verwirklicht. Fritz Bräuning führt in den Jahren 1920 bis 1928 für die Gemeinnützige Tempelhofer Feld Heimstätten GmbH reduziert eine Vorkriegsplanung von 1911 vor allem mit Doppel- und Reihenhäusern auf dem Westteil des Tempelhofer Feldes aus, die daher in Anlage und Straßenführung dem Jugendstil verpflichtet bleibt. Aufmerksam verfolgt man deren Entstehen, und Martin Wagner äußert sich anerkennend in der „Wohnungswirtschaft 1924" über den Architekten: „Mit einer Selbstsicherheit, wie wir sie heute nur bei wenigen Künstlern 343

finden, überträgt er die Tradition der Goethe-Zeit auf unsere Zeit und läßt seine Bauformen mit seinem Empfinden hineinwachsen in die spartanische Luft des neuen Deutschland" (Abb. 2). Um eine zentrale Platzanlage ziehen sich ruhige Wohnstraßen mit zweigeschossiger Bebauung, oft mit expressionistischen Zierstücken, die sich manchmal erweitern oder vielfältige Wohnhöfe an ihren Enden bilden. Diese Wohnhöfe gehen auf englische Gartenstadtvorbilder der Zeit zurück und werden hier in Neu-Tempelhof zum ersten Mal errichtet. Ein gärtnerisch gestalteter Parkgürtel zieht sich in weitem Bogen durch die Siedlung. Die von Fritz Bräuning geplante vier- und fünfgeschossige Randbebauung sollte sie nach außen abschirmen. Als großer, begrünter Binnenhof im Häusermeer der Großstadt war sie also konzipiert und oft später kritisiert worden, weil man sich nicht die Mühe machte, den geistigen Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu suchen. Auch hier stand die Überlieferung Pate. Gartenmauern mit verbundenen Gartenhäuschen setzen zum Beispiel das Motiv der mittelalterlichen Stadtmauer mit ihren Weichhäusern wie im Biedermeier, aber in moderner Formensprache, in das Verspielte um. Noch heute geht von vielen Partien der Siedlung etwas von der Behaglichkeit und Intimität dieses Zeitalters auf das Empfinden von Besucher und Bewohner über und beweist damit die zeitlose Gültigkeit dieser Planung. Das Reihenhaus mit Garten bildete damals das Ideal, das auch Erwin Gutkind gefordert hatte. Oft führen stadttorartige Ensembles zu ihnen, wie zum Beispiel der „Torweg" in Staaken und die paarweise angeordneten Laubenbauten an der Paradestraße oder an der Eingangszone der von Otto Rudolf Salvisberg von 1919 bis 1920 errichteten Siedlung Elsengrund nördlich des S-Bahnhofes Köpenick. Auch der Spitzbogendurchgang zur Potsdamer Chaussee am Heidehof gehört dazu. An die letzte Tradition der Baukunst und des Handwerkes, an die Epoche um 1800, sollte man bei neuen Bauaufgaben anknüpfen, hatte Paul Mebes gefordert. („Um 1800, Architektur und Handwerk im letzten Jahrhundert ihrer traditionellen Entwicklung", Berlin 1908,3. Auflage 1920.) Man besann sich wieder auf die sogenannte französische Revolutionsarchitektur und auf die der deutschen Romantik, die die Stereometrie in den Mittelpunkt ihrer formalen Überlegungen gestellt und ihr Ideal in Einfachheit und Schlichtheit gesehen hatte. Wohnbauten werden daher wieder selbständige Baukörper, die Stadtplanung der Vorkriegszeit und des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit ihren Prachtstraßen und Platzsystemen ist überwunden. Der „Siedlungs"Gedanke wurzelt im neuen ästhetisch-sozialen Ideal. Für ihn entwickelt man nicht nur neue platzsparende Gebrauchseinbauten, sondern auch spezielle Gemeinschaftseinrichtungen für entsprechende Funktionen. Da die Folge des Kriegsgeschehens jede private Bautätigkeit erstickt hatte, arbeiteten öffentlich geförderte Wohnungsbaugesellschaften, die meist auf Anregung der jeweiligen Gemeinden entstanden waren, und die Architekten gemeinsam an dessen Verwirklichung. Licht, Luft und Sonne für alle Großstädter ohne Unterschied gehören heute zu den Selbstverständlichkeiten. Aber die Erfüllung dieser Forderungen und der mit ihnen verbundenen Fragen wurde trotz früherer Gründungen einzelner Terraingesellschaften und Genossenschaften erst in jenen Jahren umfassend angeschnitten, diskutiert und schließlich in der Gestaltung von Baukörpern und Freiräumen gelöst. Zu den bekanntesten Beispielen dieser Reihe gehört wohl die Großsiedlung Britz. Hier teilten sich im Jahre 1925 zwei Bauträger das zur Verfügung stehende Gelände. Beide hatten eigene Bebauungspläne aufgestellt, die sich hauptsächlich in Proportionierung und Gestaltung der Baukörper und in der Straßenführung voneinander unterscheiden, aber jeweils von einem Teich als Zentralmotiv ausgehen. Gartenzonen, Grünzüge mit Bäumen und Buschwerk und Fußgängerwege werden hierbei von der Randbebauung der Verkehrszeilen umschlossen. Die Architektengemeinschaft Engelmann & Fangmeyer bestimmt in dem von ihr für die DeGeWo errichteten Bauabschnitt um eine kleine 344

Abb. 2: Einfahrtsbereich Paradestraße in die Siedlung Neu-Tempelhof von Fritz Bräuning 345

natürlich gehaltene Teichlandschaft die Lebhaftigkeit des Straßenbildes durch versetzte Kreuzungen, reizvolle Durchblicke, schwingende Kurven und Niveaugefälle. Die geraden und kurvierten Häuserzeilen unter Sattel- und Walmdächern mit besonders betonten, oft anheimelnden Ecklösungen ziert expressionistisches Formengut in Giebeln, Erkern und den Farbakzenten von Fensterläden und -faschen (Abb. 3, 4, 5). Völlig gegensätzlich hierzu konzipieren Bruno Taut und Martin Wagner weitläufig den von ihnen für die Gehag bebauten Siedlungsteil. Als Zentrum umschließt hier eine in sich geschlossene Wohnanlage hufeisenförmig eine natürliche Bodensenke mit dem Teich als raumbildendem Innenhof. Das Hufeisen und die sich unmittelbar westlich anschließende rautenähnliche Anlage setzen sich als alte, aus dem Jugendstil stammende Formen deutlich gegen die Außenräume ab und offenbaren die künstlerische Heimat Martin Wagners, der für die Planung verantwortlich zeichnete. Die waagerecht gegliederten, langgestreckten und flach gedeckten Baukörper der Neuen Sachlichkeit erhalten in den Wohnstraßen manches Mal eine jeweils auf die einzelnen Blöcke abgestimmte ausgewogene Vertikaltendenz, zum Beispiel durch Treppenhausvorlagen. Mit Eckbetonungen, Versetzungen und Kurvierungen sind sie auf räumliche Wirkung angelegt und tragen oft den Charakter jeweils wechselnder eigenständiger Wohnhöfe. Ihre Farbigkeit kommt aus dem Expressionismus, dessen Berliner Haupt Bruno Taut einmal gewesen war. Dieser Farbigkeit wegen - Rot, Dunkelblau und Weiß - ist die Siedlung schon damals heftig kritisiert worden, und auch die Zentralanlage des Hufeisens fand nicht ungeteilte Zustimmung, weil sie die städtebauliche Einheit zerriß. Bei ihrer Erweiterung südlich der Parchimer und westlich der Fritz-Reuter-Allee in den Jahren 1930 und 1931 hat Bruno Taut dann diese „Fehler" vermieden. Hier zählen seine Schöpfungen zu den besten der Zeit. Utopische Ideen der ersten Zeit waren längst verweht, wenn auch der Traum vom Sozialismus noch nicht vorüber war. „Brücke" und „Blauer Reiter" hatten schon vor dem Krieg neue Entwicklungsmöglichkeiten der bildenden Kunst gezeigt. Jetzt ging man weiter. Durch die Kunst die Welt zu verändern hieß das Ziel der hehren Schwärmerei. Sofort nach dem Krieg hatte eine Reihe junger Baumeister um Bruno Taut die ersten Denkanstöße zu einer lebensbezogenen Architektur vermittelt, der Kreis der „Gläsernen Kette", der sich zunächst gegenseitig in Rundbriefen über Ideen und Visionen informiert hatte und später diese in von der Novembergruppe überlassenen Räumen des Berliner Glaspalastes öffentlich zur Diskussion stellte. So war die Bevölkerung mit dem neuen Bauwollen vertraut geworden. Menschliches Maß bestimmte es. Deshalb wird man zwei, höchsten drei Geschosse in den Siedlungen antreffen, deren Baublöcke erst zum Ausgang der Zwanziger Jahre höher gezogen werden. Balkone oder Loggien und Veranden bilden nach Bruno Taut als „Außenwohnraum" wichtige Gestaltungselemente der Neuen Sachlichkeit. Für die Gehag planten die drei Architekten Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Rudolf Salvisberg den ersten Siedlungsteil am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, der von 1926 bis 1928 errichtet wurde. Auch hier verleugnet Bruno Taut nicht seine Herkunft aus dem Expressionismus. Kontrastreiche Farbgebung und unruhige Gliederung kennzeichnen seine Schöpfungen in der Riemeisterstraße und am Waldhüterpfad. Trotzdem bewahrten die Baumeister den einheitlichen Charakter der Siedlung, wenn die einzelnen Wohnblöcke auch ihre persönliche Handschrift tragen. Alle Einfamilienhäuser und die Erdgeschoßwohnungen der Mehrfamilienhäuser umgeben hier ebenfalls kleine Gärten. Die Kiefern- und Birkenbestände wurden weitgehend belassen und durch Bepflanzungen ergänzt. Die Randbebauung an den Straßen lockern Knickung, Schrägstellung oder Staffelung auf. Das Anliegen einer Waldsiedlung wird auch hier gewahrt. Mit der Anlage der „Weißen Stadt", der Großsiedlung Schillerpromenade in Reinickendorf, 346

Abb. 3: Das Haus Havermannstraße 16 in Giebelstellung als Blickpunkt der Rambowstraße in der Großsiedlung Britz, Bauteil Engelmann und Fangmeyer

Abb. 4: Kleinstadtidylle in der Großsiedlung Britz, Hanne Nute 99, Bauteil Engelmann und Fangmeyer 347

ging man im Mai 1929 ganz andere Wege. Zum ersten Mal nach dem Krieg schuf man Mietwohnungen in drei- bis fünfgeschossigen Bauten. Für die Baugesellschaft „Primus" planten sie wiederum drei Architekten: Bruno Ahrends, Wilhelm Büning und Otto Rudolf Salvisberg, dessen Laubenganghaus als Überbauung der heutigen Aroser Allee, der ehemaligen Schillerpromenade, den Akzent der Siedlung setzt. Abgesehen von gewissen Normen, die aus Kostengründen vorgegeben waren, verraten die jeweiligen Bauteile natürlich die individuelle Sprache ihrer Schöpfer. Um die bestmögliche Nutzung der Wohnfläche erreichen zu können, arbeitete die Gemeinschaft ganz im Sinn der Neuen Sachlichkeit die günstigste Grundrißlösung der Kleinwohnungen heraus und errechnete hierbei eine zweckmäßige Haustiefe von nur 9,40 m, die für alle Wohnzellen verbindlich wurde. Es sind weiß gestrichene Ziegelputzbauten, die Bruno Ahrends in seinen Treppenhauszonen an der Aroser Allee mit über die Dachkante greifenden „Klammern" expressionistisch betont. So sind auch die weiß-roten Putzstreifen unter den weit vorkragenden Dächern Wilhelm Bünings zu sehen. Formmischungen dieser Art bilden nichts Ungewöhnliches. Bruno Taut und viele andere Architekten verstanden sehr wohl, expressionistisches Gut in die Neue Sachlichkeit einzubinden. Durchaus harmonische Lösungen haben sie hierbei gefunden. Auch die turmartig überhöhten, quergestellten Kopfbauten beiderseits der Aroser Allee, die an dem kreuzenden Zug der heutigen Gotthard- und Emmentaler Straße den Zugangsraum eröffnen, gehören dazu. Sie stammen ebenfalls von Bruno Ahrends. Die Stahlbetonskelett-Überbauung Otto Rudolf Salvisbergs mit den fast gleichgebildeten Fronten - Loggien auf der einen, Laubengänge auf der anderen Seite - schließt diesen dann als Platzwand ab. In Salvisbergs Bauteil zwischen Aroser Allee und Romanshorner Weg klingt die Siedlung dann aus. Die Planung mußte teilweise auf vorhandene Straßen zurückgreifen, berücksichtigte aber auch ausreichende Wohnfolgeeinrichtungen wie ein Fernheizungswerk mit angeschlossener Wäscherei, ein Cafe, eine Apotheke, eine Kindertagesstätte und genügende Einkaufsmöglichkeiten (Abb. 6). Jetzt erreichten auch andere im Ausgang der zwanziger Jahre verwirklichte Projekte internationalen Ruf. Die „Friedrich-Ebert-Siedlung" im Bezirk Wedding zum Beispiel, die von 1929 bis 1931 von der Architektengemeinschaft Mebes & Emmerich und Bruno Taut für den Spar- und Bauverein Eintracht eGmbH errichtet worden war, die „Wohnstadt Carl Legien" im Bezirk Prenzlauer Berg, für die Gehag ebenfalls von Bruno Taut und Franz Hillinger entworfen, aus der Zeit von 1929 und 1930, und die Großsiedlung Siemensstadt aus eben diesen Jahren 1929 bis 1931 in Charlottenburg und Spandau angelegt. Sechs Architekten hatten sie für die Gemeinnützige Baugesellschaft Berlin-Heerstraße mbH geplant: Otto Bartning, Fred Forbat, Walter Gropius, Hugo Häring, Paul RudolfHenning und Hans Scharoun. Der Zeilenbau der Häuserreihen bezieht sich auch hier auf den großzügigen Freiraum der Mitte und beides wieder auf die geschlossene Randbebauung. In der nach dem 1920 verstorbenen Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes benannten „Wohnstadt Carl Legien" öffnen sich dreiseitig umbaute Höfe zur CarmenSylva-, der heutigen Erich-Weinert-Straße. Ihre Grünflächen vereinheitlichen sich mit dem Straßenraum und vermitteln großzügige Wohnlichkeit, die auch die Folgeeinrichtungen wirkungsvoll unterstreichen. In der „Friedrich-Ebert-Siedlung" waren zwischen dem jetzigen Volkspark Rehberge und der Müllerstraße viergeschossige, lebhaft gegliederte Putzbauten, die sich durch Staffelung und Farbigkeit auszeichnen, errichtet worden. Die neu entstandenen Wohngebiete der wachsenden Hauptstadt liegen überwiegend weit verstreut außerhalb des Berliner Stadtbahnringes, wobei sich die mehrgeschossigen Bauten nach und nach nahe der Stadtgrenze in Kleinsiedlungen mit ein- und zweigeschossiger Bebau348

Abb. 5: Expressionistisches Dreizackenmotiv in der Portalzone Fritz-Reuter-Allee 41 in der Großsiedlung Britz, Bauteil Engelmann und Fangmeyer ung verlieren. Die Stadtverwaltung hatte das Gelände hierzu erworben und an die jeweiligen Wohnungsbaugesellschaften weiterverkauft. Eine zusammenfassende Stadtplanung gab es noch nicht. Teilweise waren diese Siedlungen an einem schon vorhandenen Straßennetz aus der Zeit vor dem Krieg und in verkehrstechnisch bereits erschlossenen Gebieten entstanden. Die erwähnten Beispiele müssen genügen, den Interessierten anzuregen, auf Spaziergängen in den einzelnen Stadtteilen auch die vielen ungenannten Siedlungen und Wohnanlagen der Zwanziger Jahre für sich zu entdecken. Die Bautypen hatten sich nicht von den Entwicklungen der Vergangenheit gelöst. Das Einfamilien-, das Landhaus und der Mietwohnungsbau gehörten zu den überkommenen Aufgaben, denn nur radikal veränderte Gesellschaftsformen hätten radikal neue Wohnlösungen vorausgesetzt. Aber immer noch stand die Familie als Keimzelle des Staates im Mittelpunkt, und die Architekten der Zeit banden ganz bewußt diese Auffassung in ihre architektonischen Strukturen ein. Hierin lag der Unterschied zur sowjetischen Architektur, die Wohnstandard für arbeitende Massen mit Gemeinschaftseinrichtungen für den Alltagsbedarf forderte. Bei uns dagegen hatte sich nur die Form geändert. Deren Ästhetik umhüllte gleichsam die sie ausfüllende Ideologie. Geschmacksfragen seien soziale Fragen, hatte Bruno Taut formuliert. Neue Bauträger und auch neue Materialien förderten sie. Überall in Berlin entfaltete sich eine rege Wohnbautätigkeit. Mehr und mehr wurden in den eingemeindeten Vororten die einzelnen Straßenzüge bebaut. Einheitliche Häusergruppen verkörperten den Gemeinschaftsgedanken, der auch in den Wohnformen der geschlossenen Siedlungen zum Ausdruck gekommen war. Neben dem privaten Bauherren dominierten die zum Teil schon vor dem Krieg gegründeten Baugenossenschaften. Hier können wir ebenfalls nur wenige willkürlich herausgegriffene Leistungen erwähnen. Der Spandauer Stadtbaurat Karl Elkart betraute Richard Ermisch mit der künstlerischen Entwurfsplanung einiger öffentlich geförderter Wohnblöcke, die Adolf Steil in den Jahren von 1926 und 1927 für die Gemeinnützige Baugesellschaft mbH Adamstraße, Berlin-Spandau, ausführte. Es sind dreigeschossige 349

Baugruppen an der Adamstraße und ebenfalls drei- bis viergeschossige Baukörper an der Kreuzung der Zeppelinstraße und der heutigen Falkenseer Chaussee mit etwa fünfhundert Kleinwohnungen. Hier erscheinen die Massen durchschluchtet, ausgehöhlt und modelliert. Die Fassaden sind lebhaft durch plastische Raumschichten gegliedert. Unter abgetreppten, sich nach unten verjüngenden Helmen, die nach dem Krieg nicht wiederhergestellt worden sind, bilden zurückgesetzte turmartige Aufgipfelungen an den Straßenecken die Gelenkstücke der langen durch Vor- und Rücksprünge akzentuierten Häuserzeilen. Der ganze Formenapparat des Expressionismus triumphiert hier in spitzen Erkern und übereck gestellten Loggien, in Zickzackbändern an Abschlüssen und Gauben, kräftigen Profilierungen und immer wieder abgewandelten Dreizackenmotiven. Wie Gischt branden die Hausecken auf (Abb. 7). Verhaltener verrät der einige Jahre jüngere Klinkerblock an der Berliner und Winfriedstraße in Zehlendorf, den Hans Spitzner ab 1929 für die Bau- und Bodenfinanz GmbH zwei- und dreigeschossig unter Walmdächern errichtet hat, mit Zacke und spitzen Erkern expressionistische Formensprache (Abb. 8). In denselben Jahren, in denen Adolf Steil in Spandau die Planung von Richard Ermisch ausführte, errichtete Ludwig Mies van der Rohe in der Afrikanischen Straße 14 bis 41 im Bezirk Wedding vier gleichartige dreigeschossige Baukörper von hartem Umriß und abstrakter Wandfläche für die Heimstättengesellschaft „Primus" mbH. Sie sind flach gedeckt und waagerecht gegliedert. Untergeordnete zweigeschossige Flügel an den Seitenstraßen sind ihnen angehängt. An sie stoßende halbrunde Balkone wirken wie Gelenkscharniere. Straßen- und Gartenseite des überkommenen Haustyps sucht man vergebens. Die kubischen Baumassen mit achtundachtzig Wohnungen verraten die streng asketische Vergeistigung, die den Formwillen der Neuen Sachlichkeit auszeichnet. Ebenfalls in der Zeit von 1926 bis 1928 faßte Erich Mendelsohn in der von ihm für die Woga-AG erbauten Wohnanlage in der Wilmersdorfer Cicerostraße 56 bis 63 sieben Miethäuser in einheitlicher Gestaltung durch kräftige horizontale Ziegelbänder der Balkon- und Brüstungszonen auf ursprünglich weißen Putzwänden zusammen. Ihr eleganter Schwung im jeweiligen Doppelbalkonbereich rhythmisiert gekonnt die lange Fassade (Abb. 9 bis 10). Aber der Architekt geht weiter als Mies van der Rohe. Die Geschosse erscheinen hier wie übereinander geschichtet, und über einem unbewohnten Bodenstockwerk schließt leistenförmig die Flachdachkante ab. An der Rückfront unterbricht die Vertikaltendenz der halbrunden Treppenhausvorsprünge harmonisch die waagerechte Gliederung. Am Kurfürstendamm klingt dieser Block in einem der bedeutendsten Lichtspieltheaterkomplexe Europas der zwanziger Jahre aus, in dem „Universum" am Lehniner Platz, der heutigen „Schaubühne". Es ist ein niedriger, langgezogener zweigeschossiger U-förmiger Bau aus den Jahren 1927 und 1928 mit ursprünglichem Laden- und Bürokranz und zum Kufürstendamm hinausgerückten Entlüftungsschlot als Reklameturm, der wie ein Ruf an den Passanten wirkt. Diesen Eindruck unterstreicht der tiefe, optisch fast offene Eingangsbereich, der ihn magnetisch anziehen soll. Im Gegensatz zur Wohnanlage der Cicerostraße sind hier nur die gliedernden Teile verputzt, die Fassade aber mit Klinkern verkleidet. Mendelsohn hatte den Bau ganz auf das Medium „Film" ausgerichtet, Phantasie durch Raum, Farbe und Licht nach seinen eigenen Worten geschaffen. Der Film der Weimarer Republik besaß ja internationalen Ruf. 1923 hatte Robert Wiene ..Das Cabinet des Dr. Caligari" von Hans Janowitz und Carl Mayer gedreht, einen expressionistischen Rausch szenischer Strukturen, dessen bemalte Kulissen drei Künstler des „Sturm" geschaffen hatten. Im selben Jahr rüttelte Karl Grünes „Die Straße" das Publikum auf. Zwei Jahre später schuf G. W. Papst „Die freudlose Gasse", in der die junge Greta Garbo spielte, Mayers und Murnaus „Der letzte Mann" von 1924 mit EmilJannings war zum Welterfolg geworden, die Ufa brachte 1927 Fritz Längs „Metropolis" heraus, und viele andere sollten 350

Abb. 6: Expressionistische Betonung der Treppenhausvertikale an der Aroser Allee der Großsiedlung Schillerpromenade in Reinickendorf von Bruno Ahrends

folgen. Es gab 1315 Parkett-, 46 Logen-, 318 Rang- und 112 Rundbogenplätze im „Universum", das innen in Blau und Elfenbein, Gelb und Blaugrün gehalten war. Stahl, Mahagonitäfelungen. Keramikplatten und an der Flachdecke zur Bühne laufende Lichtbänder sollten das Publikum vom Alltag lösen und in eine andere Welt versetzen. Die Ladenzeilen konnten Umsatz und die Büros die Zuschauer bringen. Wirkliche Großstadtkonzeptionen waren verwirklicht worden. Schon die Gestaltung dieser Gesamtanlage weist Erich Mendelsohn als eine der ganz großen Begabungen der Zeit aus. Lichtarchitektur hieß eine andere neue Idee. Die Düsseldorfer Architektengemeinschaft Schöffler, Schloenbach und Jacobi verwirklichte sie in den Jahren 1926 bis 1928 im TitaniaPalast in der Steglitzer Schloßstraße. Licht sollte die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer erregen, Licht gliederte den Bau, der sich aus ineinandergeschobenen Kuben zusammensetzt. Neonröhren, Opalglasstreifen auch am Turm, beleuchtete Fensterflächen und indirektes Licht an den Gesimsen zauberten nachts helle Felder der Festlichkeit und Illusion. An ihrer flimmernden Wirkung brachen sich Kritik und Bewunderung. Das Foyer glänzte metallisch in mehreren Farben, die Eingangsfront gliederten vergoldete Halbsäulen auf Glasbasen mit Trichterkapitellen. 351

Die Umgänge waren in hellblauem und rotem Velours gehalten, Messing unterstrich den Charakter der Neuen Sachlichkeit, und die Wände des Zuschauerraumes überzogen ebenfalls über dem Mahagonipaneel metallisch-glänzende rote, blaue und grüne geometrische Muster. Hier fand man keine gerade Linie, alles war geschweift und kurviert. Die Bühne rahmte eine hufeisenförmige Lichtorgel, die in allen Farben des Regenbogens die Musik untermalte. Der Titania-Palast faßte mehr als zweitausend Zuschauer, im Parkett erwarteten sie 1354, im Rang 596, in den Logen 89 und auf dem Balkon 32 Plätze. Jetzt lockten auch Restaurants und Geschäfte mit Lichtarchitektur. Kaufhaus und Kino hieß die Steigerung der Idee von Ladenund Bürokranz Erich Mendelsohns, die Martin Punitzer 1929 im Friedenauer Roxy-Palast an der Hauptstraße mit Lichtarchitektur verband. Den fünfgeschossigen langgestreckten Baukörper mit durchgehenden Fensterbändern überzogen bei Dunkelheit horizontale Lichtstreifen hinter der Programmanzeige, in die die gläserne Vertikale des beleuchteten Treppenhauses wirkungsvoll einschnitt. Daneben verkündeten senkrecht angeordnete Leuchtbuchstaben den Namen „Roxy" über einem ebenfalls beleuchteten Doppelpfeil, der auf die waagerecht gelagerte Lichtfassade des Kinos herunterstürzte. Stahl gliederte die Fensterbänder, Bronze rahmte die Schaufenster. In unregelmäßiger Rechteckeinteilung sprang über dem Lichtspieltheater-Eingang nach rechts versetzt eine Glasfläche hervor. Über dunklem Schleiflackpaneel dominierten im Zuschauerraum vier Orange- und Brauntöne. Der Roxy-Palast war kleiner als die beiden vorherigen Beispiele. Er besaß nur 800 Parkett-, 270 Rang- und 36 Rangbogenplätze. Nach der Stabilisierung der Weimarer Republik war das Jahr 1924 auch für den Beginn des allgemeinen Mietwohnbaus bestimmend geworden. Aber alle Vorhaben gingen natürlich von wirtschaftlichen Überlegungen aus und waren an städtebauliche und auch finanzielle Voraussetzungen gebunden. Die Architekten hatten daher ihre Planungen nach den gesetzlichen Regelungen zur Förderung des Wohnungsbaus und deren Ausführungsbestimmungen einzurichten, so daß praktisch durch detaillierte Vorschriften der Qualitätsmaßstab von vornherein festgelegt worden war. Hierdurch glich der Typ dem der Wohnungsbaugesellschaften der Vorkriegszeit. Hinzu kam, daß das ebenfalls in der Vorkriegszeit entworfene und durch Fluchtlinien gesetzlich festgelegte Straßennetz verbindlich blieb und nur in wenigen Ausnahmen geändert werden konnte. Trotzdem gelangen den Baumeistern immer wieder interessante Schöpfungen. In Lichtenberg gliederte Hans Kraffert in den Jahren 1926 und 1927 eine expressionistische Ecklösung mit Baikonen der viergeschossigen L-förmigen Häuserzeile an der Wolfgang- und Scheffelstraße für die Berliner Baugenossenschaft durch spitz vorstoßende gebrochene Vor- und Rücksprünge mit jeweils bandartigen Liseneneinfassungen und dem bekannten Dreizackenmotiv des abgetreppten Giebels. Auch das über Stufen zu erreichende Portal entsprach dieser Gestaltung und war von einer allegorischen Figur gekrönt. Der Neuen Sachlichkeit verpflichtet blieb dagegen Bruno Taut in den Jahren von 1928 bis 1930 in der Siedlung Weißensee für die Gehag an der Buschallee und Gartenstraße. Die Südseiten der dreigeschossigen Häuserzeilen an der Buschallee öffnete er hier in Loggien oder Balkone und hielt die nach Norden gelegenen Fronten flächig geschlossen. Heute sind die Dachgeschosse teilweise ausgebaut, und die ursprüngliche Farbigkeit ist weitgehend verlorengegangen. Auch Erwin Guikind zielte in den Jahren 1926 und 1927 in Friedrichsfelde auf horizontale Wirkung. Er gruppierte die Fassaden der drei- und viergeschossigen Blockrandbebauung im Karree der ehemaligen Caprivi-Allee, der heutigen Marie-Curie-Allee, der Archenholdstraße, der Delbrück- und Bietzkestraße um einen großen Binnenhof mit Kindertagesstätte. Unverputzte Stahlbeton- und klinkerverblendete Brüstungsbänder wechselten mit weiß verputzten Vorlagen zwischen den Fenstern in den einzelnen Geschossen. Die Binnenhoffronten rhythmisierten 352

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r-j Abb. 7: Expressionistisch gestaltete Bebauung der Ecke Falkenseer Chaussee/Zeppelinstraße in Spandau von Richard Ermisch

Abb. 8: Expressionistisch gestalteter Wohnblock an der Berliner, Ecke Winfriedstraße in Zehlendorf von Hans Spitzner 353

dagegen in reizvollem Gegeneinander verblendete Treppenhausvorsprünge mit angeschlossenen Baikonen vor weiß verputzter Wandfläche. Die „Stadt und Land"-Siedlungsgesellschaft Berlin zeichnete als Bauträger. Eine ganz andere Idee verkörpert das Appartementhaus mit geringer Wohnfläche, aber komfortabler Ausstattung, das durch günstige Verkehrsverbindungen schnell zu erreichen ist. Für vom Berufsleben ausgefüllte Einzelpersonen war es gedacht. Von Hans Scharoun und Georg Jakobowitz stammt das fünfgeschossige Appartementhaus Kaiserdamm 25 in Charlottenburg am U-Bahnhof Kaiserdamm. Das Haus gehört zur Blockrandbebauung an der Ecke der Königin-Elisabeth-Straße und ist 1928 und 1929 für die Aktiengesellschaft West für Textilhandel errichtet worden. Der Gedanke, Kleinstwohnungen mit Gemeinschaftsanlagen Halle. Restaurant, Kaffeegarten - zu verbinden, kam vielen alleinstehenden Berlinern sehr entgegen. Garagen im unterkellerten Hof, Ateliers im Dachgeschoß, Dachgärten und Nebengelaß gehörten zu den modernen Wohnformen, die großen Anklang fanden. Über einem Sockelgeschoß rhythmisieren große Fensteröffnungen mit kleinen Austritten die lebhaft gegliederte Fassade. Der ruhig gelagerten horizontalen Masse sind schmale Treppenhausvertikale untergeordnet. Reizvoll kontrastieren die einzelnen Fenstergrößen. ,.Die ungeheure Menschenwerkstatt Berlins wird das kommende Geschlecht Deutschlands an sich ziehen in nie gesehenem Maß, und die nach seinem Geist Geformten bis in die entfernten Reichsteile zurückschicken. Die Vereinheitlichung Deutschlands wird, sicherer als durch Gesetze, durch die werbende Kraft des Zivilisationsherdes geschehen, der das zu sich selbst hinangewachsende Berlin ist. Ja, Berlin wird, so wenig es sich dies je träumen ließ, die geliebte Hauptstadt sein", schwärmte Heinrich Mann. Anregungen, Erkenntnisse und Erfahrungen verwerteten die beiden Architekten bei dem Bau eines zweiten Appartementhauses in der Nähe des Fehrbelliner Platzes in Wilmersdorf am Hohenzollerndamm 35 und 36 an der Ecke der Mansfelder Straße. Hier verbanden sie zwei parallel gelegene halbgeschossig gegeneinander versetzte Hauszeilen mit zwischengespanntem schmalem Lichthof durch mehrere ellipsenförmige Treppenhäuser. Auch dieser sechsgeschossige Block ist unter einem Flachdach waagerecht gelagert, wie das Appartementhaus am Kaiserdamm über unterschiedlichem Klinkersockel weiß verputzt, aber etwas später, 1929 und 1930, entstanden. Hier bergen der Hof ebenfalls Tiefgaragen und der hintere Trakt Atelierwohnungen. Wirtschaft, Arbeit und Verkehr prägen die Großstadt, aber an deren Planung schieden sich die Geister. Ludwig Hilberseimer wollte die „vertikale Hochhausstadt". „Statt noch weiterer Ausbreitung in der Ebene weitere Konzentration, weitere Zusammenballung. Aufbauen der einzelnen Stadtelemente, funktionell voneinander geschieden, der Höhe nach. Gewissermaßen zwei Städte übereinander. Unten die Geschäftsstadt mit ihrem Autoverkehr. Darüber die Wohnstadt mit ihrem Fußgängerverkehr. Unter der Erde Fern- und Straßenverkehr" hieß seine alles „Lokal-Individuelle" verdrängende Vision. Der Verkehr war zum Symbol modernen Lebens geworden. Schon 1924 hatten Hans und Wassili Luckhardt eine Großgarage für tausend Autos entworfen, die zum ersten Mal die heute allgemein übliche platzsparende Schrägstellung der parkenden Fahrzeuge vorsah. Auch den Wettbewerb für die Neugestaltung des Alexanderplatzes, eines der großen Verkehrsknotenpunkte der damaligen Innenstadt, gewannen sie 1929 mit ihrem Partner Alfons Anker. Im Gegensatz zu anderen Architekten hatten sie den Platz als Ganzes gesehen und dessen Randbebauung zu einheitlich gestalteten Platzwänden mit gleichen Fensterbändern und Wandstreifen zusammengefaßt. Konvex gerundete, geschweifte und konkav geschwungene Blöcke ohne Binnengliederung rahmten in wechselnder Höhe den unregelmäßigen Grundriß mit engen und weiten Straßenkurven. Herzkammer eines pulsierenden 354



Abb. 9: Wohnanlage Cicerostraße 56 bis 63 in Wilmersdorf von Erich Mendelsohn, Straßenfront

Abb. 10: Wohnanlage Cicerostraße 56 bis 63 in Wilmersdorf von Erich Mendelsohn, Rückfront

Organismus mit fließenden Verkehrsströmen sollte der Alexanderplatz werden. Sie hatten sich mit den Gedanken Martin Wagners identifiziert, der als Stadtbaurat und Nachfolger Ludwig Hoffmanns gefordert hatte: „Klarste Formen, die während des Tages wie während der Nachtstunden ihre charakteristische künstlerische Wirkung ausüben, sind grundlegende Voraussetzungen des Weltstadtplatzes. Einflutendes Licht bei Tage und herausflutendes Licht bei Nacht erzeugen ein gänzlich neues Gesicht des Platzes." (Das Formproblem eines Weltstadtplatzes, Wettbewerb der Verkehrs A.G. für eine Umbauung des Alexanderplatzes.) Farbe, Form und Licht sollten also seine Hauptmerkmale sein. Der Entwurf dieser Architekten war zur futuristischen Hymne an die Großstadt geworden. Mit Putzflächen, Backsteinen und Keramikplatten kombinierte Jean Krämer in expressionistischen Deformierungen von 1925 bis 1927 für die damalige Berliner Straßenbahn-Betriebe GmbH im Wedding zwischen Müllerstraße, Belfaster, Themse- und Londoner Straße eine Halle für 320 Wagen mit Wohnungen für 380 Familien. Arbeits- und Wohnbereich lagen zusammen und doch voneinander getrennt. Reparatur- und Schlosserlehrwerkstätten, Magazine, Fahr- und Schaffnerschule, Verwaltungsräume und Prüfzimmer für Psychotechnik waren angeschlossen und sogar ein Straßenbahnmuseum vorgesehen. „Eine ganze Straßenbahnstadt" sei entstanden, begeisterte sich die „Baugilde" 1927 auf Seite 1037. Den Hof rahmen die mehrgeschossigen Wohnanlagen unter Walmdächern mit ornamentierten Portalen und reicher Bauplastik, und die Geschlossenheit des Ganzen steigert sich zur Mitte jeder Seite. Der Architekt, der mit eckig gebrochenen Wänden, disharmonischen Parabelbögen und sich nach oben verbreiternden Turmteilen mit überlangen Konsolen, scharfen vertikalen Kanten und dem Dreizackenmotiv alle Formen des Expressionismus durchspielte, erntete das einhellige Lob der Fachpresse. Neben den vielfältigen Lösungen, einen neuen Wohn- und Lebensanspruch in Siedlungen und Baublöcken erfüllen zu können, bemühten sich die Architekten dieser Zeit auch um das Eigenheim und Einzelhaus. Es sollte - dem damaligen Postulat zufolge - ebenfalls möglichst in unmittelbarer Berührung mit der Natur, also im Garten unter Bäumen, entstehen und durch großflächige Glaswände nicht das Gefühl der Abgeschlossenheit aufkommen lassen. Aber neue Strukturprinzipien konnten sich hierbei nicht entwickeln, weil sich Grundrißposition und Gesamtkonzeption häufig nach den Wünschen des jeweiligen Bauherren zu richten hatten. Dieser wünschte jedoch meist keine Experimente. Not der Nachkriegszeit war überwunden, es gab auch wieder Dienstpersonal. Man pflegte wieder - sicher etwas kleiner gehaltene repräsentative Geselligkeit und suchte daher geschmackvolle, vielleicht ineinander übergehende, auf jeden Fall aber zueinander geordnete Räume. So überwog die individuelle Form des konventionellen Haustyps unter Walm-, Sattel- oder Mansardendach, wobei bestenfalls traditionelle Wohnformen den veränderten Wohnbedürfnissen, wenn man diese überhaupt wollte, angepaßt werden konnten. Natürlich gab es Ausnahmen völlig unbefangener Freiheit, auch das Eigenheim unter den modernen wirtschaftlich-technischen Aspekt zu stellen und das neue Lebensgefühl der Gegenwart widerspiegeln zu lassen. Die Kunden Erich Mendehohns und der Luckhardts mit Alfons Anker zum Beispiel gehörten dazu. Die reifsten und auch schönsten Schöpfungen im Werk der letztgenannten Architekten bilden die beiden größeren Häuser am Rupenhorn 24 und 25 an der Ecke der Heerstraße aus dem Jahre 1928. Hier öffnen die geforderten großflächigen Glaswände der Wohngeschosse tatsächlich die Innenräume der sie umgebenden Waldlandschaft und ziehen diese in den Lebensbereich der Bewohner ein. Natur und Architektur verschmelzen. Dachgärten und Terrassen verstärken die Tendenz. Als nur schmale Verspannungen erscheinen die weißen Putzflächen der geschlossenen Wandteile. Drei Geschosse besitzen die Häuser. Im Sockel lagen die Abstell356

Abb. 11: Haus Am Rupenhorn, Ecke Heerstraße von Wassili und Hans Luckhardt mit Alfons Anker räume und die der Dienstboten, die Waschküche und die Heizungsanlage. Das Erdgeschoß erschien mit einem einzigen großen, allerdings gegliederten Raum als Wohnbereich und darüber gelangte man zu den Schlafräumen. Diese beiden Beispiele einer ursprünglich geplanten Dreiergruppe gehören zu den Höhepunkten lebendig-luxuriöser Wohnkultur, die das neue Bauwollen dieser Zeit meinte (Abb. 11). Wer in den zwanziger Jahren in Berlin wohnte, empfand die Stadt als natürliches Zentrum Deutschlands und als eine der großen Weltstädte der Erde, die zu den internationalen Treffpunkten zählte. Ihr kosmopolitischer Sinn verhinderte jeden Provinzialismus - auch in der Architektur. Sie bildete einen Teil der Regsamkeit und geistigen Kraft, die unsere Metropole auszeichnete. Als Bruno Taut 1929 Bau wollen und Baugeschehen in Europa und Amerika erläuterte, erschienen ihm die Arbeiten als „ . . . winzige Inseln in einem ungeheuren Meer. Aber an diesen Inseln wird mancher Seefahrer anlegen, er wird auf ihnen vielleicht einen Schimmer des Paradieses entdecken ..." (Baukunst 2). Die Architekten von damals wollten nicht neue Formen schaffen, sondern Hoffnung und Würde des Menschen in architektonische Strukturen umsetzen. Abgrenzung und Isolierung wollten sie überwinden und intim-lebendige Wohnbereiche für die Gemeinschaft schaffen. Ihre Ideen leben weiter und besitzen noch heute allgemeine Gültigkeit. Literaturhinweis: „Berlin und seine Bauten", Publikationsreihe, Verlag von Wilhelm Ernst und Sohn, Berlin, München, Düsseldorf, ab 1965 Fotos vom Verfasser Anschrift des Verfassers: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62 357

Neu-Staaken Von Arne Hengsbach Mit „Neu-Staaken" bezeichnete man seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis etwa zur Eingemeindung in Berlin im Jahre 1920 Teilflächen des Staakener Gemeindegebietes. Dabei handelte es sich um das an das Spandauer Weichbild angrenzende Gelände der Staakener Gemarkung, das sich zu beiden Seiten des Magistratsweges, am Brunsbütteler Damm und an der Spandauer Straße entlang zog. Das Gebiet des früheren „Neu-Staaken" gehört heute zu West-Berlin. Bei der 1823 abgeschlossenen Ablösung der von dem Kämmereidorf Staaken an die Stadt Spandau zu leistenden Abgaben und Naturallieferungen erhielt der Magistrat von Spandau für aufgegebene Berechtigungen umfangreiche Ländereien, den dritten Teil der Staakener Gemarkung, zugewiesen. Die Spandau zugeteilten Flächen parzellierte der Magistrat und vergab die einzelnen Grundstücke in Erbpacht. Zur Erschließung dieses „Magistrats"geländes wurde ein Weg angelegt, der nach seiner Lage und Funktion „Magistratsweg" genannt wurde. Die Erwerber nutzten die Erbpachtgrundstücke, die nach 1850 in ihr Eigentum übergingen, landwirtschaftlich. Ein kleiner Teil von ihnen siedelte sich auf dem neuen Besitz an. Im südlichen Teil des Magistratslandes wurde ein großes landwirtschaftliches Anwesen angelegt, das seit 1836 nach seinem Eigentümer einige Zeit „Kitzingers Vorwerk" hieß. Das auch als „Gut" bezeichnete Grundstück erhielt 1860 den Namen „Amalienhof'. Das weitab vom Dorf Staaken gelegene Amalienhof nahm kaum an dessen Entwicklung teil, führte vielmehr eine Art Eigenleben, geriet aber dann mehr und mehr in den Einzugsbereich des benachbarten Spandau. Auf den nördlich gelegenen Magistratsländereien ist es nicht zur Bildung so großer Liegenschaften gekommen. Hier wurden spätestens in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einige verstreut liegende kleinere Gehöfte erbaut. Die Statistik für 1861 führt auf: „Neu-Staaken, Colonie aus fünf einzelnen Gehöften bestehend." Neben den fünf Wohngebäuden, in denen 31 Personen lebten, waren noch neun Wirtschaftsgebäude, also Scheunen und dergleichen vorhanden. Zehn Jahre später, bei der Volkszählung von 1871, bestand der „Abbau Neu-Staaken" aus sieben Wohnhäusern mit 60 Bewohnern. Nach zeitgenössischen Karten lagen zu beiden Seiten des Magistratsweges vier, später fünf Gehöfte, davon zwei bzw. drei an der Südseite des Brunsbütteler Dammes; zwei unmittelbar südlich des Bullengrabens, und zwei weitere dürften an der Spandauer Straße gestanden haben. Der um 1823 angelegte Magistratsweg blieb zwar unbefestigt, erhielt aber die damals übliche Bepflanzung mit Straßenbäumen; während aber die Landstraßen und -wege in der Umgebung Spandaus hauptsächlich mit Pappeln und Birken bepflanzt wurden, hatte man den Magistratsweg ausnahmsweise mit Kirschbäumen besetzt. Einige Jahre jünger als der Magistratsweg war die Chaussee nach Hamburg, der heutige Brunsbütteler Damm. Sie wurde 1828/30 angelegt und nach Fertigstellung von den Personenposten von Berlin nach Hamburg befahren. Auch die Hamburger Chaussee war übrigens bis um 1900 ebenfalls mit Obstbäumen, Apfelund Birnbäumen, bestanden. Der älteste Weg Neu-Staakens war die Spandauer Straße. Sie bildet mit der Staakener Straße in Spandau den Teil eines alten Weges, der über Staaken nach Nauen und weiter nach Hamburg führte. An der Staakener Straße in Spandau, in der Gegend des Schlachthofes, stand einst ein Meilenstein: „Er zeigte den von Hamburg kommenden Fuhrleuten und auch den Reisenden an, welche Strecke sie noch bis Berlin zurückzulegen hatten" (Anzeiger für das Havelland vom 25. Mai 1907). Der Sandsteinsockel, auf dem der Stein gestanden hatte, wurde 1907, da er den Verkehr störte, vergraben. Beim Bau der 358

Dorfkrug am Brunsbütteler Damm im Jahre 1962 Berlin-Lehrter Eisenbahn im Jahre 1869 wurde der alte Staakener Weg von dem Bahnkörper zerschnitten. Der neue Übergang über die Bahn wurde weiter westlich in Höhe des Brandwerderweges geschaffen, bis dahin führte von der Staakener Straße an der Eisenbahn entlang ein neuer Weg. Der Staakener Teil des Weges erhielt 1902 den Namen „Spandauer Straße". Bis etwa 1930 blieb dieses von drei Straßen gebildete Wegegerüst Neu-Staakens beinahme unverändert. Das dünn besiedelte Neu-Staaken war agrarisch strukturiert. Außer den Ackerwirtschaften gab es nur noch den Gasthof, er lag an der Südseite des Brunsbütteler Dammes, an der Ecke des Magistratsweges. Er führte mindestens im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, vermutlich aber schon vorher, den Namen „Brauner Hirsch". Dieses Gasthaus wird bereits auf einer „Karte der Umgegend von Berlin (Manöverkarte)" aus dem Jahre 1838, allerdings mit dem Namen „Rother Hirsch" verzeichnet. Seit etwa 1900 hieß dieses Restaurant „Dorfkrug", es war ein eingeschossiges ländliches Gebäude, zu dessen Eingang einige Stufen führten. Eine völlig neue Entwicklung setzte mit dem Jahre 1890 ein. Die „Königlichen Institute" in Spandau, d. h. die fiskalischen Rüstungsfabriken, insbesondere die Gewehr-, die Munitionsfabrik und das Feuerwerkslaboratorium hatten neue Fertigungsprogramme abzuwickeln und stellten daher Tausende von Arbeitskräften ein. Die Zahl der bei den Staatsfabriken beschäftigten Arbeiter stieg von 2700 im Jahre 1883 auf 12000 im Jahre 1890, das brachte einen starken Zuzug von Arbeiterfamilien nach Spandau. In der Stadt herrschte eine gewisse Knappheit an preisgünstigen Arbeiterwohnungen, die Bautätigkeit konnte zunächst die Nachfrage nicht ganz befriedigen, es kam infolgedessen zu Mieterhöhungen. Ein Bruchteil der Zuziehenden suchte sich auch in den äußeren Teilen der Vorstädte und den nächstgelegenen Nachbargemeinden Quartier, vor allem in dem angrenzenden Staaken. 359

Dieser Trend, den Wohnsitz in das Umland zu verlegen und zur Arbeitsstätte in die Stadt einzupendeln, hielt auch noch an, als die Beschäftigtenzahl bei den Instituten wieder sank und in der Neustadt für die Bedürfnisse der Arbeiterbevölkerung nach 1890 ein neues Mietskasernenviertel entstanden war. Die Entscheidung, außerhalb der Stadt zu wohnen, mag begünstigt haben, daß hier die Möglichkeit gegeben war, einen Garten zu haben oder Kleinvieh zu halten. Einen frühen Hinweis auf die hier angedeutete Entwicklung bringt der Spandauer „Anzeiger für das Havelland" am 30. September 1890: „ D e r . . . Wohnungsmangel ist nicht ohne Einfluß auf die benachbarten Ortschaften geblieben. Mancher Familienvater ist gezwungen worden, obwohl er seine Beschäftigung am Orte hatte, um überhaupt nur ein Obdach zu haben, in den Dörfern der Umgegend Wohnung zu nehmen. Bei der dadurch hervorgerufenen starken Nachfrage sind in den Dörfern die Mietpreise wesentlich in die Höhe gegangen, und hierdurch ist wieder die Baulust angefacht worden. So sind in Staaken im Laufe des Sommers eine ganze Anzahl Neubauten ausgeführt worden,... außerdem sind noch einige in Angriff genommen worden, so namentlich zwei größere Familenhäuser dem Freibergschen Gasthof gegenüber." Dabei handelt es sich um einen Teil der Gebäudegruppe an der Nordseite des Brunsbütteler Dammes, gleich westlich vom Magistratsweg. Die Statistik bestätigt diesen Zuzug einer nicht mehr landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung: Staaken hatte 1885: 1033,1890: 1533,1900: 2061 Einwohner. Von ihnen übersiedelte ein Teil nach Neu-Staaken. Hier entstanden in der Zeit von 1890 an einige Gebäudegruppen von zweiund einigen dreigeschossigen Mietshäusern, die aber vielfach in keinem baulichen Zusammenhang miteinander standen, vielmehr handelte es sich oft um vom Hofraum umgebene einzelne Häuser. Derartige Gebäudeanordnungen bildeten sich am Westteil der Spandauer Straße, ferner in ihrem östlichen Teil zwischen Magistratsweg und Eisenbahn, wo die Straße als Sackgasse auslief, am Brandwerderweg entstand ebenfalls so ein „Nest" von einigen Häusern, am Magistratsweg nördlich vom Brunsbütteler Damm waren bis 1900 drei Neubauten, am oben bereits erwähnten Brunsbütteler Damm sechs errichtet worden. Am Magistratsweg, nördlich vom Brunsbütteler Damm, erbaute der Maurermeister Diedrich 1898 bis 1900 eine einheitlich gestaltete kleine Siedlung, bestehend aus sechs zweigeschossigen Doppelhäusern, und legte zur Erschließung eine neue Straße, eben die „Neue Straße" an. Die Errichtung dieser und anderer Wohnbauten wurde dadurch begünstigt, daß die Firma Orenstein & Koppel 1898/99 ihre Fabrik für Feldbahnen und Kleinbahnbedarf am Brunsbütteler Damm auf Spandauer Gebiet, aber nahe der Staakener Grenze angelegt hatte. Die Orensteinsche Fabrik, die 1906 gegen 800 Arbeiter beschäftigte, lag weitab von jeder Bebauung im freien Feld. Der Weg nach dem nächstgelegenen Spandauer Stadtteil Klosterfelde betrug etwa 1 % bis 2 km, nach Neu-Staaken aber nur die Hälfte dieser Entfernung. Die Neue Straße war die einzige neue Erschließungsanlage. Für die Befriedigung der Bautätigkeit reichten die bestehenden Straßen völlig aus, ihre Fronten nahmen die Neubauten auf, und die an verschiedenen Stellen entstandenen kleinen Ansiedlungen wuchsen nicht zusammen, zwischen ihnen lagen weite Rächen weiterhin noch landwirtschaftlich genutzten Geländes. In den neunziger Jahren drang die Berliner Mietskaserne immer weiter in das Umland der Stadt vor, meist zwar nicht in den Ausmaßen, die sie in dieser selbst hatten, aber Hausformen und Fassadengestaltung der Vororthäuser weisen deutlich auf die Vorbilder der Hauptstadt hin. In Staaken waren die Neubauten von solchen Mustern weniger beeinflußt. Die zweigeschossigen Miethäuser erinnern vielmehr häufig eher an die Vorstadthäuser in den mittleren märkischen Städten. Zuweilen wurden die Staakener Häuser in den neunziger Jahren so gebaut, wie sie in den Berliner Vorstädten bis in die siebziger Jahre aufgeführt worden waren, ein größeres Mietshaus am Magistratsweg hatte z. B. Fensterflügel, die nach außen zu öffnen waren. 360

Grundstück des Dorfkrug-Gehöfts, vom Magistratsweg, 1967 Da es in Staaken weder Wasser- bzw. Gasleitungen noch Kanalisation gab, entbehrten die Neubauten aller heute selbstverständlichen Einrichtungen. Das Wasser mußte vom Brunnen auf dem Hof geholt werden, dort befanden sich auch die Aborte mit der Jauchegrube, die Speisen mußten auf der Kochmaschine zubereitet werden, zur Erleuchtung der Räume diente die Petroleumlampe. Um die Jahrhundertwende waren die Ver- und Entsorgungseinrichtungen, vor allem Wasser- und Entwässerungswerke meist erst in Großstädten anzutreffen, weniger in den Mittelstädten - auch in Spandau wurde das Wasserwerk erst 1897, die Kanalisation 1898 in Betrieb genommen -, noch seltener in Kleinstädten und fast gar nicht in Landgemeinden, so wurde das auch in ortshygienischer Hinsicht bedenkliche Fehlen der wichtigen Anlagen seiner Zeit von den Betroffenen noch gar nicht als Mangel empfunden. Dagegen hatten die Einwohner Neu-Staakens unter den Straßenverhältnissen zu leiden, Spandauer Straße und Magistratsweg waren unbefestigt. Die Zustände im nördlichen Abschnitt des Magistratsweges zwischen Brunsbütteler Damm und Spandauer Straße schildert der Spandauer „Anzeiger für das Havelland" am 13. Mai 1898: „In einem fast unpassierbaren Zustand befindet sich seit einigen Jahren der sogenannte Magistratsweg in Staaken. Ganz besonders ist der Übelstand in diesem Jahre hervorgetreten, wo infolge des Regens dieser Weg total versumpft ist. Nur mit Lebensgefahr ist es nicht nur Kindern, sondern selbst Erwachsenen möglich, den nördlichen Teil des Magistratsweges zu betreten, der hier die Hamburger Chaussee (Brunsbütteler Damm) mit dem alten Hamburger Heerweg (Spandauer Straße) verbindet; denn diese Strecke liegt stellenweise über einen Meter tiefer, als die normale Höhe ausmacht, und hat außerdem an der am tiefsten Stelle zu beiden Seiten metertiefe Pfühle, welche mit Grundwasser so hoch angefüllt sind, daß es über den Weg hinauslaufe, wodurch dieser total aufgeweicht und unterspült wird. Wagen können hier nicht mehr verkehren, und die Fußgän361

ger haben sich bisher damit zu helfen gewußt, daß sie eine in der Nähe befindliche Holzbude demoliert und mit... Balken und Brettern sich ein Floß bauten; mittlerweile ist auch dieses von dem Wasser fortgetrieben worden ..." Auf dem südlich anschließenden Teil des Magistratsweges wurden andere Schäden festgestellt. Ebenfalls im Jahre 1898 wird berichtet, daß die Brücke über den Bullengraben derart morsch war, daß zu wiederholten Malen Pferde und Wagen durch den Bohlenbelag eingebrochen waren. Zuständig für die Reparatur der Brücke fühlten sich weder Staaken noch Spandau. In einem Verwaltungsstreitverfahren, das Staaken gegen Spandau einleitete, siegte 1901 die Landgemeinde: Spandau mußte die Kosten übernehmen. Die Unterhaltung für Brücke und Weg wurde u.a. abgeleitet aus Verpflichtungen, die Spandau als der einstigen Gutsherrschaft Staakens oblagen. Dieser unerwünschten Wegebaulast in einem fremden Gemeindegebiet suchten sich die Spandauer Körperschaften zu entledigen, seit 1906 verhandelte der Magistrat mit Staaken über die Ablösung der Verpflichtungen, und 1910 endlich wurde Spandau gegen Zahlung einer Ablösungssumme von 13000 Mark an Staaken von der Unterhaltung des Magistratsweges befreit. Zögernd ging auch die Gemeinde Staaken daran, Straßen zu befestigen, so wurde im Jahre 1905 der westliche Abschnitt der Spandauer Straße in etwa 300 m Länge mit einem 7 m breiten Fahrdamm gepflastert. Aber nicht nur zu dem Ausbau bestehender Straßen mußte sich die Gemeindevertretung entschließen, sie sah sich auch genötigt, sich mit noch gar nicht vorhandenen, in Zukunft aber notwendigen und herzustellenden Straßen zu befassen, d. h. Bebauungspläne zu entwerfen, Stadtplanung zu betreiben. Anlaß zu solcher Beschäftigung gab einmal die rege Bautätigkeit, die die Frage der Festsetzung von Baufluchtlinien entstehen ließ, in einem erheblichen Ausmaß aber nötigte auch die Terrainspekulation, die die Gemarkung von Staaken und Neu-Staaken erfaßt hatte, dazu, sich Gedanken zu einer künftigen baulichen Gestaltung des Gemeindegebietes zu machen. Den Anfang der vielen weiträumigen Grundstückskäufe und -bewegungen machte die „Berliner Maschinenbau A.G., vormals L. Schwartzkopff" im Jahre 1896. Sie erwarb ein 140 Morgen großes Gelände nördlich von dem Dorf zwischen der Lehrter und Hamburger Eisenbahn, in der Absicht, einen Teil ihrer Fertigung dorthin zu verlegen, doch nutzte sie das Terrain nicht und übersiedelte 1900 mit ihrer Lokomotivfabrik nach Wildau bei Königs Wusterhausen. Die Staakener Liegenschaften veräußerte „Schwartzkopff" 1913 an den Reichsfiskus, der dort 1914 bis 1917 die Gartenstadt Staaken erbaute. Um 1900 war die Berliner Terrainspekulation bis in die westlichen, noch landwirtschaftlich genutzten Teile des Spandauer Weichbildes vorgedrungen und griff nun auch auf das anstoßende Neu-Staaken und Staaken über. Die Landwirte veräußerten ihr Ackerland bzw. ihre Wirtschaften oder stellten sie den Terrainkäufern zum Kaufan. Bevorzugt wurde Gelände in der Nähe der beiden Eisenbahnlinien. Die Spandau-Staakener Terrain-Gesellschaft hatte schon vor 1904 Grundstückskomplexe in der Nähe des Bahnhofs Staaken und nördlich von Neu-Staaken erworben, die sie für Wohn- und Fabrikbauten verwerten wollte. Eine Ansiedlung von Industrieunternehmen an der Eisenbahn schien ein erstrebenswertes Ziel, das erreichbar erschien, wenn die Staatsbahn in Staaken einen Güterbahnhof anlegen bzw. Gleisanschlüsse genehmigen würde. In jener autolosen Zeit spielte der Güterbahnanschluß zur Anund Abfuhr bei den meisten größeren Firmen bei der Standortwahl eine ausschlaggebende Rolle. Aber auch am Magistratsweg befanden sich 1906 schon große Flächen in den Händen von Spekulanten oder waren diesen zum Kauf angestellt. Diese Grundstücksbewegungen hatten einen Strukturwandel des Dorfes zur Folge. Der „Anzeiger für das Havelland" stellte am 9. April 1907 fest: „In Staaken fängt man, gleichwie es seit 362

Häuser Spandauer Straße 75-77 im Jahre 1964.

3 Fotos: Rachais, Sammlung Kaiesse

mehreren Jahren bereits in Spandau geschieht, an, den landwirtschaftlichen Betrieb einzuschränken. Verschiedene bäuerliche Besitzer haben den größten Teil ihrer Liegenschaften an Spekulanten verkauft ...; andere, die zunächst nur auf Option verkauft haben, erhalten für jeden Morgen während der Dauer des Vertrages eine Entschädigung, die ihnen mühelos vielleicht mehr einbringt als der landwirtschaftliche Betrieb. Der hauptsächlichste Grund der Einstellung landwirtschaftlicher Tätigkeit ist in der ständig zunehmenden Leutenot zu suchen. Es ist selbst für hohe Löhne kaum noch möglich, brauchbares Gesinde für die Landwirtschaft zu erlangen..." Die Zeitung ergänzte ihre Mitteilung am 14. November 1908: „... Jetzt ist es in Staaken dahin gekommen, daß es keine größere Ackerwirtschaft mehr gibt, die nicht ganz oder zum größten Teil in andere Hände übergegangen wäre. Das ehemalige Bauerndorf existiert nicht mehr; es ist ein Gemeinwesen mit stadtähnlicher Entwicklung geworden, wo der Grund und Boden an den Straßen nicht mehr nach Morgen, sondern quadratrutenweise bewertet wird ..." Die Gelände blieben meist brach liegen, denn auch zur Pacht fand sich nur selten jemand. Außerdem blieben die Terrains oft nicht bei dem ersten Erwerber, sie gingen von Hand zu Hand, wobei sie jedesmal teurer wurden. Ein Grundstück an der Spandauer Straße hatte z. B. in einem Jahr dreimal den Eigentümer gewechselt und dabei einen Wertzuwachs von 28 000 auf 75 000 Mark erfahren. Wiederholt wird in jenen Jahren erwähnt, daß Gärtnereibesitzer aus Berliner Vororten ihre dortigen Grundstücke mit Gewinn veräußert und sich dann in Staaken angekauft hätten, um hier ihre Betriebe einzurichten. Tatsächlich aber hat sich der Zuzug nach Neu-Staaken damals in bescheidenen Grenzen gehalten, es scheinen hier um 1910 nur zwei Handelsgärtnereien entstanden zu sein. Diese zahlreichen Terrainbewegungen veranlaßten die Gemeinde, einen Bebauungsplan für das gesamte Gemeindegebiet ausarbeiten zu lassen. Über diesen 1903 aufgestellten Plan ent363

schied die Gemeindevertretung im folgenden Jahr. Außer den bereits in dem Plan vorgesehenen projektierten Straßen wollte man noch weitere 16 Straßen in ihm aufnehmen, von denen ein Teil in Neu-Staaken vom Brunsbütteler Damm aus über die Spandauer Straße bis an die Lehrter Eisenbahn geführt werden sollte. Gerade dieser Teil Neu-Staakens, der ja bereits stellenweise von einer Bebauung eingefaßt war, wurde 1908 wieder zum Gegenstand städtebaulicher Erwägung gemacht. Der Bebauungsplanentwurf von 1903 scheint wenigstens z. T., wie damals häufiger üblich, in schematischen Formen verfaßt worden zu sein. Zur Erschließung eines Baugeländes zwischen Brunsbütteler Damm und Spandauer Straße, vielleicht in der Gegend des heutigen Stieglattenweges, war eine 19 m breite Straße vorgesehen, die durch einen Pfuhl hätte gelegt werden müssen. Der Kreisbaumeister Schütte stellte einen neuen Entwurf auf. Da das Gelände dem Wohnungsbau dienen sollte, hielt er die Erschließung durch 12 m breite Wohnstraßen für angemessen, die er einerseits nach dem Vorbild Camillo Sittes, andererseits um den Zugwind von den Straßen fernzuhalten in mäßigen Kurven anlegen wollte. In der Mitte des Blockes sollte ein kleiner Schmuckplatz entstehen. Der Vorschlag wurde nicht ausgeführt, doch deutet er in Ansätzen Vorstellungen an, wie sie später bei Ausführung der Gartenstadt Staaken verwirklicht wurden. Der Plan von 1903 war bald überholt, einmal durch die Umgestaltung der Bahnanlagen in Staaken, zum anderen durch den Bau der Heerstraße im Gemeindegebiet. Außerdem äußerten die Eigentümer größerer Liegenschaften den Wunsch nach Änderung der projektierten Straßen, da deren Anordnung einer vorteilhaften, d.h. restlosen Aufteilung des Geländes in Baustellen entgegenstand. Die Gemeinde beschloß daher 1908 die Aufstellung eines neuen Bebauungsplanes. Dieser von den Architekten Schulte und Heide entwickelte Plan, dem der Regierungspräsident in Potsdam 1912 zustimmte, soll sich durch eine gewisse Großzügigkeit bei der Ausweisung von Plätzen für Erholungsanlagen ausgezeichnet haben. Derartige Freiflächen nahm man in den Plan auf, weil man davon ausging, daß Staaken seinen ländlichen Charakter einbüßen und sich auch zum Industrieort entwickeln werde. Auf Kritik stieß die Idee einer 60 m breiten Ringstraße, die für zu aufwendig gehalten wurde. Der Magistratsweg, der Neu-Staaken durchzog und ein bei nasser Witterung kaum zu passierender Feldweg war, an dem 1913 neun Häuser anlagen, wurde als 38 m breite Durchgangsstraße vorgesehen. Übrigens machte auch die Einbeziehung Staakens in die Vorortbauordnung mit z. T. dreigeschossiger Bebauung die Planung ausreichender Erschließungsanlagen erforderlich. Doch blieb der neue Plan oder sein Entwurf ohne Auswirkungen. Der Architekt Salvisberg hat 1919 nochmals einen Bebauungsplanentwurf für die Gemeinde Staaken aufgestellt. In den Jahren von 1890 bis etwa 1905 waren in Neu-Staaken die meisten Bauten entstanden, danach stagnierte die Bautätigkeit. Unser Ortsteil wies 1913 etwa 60 bebaute Grundstücke auf, die wie erwähnt an einigen Stellen in Gruppen beieinanderlagen. Anstelle der - wenigstens in diesem Teil Staakens - zurückgegangenen Baulust war die Terrainspekulation, das Grundstücksgeschäft, getreten, zur Regelung der bevorstehenden Parzellierungen und Verwertungen wurden die Bebauungspläne entworfen. Aber die Bewegung zahlreicher Liegenschaften blieb für die bauliche Entwicklung irrelevant, und die Stadtplanung blieb abstrakt. Schließlich siedelte sich 1911 doch eine größere Industriefirma in Staaken in Bahnnähe an, den Schwerpunkt baulichen Geschehens bildete aber seit 1913 die Gartenstadt Staaken. Der Erste Weltkrieg unterbrach das Bauen, die Grundstückspekulation und das Planen, und nach 1920, als Staaken nach Berlin eingemeindet und Ortsteil des Bezirks Spandau wurde, änderte sich auch nichts. Über das halb noch ländliche, halb vorstädtische Staaken mit seiner überwiegenden Arbeiterbevölkerung wurden weitreichende städtebauliche Entscheidungen nicht getroffen. Allenfalls durch seinen Flugplatz, auf dem bis zur Eröffnung des neuen in 364

Tempelhof der noch in den Kinderschuhen steckende Linienflugverkehr bis 1924 abgewickelt wurde und auf dem später gelegentlich Luftschiffe landeten, war das entfernte Staaken in Berlin bekannt. In Staaken bewegte sich kaum etwas, es dauerte z. B. länger als drei Jahre, bis nach intensiven und mühseligen Bemühungen endlich der Ortsteil 1927 eine Autobusverbindung mit Spandau erhielt. Damals transportierten die drei Handelsgärtner, die am Magistratsweg ansässig waren, ihre Waren mit dem Autobus zunächst bis zum Bahnhof Staaken, von wo sie mit der Vorortbahn weiter nach Berlin zur Zentralhalle fuhren. Die Bebauung Neu-Staakens war auf dem Vorkriegsstand fast stehengeblieben. Im Jahre 1926 bot die Gartenbaugesellschaft Woltersdorf m.b.H. dem Bezirk ein über 20 ha großes Gelände zum Kaufan. Es erstreckte sich von der früheren Spandauer Weichbildgrenze zu beiden Seiten des Brunsbütteler Dammes bis zum Magistratsweg und bis zum Bullengraben hin. Das Gelände wurde damals in der Hauptsache landwirtschaftlich, zu einem kleinen Bruchteil von Handelsgärtnereien genutzt. Nach der Bauordnung von 1925 lag das Terrain im Bereich der offenen Bauweise, ein Bebauungsplan war nicht aufgestellt, der einstige Staakener Entwurf war also längst obsolet geworden. Die Bezirkskörperschaften waren im Interesse der künftigen Entwicklung in ihren westlichen Bereichen an dem Erwerb interessiert, zumal die Stadt in Neu-Staaken keinen Grundbesitz besaß, der später für öffentliche Einrichtungen und Anlagen benötigt werden würde. Die Berliner zentralen Behörden lehnten jedoch den Ankauf ab mit Rücksicht auf die finanzielle Lage der Stadt und weil ein sofortiger Verwendungszweck nicht vorlag. Dieser Stillstand in der Entwicklung Neu-Staakens hielt bis 1932 an, dann kam wieder Bewegung in die Grundstücksgeschäfte, und diesmal folgten Parzellierung, Erschließung und Bebauung einander. Aufgeschlossen wurde zunächst das sogenannte Josephsche Gelände, das einst den Flurnamen „Brandwerder" getragen hatte. Es erstreckte sich vom Brunsbütteler Damm nordwärts bis zur Lehrter Bahn, war im Westen von Magistratsweg und Neuer Straße, im Osten von der früheren Spandauer Stadtgrenze bei der Prisdorfer Straße begrenzt. Das Terrain wird u. a. vom Harburger, Pinneberger, Blankeneser Weg durchzogen. Nach Regelung der baurechtlichen Auflagen wurde etwa 1935 mit der Bebauung begonnen. Entsprechend der vorgeschriebenen offenen Bauweise entstanden Einfamilienhäuser, häufig mit den für jene dreißiger Jahre typischen steilen und hohen Satteldächern. Gleichfalls im Jahre 1932 begann die „Landbank AG" ihre Terrains zu beiden Seiten des Magistratsweges und südlich vom Bullengraben „baureif zu machen". Es handelt sich um das vom Cosmar-, Rellstabweg, der Springerzeile usw. durchzogene Gebiet. Auch hier wurden seit Mitte der dreißiger Jahre Einfamilienhäuser errichtet. Trotz der nun zunehmenden Bebauung blieben noch große Flächen Neu-Staakens landwirtschaftlich genutzt, doch bahnte sich in den späten dreißiger Jahren eine neue städtebauliche Entwicklung an: Im Jahre 1937 wurde ein breiter Geländestreifen südlich des Brunsbütteler Dammes von der Egelpfuhlstraße ab nach Westen bis jenseits des Magistratsweges als Dauerkleingartengelände ausgewiesen und in drei „Blöcke" A, B und C aufgeteilt. Die ersten Kleingärten und Lauben entstanden 1938/39. Mit der zunehmenden Zerstörung von Wohnraum in Berlin siedelten immer mehr Ausgebombte auf das Staakener Kleingartengelände über, so daß in den Nachkriegsjahren hier einige hundert Personen in Lauben wohnten. Nach der Wohnungszählung in West-Berlin am 13. September 1950 waren in Staaken vorhanden: 482 Wohnlauben, 116 Wohnbaracken und 72 Behelfsheime. Diese Zahlen beziehen sich auf das damals noch ungeteilte Staaken, aber der größere Teü dieser „Notwohngebäude" ist seinerzeit in Neu-Staaken errichtet worden. Wie überall wurden auch hier in den Kriegsjahren Barackenlager für „Fremdarbeiter" bzw. 365

Kriegsgefangene eingerichtet, denn sowohl in Staaken wie in dem angrenzenden Westteil von Spandau befanden sich mehrere Fabriken, die Rüstungsgüter herstellten, so z. B. am Päwesiner Weg die „Maschinenfabrik" von Gustav Appel, in der mehr als 3000 Menschen eingesetzt waren. Ein solches Lager befand sich auf der Südseite des Brunsbütteler Dammes. Nach dem Krieg wurden diese Baracken einige Jahre als Wohnungen genutzt. Etwas jünger war ein zweites Barackenlager am Nordrand der Spandauer Straße. Nach dem Krieg diente es verschiedenen kommunalen Zwecken, einige Bauten waren ein Aufnahmelager des Sozialamtes, andere waren als Klassenräume, als Kindertagesstätte, als Säuglingsfürsorge eingerichtet worden. Das einstige Lager wurde - bis auf Reste - erst 1978/79 beseitigt. Für die weitere Entwicklung Staakens von ausschlaggebender Bedeutung war seine Teilung. Am 1. Februar 1951 wurden der westliche Teil Staakens, das ehemalige Dorf, der Flugplatz usw. von Berlin abgetrennt und in das Gebiet der DDR eingegliedert. Staaken war halbiert worden. Von der rund 1100 ha umfassenden Fläche des Ortsteils blieben 564 ha bei West-Berlin, das einstige Neu-Staaken und das Gebiet des früheren Gutes Amalienhof. Allerdings hat die Teilung Berlins ganz erhebliche Veränderungen in der Struktur der Stadt zur Folge gehabt. Das Gebiet West-Berlins blieb unveränderlich, war nicht ausdehnungsfähig. Der seit 1953 in starkem Aufschwung befindliche soziale Wohnungsbau konnte in den fünfziger Jahren die ausgebombten Flächen der Innenbezirke (Hansaviertel; Otto-Suhr-Siedlung), disponible Areale am Rand der Innenbezirke (Charlottenburg-Nord) und Grundstückskomplexe in den Außenbezirken, in der Nähe der bezirklichen Schwerpunkte (Spandau, GeorgRamin-Siedlung; Reinickendorf-Mitte) bebauen. Mit dem ständig wachsenden Raumbedarf für immer größere Wohnsiedlungen rückte man mehr und mehr zum Stadtrand, zur Mauer, vor, zumal in diesen äußeren Zonen die Grundstückspreise noch verhältnismäßig günstig waren. In Staaken, am Magistratsweg, lag z. B. der Preis für 1 m2 Grund und Boden kurz vor Aufhebung des Preisstopps für Grundstücke im Jahre 1960 bei etwa 1,80 bis 4,00 DM. Gerade hier in Staaken setzte der Zug der Bebauung zur Stadtgrenze hin ziemlich früh ein. Bereits im Jahre 1958 mußten die Kleingärtner, die südlich vom Brunsbütteler Damm und östlich des Magistratsweges ansässig waren, ihre Parzellen räumen, um einer 1961 fertiggestellten Wohnsiedlung mit etwa 500 Wohnungen, die sich bis zum Weißenstadter Ring erstreckte, Platz zu machen. Ebenfalls 1961 wurde mit dem Bau der größten Wohnanlage im einstigen Neu-Staaken, der „Louise-Schroeder-Siedlung", begonnen. Nördlich vom Brunsbütteler Damm wurden, vom Barmbeker und Oldesloer Weg erschlossen, 552 Wohnungen errichtet, die 1962 bezogen wurden. Das Gelände südlich vom Brunsbütteler Damm bis zur Südekumzeile hin wurde 1964 bis 1967 bebaut, insgesamt zählt die „Louise-Schroeder-Siedlung" 2271 Wohnungen. Auf dem Gelände am Barmbeker Weg wurde um 1960 noch Roggen geerntet, die Bauabschnitte südlich des Brunsbütteler Dammes wurden wieder auf bisherigem Kleingartenland aufgeführt. Weiter westlich am Zweiwinkelweg wurden die Neubauten 1969/70 auf früherem Wiesenland aufgeführt, direkt gegenüber der Mauer am Nennhauser Damm waren bereits 1961 einige Häuserzeilen entstanden. Überwiegend handelt es sich um vier-, sechs- bzw. achtgeschossige Zeilenbauten, ein lögeschossiges Hochhaus der „Louise-Schroeder-Siedlung" überragt die Siedlungen. Das Baugelände war nun auch in Neu-Staaken knapp, nördlich der Spandauer Straße wurde 1974/75 der „Wohnpark am Winterhuder Weg" mit 56 Eigenheimen auf dem Gelände der früheren Platzschen Gärtnerei errichtet, 1982 bis 1984 entstand eine weitere Wohnsiedlung mit 150 Wohnungen auf dem Grundstück des ehemaligen Barackenlagers nördlich der Spandauer Straße. In der 160jährigen Geschichte des früher mit dem Begriff „Neu-Staaken" gekennzeichneten 366

Plan von Neu-Staaken aus dem Jahre 1913. Die alten Gehöfte am Magistratsweg (x) hat der Plan nicht verzeichnet. 367

Gebietes sind fünf einander folgende Bauschichten festzustellen. Die älteste umfaßt die Zeit um 1830 und die folgenden Jahre, als die ersten kleinen Gehöfte am Magistratsweg und an der Spandauer Straße gebaut wurden. Aus dieser ersten baugeschichtlichen Phase ist nur noch das Nowkasche Haus, Magistratsweg 92, vorhanden, allerdings ist das eingeschossige Wohnhaus stark modernisiert worden. Die übrigen ehemaligen Gehöfte zum Magistratsweg sind erst in jüngerer Zeit abgerisssen worden. Das dem Nowkaschen gegenüberliegende Gehöft wurde um 1959, die beiden Gehöfte nahe dem Brunsbütteler Damm wurden etwa 1964/65 und der alte Dorfkrug 1970 beseitigt. An der Spandauer Straße befindet sich kein baulicher Zeuge mehr aus diesem frühen Zeitpunkt der Besiedlung, auch das eingeschossige Wohngebäude Spandauer Straße 96 dürfte nicht viel über die Jahrhundertwende zurückgehen. Dagegen hat sich die zweite zwischen 1890 und etwa 1910 entstandene Bauschicht zum größten Teil erhalten. Vorhanden sind an der Spandauer Straße ungefähr 36, am Brunsbütteler Damm sieben, am Magistratsweg zwei und an der Neuen Straße sechs Gebäude aus jener Zeit. Bei Modernisierungen sind aber die einstigen Fassaden weitgehend beseitigt und durch wenig ausdrucksvolle ersetzt worden. Die dritte Schicht, die der Einfamilienhäuser aus den Jahren 1935 bis 1939 in dem sogenannten Hamburger Viertel und weiter südlich am Magistratsweg, ist erhalten und von Neubauten aus den 50er bzw. 70er Jahren durchsetzt worden. Verschwunden sind die Wohnlauben und Behelfsbauten aus den Jahren von 1943 bis 1958, die immerhin fünfzehn Jahre das Bild der damaligen Stadtrandzone mit bestimmt haben. Über die Bauten der letzten 25 Jahre ist nicht viel zu sagen, die einförmigen, einfallslosen Häuserzeilen liefern sozusagen ein Musterbuch für die Bauformen des sozialen Wohnungsbaus in den sechziger Jahren. Die kahlen, langweiligen Fronten der verschieden hohen Häuserzeilen werden durch die kleine Ladenzeile am Brunsbütteler Damm zwischen Magistratsweg und Postamt 205 in einer etwas ansprechender wirkenden Ausführung unterbrochen. Anschrift des Verfassers: Arne Hengsbach, Joachim-Friedrich-Straße 2, 1000 Berlin 31

Nachrichten Der Kreisauer Kreis - Porträt einer Widerstandsgruppe Am 21. Juli 1985 fand im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek die Eröffnung der Ausstellung „Der Kreisauer Kreis. Porträt einer Widerstandsgruppe" mit einem Festakt in Anwesenheit des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker statt. Die Ausstellung ist von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angeregt und getragen worden. So wies ihr Präsident, Prof. Dr. Werner Knopp, auf die Verpflichtung hin, die besonders Berlin zu erfüllen hat, eine geistige Mitte im Gedenken an die Männer des 20. Juli 1944 zu schaffen. Er erinnerte an die räumliche Nähe der Staatsbibliothek zu den Stätten des Geschehens in der einstigen Bendlerstraße und Lehrter Straße, zum Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße und zum Regierungsviertel. Er begrüßte dankbar die Anwesenheit der Angehörigen der Kreisauer, die teilweise von weither angereist waren und bereitwillig bisher unveröffentlichte Zeugnisse beigesteuert haben. Er sprach vom Vermächtnis der Kreisauer an ein freies und menschliches Deutschland und einen Maßstab für sein Selbstverständnis als Nation. Vom Vermächtnis war auch die Rede in der Festansprache des Bundespräsidenten. Sie spürte der Klarheit und menschlichen Tiefe in Haltung und Zeugnis der Männer nach und nannte es eine große Konzentration von sittlich-politischer Substanz. Er bekannte: „Wir wären unseren Weg nach 1945 leichter gegangen, hätten wir ihre Stimmen noch hören dürfen!" Die Frage nach den moralischen Mitteln ihres Widerstandes, seine Ausrichtung auf die Menschenrechte, die religiöse Fundierung ihrer Anschauungen und das Verhältnis der Kreisauer zu Europa, vor allem in 368

den besetzten Gebieten, stellte Prof. Dr. Ger van Roon von der Freien Universität Amsterdam in seinem profunden Vortrag heraus. Er durchdrang die Vielschichtigkeit des Themas in knapper Klarheit. Am Ende stellte der Leiter der Ausstellung, Dr. Ernst Wilhelm Winterhager von der Freien Universität Berlin, Aufbau und geistigen Umfang der Ausstellung dar, die den Mitarbeitern „viel zugemutet" habe, weil sie ihnen unter den Händen zur anspruchsvolleren Aufgabe geriet als beabsichtigt. Viel unbekanntes Material konnte zusammengetragen werden; es ist geeignet, den Themenbereich neu zu durchdenken und schwerergewichtig zu werten. Die Ausstellung will anregen, neben der legitimen Geschichtsbetrachtung auf mittlerer Ebene der wissenschaftlichen Aufarbeitung den gebührenden Raum zuzuweisen. Ch. Knop

Neubauten rund um die Nikolaikirche zur 750-Jahr-Feier Zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 soll um die Nikolaikirche ein Wohnviertel entstehen, dessen Häuser gotischen Formen nachempfundene Fassaden erhalten; die Gebäude selbst sind Stahlbetonbauten. Das Palais Ephraim wird in der Nähe seines ursprünglichen Standortes am Mühlendamm wiedererstehen. Die schwierigen Fundamentierungsarbeiten sind abgeschlossen. Da die Puttenreliefs von der Fassade, die beim Abbruch des Hauses 1935 abgenommen und 1983 von Berlin (West) wieder zurückgegeben worden waren, zu stark verwittert sind, werden von Bildhauern des VEB Stuck Kopien dieses Fassadenschmucks hergestellt. In den Werkstätten werden gleichfalls die Skulpturen Christian Bernhard Rodes vom Deutschen Dom auf dem einstigen Gendarmenmarkt restauriert, wobei sich die Handwerker auf die erhaltenen Entwurfsskizzen Rodes und auf Meßbildaufnahmen stützen können. Vordem Anbringender Skulpturen am Gotteshaus werden sie mit hydrophobierenden Mitteln behandelt werden. SchB.

Um die Bronzeplatten der Siegessäule Unser Mitglied Otto Kanold, Beerenstraße 49 a, 1000 Berlin 37 (Zehlendorf), hat aus der Korrespondenz mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin erfahren, daß nach der Anbringung der beiden aus Frankreich zurückgekehrten restaurierten Reliefplatten auch die Reste der Platte „Königgrätz" (Südseite) gleichfalls restauriert und voraussichtlich 1986 an ihren alten Standort gebracht werden. Die Platte der Westseite (Düppeler Schanze) ist trotz intensiver Bemühungen nicht auffindbar. Ein Neuguß läßt sich deswegen nicht herstellen, weil gerade von dieser Seite nur sehr schlechte und von großer Entfernung aufgenommene Fotos existieren, auf denen keine Einzelheiten zu erkennen sind. Wer in seinem Besitz derartige Abbildungen hat, die eine Rekonstruktion ermöglichen könnten, wird gebeten, sich mit Otto Kanold in Verbindung zu setzen. SchB.

Förderungsprogramm „Berlin-Forschung" Zum siebenten Mal wurde 1985 das Förderungsprogramm „Berlin-Forschung" neu ausgeschrieben. Von den 39 Anträgen wurden auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten und Stellungnahmen aus Berliner Institutionen 13 Projekte zur Förderung vorgeschlagen. Damit beläuft sich die Zahl der insgesamt für jeweils zwei Jahre geförderten Vorhaben auf 106. Für die nächste Ausschreibung ist der Abgabetermin der 10. Februar 1986. Hinweise zur Antragstellung und Informationen zum Förderungsprogramm (Projektbeschreibungen und Abschlußberichte) erteilt die Freie Universität Berlin, Referat VII C der Zentralen Universitätsverwaltung, Telefon: 8 38 3178. SchB.

* Am 30. November und 1. Dezember 1985 beging in den Räumen der Elisabethkirche in der Invalidenstraße die Evangelische Studentengemeinde (ESG) der Humboldt-Universität das 40jährige Jubiläum ihres Bestehens. Als Neubeginn anstelle der alten Deutschen Christlichen Studentengemeinschaft (DCSG), die 1937 von den Nationalsozialisten aufgelöst worden war, konstituierte sie sich als ESG schon im November 1945 unter den ersten Studierenden der Friedrich-Wilhelms-Universität (erst später Humboldt-Universität) ; die Gemeinden der Technischen Hochschule (später TU) und der Pädagogischen Hochschule kamen später dazu. Zum Jubiläum trafen sich die einstigen Kommilitonen mit ihren jeweiligen Studentenpfarrern zwischen 1945 und heute. Die Reihe war begonnen worden von Pfarrer Eberhard Bethge (später Professor

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in England). Als Vetter und Mitgefangener von Dietrich Bonhoeffer ist er heute sein Biograph und Editor seiner Schriften. Aus dieser ersten Zeit waren noch etwa 30 Mitglieder der Studentengemeinde aus Ost und West anwesend. Bethge kennzeichnete die geistige und geistliche Situation der Stunde Null als die Zeit, da ihre Träger unverbrüchlich daran festhielten, das reine Evangelium könne als politischen und geistigen Probleme abdecken. Seine Nachfolger im Amt als Studentenpfarrer schilderten die Entwicklung der Gemeinde in den späteren Jahren als Phase der immer schwieriger werdenden Ost-West-Beziehungen bis hin zur heutigen Friedensbewegung. Das Verhältnis der Kirche zu Macht und Gewalt steht oft im Mittelpunkt ihrer Erörterungen. - Heute versteht sich die Kirche von Berlin-Brandenburg (Ost) als „auf dem Wege von der Volkskirche fort zu einer Kirche der bekennenden Minderheiten". Den wahrhaft festlichen Rahmen für den Jubiläumsgottesdienst gab der wieder hergestellte Französische Dom in seiner großartigen Schlichtheit. Der Platz der Akademie (Gendarmenmarkt) mit dem neuen Schauspielhaus und einigen historisch stimmig nachempfundenen Bürgerbauten an seinem Rande nimmt wieder Gestalt an. - Nach einem Rundgang durch „ihr" einstiges Universitätsviertel trafen sich die Einstigen aus Ost und West zu Berichten über ihre persönlichen Lebenswege innerhalb von 40 Jahren. Christiane Knop

Aus dem Mitgliederkreis Herzlicher Dank ist für zwei Spenden von Büchern für die Bibliothek abzustatten. Er gilt einmal unserem langjährigen Mitglied Frau Dr. Maria Arand in Osnabrück, die sich von einem Teil ihrer Bestände trennte, und zum anderen Willi Karstens, der nicht zu den Mitgliedern des Vereins zählt. Der Dank an dieser Stelle ist um so nötiger, als der die Bücher begleitende Brief in der Bibliothek nicht mehr auffindbar ist und es deswegen nicht zu einer schriftlichen Danksagung kam. SchB.

Studienfahrt ins Ravensberger Land Zunächst schien alles schief zu laufen: der Reisebus war nicht von der bestellten Qualität, der Museumsleiter G. Kaldewei erkrankt, der Sattelmeier Nordmeyer verstorben, das Abendessen in Enger alles andere als westfälisch - es überwogen dann aber doch die positiven Momente, so daß die Teilnehmer übereinstimmend diese Exkursion vom 13. bis 15. September 1985 als so harmonisch wie erfolgreich auf der Habenseite verbuchten. Allerdings war schon der Auftakt überaus verheißungsvoll, denn das von Dipl.-Br.-Ing. Karl Fordemann, Geschäftsführer der Brauerei Felsenkeller Gebr. Uekermann, im Brauerei-Ausschank aufgefahrene Menü mit westfälischem Pfefferpotthast als deftigem Mittelpunkt war nicht von schlechten Eltern, und die anschließende Führung durch die moderne Braustätte bewies soviel Wohlwollen für die Berliner Gäste, daß sich diese von den Gesprächen beim Abtrunk kaum trennen wollten. Der Disziplin der Mitreisenden ist ein hohes Lob zu zollen, weil sie, wenn auch schweren Herzens (oder vollen Magens), vollzählig zu dem gemeinsamen Abendessen oberhalb der Stadt Herford erschienen. Dieser Stadt galt am Sonnabend, 14. September 1985, ein ausgedehnter Rundgang, den der Herforder Musikwissenschaftler und Journalist Otto Lewe im Städtischen Museum mit einem eloquenten Einführungsvortrag eröffnete. Otto Lewe, der sich auch um die Programmgestaltung verdient gemacht hat, übernahm dann die eine Gruppe, Obervermessungsrat i. R. Günther Schlegtendal die andere, und nach der sehr instruktiven Führung vereinten sich beide Gruppen, pünktlich auf die Minute, im Stadtgarten Schützenhof Herford. Ein Verdauungsspaziergang führte zum Stiftsberg, von dort ging es mit dem Omnibus nach Enger, wo dem Widukind-Museum und später der Stiftskirche das Interesse galt. Hier verstand es Küster Rolf Hoffmann, die in Geschichte und Sage gleich verwurzelte und umstrittene Gestalt des Sachsenherzogs Widukind lebendig werden zu lassen. Das offizielle Tagesprogramm wurde mit einem Besuch des Wasserschlosses Oberbehme in Kirchlengern beendet, wo Frau Elisabeth von Laer, geborene von Kleist, ihre Berliner Gäste auch mit den Problemen der Erhaltung eines solchen Anwesens vertraut machte. Am Sonntag, 15. September 1985, übernahm H. Kuhlmann von der Stadtverwaltung Enger das Regiment und leitete die Besucher bei leider heftigem Regen zu den Sattelmeierhöfen Ebmeyer und Meyer Johann. Auf der Burg Sparrenberg in Bielefeld wartete Stadtarchivdirektor Dr. Vogelsang, der zunächst in den

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Kasematten und dann auch bei einem Gang rund um die Sparrenburg deren Baugeschichte erläuterte und zugleich die Historie Bielefelds nahebrachte. Die Reisenden waren guter Dinge, als sie sich im Restaurant Sparrenburg für die Heimreise stärken konnten, und der jetzt schon übliche Kaffee-Halt in Königslutter war noch eine Zäsur dieser Exkursion, deren Teilnehmer wie stets Aufgeschlossenheit für die besuchten Orte und Verständnis für die Reiseleitung mit Rücksichtnahme für einander verbanden. Das Herforder Hotel Stadt Berlin gleich gegenüber dem Rathaus kann als Herberge empfohlen werden. Das Geheimnis der nächsten Studienfahrt sei gelüftet: Die erste Anfrage liegt dem Lübecker Bürgermeister Dr. Robert Knüppel bereits vor. Termin: 12. bis 14. September 1986. SchB. * In einem Dankbrief vom 27. September 1985 äußerte sich Obervermessungsrat i. R. Günther Schlegtendahl in Ergänzung zu der seiner Führung vorangehenden Vorstellung wie folgt: Ich habe die Gruppe Ihres Vereins für die Geschichte Berlins gern durch das alte Herford geführt, weil die Mitglieder Interesse und Kenntnisse haben. Unterschriften der vorhergehenden Bundespräsidenten Lübke und Carstens habe ich auf den Urkunden über die Verleihung der beiden ersten Stufen des Bundesverdienstkreuzes. Nun haben Sie mir mit dem Bild des gegenwärtigen Bundespräsidenten eine passende Ergänzung ins Haus geschickt. Meine Familie hat in der Zeit vor 1914 bei der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Moccatassen mit dem Familienwappen fertigen lassen, von denen ich noch ein Stück auftreiben konnte. In der Familie meiner Frau befinden sich zwei Tassen ebenfalls aus der KPM, die König Friedrich Wilhelm III. und seine Gemahlin, die Königin Luise, dem Vorfahren meiner Frau, dem Superintendenten Sprengel in Memel, wo die Königsfamilie Schutz vor dem Eroberer Napoleon gesucht hat, geschenkt haben. Aus diesen historischen Tassen durften meine Frau und ich auf unserer Hochzeit 1931 trinken. Von 1930 bis 1932 war ich als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Preußischen Finanzministerium tätig.

Neuwahl des Vorstands - Hermann Oxfort neuer Vorsitzender Am 12. November 1985 fand im Rathaus Charlottenburg eine außerordentliche Mitgliederversammlung statt, die nötig geworden war, weil es am 4. Juni 1985 bei der ordentlichen Mitgliederversammlung nicht zur satzungsgemäßen Neuwahl des Vorstands gekommen war. Nach der Entlastung des Vorstands verabschiedete sich Dr. G. Kutzsch mit einem Rückblick auf seine Tätigkeit als Vorsitzender und mit dem Wunsch, der Verein möge gerade im Hinblick auf das anstehende Stadtjubiläum unter dem neuen Vorsitzenden erfolgreich weiterarbeiten. Der vom geschäftsführenden Vorstand einstimmig nominierte einzige Bewerber für das Amt des Vorsitzenden, Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort, Senator und Bürgermeister von Berlin a. D., stellte sich der Versammlung mit einem Lebenslauf und beruflichpolitischem Werdegang vor. Unter der Leitung des Mitglieds Jürgen Fischer wurde H. Oxfort bei zwei Gegenstimmen gewählt. Bei vereinzelten Enthaltungen war auch die von H. Oxfort geleitete Wiederwahl der Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands einmütig: 1. stellvertretender Vorsitzender Hans Werner Klünner, 2. stellvertretender Vorsitzender Günter Wollschlaeger (2 Gegenstimmen), Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, stellvertretende Schriftführerin Liselott Gründahl, Schatzmeisterin Ruth Koepke, stellvertretende Schatzmeisterin Leonore Franz. Die Wahl der Beisitzer erfolgte auf Antrag en bloc. Bei drei Enthaltungen wurden in dieses Amt berufen: Professor Dr. Helmut Engel, Irmtraut Köhler, Dr. Christiane Knop, Dr. Gerhard Kutzsch, Dr. Jürgen Wetzel und Professor Dr. Martin Sperlich. Dr. H. G. Schultze-Berndt begründete den einstimmigen Vorschlag des Vorstands, dem scheidenden Vorsitzenden Dr. G. Kutzsch die Fidicin-Medaille zu verleihen. Die Urkunde hat den folgenden Text: „Der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, verleiht Herrn Landesarchivdirektor i. R. Dr. phil. Gerhard Kutzsch am Tage seines Ausscheidens aus dem Amt des Vorsitzenden die Fidicin-Medaille in Silber. Herr Dr. Kutzsch hat dem geschäftsführenden Vorstand zwei Jahrzehnte lang angehört, seit 1978 hat er den Vorstand des Vereins inne. Mit seinem besten Kräften hat er als Vorsitzender Verantwortung getragen - sein hohes Ehrenamt war ihm Würde und Bürde zugleich! Auch als Herausgeber des Jahrbuches ,Der Bär von Berlin' und in der Schriftleitung der .Mitteilungen' hat er das 110 Jahre alte Motto des Vereins wahrgemacht ,Was du erforschet, hast du miterlebt'. Der Verein für die Geschichte Berlins dankt ihm für seine treuen Dienste! Berlin, den 12. November 1985." 371

Einstimmig wurden die beiden Kassenprüfer H.-D. Degenhardt und K.-H. Kretschmer und die beiden Bibliotheksprüfer Frau Dr. E. Crantz und H. Schramm in ihren Ämtern bestätigt. In der Aussprache wurden vor allem Fragen zur 750-Jahr-Feier, zum Berliner Gedenktafel-Programm und zu den Publikationen angeschnitten. Hier äußerten sich aus der Versammlung die Mitglieder R. Schröter, H. Kollat, M. Mende, Frau A. Hamecher, Frau I. Köhler, Frau P. Struckmann und H. Schiller. Zu den angestrebten Führungen im Ostteil der Stadt nahmen Frau R. Scheid und H. Kollat Stellung. J. Alberts setzte sich für die Rettung des Münzfrieses ein. H. G. Schultze-Bemdt

Buchbesprechungen Wolfgang Gottschalk: Altberliner Kirchen in historischen Ansichten. Koehler & Amelang (VOB) Leipzig 1985. 1. Aufl. Lizenzausgabe für Verlag Weidlich, Würzburg. Kirchenbau und Stadtgeschichte als untrennbar ineinander verwobene Begriffe hat Autor Wolfgang Gottschalk zum Thema seines Bildbandes „Altberliner Kirchen in historischen Ansichten" gemacht. Eine Fülle künstlerischer Darstellungen aus dem Ablauf vergangener Jahrhunderte bis in die Gegenwart in Form von Zeichnungen, Gemälden und Grafiken bis hin zu photographischen Aufnahmen bietet einen umfassenden Überblick über die Sakralbauten vornehmlich aus den Bezirken der alten Berliner Innenstadt. Die Gotteshäuser werden in der Reihenfolge ihrer Erbauung behandelt, unter denen als älteste die Nikolai- und die Franziskanerklosterkirche aus dem 13. Jahrhundert zu nennen sind. Aus ferner Vergangenheit sind „Das Jüngste Gericht" als Wandmalerei in der Nikolaikirche und der „Totentanz" in der Marienkirche bis in unsere Tage erhalten geblieben. Mit der Bedeutung Berlins als Residenzstadt der preußischen Könige belebte sich unter König Friedrich I. und unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. der Bau protestantischer Kirchen auch in außerhalb des inneren Stadtkerns gelegenen Bezirken. Die neuere Periode des Kirchenbaus im 19. Jahrhundert wurde maßgeblich durch das Wirken Karl Friedrich Schinkels geprägt, der Entwürfe für Neu- und Umbau sowie die Restaurierung verschiedener Berliner Sakralbauten ausgeführt hat. Von dem überhitzten Bestreben, durch Abriß historischer Bausubstanz zugunsten bombastisch-stilloser Geschäftsbauten während der Gründerjahre nach 1870 blieben auch Kirchen nicht verschont. In großem Umfang wurde durch Verwüstung des Berliner Stadtkerns infolge des II. Weltkrieges eine weitere Zahl von Kirchen zerstört, deren Wiederaufbau vielfach nicht mehr vorgenommen wurde. Eingestimmt wird der Betrachter des Bildbandes schon durch die Umschlagseite, die den Farbsteindruck von Carl Keyser-Eichberg „Blick über die Friedrichsbrücke zum Dom" im Nebeldunst eines frühen Novembermorgens zeigt. Eine Vielzahl zumeist ganzseitiger, teils farbiger Reproduktionen in bester technischer Qualität zeigt nicht nur „Kirchen gemeinhin". Zuweilen meint man die tönende Stille zu vernehmen, die das erhabene Interieur der Nikolaikirche auf Graebs Aquarell (Tafel 7) oder das der Kirche zum Grauen Kloster auf dem Gaertnerschen Gemäle (Tafel 27) ausstrahlen. Meisterhaft gelang Adolph von Menzel die Wiedergabe der andächtigen Sphäre, die während eines Gottesdienstes in der Klosterkirche entstand (Tafel 23), und Pferdegetrappel scheint beim Anblick von Gaertners herrlichem Gemälde des Umfeldes der Petrikirche in der Brüderstraße vernehmbar, so wirklichkeitsnah ist diesem begnadeten Künstler die Wiedergabe der Szenerie gelungen. Tafel 121 zeigt Johann Georg Rosenbergs „Hackeschen Markt" mit der Sophienkirche im Hintergrund, während im Vordergrund das schrille Keifen hadernder Marktweiber, die vor umgeworfenem Brotkorb handgreiflich werden, die Stille zerreißt. Die unverwechselbare Stimmung des angebrochenen Heiligabends läßt Franz Skarbina vor der im Innern hell erleuchteten Böhmischen Kirche in der Mauerstraße aufkommen, der festlich gekleidete Kirchgänger zur Weihnachtsandacht zustreben (Tafel 127). Eine große Anzahl photographischer Reproduktionen von Gesamt- oder Teilansichten der Kirchen, ihrer Interieurs und ihrer Umgebung vervollständigt den Bericht. Alles Wissenswerte über Standorte, Baugeschichte, Stilformen und Restaurierung der Kirchen wird unter Angabe einer Fülle architektonischer Details mit vielen Grundrissen auf den Seiten 163 bis 187 geboten. Ein übersichtliches Verzeichnis sämtlicher Tafeln und ein Personenregister mit Angabe der Epoche, in der die Künstler lebten und wirkten, ermöglicht dem Leser eine mühelose Orientierung über den gesamten Inhalt des attraktiven Werkes. Ein Literaturquellennachweis und zwei Situationspläne - aus alter und aus neuer Sicht schließen den Band ab, dessen Zustandekommen der Bereitwilligkeit des Märkischen Museums und einer Reihe weiterer Institutionen aus beiden Teilen Berlins zu verdanken ist, die dem Autor ihre Ausstellungsstücke in großzügiger Weise zur Auswertung überlassen haben. Hans Schüler 372

Willy Pragher: Verkehrsknoten Berlin in den 30er Jahren. 110 Seiten, 180 Fotos, 1 Verkehrskarte, 42 DM. Eisenbahn-Kurier Verlag, Postfach 55 60, 7800 Freiburg. Die Wortneuschöpfung „Fotovirtuose" vermag Willy Pragher, dem Autor des jetzt in der zweiten Auflage vorliegenden Bildbandes „Verkehrsknoten Berlin in den 30er Jahren", allein gerecht zu werden. Wronski, Senator für Arbeit und Betriebe, umreißt einleitend in gesetzten Worten Berlins Bestimmung als Verkehrszentrum in Vergangenheit und Zukunft. Anschließend berichtet Willy Pragher über seinen Werdegang, seine Interessengebiete, seine Vorliebe für die Berliner Verkehrssituation, und dies gelingt ihm aufgrund einer für ihn typischen Textgestaltung, die unverwechselbar in Ohr und Herz seiner Berliner Leser dringt. Auf S. 13 sehen wir den Autor, melonen-bedeckt, höchst vergnügt auf dem Kudamm am Leierkasten orgelnd. Er präsentiert sich als echter Verkehrsenthusiast, wenn er die Faszination beschreibt, die „die Elektrische" auf ihn bereits im frühen Kindesalter ausgeübt hat (S. 9 bis 11). Ja, Willy, in der frühen Morgenstunde des 5. Mai 1913 verursachten die Berolina-Zweiachser der Linie 51 beim Einbiegen von der Martin-Luther-Straße in die Grunewaldstraße erstmalig das für Dich „herzerquickende Kurvengeräusch", das Du als Straßenbahnfetischist lebenslang nicht vergessen kannst! Im späteren Berufsleben widmet Pragher sich vornehmlich dem Eisenbahnwesen. Im Auftrag der Reichsbahndirektion Berlin hält er die Umstellung vom Dampfbetrieb auf die elektrische Zugförderung in einer langen Reihe eindrucksvoller Aufnahmen fest. Vom Anhalter Bahnhof und seinem Umfeld gelangen ihm besonders lebendige „Schüsse". Einmalig die Physiognomien des trillerpfeifen-bewehrten Rangierers (S. 20/21) sowie der beiden Lokführer, die gespannt warten, bis der rotbemützte Fahrdienstleiter mit erhobener Kelle das Abfahrtzeichen signalisiert (S. 28/29). Besondere Erwähnung verdienen auch die Aufnahmen der Hugo-Preuß-Brücke am Humboldthafen (S.46) und die S-Bahnzüge während der Bauarbeiten an der Jannowitzbrücke (S. 53 und 55). Obwohl Pragher den Verlust eines großen Teils seiner „unwiederbringlich in jenen Schreckensnächten in Asche versunkenen Bilddokumente" bedauert und betrauert, gelang ihm ein Neubeginn. Nach Jahrzehnten der Wiederaufbauarbeit verfügt er heute über einen Bestand an Negativen, der die Millionengrenze bereits überschritten hat. Auch des Luftverkehrs ist gedacht, der auf dem Flughafen Tempelhof schon in den zwanziger Jahren begonnen hat. „Der greise Feldmarschall", nunmehr Reichspräsident, fährt im 8-Zylinder-Maybach vor, um den Erbauer des Luftschiffes zu begrüßen (S. 102). Weitere Fotos zeigen Berlin als bedeutenden Binnenhafen. Gewaltige symbolische Aussagekraft strahlt der in der Kranschlinge schwankende Kopf der Siegesgöttin aus, die sich im Januar 1939 auf dem Weg zu ihrem neuen Standort am Großen Stern befindet (S. 93). Auf einer der letzten Aufnahmen erfreut uns Willy Pragher mit dem nackten Po einer Denkmalsfigur vor dem Funkturm (S. 108). Der attraktive Bildband spricht eine eigene Sprache. Sein Besitz ist allen Berliner Verkehrsfreunden zu wünschen, die nicht nur an den Details einzelner Motive interessiert, sondern bereit sind, Praghers Urberliner Charisma in Wort und Bild auf sich einwirken zu lassen. Hans Schiller Tilly Boesche-Zacharow: Johannes Lotter. Der Herrgottschnitzer von Frohnau. M. und N. Boesche Verlag, Berlin 1985. DIN A5 kartoniert, 36 Seiten. Ein 75jähriges Jubiläum wie dasjenige Frohnaus bringt allerlei lokalhistorische Tatbestände und Bezüge ans Tageslicht. So ist auch diese bescheidene Monographie zu verstehen, die dem „Herrgottschnitzer" Johannes Lotter gewidmet ist, der am 17. August 1879 geboren wurde, kurz nach Vollendung seines 80. Lebensjahres verstarb, 33 Jahre in Frohnau arbeitete und dessen letzte Ruhestätte auf dem Friedhof Hainbuchenstraße nun dem Verfall preisgegeben ist. Werke von ihm findet man in der St. HildegardKirche in Frohnau, im Dominikus-Krankenhaus in Hermsdorf sowie in Kirchen Berlins und des Auslands. Einige Werke werden im Bild vorgeführt, auch dasjenige für das Grabmal seiner Frau Bertha, das jedoch von der Verwaltung des Städtischen Friedhofs in der Hainbuchenstraße ebenso wie alle anderen Kreuze und Christusfiguren von der Hand des Künstlers nach Ablauf der Grabstätte fortgeräumt und auf den Schutt geworfen wurde. Dies hat ein Künstler selbst dann nicht verdient, wenn er nicht zu den ganz Großen gerechnet werden kann. SchB. Die Mauer spricht. Text und Bildzusammenstellung Rainer Hildebrandt. 64 Seiten, Kunstdruck, 89 Abbildungen, davon 47 in Farbe, zugleich englisch „The Wall speaks". Verlag Haus am Checkpoint Charlie Berlin, 4., ergänzte Auflage, Juni 1985, 14,80 DM. Als vor fast einem Vierteljahrhundert der Stacheldraht die Menschen beider Stadthälften trennte und dann bald von einer Mauer abgelöst wurde, hätte niemand diesem Monster eine so lange Lebensdauer 373

gewünscht oder gar vorherzusehen gewagt, daß die dem Westen zugewandte Seite einmal Gegenstand eines künstlerischen Ideenwettbewerbs „Überwindung der Mauer durch Bemalung der Mauer" werden würde. Dies ist nun mit der Mauer der vierten Generation geschehen, mit deren Bau 1976 begonnen wurde. Ein 1,80 m breiter Sockel, zu einem Drittel dem Westen zugewandt und beidseitig tief im Boden eingelassen, verwehrt selbst Panzern den Durchbruch. Die Platten sind jetzt 16 cm stark (dritte Generation 10 cm) und 40 cm höher (mit Rohrauflage 4,10 m, dritte Generation 3,70 m). Die 1. Auflage dieses Buches ist 1982 erschienen. Sie mußte fortlaufend ergänzt werden, weil auch ohne Wettbewerb die große Fläche der Mauer nicht nur zu Graffiti jeglicher Art herausfordert, sondern auch zu künstlerischen Aussagen, etwa dem 400 m langen Fries mit dem vorsintflutlichen Tierpark Christophe Bouchets. Derartige künstlerische Aussagen, aber auch die Alltagsbemalung und die Geschichte der Mauer sind in diesem Bildband festgehalten, der vom Wirken der Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V. im Haus am Checkpoint Charlie Zeugnis ablegt. Dort einen Besuch zu machen ist aus dem doppelten Grund lohnend, weil die Gäste dieser Dauerausstellung nach Alter und soziologischer Zusammensetzung von Interesse sind, weil andererseits aber die Ausstellungen selbst immer wieder geändert und neu geordnet werden. Daß sie bis heute den Hauch von Improvisation, aus der sie ursprünglich geboren wurden, nicht zugunsten perfekter Ausstellungstechnik und didaktischer Vollkommenheit eingebüßt haben, ist an dieser Stelle und nur hier zu begrüßen. Mögen sie auch beim angestrebten Ausbau dieser zeitgeschichtlichen Schau so bleiben! H. G. Schultze-Bemdt

Eingegangene Bücher (Berlinliteratur, Besprechung vorbehalten) Baedekers Berlin-Wedding und Berlin-Tempelhof, 1983. F. Saß: „Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung 1846". Beschreibungen von etlichen Institutionen, wie Lokale oder Theater dieser Zeitepoche, mit einigen Altberliner Bildern. 250 Seiten, geleimt, im Verlag Frölich und Kaufmann, Berlin 1983. , {, /. Heinrich-Jost (Hrsg.): „Kladderadatsch. Die Geschichte eines Berliner Witzblattes von 1848 bis in das Dritte Reich". Mit vielen Seiten reproduziertem Kladderadatsch, Leinen, 350 Seiten, bei informai tionspresse c.-w. leske verlag Köln, 38 DM. i L A. Streckfuß: „1848". Die Märzrevolution in Berlin. Ein Augenzeuge erzählt. 740 Seiten, gebunden, bei informationspresse c.-w. leske verlag Köln, 1983, 58 DM. tL G. Keiderling: „Die Berliner Krise 1948/49". Zur imperialistischen Strategie des kalten Krieges gegen den Sozialismus und der Spaltung Deutschlands. 425 Seiten, verlag das europäische buch, 1982. — J. R. von Bieberstein: „Preußen als Deutschlands Schicksal". Ein dokumentarischer Essay über Preußen, Preußentum, Militarismus, Junkertum und Preußenfeindschaft. 194 Seiten, geleimt, bei Minerva Publikation Säur GmbH, 1981, 29,80 DM. — J. G. Lettenmair: „Roter Adler auf weißem Feld". Ein Baltumer im Dienste der Preußisch-Afrikanischen Kompanie zu Emden. Die Geschichte der Feste Groß-Friedrichsburg in Guinea von 1683 bis 1717. 392 Seiten, 36 Fotos, im Verlag H. Soltau GmbH „Ostfriesischer Kurier" KG, 34,50 DM. UlfFink: „Keine Angst vor den Alternativen!" Ein Minister wagt sich in die Szene. Herderbücherei 1983, / " B d . 1061,160 Seiten, 8,90 DM. / J . Scheer undJ. Espert: „Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei." Alternatives Leben oder Anarchie? Die neue Jugendrevolte am Beispiel der Berliner ,Szene'. Eine Bild/Textdokumentation, Broschurform, 173 Seiten mit 260 Abbildungen im Bernard und Graefe Verlag, 29,80 DM. B. Sonnewald undJ. Raabe-Zimmermann: „Die .Berliner Linie' und die Hausbesetzerszene" in der Reihe: Politologische Studien, Bd. 27. Taschenbuchformat (geleimt), 150 Seiten, im Berlin Verlag Arno ., Spitz, 1983, ca. 18 DM. /B. Laurisch: „Kein Abriß unter dieser Nummer". Zwei Jahre Instandbesetzung in der Cuvrystraße in Berlin-Kreuzberg. Werkbund-Archiv 7 im Anabas-Verlag Günter Kämpf KG Gießen, 1981. •B. Härlin undM. Sontheimer: „Potsdamer Straße". Sittenbilder und Geschichte. 175 Seiten, Taschenbuchformat (geleimt), im Rotbuchverlag, 1983, 15 DM. 374

t"ixp Paret: „Die Berliner Secession". Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland. 355 Seiten, Leinen, mit vielen Schwarzweiß- und Farbbildern, im Severin und Siedler Verlag, 1981. -"^P. Krieger und G. Heidecker: „Meisterwerke des Expressionismus aus Berliner Museen". Viele farbige und schwarzweiße Bilder. 151 Seiten, gebunden und im Schutzumschlag, Format 21 x 29,5 cm, im Verlag Frölich und Kaufmann, 1982,48 DM. A. Mühr: „Mephisto ohne Maske". Gustaf Gründgens, Legende und Wahrheit. 355 Seiten, viele Fotos, gebunden, im Langen Müller Verlag, 1981. J. Wolff: „Mit Bibel und Bebel". Ein Gedenkbuch mit einem Nachwort von Herbert Wehner. 132 Seiten Broschurform, im Verlag Neue Gesellschaft, 1980,14 DM. D. Schmidt: „Martin Niemöller, eine Biographie". 288 Seiten, Leinen, im Radius-Verlag, 28 DM. Willy Brandt: „Links und Frei, mein Weg 1930-50". 464 Seiten, gebunden, im Hoffmann und Campe y Verlag, 1982, 42 DM. // Hans Rosenthal: „Zwei Leben in Deutschland". 145 Seiten mit 48 Fotos und 28 Dokumenten, Leinen, im Gustav Lübbe Verlag, 1980. J,j E. G. Lowenthal: „Juden in Preußen". Ein biographisches Verzeichnis. Herausgegeben vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz im Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1981. 256 Seiten, einige Personenfotos, geleimt. K. Schleucher: „Alexander von Humboldt Der Mensch - Der Forscher - Der Schriftsteller". Bd. 11 einer Biographiensammlung der Martin-Behaim-Gesellschaft Darmstadt. Forschungszentrum Deutsche unter anderen Völkern. 735 Seiten mit Zeichnungen und Bildern im Eduard Roeter Verlag. T. Schieder: „Friedrich der Große". Ein Königtum der Widersprüche. 538 Seiten mit einigen Abbildungen, im Propyläen Verlag, 1983. L. undM. Frey: „Friedrich L". Preußens erster König. Aus dem Amerikanischen von Dr. Uta Szyszkowitz. 269 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, im Verlag Styria 1984,44 DM. A. Palmer: „Kaiser Wilhelm II. Glanz und Ende der preußischen Dynastie". 318 Seiten mit 18 Abbildungen, gebunden, im Verlag Fritz Molden, 1982. A. Sinclair: „Vikoria, Kaiserin für 99 Tage". Aus dem Englischen von S. Zweig. 288 Seiten, 33 Abbildungen, Leinen, im Societäts Verlag, 34 DM. L. Gatt: „Bismarck der weiße Revolutionär". 812 Seiten mit einigen Abbildungen, gebunden, im Propyläen Verlag, 1980. J. Sache: „Leocadie - Die Gesandtin des Königs". Ein Frauenschicksal in der großen Zeit Preußens. Roman, im Eugen Salzer Verlag Heilbronn, 1982, U. Speyer: „Das Glück der Andernachs". Roman. 474 Seiten im Fischer Taschenbuchverlag, 1983. K. Kordon: „Ein Trümmersommer". Ein Kinderroman, 190 Seiten, gebunden, im Beltz Verlag, 1982. M. Gumpert: „Hölle im Paradies". Selbstdarstellung eines Arztes. Herausgegeben von H.-A. Walter und W. Berthold in der Reihe Exilliteratur, Bd. 17, 280 Seiten, im Gerstenberg Verlag, 1983.

Neue Mitglieder im IV. Quartal 1985 Johannes Funch, Rechtsanwalt Ostergade 8, DK-9870 Sindal (Geschäftsstelle) Herta Georg, Ärztin Kneippstraße 8,1000 Berlin 28 Telefon 404 33 83 (Hentschel) Dr. Volkmar Goslich, Dipl.-Br.-Ing. Borggrevestraße 10,1000 Berlin 51 Telefon 4962252 (Dr. Schultze-Berndt) Edelgard Kalitowski, Angestellte Neumarkplan 1 d, 1000 Berlin 47 Telefon 7 03 77 01 (Geschäftsstelle)

Ingrid Ludwig, Angestellte Wiesbadener Straße 58 b, 1000 Berlin 33 Telefon 8 2419 99 (Geschäftsstelle) Senator a. D. Hermann Oxfort, Rechtsanwalt Berliner Straße 21,1000 Berlin 20 Telefon 3 33 2408 (Dr. Schultze-Berndt) Klaus-Dieter Schünemann, Rechtsanwalt Heiligendammer Straße 14,1000 Berlin 33 (Schünemann) Ullrich Tillack, Ing. Wildenbruchstraße 34 b, 1000 Berlin 44 Telefon 6866242 (Geschäftsstelle) Margarethe Woelfer, Hausfrau Süntelsteig 10,1000 Berlin 37 Telefon 813 3812 (Anklam)

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Veranstaltungen im I.Quartal 1986 1. Donnerstag, den 30. Januar 1986,17.00 Uhr: „Zwischen Königstreue und Bürgerinteressen Berlins Oberbürgermeister H. W. Krausnick von 1834 bis 1862". Führung durch die Ausstellung Herr Dr. Jürgen Wetzel. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2,1000 Berlin 30. Fahrverbindungen 19,29 (Busse), U-Bhf. Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz. 2. Donnerstag, den 13. Februar 1986,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans Wemer Klünner: „J. A. W. von Carstenn - Lichterfelde und seine Bedeutung für Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Donnerstag, den 20. Februar 1986, 19.30 Uhr: Tonfilmvorführungen von Herrn Heinz Kaskeline: „Die Hugenotten in Berlin" und „Das Böhmische Dorf". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Donnerstag, den 6. März 1986,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Prof. Dr. Martin Sperlich: „Der Wiederaufbau des Schlosses Charlottenburg". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 5. Sonntag, den 16. März 1986,10.00 Uhr: „Von Wilhelm Leitgebel zur Heinrich Straumer Die Gestaltung der Bahnhöfe der Wilmersdorf-Dahlemer Schnellbahn in der späten Kaiserzeit". Führung Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt auf dem Bahnsteig des U-Bahnhofes Hohenzollerndamfh. Gültiger Fahrausweis der BVG bis Krumme Lanke erforderlich. 6. Sonnabend, den 19. April 1986, 10.00 Uhr: Spaziergang um den Gendarmenmarkt, dem heutigen Platz der Akademie. Gültiges Tagesvisum für Berlin erforderlich. Verbindliche Anmeldungen unter 8 54 5816 bis zum 15. März 1986.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Berliner Straße 21,1000 Berlin 20, Telefon 3332408. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3 2328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Bemdt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-AUee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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^ MITTEILUNGEN I

DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS

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GEGRÜNDET 1865 82. Jahrgang

April 1986

Heft 2

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Der Perspektivplan von 1699 von Jean Baptiste Broebes (Ausschnitt)

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Die Vogelperspektive von Broebes (Ejn unterbewertetes Dokument der Stadtbaugeschichte Berlins Von Dr. Günther Schulz Im Todesjahr des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm erschien die bekannte Vogelschau des Ingenieurs und Stempelschneiders Johann Bernhard Schultz. Sie ist bis heute ein Höhepunkt unter den Berolinensien, und entsprechend häufig wurde sie reproduziert und besprochen. Dieses in seiner Schönheit und in seinem Informationsgehalt einmalige Meisterwerk hat zweifellos mit dazu beigetragen, daß ein anderer Perspektivplan Berlins wenig beachtet wurde. Es ist die Arbeit von Jean Baptiste Broebes. Ein weiterer Grund für diese Vernachlässigung mag in der Person des Stechers selbst und im Urteil der Nachwelt über ihn liegen. Der um 1660 in Paris geborene Broebes lernte dort bei dem bekannten Architekten und Kupferstecher Jean Marot und ging 1686 nach Bremen. Als Ratsbaumeister lieferte er u. a. die Pläne für das Weserbrückentor und die Alte Börse. Beim Bau der nie ganz vollendeten Börse traten Schwierigkeiten auf, denen er sich durch die Flucht entzog. Er trat 1692 als Ingenieurhauptmann in brandenburgische Dienste und wurde später an der neu gegründeten Akademie zu Berlin als Professor für Baukunst angestellt. 1720 folgte er einem Ruf nach Sachsen, wo er bald darauf verstarb (1). Bekannt wurde er eigentlich erst nach seinem Tod, als der Augsburger Verleger Johann George Merz 1733 eine Sammlung von 47 Kupferstichen über preußische Schlösser herausgab. Die Kupferplatten hatte er von Broebes erworben. Nicht alle stammten jedoch von dessen Hand; vielmehr setzte Broebes auf einigen Platten seinen Namen an die Stelle des Urhebers, so beispielsweise bei Arbeiten von Schlüter. Dieses unlautere Streben nach Publizität brachte ihm Jahrzehnte später die harte Kritik Friedrich Nicolais ein, der mit dem Menschen auch dessen Werk verwarf (2). Obwohl gegen Ende des vorigen Jahrhunderts Gurlitt (3) und Borrmann (4) versuchten, Broebes den ihm gebührenden Rang als Autor einer historischen Quelle wieder zuzuweisen, wirkte Nicolais vernichtendes Urteil fort. Selbst der sonst so sorgfältige Archivar Clauswitz bezeichnete die von Broebes radierte Ansicht als „Wiederholung des Schultzschen Blattes" und schreibt weiter: „Für die geschichtliche Forschung darf man sie nur mit größter Vorsicht benutzen" (5). Die meisten anderen Autoren ignorieren die Vogelschau von Broebes ganz. Lediglich Grantzow veröffentlichte eine auszugsweise Abbildung mit einer kurzen Beschreibung der Friedrichstadt - ohne jeden Hinweis auf Broebes (6). Erst in jüngster Zeit erschien eine verkleinerte Kopie in der Planmappe „Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin" mit äußerst knappem Begleittext (7). Bei oberflächlicher Betrachtung des von drei Platten gedruckten Kupferstiches kann man in der Tat dem Irrtum von Clauswitz folgen und das Blatt in die Reihe der alten Nachahmungen des Schultzschen Meisterwerkes einreihen. Aber Broebes bietet mehr als später etwa Petrus Schenk mit seinen verkleinerten und vereinfachten Kopien. Er zeigt eine Reihe baugeschichtlich interessanter Veränderungen, die Berlin unter Kurfürst Friedrich III. erfahren hatte. Das wie bei Schultz orientierte und ähnlich begrenzte Werk trägt den knappen Titel: „Die Churfürstl.e Brandenburgl.e Residentz Statt Berlin, Cöln und Friedrichs Werder." Die Dorotheen- und Friedrichstadt werden also nicht genannt. In den beiden oberen Ecken werden die im Plan verwendeten Ziffern, Buchstaben und Zeichen erklärt. Insgesamt enthält die Legende wie bei Schultz 50 Angaben, zum Teil aber andere als bei diesem. Der Titel des Blattes ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Er beginnt am linken Rand des mittleren Bogens des dreiteiligen Druckes, läßt also das linke Drittel der Abbildung frei. Der 378

Grund ist folgender: Meist erschienen nur die beiden rechten Teile, die überwiegend die drei im Titel genannten Städte zeigen. Die Dorotheenstadt befindet sich ausschließlich, die junge Friedrichstadt zum Teil auf dem nicht immer publizierten linken Drittel. Auf diese Weise stand zwar die Überschrift in keinem Fall genau in der Mitte der Darstellung, ließ aber wahlweise die vollständige oder die partielle Veröffentlichung zu. Der Zweck dieser Anordnung liegt auf der Hand. Broebes konnte einerseits seine Vorschläge für die städtebauliche Entwicklung der noch wenig strukturierten Friedrichstadt präsentieren, andererseits konnte er seine Arbeit jederzeit den gerade dort zu erwartenden Veränderungen anpassen. Zu korrigieren war in beiden Fällen lediglich eine von drei Kupferplatten. Die zweite Bemerkung zum Text gilt der Datierung. Das Standardwerk über die alten Stadtpläne Berlins von Clauswitz gibt für die Entstehung der Broebesschen Arbeit die Zeit um 1708 an (8). Dieses bis heute angenommene Datum geht auf eine Bemerkung von Nicolai zurück, der wörtlich schreibt: „Broebes der allezeit fertige Projektmacher hat von diesem Plane Gelegenheit genommen, ein seltsames, und jetzt (1786! - Der Verfasser) äußerst rares Blatt, zu radieren." Tatsächlich hat Broebes den zitierten Plan als Vorlage für seine Zeichnung benutzt so wie Schultz den Plan von La Vigne -, nur stammt er nicht aus dem Jahre 1708, wie es Nicolai irrtümlich behauptet (9). Vielmehr handelt es sich um einen handgezeichneten Grundriß aus dem Jahre 1698. Dies folgt nicht nur aus dem Vergleich der Blätter, sondern auch aus der zeitlichen Zuordnung des handschriftlichen Plans durch Borrmann (10), demzufolge er „nicht später als 1700, sondern nur früher entstanden sein kann". Die Beschriftung des Perspektivplanes beweist nun, daß der Erstdruck sicher vor 1701 zustande kam. Am 18. Januar dieses Jahres hat sich nämlich der Kurfürst Friedrich III. in Königsberg selbst zum König in Preußen gekrönt und nannte sich fortan Friedrich I. Der um offizielle Anerkennung ringende Broebes hätte diesem historischen Ereignis zweifellos Rechnung getragen, indem er den Titel seines Werkes, zwei Positionen in der Legende und den Namen des Georgentores auf die neue Situation eingestellt hätte. An die Stelle der „Churfürstl. Brandenburgl." wäre gewiß „Königl. Preuß." Residentz getreten, das Georgentor hätte er als Königstor ausgewiesen. Diesen Namen erhielt es nämlich, nachdem Friedrich I., aus Königsberg kommend, durch dieses Tor in seine Residenz einzog, um die Huldigung seiner Bürger entgegenzunehmen. Die richtige Datierung hat allein Spiker angegeben, der eine Vogelschauansicht aus dem Jahre 1699 in Verbindung mit dem Schultzschen Plan von 1688 erwähnt (11). Dabei handelt es sich zweifellos um das Blatt von Broebes, obwohl sein Name nicht genannt wird. Die folgenden Betrachtungen werden dieses Herstellungsjahr 1699 eindeutig bestätigen. Betrachten wir nun die Darstellung im einzelnen, und zwar zunächst die Teilausgabe, die von den beiden rechten Platten gedruckt wurde. Wir werden dabei besonders die Informationen besprechen, die über den von Schultz wiedergegebenen Zustand der Stadt im Jahre 1688 hinausgehen. Da sind zunächst die Festungsanlagen. Nachdem Berlin im 30jährigen Krieg mehrfach heimgesucht worden war, begann Kurfürst Friedrich Wilhelm 1658 seine Residenz zu befestigen. Nach 25 Jahren Bautätigkeit war der Verteidigungsring im wesentlichen vollendet. Den krönenden Abschluß bildet das von Nering geplante und erbaute Leipziger Tor. Die Werke umschlossen die drei im Titel unseres Blattes genannten Städte annähernd kreisförmig und waren durch 13 Bastionen armiert. Der Plan von Broebes zeigt nun, daß Friedrich III. die Verteidigungskraft der Hauptstadt weiter verstärken ließ. Im Norden Berlins finden sich zwei sogenannte Ravelins, das sind dreieckige Vorwerke im Graben vor dem Haupt wall zwischen je zwei Bollwerken. In den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts wurden übrigens vor Berlin noch weitere drei Ravelins errichtet. 379

Die westlichen Teilstädte Friedrichswerder und Colin erhielten anstelle der Vorwerke eine sogenannte Faussebraye, das ist eine zusätzliche Erdaufschüttung zwischen dem Hauptwall und dem mit Wasser gefüllten Festungsgraben. Dieser Vorwall wurde schon früher angelegt und wird von Schultz und Broebes übereinstimmend gezeigt. Mit der modernen kurfürstlichen Befestigung war die mittelalterliche Stadtmauer weitgehend überflüssig geworden. Konsequenterweise wurde ab 1680 mit dem Abbruch begonnen. Zunächst geschah dies in Colin, um die Kommunikation mit dem Friedrichswerder herzustellen. Erhalten blieben die Türme, die sogar renoviert und als Pulvertürme eingerichtet wurden. Während bei Schultz noch drei cöllnische Türme vorhanden sind, fehlt bei Broebes korrekterweise der an der Fischerbrücke. Er ist wahrscheinlich 1698 abgebrochen worden. In Berlin wurden nur kurze Teilstücke der alten Stadtmauer am Stralauer Tor und in der Burgstraße entfernt, an den Rest wurden Häuser und Gärten angelehnt. Von den Türmen sind in Berlin noch fünf vorhanden, der Paddenturm, der am Stralauer Tor, die Türme im Geckhol und am alten Spandauer Tor sowie der Mönchturm. Der starke Rundturm am Georgentor fehlt bei Broebes. Aus späteren Plänen geht aber hervor, daß hier vermutlich ein Irrtum vorliegt. Jedenfalls behauptet Holtze, daß „er wenigstens 1698 noch benutzt" und vermutlich erst unter Friedrich Wilhelm I. weggebrochen wurde (12). Innerhalb der Städte verzeichnet Broebes alle Neubauten, die in den 13 Jahren nach dem Druck der Schultzschen Arbeit entstanden sind. So erscheint in Bastion 9, das ist das zweite Bollwerk nach dem Stralauer Tor, der sogenannte Hetzgarten in Form eines kreisförmigen Baukörpers, der 1693 von Nering errichtet wurde. Er diente zur Haltung und Vorführung wilder Tiere, hatte also die Funktion eines heutigen Zirkusbetriebes. In der Klosterstraße ist südlich der alten Klosterkirche die 1695 begonnene Parochialkirche eingezeichnet, auf die wir noch ausführlich zurückkommen werden. Auf der Südseite des Mühlendammes ist erkennbar, daß die einstöckigen Kolonnaden aufgestockt worden sind. Tatsächlich wurde 1693 ein Obergeschoß aufgesetzt, das bis 1739 der Berliner Kaufmannschaft als Börse diente (13). Die Mühlen auf der anderen Brückenseite hat Broebes eher realistischer als Schultz dargestellt. Auch den 1692 bis 1695 erfolgten Neubau der Langen Brücke hat Broebes präzise berücksichtigt, indem er das aus dem südlichen Geländer heraustretende Podest deutlich darstellt. 1703 wurde auf diesem Platz das berühmte von Schlüter geschaffene Reiterstandbild des Großen Kurfürsten aufgestellt, das sich heute im Vorhof des Schlosses Charlottenburg befindet. Nicht eingezeichnet ist dagegen das Große Friedrichshospital oder Waisenhaus am Stralauer Tor. Mit dem Bau wurde 1697/98 begonnen, fertiggestellt wurde die Anlage jedoch erst 1727. Broebes hat den großzügigen Komplex vielleicht deshalb optisch weggelassen, weil kurz vor der Fertigstellung seines Kupferstiches noch wenig Bausubstanz vorhanden war. Immerhin hat er das Anwesen unter der Nummer 9 als „Das Armenhaus" in die Legende aufgenommen. Dieses Waisenhaus ist übrigens nicht zu verwechseln mit demjenigen, das Schultz in der Klosterstraße mit der Ziffer 24 angibt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde dieses alte Waisenhaus als Wohnung für den Gouverneur der Stadt eingerichtet, so, wie es Broebes in der Legende mit der Ziffer 12 richtig beschreibt (14). In Colin ist der Dom in einer bemerkenswerten Form eingezeichnet, die weiter unten näher erläutert wird. Am kurfürstlichen Schloß sind zwischen dem Ballhaus und der Wasserkunst die 1689 angelegten steinernen Bogenlauben deutlich zu erkennen. Im Süden dieser Teilstadt führt seit 1693 die Inselbrücke als zweite Verbindung von Colin nach Neu-Cölln. In diesem Stadtteil, der zwischen dem mittelalterlichen und dem neuen Stadtgraben liegt, ist der von Schultz gezeigte Brimslebensche Garten einem langgestreckten Häuserblock gewichen (15). Der alte Marstall in der Breiten Straße erscheint als Neubau, in dem das Ribbecksche Haus aufgegangen 380



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ist. Glücklicherweise blieb das Planung, so daß wenigstens dieses Renaissancebauwerk aus dem Jahre 1624 bis heute erhalten blieb. Auf dem Werder vermittelt Broebes einen ersten, halbwegs realistischen Eindruck des Zeughauses Unter den Linden. Dieses vielleicht schönste Bauwerk Berlins wurde ebenfalls von Nering geplant und begonnen. Aber noch im Jahr der Grundsteinlegung, 1695, verstarb der geniale Baumeister, so daß sein Werk von mehreren Nachfolgern vollendet werden mußte. Dem Zeughaus gegenüber ist das erweiterte Palais Schomberg zu sehen, das später zum Kronprinzenpalais bestimmt wurde. Der Schleusengraben zwischen Jungfern- und Schleusenbrücke ist 1694 mit einer Kaimauer eingefaßt worden. Auch diese Modernisierung ist korrekt wiedergegeben und von der hölzernen Brückenkonstruktion bei Schultz deutlich zu unterscheiden. Ganz aktuell weist Broebes schließlich das ehemalige Reithaus auf dem Werder als „Die frantzösische Kirch" aus. Tatsächlich hat Kurfürst Friedrich III. im Entstehungsjahr der Perspektive Broebes, also 1699, dieses improvisierte Gotteshaus den Refugies zur Verfügung gestellt (16). Neben diesen öffentlichen Gebäuden zeigt Broebes eine Reihe von stattlichen Privatbauten, die bei Schultz noch nicht vorhanden sind. Auf dem Friedrichswerder befinden sich einige mehrstöckige Häuser an Stellen, die 1688 noch unbebaut waren. In anderen Fällen stehen bei Broebes Paläste, wo im Plan von Schultz nur schlichte Wohnhäuser gezeichnet sind, beispielsweise in der Spandauer Straße oder am Gertraudenhospital nahe der Bastion 4. Umgekehrt verliert sich die differenzierte Architektur des Schultzschen Stiches hier und da in eine vereinfachte Gleichförmigkeit bei Broebes. Gerade diese Abweichungen von Schultz haben mit dazu beigetragen, die Arbeit von Broebes als blanke Phantasie abzuqualifizieren. An einigen Beispielen soll nun gezeigt werden, daß derartige Vorurteile nur geeignet sind, den Blick für interessante baugeschichtliche Dokumente zu trüben. Betrachten wir zuerst den Dom. Broebes stellt ihn als Bau mit etwa quadratischem Grundriß vor, der einen zentralen Kuppelturm mit aufgesetzter Laterne trägt. Die vier Ecken des Baukörpers sind mit ähnlich gestalteten, kleineren Kuppeltürmchen besetzt. Das Hauptportal ist nach Westen gerichtet und besteht aus einem flachen Giebelvorbau, der auf vier Säulen ruht. Diese Darstellung weicht nun total von allem ab, was wir über den ersten, mittelalterlichen Dom wissen. Man vergleiche nur die Pläne von Memhardt und Schultz oder die Zeichnungen und Kupferstiche von Stridbeck, Schleuen und anderen. Wie ist dieser „Fehler" von Broebes zu verstehen? Die Domkirche geht auf das 1297 gegründete Dominikanerkloster zurück und war im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts so baufällig geworden, daß 1694 (17), nach anderen Quellen drei Jahre später (18), die Türme abgetragen werden mußten. Der Gedanke an einen Neubau lag also nahe. Andreas Schlüter griff ihn auf und legte um 1698 einen grandiosen Entwurf für eine umfassende Gestaltung des Schloßplatzes vor. Nach seinem Vorschlag sollte ein zur Langen Brücke geöffnetes Forum gebildet werden, das zu beiden Seiten durch das Schloß beziehungsweise einen Neubau des Marstalls in der Breiten Straße begrenzt wäre. Den westlichen Abschluß bildete ein Komplex mit einem großzügigen Innenhof; in die östliche Fassade war der neue Dom integriert (19). Seine Form entspricht nun genau der Darstellung in Broebes Vogelperspektive! Übrigens hat gerade Broebes das Schlütersche Forum um 1702 in Kupfer gestochen. Auf der Platte hat er den Namen Schlüters (unvollständig) wieder gelöscht und seinen eigenen eingesetzt. In seinem Plan von 1699 hat er Schlüters Dommodell isoliert und, um 180° gedreht, eingearbeitet. Aus der Forumsidee hat er außerdem noch den erweiterten Marstall übernommen, womit auch diese nicht realisierte Zeichnung im Plan hinreichend erklärt ist. Die von Schlüter ebenfalls geplante Neugestaltung des Schlosses hat Broebes nicht in 382

seinem Perspektivplan aufgenommen. Biesendorf und Schenk haben den brillanten Entwurf in Kupferstichen überliefert. Im Fall des Domes hat Broebes offensichtlich planerische Absichten dargestellt. Durchaus realistisch ist dagegen seine Zeichnung der Parochialkirche in der Klosterstraße, obwohl auch hier die Architektur gänzlich anders erscheint als in den Prospekten von Schleuen oder Rosenberg. Der Bau wurde 1695 unter der Leitung von Nering begonnen, der auch die Planung besorgt hatte. Die Seiten des quadratischen Grundrisses erhielten vier Apsiden, die von je einer Viertelkuppel gedeckt waren. Im Mittelpunkt der Vierung erhob sich eine zierliche Laterne. Ein Vorbau mit flachem Giebeldach über vier Säulen bildete das Portal zur Klosterstraße. Genau dieses Projekt hat Broebes abgebildet. Trotz der sehr kleinen Zeichnung läßt sich die hohe Anika und das für Nering charakteristische Rundfenster über dem Eingang erkennen. Da Nering im Jahre 1695 verstarb, wurde die Bauführung auf Martin Grünberg übertragen. Am 27. September 1698 stürzte das mittelste Gewölbe ein (20). Obwohl Grünberg nicht unschuldig an dieser Katastrophe war, behielt er die Aufsicht und änderte die Pläne - sehr zum künstlerischen Nachteil der Kirche. Die eleganten Kuppeln wichen einem allseits abgewalmten Schrägdach, auf den Vorbau sollte ein Turm gesetzt werden, der glücklicherweise später von Gerlach wesentlich verbessert wurde. Alle diese Veränderungen erfolgten erst nach 1699 und konnten von Broebes nicht mehr berücksichtigt werden. Seine Darstellung gibt jedenfalls den wahren Sachverhalt wieder, bis er durch das Einsturzunglück verändert wurde. Offensichtlich hat Broebes - wie seine Vorgänger - auch eigene architektonische Entwürfe in den Plan von 1699 eingebracht. Als besonders markantes Beispiel mag der Komplex am rechten Spreeufer, oberhalb des Mühlendammes, dienen. Broebes zeigt dort eine Anlage, die aus einem siebenachsigen, zweigeschossigen Hauptgebäude, zwei einstöckigen Seitenflügeln und daran angesetzten Quertrakten besteht. Der so gebildete Hof ist als Garten angelegt. Die nicht sichtbare Vorderfront zur Stralauer Straße wird durch zwei seitliche Einfahrtore geöffnet. Zweifellos ist das Grundstück niemals so bebaut worden. Vielmehr blieb diese Gegend um den Krögel bis in unser Jahrhundert beinahe so erhalten, wie sie Schultz gezeichnet hat (21). Dennoch ist die Darstellung von Broebes hoch interessant. An dieser Stelle befand sich nämlich seit 1692 die erste, von den Gebrüdern Bösen gegründete Gold- und Silbermanufaktur Berlins. Die Prachtliebe König Friedrichs I. förderte den Absatz beträchtlich, so daß Bosens Schwiegersohn, der bekannte Kaufmann Severin Schindler, die Fabrik anfangs des 18. Jahrhunderts erweitern mußte (22). Möglicherweise hat Broebes dazu Vorschläge entworfen und sich um den Bauauftrag beworben. Jedenfalls entspricht die hier vorgestellt Konzeption weitgehend dem 1735 ausgeführten Neubau der Manufaktur in der Wilhelmstraße. Der Baumeister war der begabte Philipp Gerlach, der sich selbst ausdrücklich als Broebes' Schüler bezeichnete und von ihm typisch französisch Stilelemente übernommen hat, beispielsweise das im Plan erkennbar gebrochene Walmdach (23). Es ist mithin durchaus denkbar, daß Broebes auch in diesem Fall ein reales Projekt wiedergegeben hat. wenn es auch in vergrößerten Maßen erst später und von einem seiner Schüler verwirklicht worden ist. Broebes hat die im Titel genannten Städte dicht an den oberen Bildrand gelegt. Damit verzichtet er auf die Darstellung der Berliner Vorstädte, gewinnt aber gleichzeitig Raum für die östliche Friedrichstadt und Teile der Köpenicker Vorstadt. In der Mitte des rechten Plattenrandes zeigt er gerade noch die 1694 erbaute Kirche in der Köpenicker Vorstadt, die in der Legende mit dem Buchstaben i fälschlich als „St. Martini Kirch" bezeichnet ist. Vor dem Graben der Gertraudenbastion (Nr. 4) treffen die Scheunengasse und die Lindenstraße aufeinander, die beide schon merklich bebaut sind. An ihrer Südseite befindet sich ein vornehmes 383

Anwesen, das schon bei La Vigne verzeichnet ist. In beiden Plänen ist es jedoch nicht bezeichnet, so daß eine Identifizierung des Objektes schwerfällt. Weiter westlich, im Bereich Leipziger und Markgrafenstraße, gibt Broebes Besitzungen der Markgrafen Christian Ludwig und Alberti an. Ob sie an diesen Plätzen wirklich Höfe unterhielten, ist fraglich, nach Grantzow aber auch nicht auszuschließen (24). Von Christian Ludwig ist allerdings bekannt, daß er einen Wohnsitz in der Splittgerbergasse besaß (25). Sicher richtig ist der Palast des Markgrafen Philippi lokalisiert, der den Namen der Markgrafenstraße verursacht hat (26). Dagegen sind die weiter südlich liegenden öffentlichen Gebäude eindeutig planerische Empfehlungen, denn weder „das Rathaus auff der Friedrichstatt" (Nr. 23 in der Legende) noch „die Invalide" (Ziffer 26) sind je gebaut worden. Allenfalls fand die von Broebes dazwischen gesetzte Kirche Beachtung, da etwa an dieser Stelle 1701 mit dem Bau des Deutschen Domes begonnen wurde. Werfen wir nun einen Blick auf das linke Drittel des Perspektivplanes, das im wesentlichen die Dorotheenstadt darstellt. Ein Vergleich mit der zweiten Ausgabe von Schultz ergibt, daß sich die vierte Teilstadt seit 1695 kaum weiterentwickelt hat. Der Marstall erscheint jetzt rundum zweigeschossig, einschließlich des nördlichen Hofes, der freilich erst im Jahre 1700 vollendet wurde (27), um die in diesem Jahr gegründete Akademie der Wissenschaften aufzunehmen. Das Obergeschoß der Lindenfront beherbergte seit 1697 die Kunstakademie, an der der Künstler unseres Blattes als Lehrer wirkte. Die Schiffbauerei nahe der „Dorotheen Kirch" hat Broebes den Tatsachen entsprechend weggelassen. Auf der südlichen Seite der Lindenallee, westlich der Friedrichstraße, weist die Legende mit der Ziffer 24 „das Rathhaus auff der Dorotheenstatt" aus. Tatsächlich wurde im Jahr der Planerstellung, also 1699, ein eigenes Ratsgebäude für die junge Stadt errichtet. Dies geschah aber nicht an der von Broebes bezeichneten Stelle, sondern in der Friedrichstraße 150 (um 1900), Ecke Dorotheenstraße (28). Die augenfälligste Veränderung gegenüber den beiden Vogelschauvarianten von Schultz besteht in der perspektivischen Wiedergabe der Friedrichstadt. Ihre Trennung von der Dorotheenstadt durch Wall und Graben in der Behrenstraße hat Broebes zeichnerisch bereits beseitigt. Damit eilte er den Ereignissen jedoch weit voraus, denn erst nach 1732 ist diese Barriere endgültig eingeebnet worden. Insofern kann der Ausbau der Behrenstraße den hier gezeigten Zustand nicht erreicht haben, obwohl sie immerhin 1695 angelegt und einseitig erschlossen worden ist. Für die anderen Straßenzüge mag der Plan eher realistisch sein, denn schon 1688 wurden Grundstücke zwischen der Kronen- und Jägerstraße bebaut (29); 1695/96 folgt die Besiedlung der Französischen und der Krausenstraße (30). Die städtebaulich sinnvolle Verbindung der beiden jüngsten Residenzstädte konnte Broebes zu dieser Zeit natürlich nur vorschlagen, wenn die Südflanke des Hornwerkes der Dorotheenstadt durch einen anderen, womöglich besseren Schutzwall ersetzt werden konnte. Die Lösung war in dem handschriftlichen Plan von 1698 bereits niedergelegt worden. Broebes hat sie übernommen, indem er in der linken unteren Ecke seines Bildes die vorhandene Halbbastion der Dorotheenstadt voll ausgebaut darstellt und sogar die Kurtine bis zum nächsten Bollwerk zeichnet. Er hat also die Einschließung der Friedrichstadt in einen neuen Verteidigungsgürtel unterstellt, so, wie es 1698 geplant war. Allerdings blieb er inkonsequent, denn er zeigt weder den Anschluß des neuen Walles an die alte Bastion Nr. 4 im Südwesten noch die Fortsetzung im Norden der Dorotheenstadt. Die letztere ist lediglich durch wallartige Konturen des Spreeufers angedeutet. Daß Broebes hier keine Kurtine zeichnet, beweist, daß der von Schultz angegebene Wall nicht existiert hat. Das gleiche kann wohl für die von Schultz vorgestellte „Neue Auslage" angenommen werden, die Broebes nur als brachliegende Parzelle ohne das Entwässerungssystem zeigt. 384

Nördlich des Friedrichswerder, am rechten Spreeufer, befindet sich „der Churfürstin hoff u: lustgarten". Schultz hat diese Anlage noch als „Vorwerck" bezeichnet, während sie jetzt als Schlößchen mit großzügigen Parks dargestellt ist. Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts bestand hier ein kurfürstlicher Garten, der wie der Lustgarten im 30jährigen Krieg verfiel. 1649 ließ ihn Friedrich Wilhelm wieder herrichten und schenkte ihn seiner Gemahlin Dorothea. Gemäß ihrer praktischen Veranlagung betrieb sie dort eine Meierei zum Nutzen der Bevölkerung. Nach ihrem Tod fiel das Anwesen an die Gattin Friedrichs III., die geistreiche Sophie Charlotte, die übrigens gemeinsam mit Leibniz die Gründung der Akademie der Wissenschaften initiierte. Für sie baute Eosander von Göthe 1703 das später Monbijou genannte Lustschloß in ähnlicher Form wie es Broebes vorstellt (31). Daraus darf nicht geschlossen werden, daß Broebes seine Arbeit erst nach 1703 fertiggestellt hat. In diesem Fall hätte er eine Reihe anderer Neubauten in seinen Plan aufgenommen, die bis zu diesem Jahr begonnen oder sogar vollendet worden sind. Das sind u. a. die beiden Kirchen auf dem (späteren) Gendarmenmarkt, die Garnisonkirche im Bollwerk 12, die Französische Kapelle in der Scheunengasse und die alte Pomeranzenbrücke am Mönchturm sowie die Waisenhausbrücke. Selbst die Annahme, nur das linke Plattendrittel sei später als die beiden Hauptbögen entstanden, ist nicht haltbar, denn bereits 1700 wurde mit dem Bau der Sternwarte, eines turmartigen Aufsatzes über dem Nordtrakt des Marstalles in der Dorotheenstraße, begonnen (32). Dieses Gebäude liegt aber im linken Abzug. Übrigens hätte Broebes um oder nach 1703 wahrscheinlich den Befestigungsring um die Friedrichstadt weggelassen, weil diese Planung zu dem Zeitpunkt bereits wieder aufgegeben war. Zusammenfassend sei noch einmal festgehalten: Die Vogelschau von Broebes steht künstlerisch sicher hinter der Arbeit von Schultz zurück. Dennoch ist sie keine Kopie und deshalb mit den Stichen von Bodenehr oder Schenk nicht zu vergleichen. Vielmehr stellt Broebes eine Fülle von neuen Objekten vor, die bis 1699 so aufgeführt oder zumindest so geplant waren. Bei richtiger Deutung des Dargestellten erkennt man die dokumentarische Bedeutung der zweiteiligen wie auch der dreiteiligen Ausführung, die weit über die des Planes von 1698 hinausgeht. Angesichts des hohen Informationsgehaltes der Perspektive verwundert es, daß die Leistung von Broebes bis heute so wenig gewürdigt worden ist.

Literaturverzeichnis 1. Thieme-Becker, Künstlerlexikon, Stichwort Broebes. 2. Nicolai, Friedrich, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, 3. Auflage, Berlin 1786. Bd. 1, LVI, Fußnote, und Bd. 3, Anhang 75 f. 3. Gurlitt, C, Zur Baugeschichte von Berlin. In: Kunstchronik, XIX. Jg., 1884, Nr. 18 und 19,293 f. und 311 f. 4. Borrmann, Richard, Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin. Julius Springer, Berlin 1893,102 und 377, Fußnote 3. 5. Clauswitz, Paul. Die Pläne von Berlin und die Entwicklung des Weichbildes. Mittler und Sohn, Berlin 1906,17. 6. Grantzow, Hans, Pläne und Ansichten zur Entwicklung Berlins. Berlin 1938, Heft 2,14 f. 7. Der Landeskonservator Berlin. Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Bezirk Kreuzberg, Pläne Nr. 2 und Seite 19. 8. Wie 5. Plan Nr. 18 und Seite 17. 9. Wie 2. Seite LVI f. 10. Wie 4. Seite 147. 11. Spiker, S. H., Berlin und seine Umgebungen im 19. Jahrhundert. Gropius, Berlin 1833, 39f. und Fußnote. 385

12. Holtze, Friedrich, Geschichte der Befestigung von Berlin. In: Märkische Forschungen, VII. Bd., Berlin 1861, 67. 13. Ermann, Wilhelm, Berlin Anno 1690. Amsler & Ruthardt, Berlin 1881, 19. 14. Wie 4. Seite 373. 15. Wendland, Folkwin, Berlins Gärten und Parke. Propyläen Verlag, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1979, 208. 16. Bachmann, I. F., Die Luisenstadt. Oehmigke, Berlin 1838, 23 und 53. 17. Wie 13. Seite 10. 18. Wie 4. Seite 161. 19. Berlin und seine Bauten. Herausgegeben vom Architektenverein zu Berlin, 1877, Abb. 8 und Seite 36. 20. Joseph, D., Die Pariochialkirche in Berlin 1694-1894. Verlag des Bibliographischen Bureaus, Berlin 1894, 52 ff. 21. Ludwig, Hans, Erlebnis Berlin. Henschelverlag, Berlin 1965, Seite 160. 22. Wie 2. Seiten 24, 195 und 530. 23. Herz, Rudolf, Berliner Barock. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte m.b.H., Berlin 1928, 35 ff. und Abb. 20, 33-36. 24. Wie 6. Seite 14 f. 25. Fidicin, E., Berlin, historisch und topographisch dargestellt. C. H. Jonas, Berlin 1843,174. 26. (von Kertbeny, C ) , Berlin wie es ist. W. Natorff & Comp., Berlin 1831, 63. 27. Wie 4. Seite 326. 28. Wie 4. Seite 363. 29. Röder, Ph. L. H., Geographisches Statistisch = Topographisches Lexikon von Obersachsen etc. Verlag der stettinischen Buchhandlung, Ulm 1800, Bd. 1, Stichwort Berlin, 387. 30. Geppert, C. E., Chronik von Berlin etc. Ferdinand Rubach, Berlin 1839-1841, Bd. 1, 242. 31. Börsch-Supan, Eva und Helmut, et al., Berlin Kunstdenkmäler und Museen, 2. Auflage. Philipp Reclam Jun., Stuttgart 1977,130. 32. Goldschmidt, Paul, Berlin in Geschichte und Gegenwart. Julius Springer, Berlin 1910, 74.

Anschrift des Verfassers: Dr. Günther Schulz, Schloßgartenstraße 3, 6940 Weinheim

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Der Perspektivplan von 1699 von Jean Baptiste Broebes

Eine wenig bekannte Medaille auf Alexander von Humboldt Von Herma Stamm Anläßlich eines Berlinbesuchs von Mitgliedern der Societe d'Etudes Numismatiques et Archeologiques de Paris fand ein Treffen mit Angehörigen der Numismatischen Gesellschaft zu Berlin e.V. statt. Madame Luce Gavelle aus Paris, eine bekannte Numismatikenn, hielt dabei einen Vortrag über die von Antoine Bovy entworfene Erinnerungsmedaille auf Alexander von Humboldt, die einige Rätsel aufgibt. Nachfolgend die deutsche Übersetzung des in französischer Sprache gehaltenen Referats. »Bei unserem heutigen Beisammensein erschien es mir interessant, auf eine Medaille des 19. Jahrhunderts hinzuweisen, die der Bildhauer Antoine Bovy zur Erinnerung an Alexander von Humboldt geschaffen hat, einen berühmten Deutschen, einen Freund Frankreichs, geboren und gestorben in Berlin. Die Medaille mit einem Durchmesser von 75 mm, einem stumpfen Relief auf poliertem Untergrund, zeigt auf der Vorderseite das Porträt, Kopf nach links gewendet, mit folgender Umschrift: «Alexandre de Humboldt, ne ä Berlin le 14 septembre 1769, trente jours apres Napoleon 1er (sie!), mort ä Berlin le 6 mai 1859, surnomme l'Aristote moderne.» (A.v.H., geboren in Berlin am 14. September 1769, dreißig Tage nach Napoleon I. [sie!], gestorben in Berlin am 6. Mai 1859, mit dem Beinamen „der neue Aristoteles"). Auf der Rückseite befindet sich eine Inschrift von 27 Zeilen, auf die wir noch zurückkommen werden, eingefaßt von der Schlange, die sich in den Schwanz beißt - Symbol der Ewigkeit - mit folgender Umschrift: «Doyen des associes de l'Institut de France. Le plus grand savant du siecle. Createur de la physique generale du globe.»(Doyen der Mitglieder des Instituts de France. Größter Forscher des Jahrhunderts. Schöpfer der allgemeinen Physik der Erde). Der Bildhauer Antoine Bovy, Graveur dieser Medaille, wurde 1795 in Genf geboren, später wurde er Franzose, war Schüler von Pradier und blieb bis 1870 Mitglied des Beratungsausschusses der Graveure. An den Wettbewerben für Münzentwürfe der Jahre 1830 und 1848 nahm er teil. Er ist der Schöpfer mehrerer Medaillen auf Louis Philippe, die von der Pariser Münze geprägt wurden. 1877 starb er in der Schweiz. Soweit Angaben zum Graveur. Alexander von Humboldt ist so bekannt, daß er hier nicht näher vorgestellt zu werden braucht. Doch möchte ich daraufhinweisen, daß er mütterlicherseits von Hugenotten abstammte. Sein Bruder Wilhelm, berühmter Philologe und preußischer Staatsmann, der sein Land auf dem Wiener Kongreß 1815 vertrat, 1810 die Berliner Universität gründete, war Besitzer des Tegeler Schlosses, wo Alexander im Alter von 90 Jahren starb. Alexander unternahm 1790 eine erste Reise nach Frankreich, wo er ein lebhaftes Interesse für die revolutionären Ideale bekundete. Wir wollen nun seine Biographie betrachten, so, wie sie auf der Rückseite der Medaille angegeben ist. Dieser Text stellt das Leben Humboldts dar, aufgeteilt in fünf Perioden: lre periode. 1790-1797. Sonde toutes les grandes categories de la science humaine et cree partout, (sie!) 2me periode. 1797-1804. Explore le nouveau monde et les chaines des volcans: voyage immortel. 3 me periode. 1805-1827.22 ans de sejour ä Paris. Publication de la magnifique series de ses travaux en sept parties. 388

Vorderseite

Rückseite

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4mc periode. 1827-1845. Se fixe ä Berlin. En 1829 ä l'äge de 60 ans explore V Asie centrale et jette un grand jour sur sa distribution geographique. 5me periode. 1845-1858. Ä Tage de 76 ans livre le 1er volume et ä l'äge de 89 ans le 4mc volume du Cosmos. Revue des connaissances humaines sur le ciel et sur la terre: monumentum aere perennius. Statue elevee ä sa memoire au Musee de Versailles par decret de l'empereur Napoleon III du 10 mai 1859. (1. Periode. 1790-1797. Erforscht alle Gebiete der Wissenschaften vom Menschen und wirkt überall, [sie!] 2. Periode. 1797-1804. Erforscht die Neue Welt und die Ketten der Vulkane: unsterbliche Reise. 3. Periode. 1805-1827. 22 Jahre Aufenthalt in Paris. Veröffentlichung der großartigen Serie seiner Arbeiten in sieben Teilen. 4. Periode. 1827-1845. Setzt sich in Berlin fest. 1829 im Alter von 60 Jahren erforscht er Zentral-Asien und bringt neues Licht in dessen geographische Einteilung. 5. Periode. 1845-1858. Im Alter von 76 Jahren liefert er den 1. Band und im Alter von 89 Jahren den 4. Band seines „Kosmos". Übersicht über die Kenntnisse vom Menschen, vom Himmel und von der Erde: ein Denkmal haltbarer als Erz. Statue errichtet zu seinem Andenken im Museum von Versailles aufgrund des Dekrets des Kaisers Napoleon III. vom 10. Mai 1859.) Nach anderen Quellen setzte sich Humboldt erst 1808 in Paris fest, aber tatsächlich hat er in dieser Hauptstadt den größten Teil seiner Reiseberichte veröffentlicht. In den Jahren 1827 und 1828 hält er seine berühmten Vorträge über den Kosmos an der Universität und der Singakademie in Berlin. „Kosmos" war in der Tat Humboldts Hauptwerk. Die letzte Periode war auch diejenige seiner diplomatischen Missionen in Paris. Das Zitat am Schluß stammt von Horaz. Diese Inschrift ist die höchst ungeschickte französische Übersetzung eines deutschen Textes, der ursprünglich für die Prägung vorgesehen war, dann abgefeilt wurde, aber doch noch deutlich erkennbar unter dem französischen Text erscheint, weil er diagonal darunter verläuft. Warum ist die Inschrift einer in Frankreich herausgegebenen Medaille, entworfen von einem Genfer Künstler, der Franzose wurde und also Französisch sprach, in deutscher Sprache abgefaßt? Warum ist sie nachträglich in Französisch darübergeprägt? Eins ist sicher: Verfaßt ist die Umschrift der Vorderseite während des Zweiten Kaiserreiches, wie es die amüsante Angabe beweist, die dem Geburtsdatum folgt: „30 Tage nach Napoleon I." Der Hinweis auf Napoleon I. war zur Zeit des Zweiten Kaiserreiches obligatorisch. Vielleicht geben uns die letzten Zeilen der Medaillenrückseite eine Antwort auf unsere Frage. Dort ist die Rede von der Errichtung einer Statue im Museum von Versailles aufgrund des kaiserlichen Dekrets vom 10. Mai 1859. Napoleon III. beschließt also keine vier Tage nach dem Tod des großen Mannes, ihm offiziell Ehre zu erweisen, womit er seine Bewunderung kundtun will. Nun zur Frage der genannten Statue: Das Musee d'Histoire von Versailles besitzt tatsächlich eine Statue von Humboldt unter der Inventarnummer 6574, ausgeführt von Augustin-Alexandre Dumont (1801-1884). In weißem Marmor ist Humboldt stehend dargestellt, in der linken 390

M*

Statue Alexander von Humboldts von A. Dumont im Geschichtsmuseum Versailles

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Hand ein Buch haltend, auf dem man „Cosmos" lesen kann. Diese Statue ist dem Museum nicht während des Zweiten Kaiserreiches abgeliefert worden, sondern sie wird im Inventar erst am 17. April 1884 mit dem Vermerk „Geschenk von Madame Dumont" verzeichnet. Aufgrund kaiserlichen Dekrets 1859 beschlossen, hat die Ausführung des Werkes wahrscheinlich einen sehr langen Zeitraum beansprucht. Der Bildhauer Alexandre Dumont war ein vielbeschäftigter Künstler, es fehlte ihm nicht an Aufträgen. Er hat z. B. auch die Statue von Napoleon I. als römischer Kaiser geschaffen, ebenfalls auf Befehl von Napoleon III., die auf der Spitze der Vendömesäule 1863 errichtet wurde. Wenn man annimmt, daß zwischen dem Auftrag und der Fertigstellung des Humboldt zehn Jahre vergangen sind, kann man daraus schließen, daß das von Dumont geschaffene Werk nicht vor dem Ende des Kaiserreiches ausgeliefert werden konnte. Obwohl vom Staat in Auftrag gegeben, ist die Statue niemals bezahlt worden, sondern sie wurde von Madame Dumont 1884, dem Todesjahr ihres Mannes, dem Museum von Versailles gestiftet. Was die Medaille anbetrifft: Sollte sie in den Werkstätten der Staatlichen Münze geprägt werden? Vielleicht, tatsächlich wurde sie von einer privaten Prägeanstalt hergestellt: « Massonnet edit»(s. Rückseite unten links). Über die Auflage der Medaille ist nichts bekannt. Der ursprünglich deutsche Text der Legende läßt sich folgendermaßen erklären: Wie häufig üblich, bestand die Absicht, die Medaille den Persönlichkeiten zu stiften, die bei der Einweihung der Statue anwesend sein würden, namentlich dem deutschen Botschafter. Seit 1870 jedoch waren die Dinge verändert, und die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland hatten sich verschlechtert, so daß es unmöglich war, eine Medaille zu Ehren eines Deutschen in deutscher Sprache herauszugeben, sondern man ersetzte den Text durch eine französische Übersetzung. Wie es auch sei, der Wunsch Napoleons III., einen großen Mann zu ehren, ist erfüllt worden. Wir freuen uns, 126 Jahre später an dieser Ehrung teilzuhaben, wobei wir glauben, daß der menschliche Geist keine Grenzen kennt und daß das Werk des Berliners Alexander von Humboldt eine besonders brillante Zierde unseres europäischen Erbes ist. Berlin, den 7. Mai 1985 Luce Gavelie« Notiz d. Übers.: Die Vermutung von Madame Gavelie, daß es sich bei dem von ihr vorgelegten Exemplar um ein Unikat handelt, trifft nicht zu. In dem Band von Haiina Nelken: Alexander von Humboldt, Bildnisse und Künstler, Eine dokumentierte Ikonographie, Berlin 1980, S. 41,42, ist ein weiteres Exemplar in einer deutschen Privatsammlung aufgeführt. Allerdings setzt Nelken die Errichtung der Statue und die Prägung der Medaille nicht in Beziehung zueinander und geht auch nicht auf die Löschung des deutschen Textes ein. Anschrift der Verfasserin: Herma Stamm, Warnemünder Straße 2, 1000 Berlin 33

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Nachrichten „Erhaltung und Restaurierung des Dorfkerns Marzahn" Im 21. Berliner Stadtbezirk (inzwischen ist Hohenschönhausen als 22. hinzugekommen) wird seit dem vergangenen Jahr ein Magistratsbeschluß „Erhaltung und Restaurierung des Dorfkerns Marzahn" verwirklicht, der bis zum Jubiläumsjahr 1987 ein äußerlich stilechtes märkisches Dorf inmitten moderner Wohnblocks und Hochhäuser schaffen soll. Seit 1975 sind in der flachen Landschaft der Barnimhochfläche 35000 neue Wohnungen für etwa 100000 Einwohner entstanden. Die Bauernhäuser des alten Dorfes stammen aus der Zeit um die Jahrhundertwende, einige auch aus dem 19. Jahrhundert. Während ihre Fassaden erhalten bleiben, werden den Höfen mit Scheunen und Stallungen neue Funktionen zugewiesen. Eines der Gehöfte wird Museum, in andere werden Handwerker wie Buchbinder, Maler, Mechaniker und Polsterer einziehen. Auch Ateliers und ein Jugendklub für bildende Kunst werden eingerichtet. Wie der Anger steht auch die Backsteinkirche aus dem Jahre 1871 unter Denkmalschutz. Die alte Dorfschmiede soll als Kunst- und Hufschmiede weiterarbeiten, der „Marzahner Krug" erneuert werden. Das Gehöft Alt-Marzahn 25 wird nach seiner Restaurierung zum Handwerkerhof. Am nordöstlichen Rand des Dorfes wird eine aus dem nördlichen Landesteil stammende HolländerGalerie Windmühle wiederaufgebaut, die als technisches Denkmal zu besichtigen ist und im unteren Teil als Gaststätte dient. Auch das Umfeld soll wieder historischen Anstrich erhalten, so Leuchten, Pumpen. Telefonhäuschen, Zunftzeichen und zeitgerechte Hausnummern. Der Asphalt der Dorfstraße wird durch herkömmliches Pflaster ersetzt. SM.

Restaurierung der Friedrichswerderschen Kirche Die von Karl Friedrich Schinkel entworfene und zwischen 1824 und 1830 errichtete Friedrichswerdersche Kirche am Werderschen Markt wurde noch am 29. April 1945 schwer beschädigt. Gegenwärtig gehen die Arbeiten zur Wiederherstellung am Außenbau ihrem Ende entgegen. Damit das Gebäude seine ursprüngliche Gestalt wiedererlangen kann, müssen noch die Kapitelle und der plastische Schmuck am Südportal angebracht werden. Die original nachgeschaffenen Fialtürmchen über dem Schiff und den beiden Türmen sind bereits wieder angebracht worden. Die Restaurierung gilt gegenwärtig den gußeisernen Türflügeln mit den Engelreliefs nach Modellen Christian Friedrich Tiecks. Die große Portalplastik des Erzengels Michael, die ursprünglich nach Vorlagen Ludwig Wichmanns entstand, wird in der Werkstatt Achim Kuhns wieder aufgebaut und ergänzt. Zwischen den gleichfalls restaurierten Terrakotta-Engeln wird der Erzengel bald wieder auf dem Torpfeiler thronen. Während die figürlichen Teile der Glasmalereien aus dem Chorfenster, die unter anderem sechs Engel zeigen, im Krieg ausgelagert worden waren und vor einiger Zeit im Keller des Berliner Domes entdeckt wurden, mußten die zerstörten Maßwerke des Südfensters sowie des ersten rechten Langfensters nach Zeichnungen Schinkels sowie Fotos in der Werkstatt Hedwig Bollhagens rekonstruiert werden. Restauratoren des VEB Denkmalpflege Berlin sind mit dem Ausmalen der Gewölbe beschäftigt. Putz- und Stuckarbeiten sowie Holzarbeiten laufen parallel dazu. Die Orgelempore entsteht völlig neu, die eichene Kanzel wird überholt. Neben der Rotunde des Alten Museums wird das Innere der Kirche die einzige Innenarchitektur Schinkels und der einzige Sakralraum des Baumeisters im Ostteil Berlins sein, der in originaler Form wiederhergestellt werden kann. Als Kriegsopfer sind allerdings unter anderem das Altarbild von Carl Begas und die Orgel zu bedauern. SM.

Schlüter-Kanzel der Marienkirche wird restauriert Seit Mitte 1985 haben sich Mitarbeiter des VEB Denkmalpflege Berlin darum bemüht, die von Andreas Schlüter 1702/03 geschaffene Kanzel in St. Marien wieder herzurichten. Die Restaurierung war unter anderem deswegen erforderlich geworden, weil die Reliefs, Putten und Schmuckelemente aus Alabaster mit inzwischen korrodiertem Eisen am hölzernen Korb der Kanzel befestigt waren. Sie werden jetzt mit 393

Kupferschrauben derart angeschlossen, daß sie sich zur regelmäßigen Durchsicht leicht auseinandernehmen lassen. Als letzter Arbeitsgang werden die Figuren mit dünnem Wachs überzogen, das den marmorartigen Stein schützt und ihm gleichzeitig einen seidigen Glanz verleiht. SchB.

15 Millionen Besucher in den Geschiehts- und Heimatmuseen der DDR Von den insgesamt 684 Museen der DDR sind 109 Geschichtsmuseen und 367 Heimatmuseen. In diesen beiden Museumsarten wurden 1984 3745 Ausstellungen gezeigt, 126000 Führungen veranstaltet und 11450 Vorträge gehalten. Die Bestände dieser Museen umfassen mehr als vier Millionen Gegenstände. Die jährliche Besucherzahl beläuft sich auf mehr als 15 Millionen. Zum Vergleich sei mitgeteilt, daß die Zahl der Besucher der 14 Staatlichen Museen in Berlin 1985 bei 1,7 Millionen lag. Bei Ausstellungen wurden 627000 Besucher verzeichnet. SchB.

Aus dem Mitgliederkreis Vereinslokal und Jour fixe Der Vorstand denkt darüber nach, auf welche Weise mehr Mitglieder als bisher für die Teilnahme und Mitwirkung am geistigen Leben des Vereins zu gewinnen sind. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, ein geeignetes Vereinslokal zu finden, das zu bestimmten Zeiten als Begegnungsstätte und Gesprächsforum zur Verfügung stünde. Sollte das gelingen, was wegen der vielfältigen Anforderungen, die daran zu stellen sind, nicht ganz leicht sein wird, ist daran gedacht, einen Jourfixeeinzurichten (etwa einmal im Monat, bei Bedarf auch öfter), dessen Gestaltung im wesentlichen den Teilnehmern überlassen bleiben soll. Weniger das passive Zuhören und Anschauen als mehr die aktive Mitwirkung durch Interessen- und Meinungsaustausch, Diskussion und eventuell eigene Vorträge sollen dabei im Vordergrund stehen. Auch die Bildung kleiner Arbeitsgruppen zu bestimmten Themenkreisen kommt in Betracht. Nicht zuletzt soll dadurch der Kontakt der Mitglieder untereinander gefördert werden. Um einen Überblick zu gewinnen, wie groß die Zahl der Interessierten ist, bitten wir alle Mitglieder, die einen solchen Jour fixe begrüßen würden, sich schriftlich bei unserem Mitglied Helmut Grunwald, Bayernallee 27,1000 Berlin 19, zu melden, der es übernommen hat, sich bei entsprechendem Mitgliederinteresse um die Vorbereitung zu kümmern. Dabei können besondere Wünsche, Anregungen und Interessengebiete gleich mitgenannt werden. Auch Vorschläge für ein Vereinslokal (zentrale Lage, separater Raum, keine Saalmiete) können von Nutzen sein. In der nächsten Ausgabe der „Mitteilungen" werden wir über die Resonanz dieser Umfrage und die Fortschritte auf der Suche nach einer geeigneten Begegnungsstätte berichten.

* Der Ehrenvorsitzende unseres Vereins, Professor Dr. Dr. Walter Hoffmann-Axthelm (Freiburg im Breisgau), wurde von der American Academy of the History of Dentistry als erster Deutscher mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet. Die Freie Universität Berlin verlieh ihm in Anerkennung seiner Tätigkeit als Hochschullehrer die Medaille der FU Berlin. SchB.

* Im Heft 1/1986 war neben der Bücherspende von Frau Dr. Maria Arand aus Osnabrück eine weitere Stiftung für unsere Bibliothek bekanntgegeben worden. Der hochherzige Stifter hat sich inzwischen gemeldet: es ist unser langjähriges Mitglied Willi Karstens aus Berlin-Charlottenburg. Ihm sei für die Überlassung von 30 Bänden herzlich gedankt! SchB.

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Studienfahrt nach Lübeck vom 12. bis 14. September 1986 Vorläufiges Programm Freitag, 12. September 1986 6.00 Uhr Abfahrt des Omnibusses an der Berliner Bank, Hardenbergstraße 12.45 Uhr Hafenbesichtigung mit Führung durch das Hafengelände und Rundfahrt 14.45 Uhr Besuch des Heiligengeisthospitals 15.30 Uhr Besuch der St.-Jakobi-Kirche mit Orgelkonzert 16.30 Uhr Besichtigung des Rathauses mit Begrüßung durch einen Vertreter des Senats der Hansestadt Lübeck im Audienzsaal 17.15 Uhr Kaffeepause im Cafe Niederegger mit Kurzreferat über Lübecker Marzipan 18.45 Uhr Abendspaziergang durch die Innenstadt zum Mühlentor und über die Wälle zum Holstentor 20.00 Uhr Einkehr im Ratsweinkeller Sonnabend, 13. September 1986 8.15 Uhr Diavortrag zur Einführung in die Geschichte Lübecks 9.00 Uhr Abfahrt mit Bus zum Dom, von dort zur Großen Petersgrube - Markt - Rathaus St. Marien 12.00 Uhr Gemeinsames Mittagessen in der Schiffergesellschaft 14.15 Uhr Abfahrt mit Bus zur Grenze in Schlutup 15.30 Uhr Weiterfahrt nach Travemünde, Besichtigung des Hünengrabes Waldhusen 16.15 Uhr Kaffeetafel im Restaurant „Hermannshöhe" am Brodtener Steilufer 17.30 Uhr Übersetzen mit Fähre zur Besichtigung der „Passat" 19.15 Uhr Rückfahrt nach Lübeck, Abendessen im Schabbeihaus Sonntag, 14. September 1986 8.00 Uhr Abfahrt in die Holsteinische Schweiz 9.00 Uhr Von Malente-Gremsmühlen aus „Fünf-Seen-Fahrt" zur Haltestelle „Fegetasche" 10.00 Uhr Weiterfahrt mit Bus durch Plön zur Prinzeninsel Mittagessen auf der Prinzeninsel im „Niedersächsischen Bauernhaus" 13.30 Uhr Rückfahrt nach Berlin ca. 20.00 Uhr Eintreffen in Berlin Änderungen vorbehalten. Bei allen Stationen dieser Exkursion werden Erläuterungen zur Historie, vor allem auch zur Bau-, Kunst-und Sozialgeschichte gegeben. Örtlicher Begleiter ist Dr. Werner Neugebauer, Senatsdirektor a. D. Die Unterbringung erfolgt im Hotel Excelsior, Hansestraße 3, 2400 Lübeck (Einzelzimmer 56,50 DM, Doppelzimmer 46,50 DM; Endpreis je Person und Nacht), und im Herrenhof, Hotel Garni, Herrendamm 8,2400 Lübeck 1 (EZ 45,00/55,00/65,00 DM). Es steht eine hinreichende Zahl von Einzelzimmern zur Verfügung. Unverbindliche Anmeldungen können jederzeit gerichtet werden an den Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Diese Damen und Herren werden dann vorab unterrichtet und erhalten den eigentlichen Anmeldeschein, der nach der ergänzenden Mitteilung des Gesamtprogramms im Heft 3/86 der „Mitteilungen" versandt wird. SchB.

Der Senat von Berlin hat unser Mitglied Professor Dr. Michael Erbe, der am 2. Juli 1985 vom Konzil der Freien Universität Berlin gewählt worden war, mit Wirkung vom 25. November 1985 zum Ersten Vizepräsidenten der FU Berlin bestellt. SchB.

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Unser Mitglied Professor h. c. Dr. Ernst Gottfried Lowenthal erhielt zusammen mit dem Kirchenmusikdirektor an St. Marien in Berlin-Mitte, Christoph Albrecht, den Dr.-Leopold-Lucas-Preis. Die feierliche Preisverleihung findet am 5. Juni 1986 in der Universität Tübingen statt. Diese hohe Auszeichnung wird alljährlich an Persönlichkeiten vergeben, die sich durch hervorragende Arbeit auf dem Gebiet der Theologie, Geistesgeschichte oder Philosophie um die Verbreitung des Toleranzgedankens verdient gemacht haben. SchB.

Buchbesprechungen Kurt Tucholsky, Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung, herausgegeben von Irmgard Ackermann, Edition Text und Kritik, 208 Seiten, 24 DM. Anton Austermann, Kurt Tucholsky, Der Journalist und sein Publikum, Serie Piper Porträt, 1985, 202 S.. 14,80 DM. Kurt Tucholsky 1890-1935, Ein Lebensbild, herausgegeben von Richard von Soldenhoff, Quadriga Verlag, 293 S., 98 DM (Bildband). Der Ertrag des Tucholskyjahres 1985, in dem sich sein Todestag zum 50. Mal jährte, ist enttäuschend. Eine solide und zugleich umfassende Biographie dieses Jahrhundertjournalisten steht noch immer aus. Was vorhanden ist, ist entweder schmalbrüstig oder unseriös. Zunächst aber ist eine schon 1981 erschienene Broschüre anzuzeigen, die sich in sieben Beiträgen mit Werk und Wirkung Tucholskys beschäftigt, und zwar aus wissenschaftlicher Sicht. Überwiegend germanistisch, aber auch soziologisch wird da dem armen Tucho, der sich nicht mehr wehren kann, zu Leibe gerückt. Das geschieht weitgehend in einer Sprache, die Tucholsky oft genug glossiert hat, dem fremdwortbeladenen Fachchinesisch. Auch inhaltlich sind die meisten Aufsätze zumindest für den Nichtwissenschaftier unerquicklich, erinnern sie doch an die Versuche, das Wesen des Witzes wissenschaftlich zu erklären. Auch der schönste Körper aber verliert auf dem Seziertisch seinen Reiz. Lediglich der erste Beitrag, der einen Überblick über die 1981 vorhandene Tucholskyliteratur gibt, kann auch von „Dilettanten" ohne Reue gelesen werden, wenn auch gegenüber den Wertungen Vorsicht am Platze ist. Der Essay von Austermann gehört in dieselbe Kategorie. Er wird hier als Essay eingestuft in Anlehnung an Tucholskys Definition: „Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay." Die Machart: Man nehme alle Artikel Tucholskys, die sich mit Presse, Journalismus und Publikum befassen, und berichte dem Leser, was darin steht, mal in Gänsefüßchen und mal in indirekter Rede. Zwischenein halte man den Film immer wieder an und erkläre mit dem Zeigestock, wie der Tucholsky das gemeint hat. Wenn einer dazu etwas Kluges zu sagen hat, läßt sich ein solches Unterfangen rechtfertigen. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Fazit: Dieses Büchlein ist überflüssig. Einen Lichtblick in dieser Trübsal gewährt der schön und großzügig aufgemachte Bildband von Richard von Soldenhoff. Den einzigen Schatten wirft hier der Preis von 98 DM, der das Buch nur für betuchte Tucholskyfreunde erschwinglich scheinen läßt. Mit Tucholskys eigenen Texten versetzt, führen die Bilder den lesenden Betrachter durch das Leben dieses modernen Ahasver, des ruhe- und heimatlosen Juden, der schon 1924 Berlin und Deutschland verließ, um zunächst nach Paris, 1929 dann nach Schweden zu übersiedeln, ohne sich je irgendwo zu Hause zu fühlen. Auch in diesen Jahren war er häufig auf Reisen. Die einzige geistige Geborgenheit büßte er ein, als sein väterlicher Mentor Siegfried Jacobsohn Ende 1926 starb. Seit diesem Zeitpunkt schon zog sich die Schlinge zunehmend enger, die ihm schließlich die Luft zum Atmen nehmen sollte, wobei äußere und innere Umstände zusammenwirkten. Aus seinem Werk wird das nicht sichtbar, wohl aber aus seinen Briefen, aus denen hier vorwiegend zitiert wird. So läßt uns dieser Bildband teilnehmen an einer melancholischen Reise durch ein Leben, das vordergründig als privilegiert gelten konnte. Gnmwald

Hilla und Max Jacoby: Liebe deinen Nächsten. Brockhaus Verlag Wuppertal, 1984,64 Seiten, 54 Farbfotos, geb., 29,80 DM. Hinter diesem Titel vermutet man sicherlich nicht die in Farbfotos wiedergegebene Geschichte der türkischen Familie Topal, die mit ihren beiden Kindern jetzt in Berlin lebt. Ein Stück ihrer Geschichte, ihrer Probleme in Neukölln, aber auch ihrer guten Erfahrungen wird hier wiedergegeben - ebenso frei von 396

„Philoanatolismus" wie von schiefen Vergleichen und Attacken gegen vermeintliche Fremdenfeindlichkeit. Der zurückhaltende Text begleitet weiß auf schwarz die Fotografien, zu deren Technik die Autoren Hilla und Max-Mosche Jacbby Einzelheiten mitteilen - ein Stück Berliner Zeitgeschichte! SchB.

Helge Pitz, Wolfgang Hofmann, Jürgen Tomisch, Berlin W., Geschichte und Schicksal einer Stadtmitte, 2 Bände, Siedler Verlag, 1984, 418 und 468 Seiten, 98 DM. Daß die Baugeschichte einer Stadt eingebettet ist in ihre politische Geschichte, ist eine Binsenwahrheit. Jede baugeschichtliche Darstellung muß dem Rechnung tragen. Daß aber die errichteten Gebäude und die aus ihnen entstandenen Stadtlandschaften wiederum Schauplatz geschichtlicher Entwicklungen und Ereignisse sind und damit die räumliche Voraussetzung der Geschichte bilden, die sich in ihnen zuträgt, wurde bisher kaum beleuchtet. In neuester Zeit scheint sich das zu ändern. Beispielhaft dafür ist das hier zu besprechende zweibändige Werk über Berlin W., das von einer Autorengruppe erarbeitet wurde, in der Architekten und Historiker zusammenwirkten. Grundlage war ein vom Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz in Auftrag gegebenes Gutachten zu dem Thema: „Der zentrale Bereich als historischer Raum". Es handelt sich um den Versuch, Geschichte vom Raum her zu erfassen, in dem sie sich abgespielt hat. Für den Teilbereich, der sich diesseits der Mauer vom Wedding nach Kreuzberg erstreckt, schildern die Autoren zunächst die Planungsgeschichte und städtebauliche Entwicklung, um dann seine Rolle als Schauplatz der großen historischen Ereignisse zu würdigen, von den beiden Revolutionen 1848 und 1918/19 über die Machtergreifung der Nazis und den Aufstand vom 20. Juli 1944 bis zum Endkampf um Berlin und die Nachkriegsgeschichte. All das ist reich illustriert mit Fotos, Zeichnungen, Stichen, Plänen und Karten. Chronologische Übersichten einzelner Entwicklungslinien und biographische Zeittafeln der Hauptakteure runden das üppige Stoffangebot ab. Die Qualität der Wiedergabe des Bild- und Kartenmaterials läßt teilweise zu wünschen übrig. Durch notwendige Verkleinerung sind überdies einige Karten nur bedingt von Nutzen. Solche Kompromisse muß man wohl hinnehmen (ebenso wie den Pappeinband), wenn der Preis nicht noch weiter ausufern soll. Treffend sprechen die Verfasser davon, daß hier „eine moderne Form von Stadtarchäologie" zu betreiben war, so gründlich sind in diesem Bereich die Spuren verwischt. Besonders schmerzlich berührt die Geschichtsbarbarei, mit der nach dem Krieg historische Straßenzüge von der Neuplanung ignoriert wurden, sei es im Verlauf der Potsdamer Straße oder In den Zelten. Um so mehr sind Werke wie das vorliegende zu begrüßen, indem sie den Sinn für Geschichte von den baulichen Resten und dem Stadtraum her beleben, den viele so unwissend und gedankenlos durchfahren. Der Weg, den Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers mit ihrem bisher auf zwei Bände gediehenen Werk über das Berliner Mietshaus eingeschlagen haben, wird hier in erfreulicher Weise fortgesetzt. War es dort der Zusammenhang zwischen Bau- und Sozialgeschichte, so ist es hier die Verknüpfung der Baugeschichte mit der politischen Geschichte Berlins, die den Reiz und den Nutzen dieses Doppelbandes ausmachen. Nicht der Stoff ist neu, sondern der Blickwinkel. Grunwald

Berliner Poesiealbum, ein Gang durch die Jahreszeiten. Herausgegeben von Rolf Hosfeld. 128 Seiten, mit Kalendarium und 12 mehrfarb. Abbildungen, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart, 12,80 DM. Wer ein hübsch und handlich aufgemachtes, sehr sorgfältig gedrucktes Büchlein sucht, sei es zum eigenen Vergnügen oder zum Verschenken, dem sei dieses Poesiealbum angeraten. Es ist eine bibliophile Anthologie mit immerwährendem Kalender; Dichter der verschiedensten Zeitepochen führen durch die Stadt und ihre Jahreszeiten. Zwölf mehrfarbige Reproduktionen der Berliner Sezession ergänzen es stimmungsvoll. Irmlraut Köhler

Friedrich C. A. Lange: Groß-Berliner Tagebuch 1920-1933. Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn, 2. Auflage, 1982, DIN A5, broschiert, 190 Seiten. Friedrich C. A. Lange, Stadtsyndikus und Erster Bürgermeister der Stadt Berlin, breitet in seinem Tagebuch eine Fülle interessanter Tatsachen aus, die von dieser für das Werden Groß-Berlins so wichtigen Weimarer Zeit ein treffendes Bild ergeben. Dabei verteilt er durchaus Noten, wenn er Stadtbaurat Ludwig Hoffmann etwa als „ausgesprochenen Eklektiker" bezeichnet (leider nur Architekt, nicht Städtebauer), 397

für den Fassade alles, der Grundriß nichts bedeutet. Auf einen „boshaften Charakter" lasse die Gestaltung des Stadthauses schließen, weil man „dort Halbverhungerte aufgefunden habe, die tagelang herumgeirrt waren, ohne einen Ausgang zu finden". Die Parole „Los von Berlin!", die dem Landtag 1921 von zahlreichen Ortsteilen an der Peripherie Groß-Berlins übermittelt wurde, fand in Wannsee, Grunewald und Nikolassee ihre Befürworter, aber auch Wilmersdorf und Frohnau gehörten diesem „Chor der Mißvergnügten" an. Unter dem 22.9.1921 wird vermerkt, daß der heiß ersehnte Oberstudienrat, „ein neues Ziel für interne Wettkämpfe in den Lehrerkollegien der höheren Schulen", nun endlich Wirklichkeit geworden ist sozusagen als Startschuß für die inzwischen eingetretene Titelinflation. In dieses Kapitel gehört auch die Eingruppierung des Schöneberger Ratskellermeisters in die Besoldungsgruppe der Oberstadtsekretäre (11.2.1922). Im selben Jahr hält Lange angesichts der Erwerbslosennot den Beschluß des Schweizer Nationalrats für beachtenswert, für die gesamte Jugend vom vollendeten 18. Lebensjahr an eine sechsmonatige Arbeitsdienstpflicht einzuführen. Die Inflation wird daran gekennzeichnet, daß im November 1922 die Feuerbestattung nach der pietätlosen Koksklausel (Preisgrundlage 1 Zentner Lichtenberger Schmelzkoks frei Krematorium) berechnet und eine indirekte Gemeindesteuer auf den „übermäßigen Verzehr" in Gast- und Schankwirtschaften empfohlen wird. Unter dem 10.1.1923 vermerkt der Tagebuchschreiber: Die Denkmalpflege von Alt-Berlin ist ein trauriges Kapitel. In einer Zeit, als der Stadt reichlich Mittel zur Verfügung standen, besonders in den letzten zwanzig Jahren vor dem Kriege, wo der Berliner Haushalt im Drucksatz stehen bleiben konnte und der Kämmerer Mühe hatte, die Überschüsse zu verschleiern, ist vom Magistrat wenig genug getan worden, um historisch und künstlerisch Wertvolles vor der Spitzhacke zu retten. Man glaubte offenbar sein Gewissen damit beruhigen zu können, daß man kleine Erinnerungsstücke aus Abrissen für ein später zu errichtendes Museum in Verwahrung nahm. Wieviel hätte an den Ufern des alten Schleusengrabens, in der Friedrichsgracht, der Spree- und Petristraße, am Molkenmarkt, im Krögel und anderswo unter Schutz genommen werden müssen. Aber der Berliner Freisinn perhorreszierte nun einmal den Eingriff in das Privateigentum. In die Nachkriegsgeschichte führt die Anspielung auf die Antipathie, die dem „undurchsichtigen" Kölner Oberbürgermeister (Konrad Adenauer) auch deswegen begegnet sei, weil „seine Besoldungsstufe zwischen dem Reichskanzler und dem lieben Gott, aber mehr nach dem lieben Gott hin (liege)". Für die heutige Zeit mag auch die Notiz von Interesse sein (5.11.1930), daß die Stadt auf ihre Rechte im Deutschen Dom, dem einstigen Domizil des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865, verzichtet hat, „die bei diesem rein dekorativen Bauwerk nur mit Lasten verbunden sind". Die Besprechung des interessanten und lesenswerten Tagebuchs sei mit einer Anekdote abgeschlossen: Als eine Solistin der Städtischen Oper in den Raum trat, flüsterte sie (eine Geschäftsfrau) mir mit unbewegtem Gesicht zu: „Sehen Sie nur diesen Schmuck aus Tausendundeiner Nacht!" Sie unterschätzte übrigens die schöne Trägerin der Juwelen. H. G. Schultze-Berndi

Michael Schmidt: Berlin-Kreuzberg. Stadtbilder. Herausgeber: Bezirksamt Kreuzberg von Berlin, publica Verlagsgesellschaft in Berlin mbH 1984, broschiert, unpaginiert. Der Rezensent hat das Titelfoto einer Reihe von Bekannten vorgelegt und sie den Titel des Buchs raten lassen. Von „Mutter und Kind" bis „Ledige Flüchtlingsmutter" waren alle Antworten zu erfahren. Auf Stadtbilder aus dem Kreuzberg tippte aber niemand. Dies deutet schon an, daß es sich nicht um gängige Fotos handelt, und in der Tat dominieren bei diesen „Stadtbildern" Porträts und Ansichten der Mauer vor allem anderen, was der Bezirk Kreuzberg zu bieten hat. Michael Schmidt, namhafter Fotograf, setzt mit diesem Band die Reihe seiner vor allem den benachteiligten Wohnbezirken Berlins gewidmeten Fotobücher fort. Auch die vorliegende Edition „Menschen und Mauern" spricht für den eigenwilligen Blickwinkel des Fotoautors und seine Berlin-Sicht. SchB.

Dieter Borkowski: Rebellin gegen Preußen - Das Leben der Lily Braun. Fischer Taschenbuchverlag GmbH, Frankfurt, 1984. Der Autor, in jungen Jahren selbst vom sozialistischen Experiment in der DDR angezogen, hat sich mit großem Engagement dem Leben Lily Brauns gewidmet, einer großen Sozialistin und Vorkämpferin der

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Frauenbewegung. Bei uns ist sie zumeist nur bekannt als Autorin des Buches „Im Schatten der Titanen", einer Biographie ihrer Großmutter Jenny von Gustedt aus dem Kreis um Goethe. Geboren wurde sie 1865 als Tochter des preußischen Generals Hans von Kretschmann, wuchs auf im feudalen Kreis um das Kaiserschloß. Schon als Kind empörte sie sich über Bigotterie und Heuchlerei, und 25jährig brach sie völlig mit ihrer Kaste und ihrem bisherigen Leben. Von nun an widmete sie sich voll den Ideen der deutschen Sozialdemokratie und hier besonders der Gleichberechtigung der arbeitenden Frauen und Mädchen. Man muß sich vor Augen führen, daß um 1890 Frauen in Deutschland nicht einmal das Vereinsrecht besaßen, geschweige denn ein passives oder aktives Wahlrecht Jede Tätigkeit im öffentlichen Leben war ihnen verboten. So hat sich Lily Braun mit großem Mut und persönlichem Einsatz als Rednerin und Publizistin für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterinnen eingesetzt. Dabei hatte sie in ihrer Partei stets mit dem Mißtrauen zu kämpfen, welches man ihr als „intellektueller Aristokratin" entgegenbrachte. Nicht vergessen werden sollte bei dieser ungewöhnlich mutigen Frau ihre für damalige Verhältnisse revolutionäre Einstellung zu Ehe, Liebe und Sexualität. Von ihr, die mit einundfünfzig Jahren in Berlin starb, kann man auch sagen: „Sie hat viele Leben gelebt." Irmlraur Köhler

Adalbert Behr und Alfred Hoffmann: Das Schauspielhaus in Berlin. Herausgegeben von Professor Dr.-Ing. Erhardt Gißke, Generaldirektor der Baudirektion Berlin. VEB Verlag für Bauwesen, Berlin 1984, Leinen, 204 Seiten. Wenn der Herausgeber in seinem Vorwort den Ausspruch zitiert „Wer die Aufgaben der Gegenwart meistern und sicher in die Zukunft schreiten will, der braucht das Wissen um die Erfahrungen der Vergangenheit und das Erleben ihrer kulturellen Werte", so wird er breiteste Zustimmung finden. Man sollte dann aber auch erwähnen, wer zu Beginn der 80er Jahre zu dieser Einsicht gekommen ist: Erich Honecker. Es wird zunächst auf die Geschichte des einstigen Gendarmenmarktes und heutigen Platzes der Akademie und auf sein Werden zu einem Architekturensemble von europäischem Rang eingegangen. Nachdem am 10. November 1859 rund 100000 Berliner an der Feier zur Grundsteinlegung des Schillerdenkmals teilgenommen hatten, „hieß der Gendarmenmarkt unter den progressiven Kräften der Stadt Schillerplatz", später im Volksmund auch „Gänsemarkt". Während die Französische Kirche durch Bomben zerstört wurde und die Deutsche Kirche, einst Domizil des Vereins für die Geschichte Berlins, nach einem Luftangriff völlig ausgebrannt ist, wurde das Schauspielhaus in den letzten Kriegstagen von der SS, die für alle sonst unerklärlichen oder Übeltaten herhalten muß, in Brand gesetzt. Der Vorgeschichte des Baus eines Nationaltheaters werden längere Betrachtungen gewidmet. Dabei haben sich Schinkels programmatische Ideen zur Reform des Theaterbaus als derart zukunftsorientiert erwiesen, daß sie in den Werken Gottfried Sempers und Richard Wagners weitergeführt wurden. In Deutschland jedenfalls wagte kein anderes Theater eine derartige Reform auch des Bühnenbildes, wie sie nach 1815 von Schinkel unter dem Grafen Brühl zugleich mit einer Reform auch des Bühnenkostüms verwirklicht wurde. Als am 29. Juli 1817 während einer Probe zu Schillers Schauspiel „Die Räuber" das von Gotthard Langhans erbaute Theater auf dem Gendarmenmarkt bis auf die Umfassungsmauern ausbrannte, wurde auch der gesamte Fundus einschließlich Schinkels Bühnenbildern zu „Undine" vernichtet. Um den Wiederaufbau gab es erhebliche Auseinandersetzungen, die durch Dokumente belegt werden. In einem Brief an Caroline von Humboldt vom 29. März 1819 äußert sich Schinkel über die Gestaltungsprinzipien, die ihn bei seinem Entwurf bewegt haben: „Bei dem Stil des ganzen Gebäudes war mein Bestreben, mich dem Griechischen so viel als möglich zu nähern, da die Formen des Äußeren ganz genau mit denen des Inneren korrespondieren; so würde auch hier dieser Stil in jedem Schmucke durchzuführen sein. Der Charakter des ganzen Lokals soll zwar würdig, aber zugleich ganz heiter sein und durchaus nichts von dem kirchlichen Ernste besitzen, welcher zu den Tanzfesten, die auch hier gegeben werden, nicht paßlich sein würde." Dreier Jahrzehnte bedurfte es, um das reiche, wenn auch in Teilen veränderte Bildprogramm Schinkels zu verwirklichen. Neben den bei Theatern häufigen Motiven wie Apoll, Dionysos und Musen wurden neue Themen einbezogen, so die zu Ehren der Musiker und Dichter geschaffenen Porträtbüsten. Nach der festlichen Eröffnung am 26. Mai 1821 war Schinkel in aller Bescheidenheit nach Hause gegangen, wo ihm dann Schauspieler und Sänger, Professoren, Studenten, Künstler und Zuschauer vor seiner Wohnung „Unter den Linden" in Begeisterung eine Nachtmusik brachten. Der mit einer Fülle von Abbildungen geschmückten Darstellung des Baus folgen Ausführungen über die weitere Geschichte des Schauspielhauses, die in vier historische Perioden aufgegliedert ist: von 1821 bis 399

1828, während der 1840er Jahre, von 1919 bis 1933 und von 1935 bis 1945. Zu den großen Schauspielern werden Fritz Kortner, Werner Krauss und Ernst Deutsch, Bernhard Minetti, Emil Jannings und Heinrich George gezählt, zu den Schauspielerinnen Elisabeth Bergner, Tilla Durieux und Helene Weigel, Marianne Hoppe, Käte Haack und Hermine Körner, um nur einige Namen hervorzuheben. Die zweite Hälfte des Bandes behandelt den Wiederaufbau des Schauspielhauses als neues Konzerthaus. Damit wurde das Ensemble des Gendarmenmarktes der endgültigen Wiederherstellung ein Stück nähergebracht, die mit der Einweihung der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin am 18. April 1983 den Anfang gemacht hatte. Neben dem Hugenottenmuseum, das dort vorläufig untergebracht wurde, enthält dieser Dom eine kleine Weinstube und eine Aussichtsplattform unter der Kuppel. Der Wiederaufbau des Schauspielhauses, dessen technisch-konstruktive Grundzüge ausführlich geschildert werden, mußte von den Resten des Gebäudes ausgehen, die nach Beseitigung der Trümmer 1979 übriggeblieben waren: den äußeren Umfassungswänden und dem Dach des Schauspielhauses sowie den Längswänden des Theatersaales. Dieser umfangreiche und mit einer Fülle auch von Farbfotos ausgestattete Teil enthält auch einen abschließenden Beitrag über Tendenzen der europäischen Konzertsaalentwicklung. Zur Spielplankonzeption des Schauspielhauses hat sich schließlich die Intendanz Gedanken gemacht. Das Schauspielhaus ist nicht nur für das Berliner Sinfonie-Orchester und für die Berliner Singakademie eine neue Heimstatt, auch die Staatskapelle Berlin und das Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin werden das Programm durch ihre Anrechtsreihen mitgestalten. Da die Hochschule für Musik „Hanns Eisler" ihren Sitz im Funktionsgebäude des Schauspielhauses einnimmt, werden auch deren Absolventen in Konzerten auftreten. Im ausführlichen Register werden auch die „Mitteilungen" des Vereins als Literatur aufgeführt. Der Band ist sorgfältig redigiert und fast frei von Druckfehlern. (Arnolt Bronnen und Hans Henny Jahnn schreiben sich aber wirklich so; Seite 124.) Jedem Berlinfreund kann dieses Werk unbedenklich ans Herz gelegt werden, das etwas vom Geist Karl Friedrich Schinkels widerspiegelt: „Historisches ist nicht, das Alte allein festzuhalten oder zu wiederholen, dadurch würde die Historie zugrunde gehen; historisch handeln ist das, welches das Neue herbeiführt und wodurch die Geschichte fortgesetzt wird." Hans G. Schultze-Berndt

Georg Holmsten: Berliner Miniaturen 1945. Geschichten von damals. Droste Verlag Düsseldorf 1985. Drostes heitere Bibliothek, gebunden, 158 Seiten, 24,80 DM. Georg Holmsten, sonst mehr der Stadtgeographie oder Zeitgeschichte auf der Spur und als Biograph tätig, veröffentlichte 1946 in der Deutschen Buchvertriebs- und Verlags-Gesellschaft Berlin seine „Berliner Miniaturen" mit dem Untertitel „Großstadtmelodie", gedruckt übrigens im Druckhaus Tempelhof. Er hat die als eines der ersten Bücher nach dem Krieg in Berlin herausgekommenen Beiträge jetzt in unveränderter Form wieder vorgelegt, um einige Zeichnungen von Ilse Theuer gekürzt und um Feuilletons wie „Meine alte Schule" und „Hier stand ein Schloß" ergänzt. Wer sich der Schwierigkeiten der damaligen Zeit erinnert, wo jedes Wort gegen die Alliierten verboten war und selbst die Schilderung der Schwarzmarktatmosphäre auf dem Index stand, wo es auch nicht tunlich war, zu viel Tristesse zu vermitteln, gewinnt ein gutes Bild von der unmittelbaren Nachkriegszeit. Daß der Autor einige zeitlose Betrachtungen eingefügt hatte („Vorortstraße" oder „Grunewaldidylle"), mindert nicht das Zeitgefühl seiner Schilderungen. Daß Georg Holmstens Geschichten von damals 40 Jahre später, 1985, Drostes heitere Bibliothek eröffnen, ist nur insofern gerechtfertigt, als die Berliner ihren hier zu Tage tretenden Galgenhumor auch in weniger apokalyptischen Zeiten beweisen und bewähren können, mit Vorbehalt also „Heiterkeit". Die hier noch beschriebene „Raabegasse" ist inzwischen ein Nachkriegsopfer geworden. Gottlob hat sich die Prophetie hinsichtlich des Schlosses Charlottenburg dank Margarete Kühn nicht bewahrheitet: „In der Goldenen Galerie wird man kein Konzert mehr hören, und nie mehr wird eine von Sorgen unbeschwerte Gesellschaft im Charlottenburger Schloß rauschende Feste feiern... Hier stand einst ein Schloß. Es war einmal..." Es ist. Es steht wieder. H. G. Schultze-Berndt

Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin 1933-1943. Carl Hanser Verlag 1984. Wer - wie Unterzeichner - die Zeit bis 1945 nur aus Büchern kennt, dem war bisher eines unklar geblieben: Was machte eigentlich das wohlhabende liberale Großbürgertum in Deutschland, aus dem bis 1933 400

praktisch alle tonangebenden Persönlichkeiten - ob nun Politiker, Wissenschaftler oder Künstler hervorgegangen waren, in den Jahren der Naziherrschaft? Dank N. Sombart wissen wir es jetzt: Man nahm nicht zur Kenntnis. Man blieb unter sich. Leute, die im falschen Stadtviertel aufgewachsen waren, konnten jetzt zwar Minister werden, zum „Salon" wurden sie natürlich nicht eingeladen. Der Leser schwankt ständig, ob er dieser Einstellung Hochachtung zollen oder den manchmal unerträglichen Snobismus, der sich mehr auf Familie als auf Leistungen begründete, lächerlich finden soll. Zu den als Halbgott Verehrten gehört u. a. Graf Keyserling, von dem folgender Vorfall berichtet wird: In der Gesprächsrunde nach dem Diner nahm ein sehr bekannter Opernsänger einen immer herausfordernderen Ton gegenüber dem baltischen Wundermann an, der selbstverständlich gewohnt war, unwidersprochen zu monologisieren. Der Sänger stellte allerhand Fragen, wollte diese und jene Affirmation nicht durchgehen lassen. Keyserling war sichtlich irritiert, bis ihm plötzlich die Geduld riß. Er sprang auf, griff seinen Challanger am Arm und zwang ihn mit seiner Hünenkraft zu Boden: „In die Kniee, Schurke", rief er (auf russisch!), „was erdreistest du dich?" Natürlich hatte Keyserling recht. Wie oft im Leben habe ich fassungslos vor der Frechheit irgendeiner Mediokrität gestanden, die sich herausnahm, d'egalä egal mit jemandem zu argumentieren, der ihn turmhoch überragte - und sei ich selbst es gewesen. Der letzte Satz ist zwar zweideutig, doch läßt der weitere Inhalt des Buches keinen Zweifel daran, daß der Autor sich jedenfalls nicht zu den Mediokritäten rechnet. Wer also das Glück hatte, in den dreißiger Jahren in einer Grunewaldvilla mit ergebener Dienerschaft aufzuwachsen, der wird mit dem Verfasser wehmühtig an diese Zeit zurückdenken. Insofern ist das Buch schon ein Zeitdokument - ein sehr gut und locker geschriebenes dazu -, allerdings wohl kaum typisch für die Normalbevölkerung. Bernd Illigner

Dieter Vorsteher: Borsig, Eisengießerei und Maschinenbauanstalt zu Berlin. Siedler Verlag, 1983. Das in der Reihe „Industriekultur. Schriften zur Sozial- und Kulturgeschichte des Industriezeitalters" herausgegebene Buch ist nicht geeignet, bei Borsig-Veteranen Erinnerungen zu wecken. Es beschäftigt sich fast ausschließlich mit den Fabriken Chausseestraße (1837-1887) und Moabit (1847-1898?). Das 1897/98 in Tegel erbaute, noch existierende Werk wird auf zwei Seiten abgehandelt. Nach gängiger Meinung geht das Industriezeitalter derzeit gerade seinem Ende zu, abgelöst vom „Informationszeitalter". Zumindest für Berlin trifft dies augenfällig zu, wie an den drastisch sinkenden Beschäftigtenzahlen der Industrie abzulesen ist. Dadurch bekommt vieles, was vor kurzem noch zum ganz normalen Alltag gehörte, nun musealen Reiz. Unter dem Schlagwort „Industriekultur" gehen Baugeschichtler, Soziologen, Familienforscher, Technikhistoriker und andere ihren unterschiedlichen Tätigkeiten nach. Das Konglomerat wird dann in reichbebilderten Büchern veröffentlicht: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen. Die Maschinenbauanstalt Borsig bietet sich für eine derartige Darstellung besonders an. Immerhin war Borsig einst das größte preußische Unternehmen (bevor Krupp ihm den Rang ablief). August Borsig (1804-1854) lernte bei Fa. Egells die Eisenverarbeitung von der Pike auf. Als er 1837 als Werkmeister ausschied, kaufte er mit 8000 gesparten und 80 000 geliehenen Talern ein Grundstück neben seinem Lehrbetrieb und begann, mit zunächst 50 Arbeitern gußeiserne Gegenstände aller Art zu produzieren, von der Schraube bis zum Bilderrahmen. Neben großem technischem Sachverstand hatte er offensichtlich auch gute Verbindungen zu staatlichen Stellen, denn von dieser Seite kamen bald so spektakuläre Aufträge wie das Pumpwerk der Bewässerungsanlagen in Sanssouci oder die Kuppel der Nikolaikirche in Potsdam. Vor allem aber waren es natürlich Lokomotiven, die ab 1841 zunächst als Nachbau englischer Modelle, dann, ab 1844 die Vorbilder übertreffend, in einem Siegeszug ohnegleichen das Prosperieren der Unternehmung förderten. 1854 beschäftigte Borsig bereits 1100 Arbeiter und hatte das Monopol für den Lokomotivbau in Preußen. Das ursprünglich großzügig bemessene Gelände war längst zu klein geworden, 1847 wurde zwischen Spree und Alt-Moabit ein zusätzliches Walzwerk errichtet in unmittelbarer Nachbarschaft der 1842 in der Stromstraße gebauten pompösen Villa Borsig mit ihren berühmten Treibhäusern. Nach dem frühen Tod des Gründers führte sein Sohn Albert (f 1878) das Unternehmen dann vollends zur Weltgeltung. Anfang der siebziger Jahre arbeiteten in Berlin 3500, in Oberschlesien 2500 Beschäftigte. Was danach kam, war schrittweiser Niedergang. 401

Die Geschichte der Firma wird auf 60 Seiten abgehandelt, 70 Seiten beschäftigen sich mit Bauplänen, 50 Seiten mit der Selbstdarstellung des Unternehmens, speziell der Gestaltung der Firmenjubiläen. Da wiederholt sich natürlich vieles, und die Tatsache, daß von allen geschilderten Gebäuden längst nichts mehr vorhanden ist, so daß kein Bezug zur Gegenwart hergestellt werden kann, macht die ausführliche Schilderung der diversen An- und Umbauten auch nicht interessanter. Die Abbildungen sind zumeist so verkleinert, daß sie wie graue Briefmarken erscheinen. Insgesamt: ein Fachbuch für Fachleute, kein Leckerbissen für den interessierten Laien. Bernd Migrier Ursula von Kardorfl/Helga Sittel: Berlin, aus der Reihe „Richtig reisen", DuMont Buchverlag, Köln 1983. Reiseführer haben meist etwas altväterlich Penibles an sich, so als wendeten sie sich speziell an pensionierte Lehrer, die kulturelle Zeugnisse der Vergangenheit persönlich in Augenschein nehmen wollen. Im Gegensatz dazu stehen seit einigen Jahren die „alternativen" Reiseführer, die vorzugsweise Tips zur „Szene" geben, was wiederum für den schlichten Normalbürger wenig nützlich ist. Das vorliegende Buch füllt die dazwischen liegende Lücke; es ist für Touristen gedacht, die weder vor Museen noch vor Transvestitenshows zurückschrecken, die bereit sind, sich über Hausbesetzer genauso informieren zu lassen wie über die Vorgeschichte des Mauerbaus, denen eine lange Wanderung durch Berlins Wälder Freude macht, aber auch ein Glas Bier in der verräucherten Künstlerkneipe. Die Fülle von Informationen wird von U. v. Kardorff in Form einer blendend geschriebenen Plauderei ausgebreitet und von H. Sittel durch Bilder illustriert, die förmlich Lust erwecken, auch wieder mal in Berlin auf Entdeckung zu ziehen. Die Zusammenstellung der wichtigsten Informationen und Adressen im Anhang ist sorgfältig recherchiert, wenn auch naturgemäß das eine oder andere Etablissement inzwischen schon wieder eingegangen ist. Insgesamt ist das Buch sehr zu empfehlen als Geschenk für einen westdeutschen Freund, den Sie zu einem Besuch nach Berlin verlocken wollen. Bernd Migrier

75 Jahre Ingenieurausbildung im Beuth-Bereich der Technischen Fachhochschule Berlin 1909-1984. Herausgegeben vom Historischen Archiv der Technischen Fachhochschule Berlin, Berlin 1984. Broschiert, DIN A4, 158 Seiten, Schutzgebühr 10 DM (einschließlich Versand). Zu beziehen von der Hochschulverwaltung. Professor Dipl.-Kfm. Dipl.-Ing. Hans Joachim Wefeld, seit 1971 Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, Kosten- und Investiticnsrechnung sowie Arbeitsvorbereitung im Fachbereich 9 (Maschinenbau) der Technischen Fachhochschule Berlin, hat sich in seiner Eigenschaft als Leiter des Historischen Archivs der TFH um das Zustandekommen und Abfassen dieser Jubiläumsschrift sehr verdient gemacht. Die Geschichte der Beuth-Schule ist 1959 in einer Festschrift gewürdigt worden. Das 1975 wiederbelebte Archiv konnte sich auf die Arbeiten von Oberbaurat i. R. E. Kliemann und Professor Werner Hübner stützen, da sämtliche Schulakten 1945 vernichtet wurden. Historisch gesehen ist die TFH heute eine fachlich breit gefächerte, d. h. polygewerbliche Hochschule, womit ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert wiederaufersteht. Diesem Prinzip der Konzentration steht die Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands diametral entgegen, wo die Ingenieurschulen konsequent spezialisiert wurden. Offensichtlich hat man mit den Ingenieurschulen aber auch vielfach experimentiert, was aus zwölf Änderungen des Schulnamens in 75 Jahren hervorgeht. Zur Geschichte der Ingenieurschule Beuth wird aus dem Jahre 1945 berichtet, daß die 8000bändige Bibliothek bis nach Lichtenberg gelangte, wo die Holzkisten anderen Zwecken zugeführt wurden, so daß nur noch 800 Bücher übrigblieben. Nach dem Krieg mußte die Ingenieurschule erst das Französische Gymnasium und dann bis 1964 die Ranke-Oberschule aufnehmen. Die historische Betrachtung schließt auch die Studenten mit ein, und man erfährt, daß Herbert Baum bis 1935 an der Beuth-Schule Elektrotechnik studierte und sich nach seiner Relegierung einer Widerstandsgruppe anschloß; 1942 ist er in der Haftanstalt Moabit verstorben. Von den studentischen Gemeinschaften verdient die Flugtechnische Arbeitsgemeinschaft Beuth Berlin (FAG) Interesse, die drei Segelflugzeuge gebaut hatte. Die Reste des 1940/41 entwickelten Hochleistungs- und Übungsflugzeugs FAB3 wurden 1951 vom Verfasser gerettet und der TU Berlin als Lehrstück übergeben, doch wurde der Torso dann dort verschrottet. Von 1935 bis 1945 existierte übrigens eine Abteilung „Kraft- und Luftfahrtwesen Leichtbau", der zwei Motorflugzeuge als Anschauungsobjekte dienten. Das eine war das Reiseflugzeug des tschechoslowakischen Großindustriellen J. A. Batä, das ihm in Tempelhof beschlagnahmt worden war, das andere war eine Kriegsbeute. Beide Maschinen sind durch Luftangriffe zerstört worden. 402

Unter den Studentenunruhen der Jahre 1966 bis 1974 hat die Effizienz des Studiums ganz ohne Zweifel gelitten. Um 1969/70 verschwanden die Geschäftsstelle des ASTA samt Inventar, Bücherei und Kassenbestand von der Bildfläche. Mit dem Fachhochschulgesetz des Landes Berlin vom 27.11.1970 wurde die eigenständige Existenz der zuletzt Staatliche Ingenieurakademie Beuth Berlin genannten Institution beendet, die vormaligen Ingenieurschulen bzw. -akademien wurden in den Hochschulbereich überführt. Jahrzehntelang bewährte Eingangsvoraussetzungen sind neuen Vorschriften mit der Folge gewichen, daß der Anteil von Studenten mit abgeschlossener Berufsausbildung gesunken ist. Es soll jetzt ein Zwischensemester von 18 Wochen Dauer nach der Vorprüfung eingeführt werden, um die Studenten mit der Berufswirklichkeit des Ingenieurs vertraut zu machen. Der hier beklagten Praxisferne der Studenten entspricht der den Absolventen seit dem Wintersemester 1983/84 obligatorisch verliehene Titel „DiplomIngenieur". Bemerkenswert erscheint der politische Anstoß, der in den 60er Jahren ein Überdenken und Neufassen der Lehrinhalte der allgemeinbildenden Fächer bewirkte. Dies war als eine Reaktion „auf eine Welle neonazistischer Schmierereien und Vorfälle" zu verstehen, die einem heute angesichts der seit rund 15 Jahren unübersehbaren Schmierereien anderer Couleur als ferne Vergangenheit erscheinen mag. Immerhin ist der seit 1972 bestehende Bildungsauftrag des Fachbereichs „Allgemeine Wissenschaften/Wirtschaftswissenschaften für Ingenieure" bemerkenswert. In einem Anhang werden die Biographien der Namenspatrone Christian P. W. Beuth und Franz Grashof sowie der Direktoren wiedergegeben und die Namen aller Dozenten und Hochschullehrer seit 1909 aufgeführt. Diese Jubiläumsschrift markiert einen interessanten Punkt in der Historie dieser traditionsreichen Berliner Bildungseinrichtung. H. G. Schultze-Berndt

Neue Mitglieder im I. Quartal 1986

Dr. Ingrid Neumann-Duscha, Wiss. Dokumentarin Eichenroder Ring 19, 1000 Berlin 21 Telefon 4 02 22 00 Heinz Siewert, Archiv-Ang. Karl Heinz Bannasch, Beamter Ulrikenstraße 50, 1000 Berlin 20 Hasenmark 22,1000 Berlin 20 Telefon 3 316911 (Dr. Kutzsch) Telefon 3 33 74 90 (Oxfort) Yamaguchi, Tadachi, Geschäftsführer Günther Kühne, Journalist Weinheimer Straße 26, 1000 Berlin 33 Reichsstraße 74, 1000 Berlin 19 Telefon 8 24 78 48 Telefon 3 04 64 27 (Dr. Kutzsch) Dr. Karsten Westphal, Architekt Karlheinz Kummer, Fabrikant Leydenallee 40, 1000 Berlin 41 Alt-Reinickendorf 4/5,1000 Berlin 51 Telefon 8 83 80 81 (Geschäftsstelle) Telefon 4 95 90 42 (R. A. Asch) Irmtraud Wollschlaeger, Ang. Dr. Friedrich Mehlhose, Arzt Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62 Mühlenstraße 38, 1000 Berlin 37 Telefon 8 54 5816 (Wollschlaeger) Telefon 81134 38 (Schriftführer) Gesellschaft für ein Jüdisches Museum Ingeborg Meßerer in Berlin E.V. Isarstraße 8, 8520 Erlangen (Geschäftsstelle) Lindenstraße 14, 1000 Berlin 61

Ordentliche Mitgliederversammlung, Tagesordnung 1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und Bibliotheksberichtes. 2. Berichte der Kassen- und der Bibliotheksprüfer. 3. Satzungsänderung des § 2 „Zweck des Vereins". Es soll die Förderung der Volksbildung in Berlin als weiterer Zweck aufgenommen werden. 4. Aussprache. 5. Entlastung des Vorstandes. 6. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern. 7. Verschiedenes. 403

Veranstaltungen im IL Quartal 1986 1. Freitag, den 18. April 1986, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag des Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts, Herrn Prof. Dr. Edmund Buchner: „Die Sonnenuhr des Kaisers Augustus". Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Sonnabend, den 19. April 1986, 10.00 Uhr: Spaziergang um den Gendarmenmarkt, dem heutigen Platz der Akademie. Gültiges Tagesvisum für Berlin erforderlich. 3. Donnerstag, den 22. Mai 1986, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter WoUschlaeger: „Kloster Lehnin und der Lehniner Altar". Einführung zur Exkursion am 31. Mai. Gemeinschaftsveranstaltung mit dem Heimatverein Charlottenburg. Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Sonnabend, den 31. Mai 1986, 9.00 Uhr: „Auf den Spuren Theodor Fontanes". Exkursion zum Lehniner Altar im Dom zu Brandenburg an der Havel mit Besichtigung des DomMuseums (sogenannte Gründungsurkunde Berlins) und der Wagner-Orgel. Besichtigung des Klosters Lehnin. (Nur für Besitzer des Berliner Personalausweises, Anmeldung beim Vortrag am 22. Mai.) Gemeinschaftsveranstaltung mit dem Heimatverein Charlottenburg. 5. Donnerstag, den 5 Juni 1986,14.00 Uhr: „Die Historischen Räume des Schlosses Charlottenburg". Führung von Herrn Prof. Dr. Jürgen Julier. Treffpunkt am Denkmal des Großen Kurfürsten auf dem Ehrenhof um 13.45 Uhr. 6. Donnerstag, den 12. Juni 1986, 19.30 Uhr: Ordentliche Mitgliederversammlung im Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung auf der Seite 403. 7. Sonnabend, den 27. Juni 1986, 9.00 Uhr: Sommerausflug nach Potsdam mit Besichtigung der Ausstellung „Friedrich II. und die Kunst" im Neuen Palais. Verbindliche Voranmeldungen unter 8 54 58 16 bis zum 15. Juni 1986.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21,1000 Berlin 20, Telefon 3332408. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3 23 28 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89,1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 20000), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 404

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>K MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 82. Jahrgang

Heft 3

4,

KPM-Vase aus der Meierei von Frogmore

Juli 1986

Royal Louise Die" Fregatte vor der Pfaueninsel 1832-1945* Von Wilfried M. Heidemann

Dr. Manfred Karnetzki zum Abschied nach zehnjähriger Amtszeit als Zehlendorfer Superintendent und Gruß zum Beginn seiner neuen Arbeit als Direktor des Evangelischen Bildungswerkes im Charlottenburger Haus der Kirche und als Studienleiter in der Evangelischen Akademie am Kleinen Wannsee gewidmet. I. Wege zwischen Berlin und Potsdam Die Ausflugsgebiete im Land Berlin oder auch in der brandenburgischen Umgebung Berlins sind heute verkehrstechnisch gesehen verhältnismäßig einfach, schnell und bequem zu erreichen. Das war nicht immer so. Zumal eine Landreise konnte eine ausgesprochen mühsame und unbequeme Angelegenheit werden. Eine Teilstrecke der ersten preußischen Eisenbahn wurde 1838 zwischen Zehlendorf und Potsdam eröffnet. Sie stillte offensichtlich einen lang aufgestauten Bedarf der Bevölkerung, jedenfalls weiß der Chronist Schade für den Zehlendorfer Haltepunkt zu berichten: „... wo einige Monate ein solcher Verkehr von Neugierigen aus Berlin war, die darauffahren wollten, daß an einigen Sonntagen so viele Wagen im Dorfe ankamen, daß solche genötigt wurden, außer dem Dorfe aufzufahren" (1). Die erste aus Berlin herausführende gepflasterte Überlandstraße war der Königsweg zwischen den beiden Residenzen nach Potsdam. Er wurde im 18. Jahrhundert mit kleinen Feldsteinen befestigt, den sogenannten „Affeneiern" (2). Es gehört nur wenig Phantasie dazu, um sich vorstellen zu können, daß selbst in einer gut gebauten Kutsche vom Wagen aus die Landschaft für den Reisenden überhaupt nicht erlebbar war. Entweder wurde er durch das Katzenkopfpflaster gehörig durchgerüttelt, oder der Blick wurde ihm durch aufgewirbelten Sandstaub genommen. Daher lag es nahe, nach einer verbesserten Reisemöglichkeit zu suchen. Von Katharina, der Gattin bzw. Witwe des Kurfürsten Johann Georg, wird berichtet, daß sie in Dresden ein „neues Leibschifflein" bauen ließ. „Am 12. Juni 1598 war es bereits fertig, es wurde dann vom Steuermann Christof Puien und drei Schiffsknechten von Dresden die Elbe aufwärts (!) bis an die Havel und ,alsdann uf der Habeil bis gegen Berlin' geführt" (3). Beim ersten preußischen König Friedrich I. fällt auf, daß seine bevorzugten Schlösser wie Köpenick, Berliner Stadtschloß, Monbijou, Charlottenburg, Glienicke, Potsdamer Stadtschloß und Caputh am Fluß-Seen-System von Havel und Spree lagen und teilweise zusätzlich noch über Kanäle für den Schiffsverkehr auf eine besonders repräsentative Weise zugänglich gemacht wurden. (Der Garten von Niederschönhausen sollte über einen Kanal und die aufgestaute Panke an diese Wasserstraßen angeschlossen werden.) (4) Für diesen bei seinen Repräsentationsvorhaben am französischen und holländischen Vorbild orientierten Monarchen ist es nicht weiter erstaunlich, daß er sich in Amsterdam eine prachtvolle Lustyacht anfertigen ließ, die nicht nur in jener Hafenstadt an der Zuiderzee Aufsehen erregte, sondern später auch in Berlin dem der Seefahrt aufgeschlossenen russischen Zaren * Für den Druck überarbeiteter Vortrag, der am 20. November 1985 in der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe gehalten wurde. 406

Peter I. so ausnehmend gut gefiel, daß er es verstand, sie leicht dem zur Sparsamkeit neigenden, um nicht zu sagen, dem Geiz verfallenen Nachfolger Friedrich Wilhelm I. abzubitten (5). Von 1770 an ließ der jüngere Bruder Friedrichs II. die bei Rheinsberg gelegene Remusinsel in seine gärtnerische Obhut nehmen. „Die Pflanzungen und Bearbeitung der Insel sind im englischen Geschmack" (6). Man kann diese Parkanlage als Vorgängerin der Pfaueninsel ansehen. Bei Gondelfahrten vom am Heiligen See in Potsdam gelegenen Marmorpalais durch den Hasengraben in den Jungfernsee und weiter havelaufwärts hatte Friedrich Wilhelm IL, der Neffe und Nachfolger Friedrichs des Großen, eine Insel, den Kaninchenwerder, besucht und wollte sie „der Lage halber zu einigen Anlagen selbst übernehmen" (7). Von diesen königlichen Anlagen hat sich auf der dann Pfaueninsel genannten Insel in der Nähe der Fähranlegestelle aus der Zeit Friedrich Wilhelms III. mit dem Fregattenschuppen ein Bauwerk erhalten, das als letztes Überbleibsel höfischer Lustschiffahrt gelten kann.

II. Die erste Fregatte 1814-1830 Ein Geschenk des Prinzregenten George (IV.) Nachdem Kaiser Napoleon I. im April 1814 von seinen alliierten Gegnern zur Abdankung gezwungen worden war (8), besuchte der preußische König Friedrich Wilhelm III. vor dem Wiener Kongreß seine englischen Verbündeten auf deren Heimatinsel. Der Prinzregent George (IV.) schenkte ihm in Portsmouth ein Miniaturschiff. Der den König begleitende Zweitälteste Sohn Wilhelm (Kaiser Wilhelm I.) schrieb in einem Brief an seinen jüngeren Bruder Carl am 30. Juni 1814: „Papa erhielt von einem Admiral ein kleines Boot geschenkt, welches wie eine Fregatte ausgerüstet ist, ganz allerliebst, mit 3 Masten, Kanonen usw. Es kommt nach der Pfaueninsel" (9). Das Schiff wurde von dem 19jährigen Leutnant Charles Inglis und fünf Matrosen von Portsmouth durch den Kanal und die Nordsee nach Hamburg gesegelt. Am 16. September teilt der preußische Konsul Schwartz aus Hamburg dem König nach Berlin mit, daß das Schiff mit der englischen Mannschaft abgegangen ist: „Zu mehrerer Vorsicht und Sicherheit der inländischen Schifffahrt (!), habe ich dem Lieutenant Inglis den Zollkahn des Schiffers D. Pinckernelle mitgegeben, der mit einem Steuermann und drei Schiffsknechten bemannt ist, die seine Farth (!) leiten und zu seinem schnelleren Fortkommen beitragen sollen" (10). Am 30. September trifft das Schiff vor der Pfaueninsel ein. Einen Tag später berichtet der Präsident v. Bassewitz: „Da man sich eine größere Idee von der Fregatte gemacht hatte, hat solche nicht den Erwartungen des Publikums entsprochen. Dem Ansehen nach ist sie nicht größer als ein großer Tornowkahn, jedoch recht hübsch gearbeitet und verziert, ohne Verdeck mit völliger Takelage und spitzem Kiel, weshalb man sich beim Fahren für Sandbänke hüten muß, weil sonst leicht das Schiff umschlägt, wenn es auf solche kömmt. Mit Kupfer ist das Schiff beschlagen" (11). Weiter teilt v. Bassewitz auch etwas über die fünfköpfige Mannschaft des Bootes mit, denn drei Matrosen stammen aus Deutschland: „Sie sind 10-12 Jahre schon englische Matrosen und zu solchen in London gepreßt worden und sehr glücklich, wenn sie jetzt im Vaterlande bleiben können." Der Hofmarschall v. Maltzan will diese Angelegenheit den König entscheiden lassen und berichtet ihm am 18. Oktober: „Sie hatten in England monatlich an Sold l'/2 Pf- und freie Beköstigung erhalten. Ich habe dies hier bis auf weiteren A. Befehl continuiert..." Aus Wien, wo er zu jener Zeit am europäischen Kongreß teilnahm, auf dem die Grenzen der Staaten des 407

Kontinents neu festgelegt wurden, teilt Friedrich Wilhelm III. am 3. November 1814 dem Berliner Hofmarschall in einer Allerhöchsten Kabinetts Ordre seine Entscheidung in der Sache mit. Die drei Matrosen dürfen bleiben, behalten ihre bisherige Soldhöhe und freie Beköstigung auch auf der Pfaueninsel. Der König beauftragt v. Maltzan aber, den Seeleuten „auch angemessene Beschäftigung zuweisen zu lassen. Über ihre weitere Bestimmung werde ich bey meiner Rückkehr beschließen und erwarte, daß Sie alsdann die Sache wieder in Anregung bringen" (12). Das Schiff scheint allerdings erst im kommenden Sommer 1815 auf der Havel gesegelt worden zu sein. Europa war durch die Rückkehr Napoleons I. von Elba nach Frankreich erneut in Unruhe geraten. „Nach einem Abschiedsdiner mit seiner Mutter, seinen Brüdern und Hortense verließ er Paris am Montag, dem 12. Juni, in seiner blau-goldenen Kutsche. Seine körperliche Verfassung war gut, seine Laune ausgezeichnet, und er vertraute auf den Plan, Blücher und Wellington getrennt zu schlagen" (13). Am darauffolgenden Sonntag sollte in Waterloo bzw. La Belle Alliance das militärische Geschehen zwar vollkommen anders und im Ergebnis zu seinen Ungunsten verlaufen, aber jener Montag, der 12. Juni, scheint nicht nur in Paris, sondern auch in Berlin zu Unternehmungen angeregt zu haben. Friedrich Wilhelms III. dritter Sohn, der 13jährige Prinz Carl v. Preußen, notiert in seinem Tagebuch: „Um halb 12 kam die Fregatte mit 3 wirklichen Matrosen, zwei Schiffern und dem Kastellan Fintelmann an, weil der König auf derselben zurück nach der Pfaueninsel fahren wollte. Ich gab Allen, die sich auf dem Schiff befanden, Wein und Butterbrot, auch Schinken. Als sie sich gesättigt hatten, begab sich die Gesellschaft auf die Fregatte, und nun ging die Fahrt los. Ich saß neben einem Matrosen, und dieser zeigte mir, daß seine Hand und sein Arm tattuirt waren. Man hatte auf demselben ein Cruzifix, einen Anker, ein Rad usw. tattuiert. Unweit der Pfaueninsel kam Wilhelm, Brausen und Brauchitsch in einem kleinen Kahn nachgefahren. Die zwei ersten kamen aus Berlin. Der eine Matrose sagte mir, daß man in 10 Minuten vom Neuen Garten zur Pfaueninsel segeln könnte! Ich kletterte auf die Strickleiter und hielt auch ein Segel an Stricken usw. ..." (14). Allzu pfleglich scheint dieses Schiff indes nicht behandelt worden zu sein. Denn schon nach 14 bzw. 16 Jahren war es vollkommen verrottet (15). Aber es scheint nicht nur den Mitgliedern der Königsfamilie bei ihren Aufenthalten auf der Pfaueninsel für die Segelpartien ausnehmend gut gefallen zu haben, die Miniaturfregatte hatte „auch eine kaum anderweitig zu ersetzende Staffage für die Landschaft abgegeben" (16).

III. „Royal Louise" Das Geschenk Williams IV. an Friedrich Wilhelm III. und sein Weg zur Pfaueninsel 1832 Im Jahre 1830 war der Prinzregent und spätere König George IV gestorben. Die Herrschaft ging auf seinen Bruder William IV über. Da dessen Ehe mit der Prinzessin Adelheid von Sachsen-Meiningen kinderlos blieb, wurde er zum letzten Hannoveraner auf dem britischen Thron. Der preußische Gesandte v. Bülow berichtet in einem Schreiben aus Brighton über einen Besuch vom 9. August 1830 im Park von Windsor, wo er an einem kleinen See, dem Virginia Water, im chinesischen Pavillon die Königin traf. Von diesem Parkbau waren verschiedene Fahrzeuge auf dem Wasser zu sehen, darunter vielleicht auch die nach der Königin benannte verkleinerte Fregatte „Royal Adelaide" (17). Der Gesandte schreibt nach Berlin: vertraute mir Ihre Majestät die Königin, daß ein solches von ihrem Gemahl dem Könige von Preußen als Geschenk zugedacht sei, um bei der Pfaueninsel benutzt zu werden." Ein paar Tage 408

später hat v. Bülow Gelegenheit, neben dem König zu sitzen, der ihn beauftragt, bei Sir Herbert Taylor in der Admiralität selbständig wegen des Schiffsbaus nachzufragen. Gleichzeitig bringt William IV. den preußischen Gesandten „in Verlegenheit, als das Sr. Majestät, unserem allergnädigsten Herrn zugedachte Fahrzeug bald Yacht, bald Fregatte, bald Brigantine genannt wurde, und ich mich außer Stande sah und glaubte, über diesen Gegenstand irgend eine Äußerung laut werden zu lassen." Der Gesandte v. Bülow ist ein vorsichtiger Mann und bittet „in der Voraussetzung, daß das beabsichtigte Geschenk nicht wohl abzulehnen sein dürfte", um genaue Instruktionen aus Berlin (18). In Berlin wird erst einmal das Urteil eines Sachverständigen eingeholt. Der Hofgärtner Ferdinand Fintelmann auf der Pfaueninsel erhält ein vom 29. September 1830 mit Boßler gezeichnetes Kabinettsschreiben, in dem es u.a. heißt: „Ihre Umsicht und Schiffahrtswissen wird Ihnen die sichersten Mittel hierzu an die Hand geben, und eile ich deshalb, Ihnen die Sache zuzusenden, um keinen Zeitverlust zu bewirken." In seinem Antwortschreiben an den Hofmarschall Freiherr v. Maltzan berichtet Fintelmann: „... daß der Wasserstand der Havel und damit in Verbindung stehenden Seen gegenwärtig so ist, daß man mit einem Seeschiff, wie die zerfallene kleine Fregatte war, bequem durch den Hasengraben nach dem Neuen Garten segeln könne; wo gegenwärtig 2'/2 Fuß Wasser ist. Bei niedrigem Wasserstande kann man 1 Fuß weniger annehmen, den Hasengraben aber in der Mitte um soviel tiefer ausbaggern, indem der Grund schlammig und torfig ist, so daß man den oben angeführten Wasserstand von 2'/2 Fuß hier immer annehmen kann. Die Havel ist so tief gegen den Strom und im gewöhnlichen Fahrwasser, daß man darin mit ansehnlichem Seeschiffe ohne Gefahr segeln kann, wenn man Bescheid weiß. Denn wir haben in der Nähe der Insel eine Tiefe von 40 Fuß zu beiden Seiten" (19). Der Ober-Landesbau-Direktor Eytelwein kann über die Binnenwasserstraßen von Hamburg nach Berlin mitteilen, daß das Schiff bei 4 Fuß Einsenkung alle Schleusen werde passieren können (20). Sir Ryam Martin kommt, wie v. Bülow am 29. Oktober nach Preußen berichtet, im Auftrag des englischen Königs zu ihm, überreicht ihm Pläne und „wünscht sehr, baldmöglichst zu erfahren, ob man in Berlin irgend welche Veränderungen darin vorgenommen zu sehen vorziehen würde, indem er sich dann bei dem schon angefangenen Bau danach richten würde. Die Zeichnungen und Risse, die Admiral Martin mir übergeben, eignen sich nicht zur Beförderung durch die Post" (21). Daher ist v. Bülow froh, am 16. November in einem eiligen Schreiben mitteilen zu können, „daß ich die Zeichnung und Risse dieser kleinen Fregatte dem Fürsten v. Carolath nach Berlin mitgegeben habe" (22). Am 30. November berichtet er aus London: „Habe ich nicht gesäumt, Sr. Brittannischen Majestät den verbindlichsten Dank des Königs, unsers Herrn, für dieses Geschenk abzustatten" (23). Wie sehr sich William IV für dieses Geschenk engagierte, zeigt seine angelegentlich geäußerte Bitte, „Zeichnungen sämmtlicher Landesflaggen der verschiedenen Preußischen Provinzen und Landestheile zu erhalten, um darnach die verschiedenen Flaggen für die kleine Fregatte anfertigen lassen zu können". Der Gesandte v. Bülow gesteht seine Unkenntnis in solchen seemännischen Protokollfragen und bittet um Auskünfte aus Berlin. Er wird dabei auf die einheitliche Flagge der Schiffe des Königreiches verwiesen, die auch die „Handelsstädte, wie Danzig, Elbing, Königsberg ... unter unbedeutenden Abweichungen" führten (24). In der Cabinetts-Ordre Friedrich Wilhelms III. vom 12. März 1823 heißt es, „daß die ordentliche Landes- und Handelsflagge in dem mittleren weißen Streifen den Preußischen heraldischen Adler erhalten und die beiden äußeren schwarzen Streifen zusammengenommen, den dritten Teil der ganzen Flaggenbreite einnehmen sollen" (25). Die in Auftrag gegebene Fregatte wurde vor allem im Jahre 1831 in den königlichen Dockyards 409

von Woolwich gebaut. Im Juni 1832 berichtet das „Nautical Magazine": "The Royal Louise, a most beautiful model of a 32 gun frigate, intended as a present to the King of Prussia, was launched on lst May at Woolwich. The ceremony of naming the vessel was performed in the presence of several hundred spectators by the Lady of Oliver Long Esq., the Master Shipwright. The whole of the inside of the vessel is of polished mahogany, her cabin is inlaid with plate glass, and her stern is surmounted with a beautiful executed figure of a black eagle, the national emblem of Prussia. She is copper bottomed and fastened. Her length is 556 feet, breath 12 feet, depth inhold 810 feet. Her register tonnage 30 tons" (26). Das Schiff wurde von zwei britischen Marinekapitänen Sparshott und Smart nach Preußen gebracht. Der Überbringer des Geschenks war der natürliche Sohn Williams IV. Lord Adolphus FitzClarence. Ihm gab der englische König einen französisch geschriebenen Brief vom 28. Mai 1832 an Friedrich Wilhelm III. mit, in dem es u. a. heißt:« C'est le modele d'un Fregatte que Je Charge Mon Fils Lord Adolph Fitz-Clarence, Capitaine dans Ma Marine Royale, et Tun des Gentilhommes de Ma chambre de presenter ä Votre Majeste en Mon nom, avec la presente Lettre et que Je prie Votre Majeste de vouloir bien accepter» (27). Am 1. Juni traf das kleine Schiff in Hamburg ein. Seine Fahrt nach Berlin auf Elbe und Havel sollte nicht ganz so problemlos verlaufen, wie ursprünglich geplant. Der Hamburger Agent der Königlich Preußischen Seehandlungs-Societät Julius Kühne schreibt am 5. Juni an die General-Direktion nach Berlin: „Da die Fregatte viel zu tief ging, um nur hinter dem Dampfer angebunden und bugsiert zu werden, so mußten wir das eigene Manöver machen, eine zu diesem Zwecke expreß angekaufte Zille in den Grund zu bohren, selbige dann unter die Fregatte zu bringen (!) und nach Wiederverstopfung und Auspumpung des Wassers das Ganze wieder zu heben, wodurch jetzt eine, um mehr als die Hälfte geminderte Verschiffungstiefe herauskommt, und der jetzige Wasserstand keine Schwierigkeit des Fortkommens erzeugt. Zu bedauern bleibt also nur, daß das Dampfboot „Berlin" auch diesmal wahrscheinlich nur bis Bleckede gelangen kann, von wo aus sowohl unser Schleppkahn, als auch das Fahrzeug mit der Fregatte durch Bemannung an Ort und Stelle ihren Weg bestmöglichst weiter zu verfolgen suchen müssen. Letztere wird übrigens auf ausdrückliche Ordre der Königl. Marine von dem Kapitain und einigen Matrosen, welche die Fregatte anhero brachten, bis an den Bestimmungsort begleitet; da aber alle diese Leute mit dem Transport auf dem Eibstrom unbekannt sind, so habe ich mich aufdringendes Ansuchen des betreffenden Consulats genöthigt gesehen, den Führer des Dampfschiffes „Berlin", Schonberg, die Führung des Ganzen ebenfalls bis zum Ablieferungsorte mit zu übertragen" (28). Ein glücklicher Umstand hat drei Briefe eines weiteren Begleiters dieser höfischen Mission, des Captain Doyle, wenn auch nur in deutscher Übersetzung, auf uns kommen lassen (29). Sie geben ein ausgesprochen lebendiges Bild dieser Reise ins damalige Potsdam und Berlin wieder. In Brandenburg - „Es ist ein trauriger Ort und nichts da zu sehen" - ist von der Fregatte weder etwas zu sehen noch zu hören. Daher ziehen die vier Herren von der Royal Navy nach Potsdam weiter. „Lord Adolphus hatte die Absicht, dort incognito zu bleiben, bis sichere Nachricht davon einliefe; da aber der König unsre Ankunft erfahren hatte, so sendete er den Obersten v. Massow, seinen ersten Adjutanten, zu unserm Empfange." Sie werden für den nächsten Tag zum Diner ins Neue Palais eingeladen. „Alle wetteiferten, Lord Adolphus ihre Aufmerksamkeit zu beweisen. Am Eingange wurde er von dem Prinzen Albrecht, des Königs jüngstem Sohn empfangen, der uns in das Versammlungszimmer einführte. Hier wurden wir Ministern, Kammerherrn und Generalen ohne Ende vorgestellt; und bald darauf erschien die königliche Familie, deren Mitgliedern wir präsentirt wurden. Dann wurde Lord Adolphus in das Cabinet des Königs gerufen, wo er des Königs Brief überreichte. Drauf kam der König heraus und wir 410

wurden vorgestellt. Er sprach mit mir in seiner gewöhnlichen Freundlichkeit. Nachdem die Königin von Bayern eingetroffen war, ging es zur Tafel in dem prachtvollen Marmorsaal, wo wir zu achtzig Gedecken speißten. Während dem Essen machte die Bande von einem GardeRegimente Tafelmusik. In dem Diner war kein Styl, wenn man es als ein Großes Gastmahl betrachtet, und verglichen mit dem, was Sie mir von dem Speisesaale in St. James gezeigt haben. Es gab weder goldne noch silberne Becher, oder irgend einen Reichtum an Tafelgeschirr. Prinz Otto von Bayern, der neue König von Griechenland, war auch da; er ist einer der häßlichsten Männer, die ich je gesehen habe. Alle Prinzessinnen sehen gut aus, und die Kronprinzessin scheint eine sehr liebenswürdige Person. Die Prinzen scheinen mit großem Vergnügen englisch zu sprechen. Es ist ein Glück, daß unsre Sendung keine diplomatische ist, da das diplomatische Corps von dem Hofe ganz ausgeschlossen wird." Mit der Ankunft der Fregatte gibt es Schwierigkeiten, die mit Problemen ihrer Wassertiefe zusammenhängen. „Sie können sich denken, wie sehr jedermann sie zu sehen begierig war, besonders Prinz Carl, der ein großer Liebhaber vom Segeln ist und an einem See lebt, der sehr breit und tief ist und schöne Ufer hat." Der nächste Brief datiert vom 18. Juni 1832. In Berlin findet am gleichen Tag ein Pferderennen statt, „die Bahn liegt etwa drey (englische) Meilen von Berlin an der Straße nach Potsdam". Viele Herren vom Militär in Paradeuniform sind dabei. Engländer haben Entwicklungshilfe bei der Einführung dieser Sportart in Preußen geleistet. Captain Doyle wundert sich über die Gelassenheit der deutschen Zuschauer: „Ich glaube nicht, daß John Bull so ruhig geblieben wäre als die Preußen." Hinterher „speißten wir bei dem Hannoverschen Gesandten und fuhren dann auf des Prinzen Carls Landhaus, der einen Tanz gab. Dasselbe liegt an einem See, wo die Fregatte bleiben wird. Bei unserer Ankunft fanden wir alles in der größten Freude, daß die Fregatte an diesem Morgen glücklich eingelaufen war." Am darauffolgenden Tag gehen die Engländer nach dem Gottesdienst um elf Uhr in Potsdam zur Truppenparade „und dann fuhren wir zu Prinz Carl, in dessen Jacht wir nach der Pfauen-Insel überfuhren, um bei dem Könige zu speisen. Dieß ist eine Insel auf dem See, und die Fregatte ist bestimmt, vor dem königlichen Schlosse zu ankern. Auf der Jacht wurden die englische und preußische Flagge zusammen auf der Mastspitze aufgezogen, und beim Aussteigen wehte unsre Fahne vom Schlosse. Ich erwähne dieß blos, um zu zeigen, wie viel selbst bei Kleinigkeiten uns zu Gefallen geschah. Prinz Carl bestieg die Fregatte, und sie können sich schwerlich seine Freude vorstellen, als er die innere Einrichtung sähe. Der König sagte, daß er seiner Neugier Gewalt anthäte, nicht an Bord zu gehen, daß er aber beschlossen habe zu warten, bis alles im Stande sey.... Nach Tische fuhren wir in Droschken überall herum. Die Insel ist schön und erinnert an den Jardin des plantes in Paris, in dem man alle 100 Yards Plätze mit seltenen Vögeln, Thieren u.s.w. findet. Nachdem wir alles gesehn hatten, gingen wir zur Montagne russe, wo wir uns eine Zeitlang belustigten Die Fregatte wurde gestern von dem flachen Boote heruntergebracht, und segelte etwa zwei oder drei Stunden. Sie sieht schön aus und hat nicht im Geringsten von der Reise gelitten." Im nächsten Brief werden Besuche, Opernabende und Kasernenbesichtigungen beschrieben und dann auch die festliche Übergabe des britischen Geschenks. Sie sei hier vollständig wiedergegeben: „Nachdem die Fregatte bereit war, und der König den 22. zu deren Empfangnahme bestimmt hatte, gingen wir des Morgens nach der Pfauen-Insel, wo sich der König schon befand. Halb zwölf Uhr war die von ihm bestimmte Stunde. Sobald Seine Majestät bereit war, wurde er von Smart und Sparshott an Bord gerudert, und Lord Adolphus hatte das Steuer. Er wollte sich des Bootes der Fregatte, statt seines eigenen Bedienen. Mellish und ich gingen an Bord, ihn zu empfangen. Ich spielte 411

den liebenswürdigen Seemann, auf dem Seitendeck, bis zur Vollkommenheit. Nachdem er rund um die Fregatte herumgefahren war, stieg er an Bord, und in diesem Augenblick sank die englische Flagge und die preußische wurde auf dem Vordermaste, die Fahne auf dem Hauptmaste aufgezogen. Mellish hielt dann eine passende Anrede auf deutsch für Lord Adolphus, dem der König antwortete, daß er für die Güte des Königs von England, ihm dieß Geschenk zu senden, sehr dankbar sey, und noch mehr für die Aufmerksamkeit, seinen Sohn zum Überbringer desselben zu machen. Sie haben keine Idee, wie erfreut er darüber war. Nachdem er die Fregatte in Empfang genommen hatte, kam die ganze königliche Familie an Bord. Sie waren alle davon bezaubert, und da einige dabei waren, die noch nie ein Schiff gesehen hatten, so können sie sich denken, wie groß ihre Verwunderung war. Wir kreuzten nun von allen Booten gefolgt, hatten aber nicht Wind genug zu manövrieren. Wir blieben etwa eine Stunde unter Segeln und kehrten dann zum Essen zurück. Wir speyßten unter freyem Himmel, unsre Plätze waren an der königlichen Tafel; die Hofleute saßen an anderen Tischen. Der König brachte aus: ,Auf das Wohl des Königs von England!' dann: ,die britische Marine', und ,Erinnerung an 1815!' wo unsre beiden Armeen zusammen fochten. Die Musik spielte: God save the King und Rule Britannia. Es war eine erhebende Scene." Am darauffolgenden Tag läßt Friedrich Wilhelm III. Orden und Berliner Porzellan an die Gäste aus England verteilen. Captain Doyle erhält „eine Vase mit des Königs Bildniß auf einer Seite und der Ansicht von Potsdam von der Pfauen-Insel auf der andern. Sie ist etwa anderthalb Fuß hoch, und er trug Massow auf, zu sagen, daß er diese Ansicht ausgesucht hätte, damit ich den angenehmen Tag auf der Insel, von der sie genommen ist, nicht vergessen möchte." Und Doyle schließt seine Berichte über diese beiden Wochen mit dem Satz: „So endete unser Ausflug nach Berlin, an den ich mich stets mit dem größten Vergnügen erinnern werde." Am Tag der Übergabe schreibt Friedrich Wilhelm III. einen französischen Dankesbrief an William IV., durch dessen Worte bei aller vorgegebenen diplomatischen Höflichkeit auch etwas von seiner eigenen Begeisterung über das Geschenk aus England klingt: «Un süperbe cadeau, digne d'un Souverain, qui est en meme temps la premier amiral de son empire. J'ai ete surtout enchaunte (!) et de la beaute de l'ensemble, et du fini de tous les details. C'est un chef-doeuvre, qui merke l'admiration de tout le monde, autant que la mienne. C'est une miniature achevee de la maniere la plus parfaite, qui ait j'amais existe» (30). Zwei der Matrosen aus England waren auf königlichen Wunsch dageblieben, „um die nach der Pfaueninsel zur Führung und Bemannung commandirten Mannschaften der Garde-PionierAbteilung in der Behandlung der Fregatte, im Segeln, im Auf- und Abtakeln derselben zu unterrichten" (31). Sie fuhren nach dem 1. September 1832 nach England zurück. Dieses großzügige englische Geschenk erforderte geradezu eine irgendwie angemessene Gegengabe von preußischer Seite. Möglicherweise bestand in Berlin in diesem Punkt eine gewisse Unsicherheit, denn erst zweieinhalb Jahre später kommt zum Hofgärtner auf der Pfaueninsel ein Besucher aus der Stadt, der ihm folgenden Brief übergibt: Wohlgeborner Herr Hochzuverehrender Herr Hofgärtner! Seine Majestät der König haben durch den Fürsten von Wittgenstein Durchlaucht bei dem unterzeichneten Direktor der Königl. Porzellan Manufaktur eine sehr große Porzellan-Vase mit einem Panorama der Pfaueninsel bestellt, auf welchem zugleich das von 412

dem Könige von England, Sr Majestät dem Könige verehrte Fregatten-Modell in großem Maaßstabe gemalt werden soll. Ew. Wohlgeboren erlaube ich mir daher den Ueberbringer Herrn Walter, Maler in der Königl. Porzellan Manufaktur, mit der Bitte zuzusenden ihm Gelegenheit geben zu wollen die gedachte Fregatte völlig aufgetakelt zu sehen, damit er davon sofort einerichtigeund genaue Zeichnung aufnehmen kann. Sie würden mich besonders verpflichten wenn Sie ihm sobald als möglich die Gelegenheit zu seiner Arbeit verschaffen wollten, da die Ausführung der Vase in Porzellan sehr beschleunigt werden muß. Es ist die ausgezeichneteste Hochachtung mit der ich die Ehre habe zu sein Ew. Wohlgeboren Berlin den 3,en Februar 1835.

ganz ergebener Frick Königl. Geheimer Bergrath und Direktor der Königl. Porzellanmanufaktur. (32)

Jeder Berliner Segler wird bestätigen können, daß es eine gewisse Zumutung sei, solch eine Bitte zu einer Jahreszeit auszusprechen, in der sich das Wasser der Havel wegen seines geänderten Aggregatzustandes normalerweise hervorragend zum Eissegeln eignet. Möglicherweise ist der Hofgärtner der Aufforderung zur Takelung des Schiffes auch nur hinhaltend nachgekommen, denn erst am 6. September 1836 berichtet der Gesandte v. Bülow aus London, daß dort drei Kisten angekommen seien mit den Einzelteilen für eine zusammenzusetzende KPM-Vase. Der englische König bedankt sich am 8. Oktober 1836 mit einem Brief aus Windsor Castle, in dem es u. a. heißt: "I need not assure Your Majesty, that I shall always feel a pride in preserving Your Majesty's splendid Present in my Family, as a specimen of the perfection, to which this manufacture has been carried in Your Majestys Dominions, under Your Majestys fostering care, and as a memorial of Your Majesty, and of the Friendship by which we have long been united" (33). Nachdem nun sehr viel über die diplomatische Geschichte der „Royal Louise" und einiges über die Arbeitsbedingungen seiner Schiffsleute gesagt worden war, wird es sinnvoll sein, auch etwas zur äußeren Gestalt und der Materialzusammensetzung dieser Fregatte mitzuteilen. Die präzise Beschreibung hat der Marinemaler, Illustrator und Schriftsteller Willy Stöwer (1864-1931) vorgelegt; ursprünglich war er Schiffsingenieur und kam als Autodidakt zur Kunst. Er ist zwar im pommerschen Wolgast geboren, doch wurde Berlin zu seinem Lebensmittelpunkt (34). Er hat das Schiff nicht nur mit eigenen Augen gesehen, darüber hinaus scheint er auch auf ihm gesegelt zu sein. Wegen der größeren zeitlichen und sachlichen Nähe, die er allen anderen Kennern der „Royal Louise" voraus hat, sei hier seine 1905 erschienene Beschreibung vollständig vorgelegt: 413

„Der äußere Anblick der Fregatte ,Royal Louise' ist, obwohl einen die nach der damaligen Bauart üblichen vollen Linien im Vor- und Achterschiff fremd anmuten, ein durchweg günstiger, der durch die zierliche Ausführung und das streng seemännische Aussehen der Takelung mit ihren untergeschlagenen Segeln und vierkant gebraßten Rahen noch wohltuender auf das Auge wirkt. Besonders hübsch ist der Blick auf die graziöse Linienführung des Hauptspants, wenn man vor dem reichverzierten Bug steht, dessen Gallion in einen Adlerkopf ausläuft. Bei einer Länge über Deck von 15 Metern hat der Rumpfeine Breite von 4,20 Meter und 1,40 Meter Tiefgang. Das Vorgeschirr ist 7 Meter lang, der Topp des Hauptmastes ragt 13 Meter über den Wasserspiegel. Das Unterwasserschiff ist gekupfert mit schmalem, weißem Streifen auf der Grenzlinie. Über Wasser ist der Anstrich schwarz mit weißem Gang. Aus den in diesem weißen Streifen durch Anstrich markierten Stückpforten ragen nachgemachte Kanonenläufe hervor. Auf dem Heck, das ebenfalls reichen Schmuck trägt und dessen Hache durch angedeutete, verzierte Seitenlichter belebt wird, steht auf weißem Bande in Goldbuchstaben der Name ,Royal Louise'. Ein 60 Zentimeter hohes Schanzkleid, das zahlreiche Pfortenöffnungen hat, begrenzt das Deck und trägt eine gelb gehaltene Relingleiste. Das Deck selbst zeigt in kleinem Maßstabe die gesamte Einrichtung eines Kriegsschiffes, wie sie damals üblich war: ein Miniatur-Gangspill, die Kranbalken mit zwei schweren Bugankern und auf dem Achterdeck zwei kleine Messingkanonen, mit denen Salutschüsse erwidert und der Abendschuß bei Sonnenuntergang gefeuert wird. Zwischen Großmast und Fockmast liegt ein 40 Zentimeter hoher Kajütsaufbau, der dem darunter befindlichen Salon eine reichliche Stehhöhe von 2 Meter verleiht. Weiter nach vorn zu schließt sich das Luk zum Mannschaftslogis an. Dicht hinter dem Großmast befindet sich der Niedergang, dessen Treppe, querschiffs gelegt, von Steuerbord nach Backbord hinunterführt. Sämtliche Aufbauten bestehen aus Mahagoniholz, das Hauptdeck und Kajütendeck sind aus schmalen Whitepine-Planken verlegt. Hinter dem Besanmast liegt der Steuerraum. Die Steuerung selbst ist auswechselbar und kann mittelst Pinne oder, was gewöhnlich der Fall ist, mittelst Rad geschehen. Zierliche, pyramidenartig geformte, achtseitige Glaskuppeln geben den unter Deck befindlichen Räumen das nötige Tageslicht. Diese letzteren bieten, wenn auch der Aufenthalt auf Deck von den hohen Gästen an Bord bevorzugt wird, eine für kleinere Fahrten reichlich genügende Bequemlichkeit. Von dem oben erwähnten Niedergang aus gelangt man zunächst in einen Vorflur, dessen freier Raum durch Spinde und Pantry ausgenutzt ist. An Backbord führt eine Tür zu dem 4'/2 Meter langen Salon, der sich über die ganze Breite des Schiffes erstreckt. Seine Ausstattung ist ebenso einfach wie vornehm gehalten. Die Wände sind mahagoni-getäfelt, die Decke weiß gemalt. Mit rotem Satinleder überzogene Polster laufen an den Seiten entlang, in Bronzegrund gehaltene Teppiche bedecken den Boden. Ein Ausziehtisch für zwölf Personen und die nötigen Sessel vervollständigen die innere Einrichtung. Nach vorn zu trennt den Salon ein Schott von dem kleinen Mannschaftsraum, der keine weiteren Einbauten hat und mehr als Kabelgatt benutzt wird. Nach achtern zu führt der Gang zur Schlafkajüte, die bei ihrer Lage im Hinterschiff eine geringere Höhe hat. Die Wände sind ebenfalls mahagoni-getäfelt, die Polster mit einem feingemusterten Wollstoff bezogen" (35).

IV. Die Miniaturfregatte im kaiserlichen Berlin Am 27. Januar 1859 wurde in Potsdam ein Junge geboren, der auf den Namen Friedrich Wilhelm Viktor Albert getauft wurde. Eine seiner beiden Großmütter schreibt an ihre Freun414

Die „Royal Louise" unter vollen Segeln auf der Havel.

din: „Ich habe meinen Herrn Gemahl seit langem nicht so froh gesehen." Aber sie notiert dann auch weiter: „Und wirklich - noch niemals ist in Preußen ein Prinz zur Welt gekommen, der mit einem körperlichen Gebrechen behaftet war. Es ist noch eine Frage, ob man sich damit abfindet für den erstgeborenen Sohn des Thronfolgers" (36). Das hier beschriebene Kind ist der spätere Kaiser Wühlern II. An ihn wurden von der Wiege an nicht nur die erhöhten Anforderungen eines Thronfolgers gestellt, von Kindheit an wurde er eben auch ein Leben lang wegen seines Geburtsfehlers beobachtet. Ein überseeischer Besucher schreibt, wie es ihm bei einer Begegnung erging: „Vor der Audienz wiederholte ich mir deshalb immer wieder: ,Blick nicht auf 415

seinen linken Arm, du wirst bestimmt nicht auf seinen linken Arm blicken!' Er trat ein. Meine Augen machten sich selbständig - und ich starrte genau auf seinen linken Arm. Zu meinem Glück war er aber offenbar an diesen Vorgang so gewöhnt, daß sich dadurch die Höflichkeit und Wärme seiner Begrüßung nicht verminderten. Er schüttelte mir mit seiner Rechten die Hand. Das war buchstäblich ein drückendes Erlebnis. Denn um einen Ausgleich für sein Gebrechen zu schaffen, hatte sich der Kaiser seit seiner Kindheit bemüht, seinen rechten Arm und seine rechte Hand so stark zu machen, daß sie doppelt zählten" (37). Karl Veiten, langjähriger Leiter der königlichen Matrosenstation in Potsdam, er wurde 1906 von Wilhelm mit dem einmalig gebliebenen Titel „Königlicher Yachtkapitän" belohnt, schreibt aus der Erinnerung seines Ruhestandes, die sich vermutlich auf Kenntnis des Logbuches der „Royal Louise" stützen dürfte: „Am 28. August 1864 ist die erste Fahrt verzeichnet, an der S. Kgl. Hoheit Prinz Wilhelm (Kaiser Wilh. II.) in Begleitung des Elternpaares teilnahm" (38). Es ist bekannt, wie sehr Erwachsene von ihren Kindheitserinnerungen abhängen. Dieses Kind hat sich als abgedankter Monarch im niederländischen Exil auch an seine Erlebnisse auf der Miniaturausgabe eines englischen Kriegsschiffes erinnert: „Meiner Segelpassion konnte ich ... auf der hübschen Segelfregatte .Royal Louise' nachgehen. Diese stand unter dem Kommando des Schiffsführers Veiten, der als Geschützführer im Kriege 1870/71 an Bord des Kanonenbootes .Meteor' unter Kapitänleutnant Knorr das siegreiche Gefecht gegen den französischen Aviso ,Bouvet' vor Havanna mitgemacht hatte In den Anfängen der preußischen Marine diente sie einige Zeit den auf der Marineschule zu Berlin stationierten Seekadetten mangels eines geeigneteren als Schulschiff für die Ausbildung der Takelagekenntnis und des Segelexerzierens. Ein halbes Dutzend Matrosen machte zu meiner Zeit die Besatzung aus. Einige kleine Modellkanonen an Bord dienten Heinrich und mir zum Feuern von Saluten. Ich bin nach meinem Regierungsantritt häufig mit den in Berlin anwesenden Admiralen auf der ,Royal Louise' gesegelt, wobei die Stationen von diesen besetzt wurden (sehr zum Gaudium der Matrosen!) und das Kommando meistens Admiral Hollmann führte. Auch die verewigte Kaiserin ist oft und gern mit der alten Fregatte gefahren" (39). Die beiden Prinzen segelten an jedem Mittwochnachmittag, bisweilen auch am Sonnabend. „Ein Hauptvergnügen war dabei das Abfeuern der Salutgeschütze, auf deren Pulverladung im Herbst noch eine Kastanie gesetzt wurde. Wenn Prinz Wilhelm segelte, dann führte er auch das Steuerruder der Fregatte..." (40). Es wird gewiß keine unangebrachte Vermutung sein, zu behaupten, daß er hier ganz entscheidende Impulse seiner späteren Marinebegeisterung empfing, die ihren knappen Ausdruck in dem in den Zitatenschatz eingegangenen Satz des Kaisers fand: „ Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser!" (41) In der als Vorstufe des Deutschen Reiches gebildeten staatsrechtlichen Konstruktion des Norddeutschen Bundes war nicht nur der König von Preußen das Oberhaupt, auch die junge preußische Marine ging in der gemeinsamen Flotte auf. Wie zurückhaltend der preußische Herrscher Wilhelm I. dieser Entwicklung zur deutschen Einheit gegenüberstand, macht folgende Episode deutlich: „Das Jahr 1868, in dem am 22. März die Norddeutsche Bundesflagge von der Flotte gesetzt wurde, hat für die Station insofern Bedeutung, als Se. Maj. der König die auf... (der) Fregatte gesetzte Bundesflagge erblickte, durch das Hofmarschallamt den Befehl ergehen ließ, die hiesigen Fahrzeuge sollten nach wie vor die preußische Adlerflagge führen, was bis zur Auflösung der Station geschehen ist" (42). Indes blieb das Schiff nicht ohne bauliche Fürsorge. Während der Zeit des Deutsch-Französischen Krieges kam es am 1. November 1870 für mehr als ein Jahr zur Überholung wegen starker Undichtigkeit auf die Werft Gebhardt in der Nuthemündung. Dort wurde „die Beplankung unter Wasser nebst einer Anzahl von Inhölzern erneuert". - Gleich danach kam es in den Winterschuppen auf der Pfaueninsel, und 416

„im Jahre 1872 erhielt das Schiff ein Stell neuer Segel von Fuhrhop in Hamburg zum Preise von 706 Talern" (43). Weiter sind aus der Regierungszeit Wilhelms I. folgende beiden Begebenheiten sowohl für die Entwicklungsgeschichte der kaiserlichen Marine als auch der Glienicker Lokalgeschichte von Interesse: „Am 22. Juni 1882 veranstaltete Prinz Wilhelm eine Gedächtnisfeier an Bord der Fregatte, dem Tage, an dem sie vor 50 Jahren in den Besitz der Königlichen Familie gelangt war. Das Schiff befand sich dabei unter Segeln. Zugegen war Prinz Friedrich Carl. Das war wenige Jahre vor seinem Ableben. Am 18. Juni 1885 legte sich die Fregatte vor die Glienicker Brücke unter Trauerzeremoniell wegen des Todes des Prinzen und gab, als der Leichenzug die Brücke passierte, einen Salut von 21 Schuß zu Ehren des als Segler geschätzten Prinzen ab" (44). Er wurde in der Familiengruft unter der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe beigesetzt. Das Datum des 50jährigen Jubiläums der Fregatte fiel in die Zeit bald nach der Heirat des Prinzen (1881). Damit war sein Einzug in das nahe der Matrosenstation am Heiligen See gelegene Marmorpalais verbunden, und es „fanden fast täglich Fahrten mit der Fregatte oder den Booten statt" (45). Die von preußischen Vorbehalten geprägte Einstellung Wilhelms I. gegenüber einer deutschen Flotte änderte sich vollkommen unter seinem Enkel Wilhelm IL, der darin nicht nur ein Erbe seiner englischen Mutter aus eigener Neigung aufnahm, sondern auch damit das Bürgertum an das kaiserliche Deutschland band, dessen Söhnen er in der Marine Offizierskarrieren eröffnete, die dieser ehrgeizigen Schicht in den altpreußischen Regimentern des Heeres nicht ohne Konflikt mit dem Adel möglich gewesen wären (46). Er hatte im Gegensatz zu der jahrzehntelangen Thronfolgerzeit seines Vaters im Dreikaiserjahr 1888 nur 99 Tage auf den Antritt seiner Herrschaft zu warten. In diese kurze Zeit fällt indes auch eine Begebenheit, die auf die zu Anfang genannten Gründe einer höfischen Binnenschiffahrt um Berlin zurückweist. Am 29. Mai 1888 wird dem Hofgärtner Niedner mitgeteilt: „Freitag, den 1. Juni wird das Königliche Hoflager von Charlottenburg nach Friedrichs-Kron verlegt. Ihre Kaiserlichen Königlichen Majestäten werden zur Fahrt nach Potsdam das Dampfschiff Alexandria benutzen. Abfahrtszeit 10 Uhr 45" (47). Wilhelm II. berichtet in seinen Erinnerungen „Aus meinem Leben": „Zu dem letzten Dienst, dem ich meinem Vater vor seinem Tode noch erweisen konnte, gab mir seine Übersiedlung von Charlottenburg nach Potsdam Gelegenheit. Da mein Vater heftig drängte, nach seinem geliebten Potsdam und dem ihm so teuren Neuen Palais hinauszukommen, wo er ,geboren sei und auch sterben wolle', fanden mehrfache Beratungen zwischen den Ärzten, dem Generaladjutanten v. Winterfeld, dem Oberhofmarschall Fürst Radolin und mir statt. Die Ärzte erklärten einen Eisenbahntransport für zu gefahrvoll, eine Wagenfahrt auf staubiger Chaussee wollten sie auch nichtriskieren,so daß die Verlegenheit groß war. Ich freute mich, eine befriedigende Lösung dieser Schwierigkeiten vorschlagen zu können. ... mein Großvater... hatte mir den Auftrag erteilt, eine neue Dampfyacht entwerfen zu lassen. Diese neue, Alexandria' war gerade nach Absolvierung ihrer Probefahrt in den Dienst gestellt und lag jetzt an der ,Matrosenstation'. Da das Schiff sehr niedrig über Wasser lag, war keine Treppe notwendig, man konnte zu ebener Erde an Bord gehen. Der große an Deck liegende Salon mit bequemen Sofas und Stühlen, die mit weißem Kattun überzogen waren, gewährte jede für den Kranken erforderliche Bequemlichkeit, während die breiten Fenster, die je nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden konnten, einen weiten Ausblick boten. Die Herren stimmten meinem Vorschlag zu, und ich ließ die Yacht durch den Spandauer Kanal nach Charlottenburg kommen, wo sie am Schloßpark anlegte Meine Mutter und wir Geschwister begleiteten ihn. Es war rührend zu sehen, welche Freude ihm das schmucke Schiff mit dem hellen freundlichen Raum und die schöne Wasserfahrt bereiteten. So lange an das Krankenzimmer gefesselt, 417

konnte er sich an dem vom Sonnenschein übergossenen Havelufern, die uns so lieb und vertraut waren, nicht satt sehen. Beim Passieren der Pfaueninsel, die er so innig in sein Herz geschlossen hatte, und auf der wir so unendlich oft als Kinder und später auch als Erwachsene mit ihm in trautem Familenkreise geweilt hatten, überkam ihn tiefe Wehmut. Langsam winkte er mit der Hand hinüber, und eine Träne stahl sich aus seinem Auge - er nahm Abschied von der lieblichen Insel und all den schönen Erinnerungen, die sich an sie knüpften. Dieser Anblick war so ergreifend, daß ich die Kommandobrücke aufsuchen mußte, um die mich übermannende Rührung zu verbergen. Ich stellte mich neben den Schiffsführer, Kapitän Veiten, dem es nicht anders als mir erging. Er hielt das Steuerrad fest in der Hand, starr vor sich in die Ferne blickend, die Zähne zusammengebissen, während die Tränen in seinen mächtigen rötlichen Seemannsbart hinabrannen" (48). Etwas weniger von Gefühlen geleitet sah General Leo v. Caprivi, der damalige Chef der deutschen Admiralität, die Marinebegeisterung des künftigen Herrschers. Bereits am 28. September 1887 hatte ihn nämlich der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt Friedrich v. Holstein auf eine mögliche Regentschaft dieses Kaiserenkels angesprochen. Seine von dem Diplomaten festgehaltene Antwort lautete: „Himmel, Himmel, wie wird das nur werden, wenn Prinz Wilhelm jetzt schon herankommt? Er glaubt, daß er alles versteht, sogar Schiffbau ..." (49). Offensichtlich scheint Wilhelm II. nichts von dieser reservierten Einstellung Caprivis gewußt zu haben, denn er wurde nach Bismarcks Rücktritt zum ersten von diesem Kaiser ernannten Reichskanzler. Das Interesse seines Herrschers für Schiffbau ist der „Royal Louise" gut bekommen. „Zu einer größeren Ausbesserung wurde unser Schiff im Winter 1886/87 und 1902 bei Kluge in Sacrow auf Land geholt und im Spanten- und Plankenwerk wiederhergestellt. Die Kosten beliefen sich auf 2700 bzw. 7000 Mark" (50). Von diesem Werftaufenthalt des Schiffes existieren auch Photographien. Der populärste Marinemaler der Wilhelminischen Zeit Willy Stöwer hat die Fregatte unter vollen Segeln auf der Havel mindestens zwei Mal gemalt. Die Wirkung, die die preußische Königsfamilie mit diesem Schiff auf den sich ausbildenden Berliner Wassersport als gesellschaftliches Vorbild für bürgerliche Kreise gehabt hat, kann wohl nur erahnt werden. Während seiner Regierungszeit machte Wilhelm II. jährlich eine große sommerliche Seereise, oft in norwegische Gewässer. Eine Rückwirkung auf das heimische Potsdam war der Neubau der Matrosenstation, dabei wurde ein Entwurf des Osloer Stadtbaumeisters Munthe Entwürfen von Häberlin jr. und einer monumentalen Planung der Admiralität vorgezogen. Der Kaiser gab diesem in norwegischer Holzbauweise errichteten Haus den Namen KONGNvES (Königslandzunge) (51). Das Segeln auf den Revieren der Havel trat jedoch mehr und mehr hinter den Veranstaltungen der erstmals 1882 begangenen Kieler Woche zurück. Dort fanden auch die Paraden der wachsenden Kaiserlichen Marine statt, die von England und seiner Königsfamilie, die 1832 das Miniaturkriegsschiff „Royal Louise" in ein Preußen geschenkt hatten, wo vielen Berlinern der Anblick dieser Fregatte den ersten Eindruck eines seegehenden Schiffes vermittelt hatte, als bedrohliche Konkurrenz empfunden wurde. Auch der Onkel Wilhelms IL, der englische Herrscher Edward VII., kam an die Ostsee. Er begab sich „im Juni 1904 zur Kieler Woche, nahm aber, um das gallische Mißtrauen zu zerstören, ein paar französische Aristokraten mit. Der Kaiser gab sich alle Mühe, um einen guten Eindruck zu machen... aber irgendwie blieb der erwünschte Eindruck aus. Gewiß er sah den König und Lord Selbourne, den Marineminister, während der Flottenparade bedeutungsvolle Blicke wechseln, aber zum Schluß sagte sein Onkel ihm nur, er wisse ja, daß Wilhelm stets am Segeln Spaß gehabt habe" (52). 418

Die Fregatte „Royal Louise". An Bord der Kgl. Yacht Kapitän Karl Veiten und seine Frau.

419

V. Das Schicksal des Schiffes 1914-1945 Es blieb indes nicht bei solchen von familiären Vorurteilen geprägten Äußerungen. Auch das Spielzeug „Royal Louise" geriet in die Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und England. „Die Mobilmachung vom August 1914 berief auch die Mannschaften der Station zu ihren Marineteilen zurück; doch blieb gerade noch Zeit, die Fregatte abzutakeln und in ihren Winterschuppen auf der Pfaueninsel zu bringen, wo sie bis 1920 lag. Nach Beendigung des Weltkrieges wurde die Matrosenstation aufgelöst und das Schiffsmaterial veräußert" (53). Die Fregatte übernahm der „Verein Seglerhaus am Wannsee" (VSAW). Der ehemalige Kaiser bedankte sich mit einem Brief aus Doorn (54). Allerdings überstiegen die Unterhaltungskosten des Schiffes die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Mitglieder dieses Vereins in jenen Jahren. Das Schiff wurde abgetakelt und teilweise auch abgewrackt. Ein Modell, das die Vorstellungskraft späterer Restauratoren beflügelt hätte, gab es nicht (55). Die Galionsfigur, der preußische Adler, blieb dem Verein Seglerhaus am Wannsee. Allerdings war er lange Zeit sehr unscheinbar an der Giebelwand des Werftgebäudes angebracht. Heute ziert er - umgeben von den beiden Salutgeschützen der Fregatte - als Kaminaufsatz den Festsaal des Seglerhauses. Der Schiffskörper lag jahrelang als armseliger Abklatsch seiner einstigen Prächtigkeit vor Sacrow. Bei seinem Anblick zitierten in zorniger Wehmut marinebegeistert Gebliebene die Reime des temperamentvollen Lyrikers Moritz Graf von Strachwitz: Er lag, ein schwerer Sarkophag, weit, weit von Wind- und Wellenkuß. Ich aber sagte: Fluch dem Tag, wo solch ein Schiff verfaulen muß! (56) Nach der Machtübernahme Hitlers veranlaßten Seeoffiziere die Überführung des Restschiffes (Hulk) nach Kiel. „Die Modellfregatte ,Royal Louise' wurde im August 1934 von der Kriegsmarine angekauft und im Oktober des gleichen Jahres auf dem Wasserwege über Hamburg nach Kiel überführt. Anläßlich der Marinevolkswoche 1935 in Kiel wurde das Schiff zur Pflege der Tradition der alten Preuss. Marine auf dem Flandernsportplatz der Kriegsmarine aufgestellt. Zu diesem Zweck erhielt das Schiff durch das Marinearsenal Kiel eine neue Takelage (ohne Segel). Es ruht auf einem Sockel aus Klinkern, auf dem die Namen der Schiffe der alten Preuss. Marine verzeichnet sind" (57). Der Name „Royal Louise" wurde in „Königin Luise" germanisiert. Aber auch in dem Erscheinungsbild des Schiffes hatten die gut gemeinten ,Rettungsmaßnahmen' Verfälschungen bewirkt. Die Ruhe des auf den Denkmalsockel gehobenen bzw. dort aufgebahrten Schiffes sollte nicht lange währen. War das Schiff nach dem Ersten Weltkrieg sowohl aufgrund seiner Meeresferne in Berlin als auch vielleicht wegen seiner diplomatischen preußisch-englischen Geschichte der Selbstversenkung der deutschen Flotte, die eine Auslieferung des Schiffsbestandes an Großbritannien verhindern sollte, entgangen, so wußte im zerbombten Kiel nach 1945 niemand so recht um seine beziehungsreiche Vergangenheit. Mit der bedingungslosen deutschen Kapitulation war das Land vollständig erobert worden, ohne daß es in der Potsdamer Konferenz annektiert wurde. Kiel und mit ihm die Schiffe der Kriegsmarine gerieten unter englische Entscheidungsgewalt. Für das Stadtarchiv Kiel teilt Dr. Sievert am 25. Juli 1952 in einem Brief nach Berlin an Friedrich Jorberg, den unermüdlichen Sammler von Nachrichten über die „Royal Louise" mit: „Als nach dem Kriege die Engländer die Möglichkeit überprüften, alle der deutschen Marine gehörenden Schiffe nach England zu überführen, wurde auch die ,Royal 420

„Königin Luise" 1935 auf dem Flandern-Sportplatz der Kriegsmarine in Kiel. Louise' nach ihrer Seefähigkeit und Verwendbarkeit begutachtet. Es stellte sich dabei heraus, daß das Schiff zur Überführung nicht mehr geeignet war. Der englische Marinebefehlshaber in Kiel ordnete daher an, das Schiff solle abgewrackt werden, was auch befehlsgemäß durch deutsches Personal geschah. Auf seine Anweisung wurden die Holzteile des Schiffes an die Angehörigen der deutschen Marinedienstgruppen für Heizzwecke verausgabt" (58). Jorberg kann nur postwendend an den Bürgermeister der Fördestadt zurückschreiben: „Ihre Mitteilung von dem Ende der,Royal Louise' hat uns alle sehr erschüttert" - und teilt mit, daß er sehr daran interessiert wäre, „den Namen des damaligen britischen Marinebefehlshabers von Kiel zu erfahren". Der ist ihm verborgen geblieben, aber er hat gewissermaßen als Trostbrief ein Schreiben des Briten Campbell vom 5. August 1953 in seinem Konvolut aufgezeichnet: "Your picture of the Royal Yacht was very surprising to me as I have no idea that the ship was in existence until so recently. What a fool the man was who had it destroyed. There are unfortuneately many men like that in all countries, who do not respect those things which are good and beautiful because they are too ignorant to understand. The ship must have been a very fine sight indeed on the lake." Die von William IV. nach Empfang des preußischen Gegengeschenks 1836 gegebene Zusicherung : "I shall always feel a pride in preserving Your Majesty's splendid Present in my Family" hat das britische Königshaus einhalten können. Diese KPM-Vase von einer beeindruckenden Prächtigkeit steht normalerweise in der Meierei von Frogmore, wird aber wegen dortiger umfangreicher Restaurierungsarbeiten derzeit in Windsor Castle aufbewahrt (59). 421

Anmerkungen 1. Schade, Ernst Ferdinand: Geschichte des Dorfes Zehlendorf (1835), hrsg. von Kuhlow, Hermann F. W., und Trumpa, Kurt, in: Schriftenreihe des Heimatvereins für den Bezirk Zehlendorf e.V. 4/84, Berlin 1984, S. 12. 2. Hessen, Marie-Louise: Berlin durch die Blume oder Kraut und Rüben - Gartenkunst in Berlin-Brandenburg (Ausstellungskatalog), Berlin 1985, S. 321, dort abgedruckt auch „Bemerkungen eines Reisenden usw. an Herrn ..." In: Berlin im Jahre 1786, Berlin 1886, S. 13/14, aus: Italien und Deutschland, eine Zeitschrift, hrsg. von K. P. Moritz, Nr. IV, Berlin 1791, S. 48, über den Fahrweg zwischen Berlin und Potsdam: „Mit dem Clever Postwagen habe ich auf dem Wege, den der König in Viertelstunden zurücklegt, beinahe eine ganze Nacht, mit Extrapost sieben Stunden zugebracht, und weil die elenden Pferde übermüdet waren, mit meinen Gefährten meistenteils neben dem Wagen hergehen müssen. Hätten wir Chausseen, so würden Reisende und Fuhrleute die preußischen Staaten aufsuchen, während sie jetzt sorgfältig unser Land vermeiden, so weit es nur möglich ist." 3. Reichhardt, Hans J.: Die Lustschiffe des ersten Preußehkönigs, in: Zwischen Oberspree und Unterhavel, von Sport und Freizeit auf Berlins Gewässern. (Katalog der Ausstellung des Landesarchiv Berlin), Berlin 1985, S. 9-18 (S. 9). 4. Plan des Gartens Niederschönhausen, Landesarchiv Berlin. Pr. Br. Rep. 42 Plankammer HI/5. 5. „Dieses Jacht-Schiff... ist damals bey Potsdam auf der Havel gelegen, von wannen es nach Hamburg und von dar ferner nach St. Petersburg abgegangen. Dagegen hat der russische Monarch Ihre Majestät dem König versprochen die große preußische Garde-Grenadiers, oder das Kronregiment, jetzo insgemein nur des Königs Regiment genannt, alle Jahre mit hundert Mann von einer außerordentlichen Länge zu versorgen. Sechs Monate hernach sind auch der desfalls von Petro Magno ergangenen Ordre zu Folge, 150 Mann von der behörigen Länge,.zum ersten Mal aus Rußland in Potsdam angelandet, und seit dem, auch nach des großen Petri Todt, richtig damit continuiret worden ...", zitiert nach Reichhardt, S. 17. 6. Hennert: Beschreibung des Lustschlosses und Gartens Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Heinrichs Bruders des Königs zu Rheinsberg wie auch der Stadt und der Gegend um dieselbe. Berlin 1778, Reprint: Potsdam 1985, S.84. 7. So in einer Kabinettsordre vom 12. November 1793 an seinen Kabinettsminister von Struensee. Zitiert nach: Seiler, Michael: Die königliche Pfaueninsel - Muster einer ländlichen Parkanlage, in: Plessen, S. 110-125 (S. 110). 8. Vgl. Cronin, Vincent: Napoleon - Eine Biographie, Hamburg und Düsseldorf 1976 (Neuauflage), S. 460-488. 9. Zitiert nach Voigt, Christian).: Die ehemalige Königliche Matrosenstation zu Potsdam, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, Neue Folge 1929, S. 220-263. S. 229, Voigt fügt noch hinzu: „Unter dem Admiral ist kein anderer zu verstehen als der Prinzregent, der spätere König Georg IV. (1820-1830)". Vgl. auch die Mitteilung an den britischen Botschafter in Berlin vom 17. September 1814: « S. M. desire, qu'elle soit conduite ä Potsdam et stationee a l'Isle des Paons ...», zitiert nach: Wagener, Heinrich: Die Fregatte „Royal Louise", in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, Neue Folge, Potsdam 1875 (vorgetragen auf der 109ten Versammlung am 30. December 1872), S. 128-142 (S. 130). Der Vortrag scheint aus Anlaß des 40. Jahres gehalten worden zu sein, das die Fregatte in preußischem Besitz war. Vielleicht war er auch durch die erste gründliche Überholung des Schiffes veranlaßt. Vgl. auch Anm. 43. 10. Voigt, Matrosenstation, S. 230. 11. Ebd. 12. Ebd., S. 230/31. 13. Cronin, S. 523. 14. Zitiert nach Voigt, Matrosenstation, S. 231, der mitteilt: „Angezeigt im Auktionskatalog Nr. 147 von Henrici Berlin, vom Januar 1929 zu Nr. 129." Leider ist dem Verfasser über den weiteren Verbleib dieses Dokuments nichts bekannt. Vgl. auch: Gräfin Rothkirch, Malve: Prinz Carl von Preußen, Kenner und Beschützer des Schönen, 1801-1883, Eine Chronik aus zeitgenössischen Dokumenten und Bildern, Osnabrück 1981, S. 274. 15. Die Angaben von Voigt, Matrosenstation, S. 231, und Wagener, S. 130, weichen voneinander ab. 16. Wagener, S. 130. 422

17. Ein Werftmodell existiert im National Maritime Museum von Greenwich. Dagegen spricht die Notiz aus dem Mariners Mirror 42/1956, S. 85: "In 1947 Dr. R. C. Anderson pointed out that the miniature frigate Royal Adelaide hat not been built until 1833." 18. Schreiben v. Bülows vom 8. September 1830. Abgedruckt bei Wagener, S. 131. 19. Der Briefwechsel ist zitiert nach Voigt, Matrosenstation, S. 232. In der Frage des Antwortdatums differieren Wagener (1. Oktober) und Voigt (7. Oktober). 20. bis 25.: Zitiert nach Wagener, S. 132-134. 26. Wagener, S. 213. 27. Wagener, S. 135. 28. Ebd. 29. Voigt, Matrosenstation, S. 234: „Der von Wagener nicht genannte Verfasser der... gebrachten Briefe ist ein Capt. Doyle von der Royal Navy, Großvater des Lord North - nach eigenhändiger Eintragung Kapitän Veltens vom Juli 1897 in den Papieren der Frau Veiten zu Potsdam." Die Briefe sind zitiert nach Wagener, S. 136-140. 30. Wagener, S. 136. 31. Ebd., S. 141. 32. Diese Archivalie stellte mir freundlicherweise Herr Michael Seiler, Pfaueninsel, zur Verfügung. Die Abschrift bewahrt die originale Orthographie und Zeileneinteilung. 33. Wagener, S. 142. Wie fast alle seiner Urkunden druckt Wagener auch diesen Brief vollständig ab. Auffallend ist der Wechsel von Groß- und Kleinschreibung, die ein Zeichen für die Verwurzelung Williams IV. in der deutschen Sprache sein können. Ein Nachteil der gründlichen Arbeit Wageners ist zweifellos, daß er leider darauf verzichtet hat, den Fundort seiner Quellen anzugeben. Zweifellos hat es die „Royal Louise" gegeben, aber im Konvolut Jorberg (Bibliothek der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Berlin), auf das der Verfasser freundlicherweise von Herrn Dr. Clemens Wimmer hingewiesen wurde, befindet sich folgende Notiz aus einem Brief Andersons vom 19. Januar 1957 aus London: "... As to the vase with the Royal Louise on it believed to be in Windsor Castle it is difficult to do much about this, but I will try to interest the Duke of Edinburgh in the matter. He ist a fellow-trustee of the National Maritime Museum and may be at our next meeting in March. If Queen Mary were still alive, we could ask her; she was very much interested in this museum and was always said to know where every item of fumiture was in all the Royal palaces!" Dergleichen Fehlanzeigen können Mißtrauen hervorrufen, doch vgl. Anm. 59. 34. Vgl. Artikel: Stöwer, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker, hrsg. von Hans Vollmer, 32. Band, Leipzig 1938, S. 98. 35. Stöwer, Willy: Der Deutsche Segelsport, Leipzig 1905, S. 15-17. 36. Königin Augusta von Preußen: Bekenntnisse an eine Freundin, Aufzeichnungen aus ihrer Freundschaft mit Jenny von Gustedt, Dresden 1935, S. 257. 37. Die Memoiren des Aga Khan - Welten und Zeiten, Wien, München, Basel 1954, S. 134. 38. Veiten, Carl: Artikel „Unser Clubheim", im Konvolut Jorberg. 39. Kaiser Wilhelm IL: Aus meinem Leben 1859-1888, Berlin und Leipzig 1927*, S. 36. 40. Voigt, Matrosenstation, S. 238. 41. Büchmann, Georg: Geflügelte Worte, neu bearbeitet und herausgegeben von Hans Martin Elster, Stuttgart 19662, S. 526: „.Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser', sagte der Kaiser am 23. September 1888 bei der Einweihung des neuen Hafens in Stettin." 42. Veiten: „Unser Clubheim". 43. Voigt, Matrosenstation, S. 237. 44. Ebd. 45. Ebd., S. 259. 46. Als ein Beispiel sei hier nur der spätere Dahlemer Pfarrer und Kirchenpräsident in Hessen und Nassau, Martin Niemöller (1892-1984), genannt. Dietmar Schmidt schreibt in der Biographie: Martin Niemöller, Hamburg 1959, S. 42, über das Verhältnis Niemöllers zu seiner ersten Frau, der Arzttochter Else Bremer: „Bis er sie im Sommer 1917, zu einem kurzen Gastspiel in die Mittelmeerabteilung des Berliner Admiralstabs kommandiert, wiedersieht und bei gemeinsamen Segelfahrten auf dem Wannsee und der Havel die Entdeckung macht, daß ihn mehr mit ihr verbindet als die Erinnerung an frohe gemeinsame Jugendstunden." Wie stark die gefühlsmäßige Verbindung eines solchen Seeoffiziers mit 423

47. 48. 49. 50.

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der Kaiserlichen Marine war, zeigen Niemöllers eigene Erinnerungen an die Herbstzeit 1918: und liefen, wie verabredet, mit wehender Kriegsflagge und gesetztem Heimatwimpel in Kiel ein. Noske kam uns in dem Stationsmotorboot entgegengefahren; aber niemand nahm Notiz von ihm... In den folgenden Tagen branden die Wellen der Revolutionspsychose gegen uns an: Es müssen auf jedem Boot Vertrauensleute zum Soldatenrat gewählt werden; und mit einmal ist es wie eine Epidemie: fast ohne Ausnahme werden die minderwertigsten Leute oder die lautesten Schreier dazu genommen." (In: Vom U-Boot zur Kanzel, Berlin 1939 - diese kleine und vermutlich bisher letzte Auflage des seinerzeit nicht nur in Berlin viel gelesenen Buches erschien, als Niemöller bereits zwei Jahre lang als Gefangener Nr. 569 im Konzentrationslager Oranienburg-Sachsenhausen lebte. Vgl. dazu auch: Bloth, Hugo Gotthard: Die Befreiung Martin Niemöllers 1945 aus der Fahrt in den Tod, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte, Bd. 78, 1985, S.205f.) Archivalie aus dem Besitz von Herrn Friedrich Aurich, Berlin, dem der Verfasser für die freundliche Mitteilung dankt. Aus meinem Leben, S. 357. v. Holstein, Friedrich: Die geheimen Papiere, hrsg. von Norman Rieh und M. H. Fischer, deutsche Ausgabe von Werner Frauendienst, Band II. Tagebuchblätter. Göttingen, Berlin, Frankfurt 1957, S. 393. Voigt, Matrosenstation, S. 238. Vgl. auch Stöwer, S. 17: „Auch jetzt noch ist die Yacht, soweit die Last der Regierungsgeschäfte es nur erlaubt, der bevorzugte Erholungsort unseres Kaisers und seiner Familie, und des öftern werden über das ganze Revier ausgedehnte Fahrten unternommen." S. 18: „Zu der im Herbste 1902 vorgenommenen Reparatur waren sämtliche Gegenstände der inneren Einrichtung entfernt, und nur der leere Rumpf stand mit seinen Untermasten und Bugspriet auf dem Slip der Klugeschen Werft in Sacrow. Schon im Jahre 1871 war eine erste, eingehendere Ausbesserung erfolgt; jedoch zeigte es sich, daß hierbei so manches fehlerhaft ausgeführt war. Dafür fiel dann die jetzige Ausbesserung um so gründlicher und sorgfältiger aus. 30 Doppelspanten wurden teilweise ersetzt und das ganze Unterwasserschiff neu beplankt und wieder gekupfert. Auch der Loskiel, der sich stark von Muscheln bewachsen und zerfressen zeigte, erhielt diesmal die schützende Hülle, Ebenso mußte das Deck, welches ja naturgemäß die größte Beanspruchung erfährt, samt seinen Luken und Aufbauten aus schmalen Whitepine-Planken gänzlich neu gelegt werden. Außerdem waren Decksbalken, Weger teilweise zu ersetzen, Wegerung, Rüsten, Deckslichter und andere kleinere Sachen neu anzufertigen. Interessant ist es, daß beim Abbrennen der Farbe von den Decksbalken das ursprüngliche Namensschild des Konstrukteurs und der Werft wieder aufgefunden wurde, welches schon seit ungefähr 30 Jahren durch Überstreichen mit Farbe den Blicken entzogen war; von neuem aufgefrischt hat es jetzt seinen alten Ehrenplatz erhalten." Voigt, Matrosenstation, S. 238. Balfour, Michael: Der Kaiser, Wilhelm II. und seine Zeit, Frankfurt 1967, S. 264. Voigt, Christian: Die Fregatte „Royal Louise". Aus ihrer Geschichte 1832-1928, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 45. Jahrgang, 1928, S. 123-127 (S. 126). Freundliche Mitteilung des Vereinsvorsitzenden Dr. Pochhammer. Wie angespannt die finanzielle Lage einiger Mitglieder dieses Segelclubs war, zeigten u. a. die lebhaften Debatten der Hauptversammlungen 1926 und 1927. Protokollbuch, S. 8: „Der Vorstand hat sich mit Rücksicht auf persönliche und wirtschaftliche Lage der in Frage kommenden Mitglieder mit der Frage sehr beschäftigt (es wurden Teilzahlungen gemacht)..." und S. 20: . . . . legt die Geldverhältnisse des Vereins dar, betont besonders, daß wir uns in einer Reinigungskrise befänden, da viele Mitglieder in den Club gekommen seien, die gar nicht hineingehört hätten, infinanziellersowie in gesellschaftlicher Hinsicht." Zitiert nach Voigt, Christian: Artikel: Die Fregatte „Royal Louise", ohne Herkunftsangabe im Konvolut Jorberg. Mitteilung des Kommandos der Marinestation der Ostsee Kiel vom 27. April 1937 (abschriftlich im Konvolut Jorberg). Original im Konvolut Jorberg, Freundliche Mitteilung von Mrs. Julia Harland vom Lord Chamberlain's Office, London, in einem Brief an den Verfasser vom 28. Oktober 1985. Anschrift des Verfassers: Pfarrer Wilfried M. Heidemann, Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe, 1000 Berlin 39 (Wannsee)

Aus dem Mitgliederkreis Studienfahrt nach Lübeck Im Heft 2/1986 war das vorläufige Programm der diesjährigen Exkursion vom 12. bis 14. September 1986 nach Lübeck abgedruckt worden. An der zeitlichen Folge dieser Studienfahrt und an deren Inhalt hat sich nichts geändert, so daß wir auf eine erneute Wiedergabe an dieser Stelle verzichten wollen. Das in Einzelheiten ergänzte und mit einigen Erläuterungen versehene endgültige Programm kann jedoch von allen Interessenten beim Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 45 09-2 91, angefordert werden. Alle Mitglieder, die sich bereits vorab unverbindlich angemeldet hatten, erhalten es dieser Tage unaufgefordert zugesandt. Pro Person wird ein Kostenbeitrag von 84 DM erhoben. Dieser schließt die Omnibusfahrt und alle Eintrittsgelder, Fährgebühren usw. ein, insbesondere die Hafenrundfahrt, den Schiffsausflug von Malente-Gremsmühlen nach Plön, die Besichtigung der „Passat" und des Heiligengeisthospitals sowie die zweitägige Führung durch Senatsdirektor a. D. Dr. Werner Neugebauer. Im Gegensatz zu den Vorjahren muß die Zahl der Teilnehmer diesmal aber begrenzt werden. Vor allem bei den beiden vorangegangenen Exkursionen hatten wir Reisebusse bestellt, die sich wegen sehr kurzfristiger Absagen dann als viel zu groß erwiesen und entsprechende Kosten verursachten. Meldeschluß ist der 10. August 1986, Priorität für die Teilnahme haben diejenigen Reiselustigen, deren Voranmeldung bereits vorliegt; sonst gilt die Reihenfolge des Eingangs. SchB.

* Die Historische Kommission zu Berlin hat bei der Berufung ihres neuen Vorstands unser Vorstandsmitglied Professor Dr. Helmut Engel zum neuen Beisitzer gewählt, ferner unser Mitglied Dr. Werner Vogel. Unter den Sektionsleitern sind auch unsere Mitglieder Professor Dr. Otto Busch und Professor Dr. Gerd Heinrich. SchB.

* Anläßlich des hundertjährigen Jubiläums des „Zentralausschusses Hamburgischer Bürgervereine von 1886" ist unserem verstorbenen Mitglied, dem Verleger Axel Springer, der Portugaleser „Bürger danken" in Silber verliehen worden. SchB.

* Franz Berndal (1899 bis 1983) wurde im Mai 1986 in Offenhausen bei Wels in Oberösterreich mit einem Namenstein geehrt, der in der Anlage zur Erinnerung an die Größen der Literaturgeschichte errichtet wurde. Der Berliner Dichter Franz Berndal, unser langjähriges verdienstvolles Mitglied, ist nun aufgenommen unter die rund 500 Namen von Dichtern und Schriftstellern deutscher Sprache. Die von Frau Maria Bemdal, Kreuznacher Straße 68,1000 Berlin 33, ins Leben gerufene Gesellschaft zur Pflege deutscher Dichtung und Kunst (Bemdal-Gesellschaft) veranstaltet an jedem ersten und dritten Freitag um 15.00 Uhr in der Wohnung Lesungen. SchB.

* Unser Mitglied Frau Dr. Ingeborg Falck, außerplanmäßige Professorin an der Freien Universität Berlin, hat den Ruf auf die C3-Professur für Geriatrie am Universitätsklinikum Charlottenburg der FU Berlin angenommen. Wir gratulieren herzlich. SchB. 425

Nachrichten Gasthaus „Zur Rippe" am Molkenmarkt Das jetzt neu errichtete Gasthaus „Zur Rippe", das in Kürze seine Pforten öffnen wird, trägt wieder die Insignien, die ihm seinen Namen gegeben haben: Schulterblatt und Zahn eines Wales, wenn auch nur in Kopie. Die aus den Trümmern des Gasthauses geborgenen Originale befinden sich im Märkischen Museum. Die Berliner Sage berichtet, der in den Müggelbergen hausende Riese Rollbert habe eine junge Berlinerin geraubt. Deren Verlobter, ein wackerer Schmiedegeselle, machte dem Riesen mit Hilfe seiner Gefährten den Garaus. Schulterblatt und Rippe des Unholds wurden dann als Trophäe an das Haus am Molkenmarkt gehängt. SchB.

Buchbesprechungen -* Dorfszenen. Berlin über die Dörfer. Bilder und Verse von Ulrich Pietzsch. Verlag Dr. Hans Muschke, Taborstraße 21, 1000 Berlin 36, o. S., 39,80 DM. Wer an der gemeinhin naiv genannten Malerei sein Wohlgefallen hat, wird an den Bildern seine Freude haben, die Ulrich Pietzsch (geboren 1937 in Oberwartha bei Dresden und seit 1982 im Westteil unserer Stadt ansässig) zu diesem Band vereinigt hat. Sein Wandergebiet sind die Dörfer um den Wandlitzsee zwischen Bernau und der Liebenwalder Heide. Eine Landkarte ist dem Band vorangestellt. Die Farbbilder werden flankiert von Vierzeilern des Malerpoeten etwa von dieser Art: Warmes Wetter lädt zum Bade / Hinterm Strauch auch zum Schlafe / Der Spree wald ist wie früher hier / Der alte Mann trank heut schon Bier. Das Buch weckt Erinnerungen und macht zu neuen Wanderungen Spaß. SchB.

Berlin-Stadtatlas. 12. Auflage 1986/87 mit Anschriftenteil, Detailplänen und Übersichtskarten von dem Gebiet der DDR, Strichcodemarkierung für mikroprozessorgesteuerte Navigationsgeräte für die Zielführung von Autos, 14,80 DM. Der bewährte Stadtführer liegt jetzt schon in der 12. Auflage vor, was beweist, daß der Verlag immer mit der Zeit zu gehen bestrebt ist. Während der eigentliche Kartenteil im Maßstab 1:20 000 gehalten ist, sind Übersichtskarten 1:250000 für das Gebiet etwa innerhalb des Berliner Ringes sowie 1:70000 für die nördliche und die südliche Hälfte Berlins dem Kartenwerk vorangestellt. Das Gebiet der DDR wird im Maßstab 1:500 000 auf den Seiten75bis82 dargestellt (diese Seitenangaben fehlen im Inhaltsverzeichnis). Für die Innenstadt und das Gelände des Zoologischen Gartens und der Bundesgartenschau gibt es Sonderkarten, gleichfalls für das Messegelände, für die Nachtbuslinien und das U-Bahnnetz. Der Registerteil ist gewohnt umfangreich, das Straßenverzeichnis ist so nützlich wie unerläßlich, wichtige Anschriften werden nur aus Berlin (West) mitgeteilt, nicht aus dem Ostteil der Stadt. Die moderne Zeit hält mit dem VDO-Citypilot Einzug, da die Karten mit einer Strichmarkierung versehen sind, bei der es sich um einen Code handelt, der mit einem Lichtlesestift, einem mikroprozessorgesteuerten Navigationsgerät für die Zielführung von Autos, gelesen werden kann. Mit elektronischer Genauigkeit lotst er zu bis zu 99 Fahrtzielen, die beliebig programmiert, abgerufen und angesteuert werden können. Dies dürfte zumindest für die junge Generation eine „echte" Herausforderung sein. SchB.

Hans Reuther, Die große Zerstörung Berlins, Zweihundert Jahre Stadtbaugeschichte, Propyläen Verlag, 1985, 216 Seiten, 68 DM. Das eigentliche Thema dieses Bandes steckt im Untertitel: zweihundert Jahre Stadtbaugeschichte. Den Haupttitel kann man getrost als Etikettenschwindel bezeichnen. Das dahinter zu vermutende anklagende oder trauernde Plädoyer gegen die kontinuierliche Zerstörung historischer Bausubstanz findet nur in wenigen Sätzen statt. 426

Der Autor, Professor für Baugeschichte an der TU Berlin, wandert mit dem Leser durch die Berliner Baugeschichte wie ein Museumsführer. Bei jedem vorzustellenden Ausstellungsstück haspelt er monoton und pflichtgemäß seinen Text ab, der notgedrungen kurz sein muß, weil das Museum groß und die Zeit knapp ist. Auf rund 190 Textseiten, deren Raum noch fast zur Hälfte durch Bildmaterial eingenommen wird, lassen sich zweihundert Jahre Baugeschichte kaum anders als in lexikalischer Kürze beschreiben. Weniger wäre wieder einmal mehr gewesen. In dieser Form wirkt der Vortrag brav, bieder und langweilig. Man vermißt die große Linie, die Grundidee, die ein Buch dieser Art rechtfertigen könnte, wenn es schon das Titelversprechen nicht erfüllt. Mehr als das Zerstörte interessieren den Autor die nicht zur Ausführung gelangten Planungen. Dabei spürt man, besonders wenn die Schilderung sich der selbst erlebten Baugeschichte widmet, gelegentlich etwas vom Engagement und der Leidenschaft des Architekten. Insgesamt jedoch zu wenig, um das Buch zu einer lohnenden Lektüre zu machen. So bleibt denn nur die gute Ausstattung und das reichhaltige Bildmaterial zu loben, dem man allerdings j

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Lothar Uebel: Viel Vergnügen. Die Geschichte der Vergnügungsstätten rund um den Kreuzberg und die f. Hasenheide. Unter Mitarbeit von Hans-Werner Klünner. Kreuzberger Hefte VIII. Nishen-Verlag in . »Kreuzberg, 1985, broschiert, 160 Seiten. Der herkömmlichen Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung hat sich seit einem guten Jahrzehnt die weniger von Schulhistorikern als von engagienen Mitarbeitern von Geschichtswerkstätten betriebene Erforschung der Alltagskultur, der „Geschichte von unten", der Historie der kleinen Leute beigesellt. Dies ist ein höchst verdienstvolles Unterfangen, dem nur dann ein etwas fader Beigeschmack anhaftet, wenn Geschichtsforschung mit Vergangenheitsbewältigung verwechselt wird und jugendliche Berufsantifaschisten der Generation ihrer Großväter vorhalten, wo und wie man etwa hätte Widerstand leisten müssen. Hiervon unterscheidet sich das vorliegende Buch wohltuend, das sich auf gründliche Recherchen einerseits und auf Interviews mit rund 20 Gesprächspartnern andererseits stützt. Es wartet mit einer Fülle von Zitaten auf und verteilt unübersehbar auch politische Zensuren. Im Mittelpunkt steht das Vergnügungsleben, das sich im 19. Jahrhundert im Kreuzberger Südwesten in der sogenannten Tempelhofer Vorstadt südlich des Landwehrkanals entwickelt hat. Der Verfasser stellt sich die Fragen (und beantwortet sie auch), wo sich die Familien in ihrer Freizeit trafen und womit sie sich dort beschäftigten, welche Vergnügungsstätten von Frauen und welche von Männern bevorzugt wurden und wie sich die Armen und die Reicheren vergnügten. Zwischen den beiden großen Kapiteln, die das Tivoli am Kreuzberg, die Bockbrauerei am Tempelhofer Berg und ihre „kleineren Brüder" zum einen und die Hasenheide zum anderen behandeln, werden „Öffentliche Aufzüge" und andere Spektakel geschildert. Bewundernswert ist dabei die Vielzahl der Abbildungen, Reproduktionen zeitgenössischer Fotos, aber auch von Annoncen und Programmen. Die historischen Erörterungen gehen über in Schilderungen der jetzigen Situation jener Fülle von Gaststätten, Gastwirtschaften, Kinos und Tanzsälen, die rund um Kreuzberg und Hasenheide angesiedelt waren. So erfährt man, daß der Garten der einstigen Brauerei Tivoli (heute Schultheiss, Betriebsstätte Kreuzberg) samt ehemaligem Ausschank den Krieg unbeschädigt überstanden hat, alljährlich über Pfingsten zwei Tage lang erneut als Gartenlokal benutzt wird und von der Brauerei möglicherweise im Sommer wieder durchgehend geöffnet wird. In der Jüterboger Straße 9 unterhält Edgar Falkenberg sein (privates) Internationales Circusmuseum, nachdem Fritz Dillenberg, der 1957 noch eine Zirkusausstellung im Rathaus Kreuzberg veranstaltet hatte, sein gleichfalls privat geführtes erstes deutsches Zirkusmuseum an das Ministerium für Kultur der DDR verkauft hat, „weil in West-Berlin niemand Interesse daran zeigte". Ob tatsächlich (S. 77) die Gegend um den Kreuzberg weitgehend vom Bombenhagel verschont blieb, weil „die Alliierten den Flughafen für ... ihre Versorgung möglichst unversehrt benötigten", müßte noch einmal gründlicher untersucht werden. Lothar Uebel bezeichnet „Tage der offenen Tür" im Flughafen Tempelhof übrigens als „zweifelhafte Massenveranstaltungen". Er erwähnt den BVG-Streik vom November 1932 als gemeinsame Veranstaltung von KPD und NSDAP, was an dieser Stelle auch durch das Foto des Streikkomitees mit den beiden Streikführern Goebbels und Thälmann ohne weiteres belegt werden könnte. Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen, daß sich künftige Historiker über die Schelte so monieren werden wie der Autor (S. 22) über die Inschrift am Schinkelschen Kreuzbergmonument, wo der 427

König „seinem Volke" mit Pathos dafür dankt, „Mut und Blut dem Vaterland" geopfert zu haben, und dies „den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung" empfiehlt. Hans-Werner Klünner scheint dem Verfasser in gewohnt zuverlässiger Weise über die Schulter geschaut zu haben, so daß man eine gut lesbare und sachlich fundierte Darstellung in die Hand nehmen kann. Daß in den 30er Jahren am Klausenerplatz in Charlottenburg noch nicht Fußball gespielt werden konnte, weil er erst nach dem Krieg diesen Namen erhielt, sei als freundlicher Hinweis angemerkt. Möglicherweise ist die hier auf die Schultheiss-Brauerei gemünzte, noch ungewohnte Schreibweise sogar gewollt, wonach „Mann" auch die Frauen als Bierkonsumenten zu gewinnen versuchte. Übrigens hat sich auch die Historikerin Brigitte Jungmann mit der Berliner Unterhaltungskultur am Kreuzberg beschäftigt. Sie ist im Kunstamt als ABM-Kraft angestellt (für die Nachwelt: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) und hat eine kleinere Untersuchung über „Ballhäuser und andere Tanzstätten" vorgelegt. Etwa 30 Ballhäuser nach der Art des „Balletablissements" in der Kreuzberger Naunynstraße 27 wurden in diesem Bezirk ermittelt und kartiert, so daß die Grundlage einer Veröffentlichung geschaffen wurde. H. G. Schultze-Bemdt

s^Ge Gerhard Gronefeld: Kinder nach dem Krieg. Das Foto-Taschenbuch, 142 S., geb. Erntefest im Schrebergar-

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- B^ 1 " 1 1912-1927. Edition Photothek X. Herausgegeben von Diethart Kerbs, 31 S„ 9 DM. ' ^J Berit Gehrig: „Bist'ne Jüdische? Haste den Stern?" Erzähltes Leben VI. Herausgegeben von Heidi . "Koschwitz, Hellmut Lessing, Manfred Liebel, 31 S., 9 DM, brosch. .I /Friedrich Munding: Daß ich nur noch selten schreibe. Briefe aus Berlin 1940-1943. Erzähltes Leben V. H>- Herausgegeben von Werner Trapp, 63 S., 12 DM, brosch. Alle genannten Bücher und Hefte erschienen im Dirk Nishen Verlag in Kreuzberg. In dem Foto-Taschenbuch Gerhard Gronefelds „Kinder nach dem Krieg" wird noch einmal die Zeit in Berlin um 1945 heraufbeschworen. In eindrucksvollen Bildern laufen Kinderschicksale vor uns ab. Und manches Bild stimmt wehmutsvoll, wie das von der völlig intakten Straße in Tiergarten (S. 46) mit Vorgärten, Zäunen und Büschen, nur die wie ausgeblasen wirkenden Ruinen der Häuser erinnern an den Luftkrieg. Oder andere Bilder (S. 48-53) vom Vergnügungspark in Treptow, in dem sich die Soldaten aller vier Besatzungsmächte noch friedlich vereint vergnügen. Aus dem Nachlaß des Berliner Fotografen Willy Römer (1887-1979) stammen die Bilder des Bandes „Erntefest im Schrebergarten 1912-1927". (Willy Römer und Walter Bernstein gehörte die Pressebildagentur „Photothek", eine der zehn wichtigsten Pressebildagenturen der Weimarer Republik. Sie bestand von 1920 bis 1935.) Die Bilder zeigen Feierabendleben und fröhliche Feste auf eigener oder gepachteter Scholle, fern von den beengten Verhältnissen der öden Mietskasernen. Aber auch Bilder von solidarischem Handeln mit Menschen, denen es schlechter ging, wie hier ein Erntedankfest mit alten Frauen (1923). In „Bist 'ne Jüdische? Haste den Stern?" hat Bruno Schönig im September 1985 in Tonbandgesprächen aufgezeichnet, was Berit Gehrig ihm von ihrer Kindheit als Halbjüdin in Berlin-Prenzlauer Berg zu berichten wußte. Man kann es als „Geschichte von unten" bezeichnen. Es ist die Geschichte einer entsetzlichen Jugend zwischen 1933 und 1945, die ein kleines, jüdisch erzogenes Mädchen, geboren 1929 in Berlin, erleben mußte. Durch das ganze Buch zieht sich wie ein roter Faden der Kummer der kleinen Berit, nicht so zu sein wie die anderen Kinder, nicht mit der Straßenbahn fahren, sich auf keine Bank setzen und nicht ins Kino gehen zu dürfen. „Du durftest doch nichts mitmachen, du warst doch von allem ausgeschlossen. Wie ein Aussätziger bist du doch behandelt worden. Sie haben dich beschimpft mit Jüdsche' haben dich nicht gegrüßt." Dieses wie auch das folgende Dokument ist in der Reihe „Erzähltes Leben" erschienen, und die Rezensentin fände es sehr begrüßenswert, wenn beide Hefte in Schulen und Jugendgruppen gelesen würden. Friedrich Munding „Daß ich nur noch selten schreibe": Briefe aus Berlin 1940 bis 1943. Es sind Briefe des ehemaligen Journalisten, der nach schon mancherlei Querelen als demokratischer und republikanischer Redakteur 1933 endgültig in Berlin untertauchte. Seine Eindrücke von den ersten Kriegsjahren in der Reichshauptstadt schilderte er einem befreundeten Buchhändler in Konstanz am Bodensee. Es sind ungewöhnliche Briefe, in denen er verschlüsselt, in Andeutungen und zwischen den Zeilen Auskunft gibt über den Kriegsalltag in Berlin, über die Auswirkungen des Bombenkrieges auf die Bevölkerung und ihre Stimmung. Der Herausgeber Werner Trapp schreibt in seiner Einleitung: „Munding hat protokolliert, was nach dem Krieg niemand mehr wahrhaben wollte. Die alltägliche persönliche Teilnahme an dem, was geschehen war. Darüber zu reden, dies zu begreifen und zu verarbeiten, ist noch heute eine Notwendigkeit." Irmtraut Köhler ^

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Wolfgang Kramer, Sigurd Hilkenbach, Claude Jeanmaire: „Die Straßenbahnlinien im westlichen Teil Berlins III". Erster Teil: Linien 1 bis 54. (Archiv Nr. 46. Dritter Teil der Bücherserie über Berlin) und „Straßenbahnlinien in Berlin (West) IV". Zweiter Teil: Linien 55 bis 199 und Sonderlinien. (Archiv Nr. 52: Vierter Teil der Buchserie über Berlin). Verlag Eisenbahn. Gut Vorhard. CH-5234 Villingen AG. Schweiz. Insgesamt 729 Fotos auf 428 S., 15,5 X 23,5 cm, geb. Preis: 59 DM pro Band, erhältlich durch Buchhandel S. Hilkenbach, Clayallee 259, 1000 Berlin 37. Das Verkehrsexperten-Triumvirat Kramer, Hilkenbach, Jeanmaire hat in den Jahren 1973 und 1977 den ersten und zweiten Teil der Berliner Straßenbahngeschichte geschrieben, die sich vorwiegend mit dem Fahrzeugpark der verschiedenen Gesellschaften vom Beginn des Pferdebetriebes 1865 bis zur Einstellung der Straßenbahn in West-Berlin 1967 befaßt. Nach neunjähriger Pause, 1986, ließen dieselben bewährten Autoren - abermals im Schweizer Verlag Eisenbahn - den vorliegenden dritten und vierten Teil der Berliner Straßenbahngeschichte folgen, die die Entwicklung des Liniennetzes der BVG während der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt. Das zweibändige Werk ist keine staubtrockene Fachabhandlung für einen begrenzten Kreis von Nahverkehrsspezialisten, sondern wird dank dem Eingehen auf das Entstehen und Vergehen der auf Hunderten von Fotos gezeigten Straßen, Plätze, Bahnhöfe, Kirchen, Brücken, Fahrzeuge und Szenerien aus der Feder von Dipl.-Ing. Heinz Jung, einem unserer besten Verkehrskenner vom Arbeitskreis Berliner Nahverkehr, zu einer einschlägigen Wissensquelle. Da die Mehrzahl der Abbildungen aus den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren stammt, starrt der Betrachter von heute oft fassungslos auf Trümmerberge und Ödflächen, wo heute Hochhäuser ragen, an denen sich der Individualverkehr pausenlos vorbeiwälzt (Fotos 8,64,109/10,131/32,146,354,458 und 468). Frappierend die gähnende Leere, die die Stelle atmet, an der heute das Europa-Center steht (65), und fast schon gespenstisch wirkend die weiten Glasflächen, die den „frühen" Ernst-Reuter-Platz einfassen (131), sowie das deprimierend wirkende Ödland am Blücherplatz, dort, wo heute die enorm frequentierte Amerika-Gedenkbibliothek berannt wird (642). Davon, daß in Berliner Vororten noch ganze Straßenzüge mit den altvertrauten „Katzenköpfen" gepflastert waren, zeugen die Fotos 35, 71, 155, 159 und 246. Daß es gelegentlich auch zu mehr oder weniger tragischen Verkehrsunfällen kommen konnte, zeigen die Fotos 39, 133 und 684. Von einer nostalgischen Erinnerungswelle wird der Rezensent beim Anblick des Fotos 25 bespült, das die ihm so wohlvertrauten beiden Kurven vor der Kuppelendstelle Gotenstraße/Ecke Torgauer Straße in seinem Geburtsbezirk Schöneberg zeigt, als dort „in aschgrauer Vorzeit" die „Traditionslinien" 23 und 72 der Großen Berliner Straßenbahn lange Jahre hindurch endeten. Wir erfahren, daß es in Berlin nur wenige niveaugleiche Gleiskreuzungen Eisenbahn-Straßenbahn gab (169, 208), wir sehen den notleidenden Agrarier in Griffnähe der Straßenbahn (in Heiligensee) mit pferdebetriebenem Handpflug seine Furche ziehen (206), wir Motorisierten vernehmen den gar nicht so leisen Vorwurf des strammen Benutzers öffentlicher Verkehrsmittel, „daß man früher keine Parkplätze benötigte" (135), wir lernen, daß der zwölfgeschossige Borsigturm in Tegel das erste Hochhaus in Berlin gewesen ist (140) und daß die erste Westberliner Fußgängerzone ebenfalls in Tegel eingerichtet wurde (244), und wir hören, daß der Mittelstreifen vom Mehringdamm dermaleinst als Gemüsegarten gedient hat (698) und daß der Bezirk Kreuzberg mit mehr als 120000 türkischen Mitbürgern mittlerweile die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei geworden ist (616). Erfreulicherweise waren die Autoren bestrebt, eine Vielzahl von Vorgängen und Ereignissen mit exakten Tagesdaten zu belegen und die Architekten wichtiger Baulichkeiten namentlich zu nennen, was das Werk für weitere Forschungen geeignet werden läßt. Gleispläne und Skizzen der Straßenbahnfahrordnung an Verkehrsknotenpunkten (45, 160, 495) sowie Linien- und Streckenpläne, Fahrplanausschnitte und Reproduktionen von Fahrscheinen und Monatskarten ergänzen den Text. Wer von den unentwegten Linienchronisten jedoch darauf erpicht ist, jede einzelne Veränderung in der Linienführung während der hundert Jahre des Berliner Straßenbahnbetriebes zu erkunden, der sei auf die minutiös genauen Angaben der Linienchronik verwiesen, die die „Berliner Verkehrsblätter" des Arbeitskreises Berliner Nahverkehr zwischen 1964 und 1969 in laufender Folge veröffentlicht haben, während das vorliegende Werk sich „nur" auf Angaben von Endstellenveränderungen beschränkt. Das Schlußstück des Aufbaus der verschiedenen Straßenbahnliniennetze in den ersten achtzig Betriebsjahren 1865 bis 1945 der ehemals zahlreichen Unternehmen ist einem fünften Teil vorbehalten, wird aber infolge zeitraubenden Erforschens des teilweise nur lückenhaft vorhandenen authentischen Quellenmaterials noch eine gewisse Zeit auf sich warten lassen. Die zweibändigen „Straßenbahnlinen in Berlin-West" zeigen Fotos von Fahrzeugen fast jeder einzelnen Linie und bieten im Zusammenhang mit der aufschlußreichen Betextung nicht nur eine umfassende Fachinformation für den Verkehrstechniker, sondern enthusiasmieren auch jeden an der Stadtgeschichte interessierten Berlinfreund. Hans Schiller 429

Eingegangene Bücher (Besprechung vorbehalten) H. Knobloch: „Angehaltener Bahnhof, Fantasiestücke und Spaziergänge in Berlin. 148 Seiten, 30 Abbildungen, Broschur, im Verlag Das Arsenal, 16,80 DM. R. Gilbert: „Meckern ist wichtig - nett sein kann jeder", eine Auswahl der schönsten Gedichte. 126 Seiten, Glanzeinband, im Arani Verlag, 16,80 DM. „So schön ist Berlin", vier Mappen ä zehn Luftaufnahmen von der „Berliner Morgenpost". W. See: „Nun büßt mal schön", Szenen aus dem Strafvollzug. 304 Seiten, Leinen, im Nympenburger Verlag 1980, 32 DM. „Hans Benenowski: Nicht nur für die Vergangenheit", streitbare Jugend in Berlin um 1930. Aus der Reihe „Erzähltes Leben", Band II. Herausgegeben von H. Koschwitz, H. Lessing, M. Liebel im Dirk Nishen Verlag 1983. R. Schwenke: „Und es wird immer wieder Tag", Kindheitserinnerungen aus Berlins dunkelsten Jahren. 168 Seiten, 43 Fotos, Kunstleinen, im Arani Verlag 1983, 19,80 DM. „Der Kampf um Berlin in Augenzeugenberichten". DTV, 9,80 DM. L. Gross: „Versteckt", wie die Juden in Berlin die Nazizeit überlebten. 380 Seiten, Leinen, Im Rowohlt Verlag 1982. „Die Mauer", August 1961, zwölf Tage zwischen Krieg und Frieden. Von J. Petschull. Fin Stern-Buch 1981. K. H. Gehn: „Der Machtzeriäll der sozialliberalen Koalition in Berlin", Innenansicht einer Stadtpolitik. In der Reihe „Politologische Studien", Band 29, 311 Seiten, broschiert, im Verlag Arno Spitz. H. Sahl: „Memoiren eines Moralisten", 231 Seiten, Leinen, im Ammann Verlag Zürich. H. Kesten: „Der Scharlartan", Roman. Ullstein Taschenbuch 1982. F. Baer: „Kein Grund zur Panik", Roman einer Jugend im Wedding. 288 Seiten, Leinen, im Albrecht Knaus Verlag Hamburg, 29,80 DM. M, Wildenhain: „zum beispiel k", 125 Seiten, Taschenbuch im Rotbuch Verlag 1983, 10 DM. „50 Jahre Kirche am Hohenzollernplatz in Berlin-Wilmersdorf 1933-83", eine Festschrift der Gemeinde. „Das Luisenstift", die Geschichte seiner Gründung im Jahre 1807. Neudruck der Schrift: ^Geschichte des Luisenstifes bis zum Schlüsse des Jahres 1808. Aus den Verhandlungen erzählt von Theodor .Hensius. U-_ Berlin 1809". Archiv für Kunst und Geschichte Berlin 1982. „Jetzt geht's rund durch den Wedding", eine historische Stadtteilwanderung. Herausgegeben von der evangelischen Versöhungsgemeinde und der Weddinger Geschichtswerkstatt, Berlin 1984. 125 Seiten, broschiert 9,50 DM. G. Sichelschmidt: „Große Preußen", zwölf biographische Skizzen. 256 Seiten, Ganzleinen, im Türmer Verlag 1981, 28,80 DM. B. W. Wessling: „Furtwängler", eine kritische Biographie. 480 Seiten mit 22 Abbildungen, gebunden, bei Deutsche Verlagsanstalt GmbH 1985, 48 DM. „Wilhelm Furtwängler", Aufzeichnungen 1924-1954. 360 Seiten, Leinen, bei F. A. Brockhaus 1980. B. Barlog: „Theater lebenslänglich". 431 Seiten mit Fotos, Leinen, 1981 im Universitas Verlag, 38 DM. C. Jolles: „Theodor Fontane", Realien zur Literatur. Sammlung Metzler, Band 114,165 Seiten, Taschenbuchformat, Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stuttgart 1983, 16,80 DM. A. Grisebach: „Carl Friedrich Schinkel", Architekt, Städtebauer und Maler. 205 Seiten, Taschenbuchformat im Ullstein Kunstbuch Verlag 1983, 9,80 DM. J. von Simon: „Der Bildhauer Albert Wolff 1814-1892". Zahlreiche Abbildungen und Fotos auf 255 Seiten, Gebr. Mann Verlag 1982. R. Pfefferkorn: „Von Schadow bis Gärtner", Zeichnungen aus dem Besitz des Vereines Berliner Künstler. 237 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, im Stapp Verlag Berlin. Aus den Bayrischen Schlössern: „Friedrich und Wilhelmine", die Kunst am Bayreuther Hof 1732-1763. 142 Seiten, gebunden, Verlag Schnell und Steiner München 1983. „Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels", in der Reihe der Hegelstudien, herausgegeben von O. Pöggeler, A. Gethmann-Siefert 1983. W. Stresemann: „Die Zwölf, vom Siegeszug der zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker. 100 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, erschienen im Atlantis Musikbuch-Verlag 1982. H. Krafft: „Marktwirtschaft auf dem Prüfstand, 45 Jahre Berliner Wirtschaft". 352 Seiten, Kartonumschlag, im VDE Verlag 1984, 42 DM. 430

H. Müller: „Theater der Restauration", Westberliner Bühnen, Kultur und Politik im Kalten Krieg. 452 Seiten, gebunden, im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, 18 M. E. Künneke: „Sing, Evelyn, sing", Revue eines Lebens, in Szene gesetzt von W. Haas. 305 Seiten, Leinen, Hoffmann und Campe Verlag 1982. H. Junke: „Die Kunst ein Mensch zu sein", 352 Seiten und 64 Abbildungen, Leinen, Herbig Verlagsbuchhandlung, 29,80 DM. K. Bloch: „Aus meinem Leben", 255 Seiten, Leineneinband, Verlag Günther Neske 1981.

Neue Mitglieder im II. Quartal 1986 Monika Förster, Angestellte Manfred-von-Richthofen-Straße 6 1000 Berlin 42 Telefon 7 85 30 05 (Geschäftsstelle) Dr. Brigitte Hüfter, Kunsthistorikerin Kurfürstenstraße 115, 1000 Berlin 30 (Geschäftsstelle) Hildegard Kleffel Lefevrestraße 2, 1000 Berlin 41 Telefon 8 514912 (Schriftführer) Arnolds Lange Waldvogteiweg 1, 2000 Hamburg 61 Telefon (0 40) 5 50 48 79 (Geschäftsstelle)

Edith Minert Waldfriedenstraße 3,1000 Berlin 28 Telefon 4 04 85 66 (Brast-Winkelmann) Rudolf Szagun Kurfürstenstraße 69, 1000 Berlin 42 Telefon 7 05 72 66 (Brast- Winkelmann) Werner Schwanz, Oberstudiendirektor Klingsorstraße 59, 1000 Berlin 41 Telefon 7 7185 59 (Geschäftsstelle) Ingrid Schwarz, Sachbearbeiterin Am Seeschloß 14, 1000 Berlin 28 Telefon 4 04 23 02 (Geschäftsstelle)

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Veranstaltungen im III. Quartal 1986 1. Freitag, den 11. Juli 1986,16.30 Uhr: „Vernichtet und vergessen - Adass Jisroel, die Jüdische Gemeinde zu Berlin (1869-1941)". Führung durch die Ausstellung im Landesarchiv, Treffpunkt in der Halle, Kalckreuthstraße 1/2,1000 Berlin 30, Fahrverbindungen: Busse 19, 29, U-Bhf. Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz. 2. Sonnabend, den 26. Juli 1986, 10.00 Uhr: Sommerausflug nach Potsdam. Besuch der Ausstellung „Friedrich II. und die Kunst" im Neuen Palais, Potsdam-Sanssouci. Treffpunkt Neues Palais, Südseite, 10.00 Uhr. Teilnahme nicht mehr möglich, sie mußte bis zum 15. Juni zugesagt werden. Sommerpause im August. 3. Dienstag, den 2. September 1986, 15.00 Uhr: „Friedrich der Große". Führung durch die Ausstellung in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg. Einführung durch Frau Dr. Iselin Gundermann in der Schloßkapelle. Treffpunkt im Ehrenhof am Denkmal des Großer Kurfürsten. 4. Freitag, den 12., bis Sonntag, den 14. September 1986, Studienfahrt nach Lübeck unter der Leitung von Herrn Dr. Schultze-Berndt. 5. Freitag, den 19. September 1986,15.00 Uhr: Führung über den Russischen Friedhof in Tegel. Leitung Herr Günter Wollschlaeger. Treffpunkt vor dem Eingang Wittestraße. Fahrverbindungen: U-Bhf. Holzhauser Straße.

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33, 1000 Berlin 31, Telefon 3 2328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Mehringdamm 89, 1000 Berlin 61, Telefon 6936791. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 100 200 00), Kto.-Nr. 03 81801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 432

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS GEGRÜNDET 1865 82. Jahrgang

Oktober 1986

Heft 4

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Aquarell von Franz Krüger, um 1830. Rechts der ursprüngliche Standort des Zeltes (Parasol) im Park von Klein-Glienicke, am Hochufer der Havel (aus: Rothkirch [wie Anm. 1], Abb. 207, s. S. 436)

Zur Provenienz und Lokalisierung des Festspielzeltes im Gartenhof des Schlosses zu Klein-Glienicke Von Harry Nehls Im Gartenhof des Glienicker Schlosses, dem einstigen Sommersitz des Prinzen Carl von Preußen (1801-1883), wurde erstmals 1985 ein imposantes farbiges Festspielzelt (Abb. 1) aufgestellt. Für die Sommerkonzerte, die hier stattfinden, mag es seinen Zweck hinreichend erfüllen. Den historisch-denkmalpflegerischen Ansprüchen hingegen wird es jedoch nicht gerecht. Das Zelt (zer)stört geradezu das künstlerische Ensemble von Schinkelarchitektur, eingemauerten Antiken, italienisierendem Garten und Freiplastik. Dem heutigen Besucher versperrt es die für die Gesamtwirkung wichtige Blickachse: Pleasureground-Landschaftsgarten. Den ursprünglichen Zustand der südländischen Gartenidylle vermittelt am eindrucksvollsten die Farblithograhie von August C. Haun (1815-1894), die dieser nach einem Gemälde des Landschaftsmalers August Wilhelm Ferdinand Schirmer (1802-1866) herstellte. Schirmer ist nachweislich mehrfach Gast in Glienicke gewesen1. Nur am Rande sei auf den in der Abbildung 2 sichtbaren Springbrunnen hingewiesen: Es handelt sich hierbei um ein Werk der Renaissance aus dem Jahre 1562. Dieses „Document altdeutscher Naivetät"2 mit einem auf einem Delphin reitenden Putto gilt heute als verschollen. Glücklicherweise ist uns wenigstens der Künstlername des Toreutikers, d.h. Metallhandwerkers, überliefert: „In der Mitte jenes reizenden grünen Platzes, zwischen den Gebäuden, sehen wir eine Fontaine, aus einer merkwürdigen Bronceschale springen, die, nach einem Kunstwerk, von Benvenuto Cellini, im 16. Jahrhundert, in Nürnberg gegossen, die Inschrift führt: ,Als man zalt dausend fünf hundert zwei und sechzig Jahr Goß Lienhard Peringer das Prunkschar Darinnen sprinkt das Wasser fein, Er acht es nit, trinkht lieber Wein.'"3 Kehren wir zurück zu unserem Ausgangspunkt. Zwar hat es in der Tat bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts (s. u.) im Glienicker Park, der Schöpfung Peter Joseph Lennes4, ein solches Zelt gegeben. Nur stand es ursprünglich nicht im Schloßgartenhof - was dem Besucher unwillkürlich suggeriert wird - vor dem heute leider stillgelegten Laufbrunnen mit der im Zeitalter des Klassizismus so häufig adaptierten Udefonso-Gruppe5, sondern nordöstlich vom Dampfmaschinen- und Gärtnerhaus, am Hochufer der Havel. Ein Aquarell (Titelseite) unbekannter Provenienz6 von Franz Krüger (1797-1857), genannt „Pferde-Krüger", der - wie Schirmer - gelegentlicher Gast in Glienicke7 war und dessen Grab sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Ost-Berlin befindet, bezeugt den einstigen Standort. Hier, am Hochufer der Havel, diente es als Parasol (Sonnenschutz) und Ruheplatz zugleich und ermöglichte dem Verweilenden über den Jungfernsee hinweg eine herrliche Aussicht auf das jenseitige Potsdam. Eine zeitgenössische Schilderung8 aus dem Jahre 1846 mutet fast wie ein Kommentar zu Krügers Gemälde an: „Wenden wir uns nun links nach einer schon freier liegenden Anhöhe, die mit einem z e l t a r t i g e n P a r a s o l überspannt ist. Hier entzückt besonders ein Blick nach Westen hin über den Park hinweg mit dem sanft sich neigenden, von Baumgruppen und Gebüsch malerisch umgebenen Rasenabhang, auf den italienischen Thurm des tiefer liegenden Maschinengebäudes, im Hintergrunde Potsdam mit seinen reichen Umgebungen ..." 434

Abb. 1: Rekonstruiertes Zelt im Gartenhof des Schlosses Klein-Glienicke. Rechts die sogenannte Ildefonso-Gruppe, die Prinz Carl nach Weimarer Vorbild bei Fischer in Berlin für 1500 Reichstaler gießen und ziselieren ließ. Im Hintergrund eingemauerte Spolien der Carlschen Antikensammlung (Fotoarchiv des Autors, Aufnahme von 1986).

Sechsunddreißig Jahre später (1882) wird das Glienicker Zelt noch einmal erwähnt: „Auf unserm Wege auf hoher Uferböschung mit der freien Aussicht über die Havelsee, gelangen wir zu dem kleinen Belvedere, ein consolartig angelegter Aussichtspunkt in den Zweigen eines aus der Tiefe des Berges aufsteigenden Kienbaumes, und von hier zum P a r a s o l auf der Höhe mit weiten Durchblicken."9 Solche „Aussichtspunkte" (Abb. 2) mit Fernblicken nach Potsdam an exponierten Stellen hat es im Glienicker Park mehrere gegeben. Vermutlich verschwand der Parasol schon bald nach dem Tode des Prinzen Carl zusammen mit anderen kleinen Parkbauten 10 aus der Glienicker Landschaftsszenerie. Auf dem mehrfarbigen Plan, der in der Lithographischen Anstalt von Leopold Kraatz in Berlin gedruckt wurde und den Michael Seiler jüngst in das Jahr 1862 datieren konnte, ist der Parasol dann auch an entsprechender, oben geschilderter Stelle kartiert worden11. Ein mit dem Glienicker nahezu identischer Sitzplatz unter einer Zeltbedachung, konzipiert als Point de vue, sollte - ebenfalls im 19. Jahrhundert - auf einem künstlichen Hügel nordwestlich der ehemaligen „Luisen-Insel"12 im Charlottenburger Schloßpark errichtet werden. Die Zeichnung (Abb. 3), im Besitz der Staatlichen Schlösser und Gärten in Berlin, dieses unausgeführt gebliebenen Projektes wurde 1829 von dem Architekten Friedrich Rabe (1775-1856) angefertigt13. Derartige Zelte, von englischen Vorbildern übernommen 14 , bestanden aus Wolleinen und wurden mittels Hanfseilen und Pflöcken abgespannt bzw. im Boden fest verankert. 435

Leider ist uns weder der Entwerfer des Glienicker noch des Charlottenburger Parasols bekannt, doch im Falle von Glienicke waren Schinkel oder Persius, die hier jahrelang für den Sohn Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise tätig waren, wohl nicht auszuschließen. Das klassizistische Ornament-Repertoir (Palmetten, volutenförmige Ranken) spricht jedenfalls eher dafür. Eine ortsgerechtere Aufstellung des Zeltes am Hochufer der Havel aus Anlaß der bevorstehenden 750-Jahr-Feier Berlins wäre ein Gewinn für die Berliner Kulturlandschaft und würde darüber hinaus die Verklammerung Glienickes mit dem Potsdamer Raum wieder deutlicher hervortreten lassen.

Anmerkungen 1. Malve Gräfin Rothkirch: Prinz Carl von Preußen. Kenner und Beschützer des Schönen. Osnabrück 1981, S.98 (Brief der Prinzessin Marie an Prinz Carl vom 15. Juli 1837) / S. 113 (Notiz vom 26. Juni 1840). 2. Bau- und Gartenkunst. Klein-Glienicke, Schloß des Prinzen Carl von Preußen bei Potsdam, in: Leipziger Illustrirte Zeitung Nr. 154 vom 13. Juni 1846, S. 383. 3. Wie Anm. 2, S. 383. Zu Lienhard Peringer vgl. Hans Vollmer (Hrsg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 26. Leipzig 1932, S. 416 s. v. Peringer, Lienhard. 4. Harri Günther: Peter Joseph Lenne. Berlin 1985, S. 83 ff. 5. Eva Schmidt: Der preußische Eisenkunstguß. Berlin 1981, S. 29 f. - Vgl. die Bronzenachbildung der Ildefonso-Gruppe am Nordende des Karpfenteiches im Charlottenburger Schloßpark von Christoph Heinrich Fischer, 1832. 6. Vermutlich ehemals im Besitz des Prinzen Leopold von Preußen (Sohn), dann Baron P. Cerrini (gest. 1985). 7. Johannes Sievers: Bauten für den Prinzen Karl von Preußen. Berlin 1942, S. 16 (Brief Rauchs an Schinkel vom 27. Juli 1839). Zwei weitere Aquarelle, Sievers (wie Anm. 7), S. 16 Abb. 11 / S. 56 Abb. 57 mit Glienicke-Motiven (um 1828) belegen, daß Krüger bereits vor 1839 dort gezeichnet hat. Rothkirch (wie Anm. 1), S. 63/S. 105. 8. Wie Anm. 2, S. 383. 9. Heinrich Wagener: Klein-Glineke, Schloß und Park Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Karl von Preußen, in: Der Bär 8 (1882), S. 579. 10. Sievers (wie Anm. 7), S. 74. - Klaus von Krosigk/Heinz Wiegand: Glienicke. Berlin 1984, S. 51 (= Berliner Sehenswürdigkeiten, 6). 11. Der Kraatzsche Plan ist bisher nur unzureichend publiziert. Martin Sperlich/Michael Seiler: Schloß und Park Glienicke. Berlin 1979, 2. Auflage, S. 32/S. 40 (= Zehlendorfer Chronik, 2). Erkennbar ist der Parasol (in der Plan-Legende = Nr. 39) bei Klaus von Krosigk: Der Landschaftsgarten von Klein-Glienicke. Berlin 1984, Titelblatt (= Gartendenkmalpflege, 1). 12. Clemens Alexander Wimmer: Die Gärten des Charlottenburger Schlosses. Berlin 1985, S. 77 mit Anm. 64. 13. Vollmer (wie Anm. 3), Bd. 27. Leipzig 1933, S. 536 s. v. Rabe, Friedrich. 14. John Buonarotti Papworth: Rural Residences. London 1818. Reprint 1971, S.101 f., Taf.25, 2. Margarete Kühn: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Schloß Charlottenburg. Berlin 1970, S. 195 f. mit Abb. 134. Zu Papworth vgl. Vollmer (wie Anm. 3), S. 223 s. v. Papworth, John. Anschrift des Verfassers: Harry Nehls, M. A., Seelingstraße 35,1000 Berlin 19

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Abb. 2: Die „Kaiserpinie" im Park von Klein-Glienicke, um 1828. Das seit 1945 verschollene Ölgemälde von Julius Schoppe (1795-1868), ehemals in der Ansichtenabteilung des Potsdamer Marmorpalais, kehrte 1981 aus der Sowjetuninon nach Potsdam zurück und befindet sich heute im Hofdamenflügel des Schlosses Sanssouci (aus: Gerd Bartoschek: Malerei des Berliner Biedermeier in Sanssouci - Potsdam 1984, Taf. 4).

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Abb. 3: Entwurf des nicht ausgeführten Charlottenburger Parasols, Federzeichnung des Architekten Friedrich Rabe, 1829 (Kühn [wie Anm. 14], S. 196, Abb. 134). 437

Zum Geburtstag von Gerhard Johann David von Scharnhorst Von Horst Kollat „Scharnhorst - ein General des Fortschritts", so nannte ihn bereits 1943 in der Emigration Jürgen Kuczynski in der Nachfolge von Franz Mehring, als er sich mit diesem Bauernsohn beschäftigte, der am 12. November 1755 im Hannoverschen geboren wurde und alle Bitternisse eines mühsamen Bildungsganges auskostete. Selbst die Geschichte muß meiner Ansicht nach nicht zu sehr Sache des Gedächtnisses werden, nicht der ganze Wust unerheblicher, ewig in einem Kreise wiederkehrender Begebenheiten sein, sondern mehr die Erzählung wichtiger Ereignisse, die auf das Herz wirken, die den jungen Mann mit sächlichen Gegenständen beiläufig bekannt machen; die Geschichte muß mehr Philosophie, Erfahrungslehre der Handlung der Menschen, als eine Anhäufung von Tatsachen sein, meint Scharnhorst, der die erste militärische Ausbildung an der Militärschule des im bürgerlichen England erzogenen Grafen Georg Wilhelm von Schaumburg-Lippe erhielt. Grundsatz dieses Mannes war: „Keiner als der Krieg der Verteidigung ist rechtmäßig, jeder Angriff unter der Würde des rechtschaffenden Mannes." Auf seiner Militärschule gab es kein Ansehen des Standes. Hier hat der junge Scharnhorst entscheidende Anregungen für sein ganzes Leben erhalten. 1778 trat er in hannoversche Dienste und nahm am ersten Koalitionskrieg teil. Dabei konnte er sich zum ersten Mal aus eigener Anschauung von den Gebrechen der alten Armeen und von der zukunftsreichen Kraft des aus der Französischen Revolution geborenen Nationalheeres überzeugen. In Hannover wirkte er dann als Lehrer an der Militärschule und begann gleichzeitig mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Er legte dabei den inneren Zusammenhang zwischen Heeres- und Staatsverfassung dar. Außerdem galt es ihm als selbstverständlich, daß der Offizier studieren, daß er seine Vorstellungen vom Kriege begründen und systematisch zusammenfassen müsse, um auf diese Weise seine Urteilskraft zu bilden. So wurde dieser Bauernsohn der erste Militärschriftsteller und Gelehrte unter den deutschen Offizieren, obwohl er 1792 bekannte: „Ich habe in keiner Wissenschaft mündlichen Unterricht genossen." Die Regierung des konservativen Hannover jedoch wollte den Wert dieses „Bürgerlichen" nicht anerkennen. Aber ihm winkte ein anderes Betätigungsfeld: Auf Veranlassung König Friedrich Wilhelms III. trat er in preußische Dienste und reiste 1801 nach Berlin, wo er die Anzahl der „Ausländer" in den Spitzenpositionen vergrößerte. Schon jetzt stand das Urbild eines neuen Heeres bereits fertig vor Scharnhorsts innerem Auge. Das Ergebnis der Niederlage von Jena und Auerstedt - die er selbst miterlebt hatte - kam ihm nicht überraschend. Erst von 1806 an sollte Scharnhorst in Preußen zu entscheidendem Einfluß gelangen. Nach dem Diktatfrieden von Tilsit (1807) stand er an der Spitze der Militär-Reorganisations-Kommission, des entscheidenden Instruments für die Durchführung der Reformen. Von 1807 bis 1810 leitete er außerdem das Kriegsdepartement. Seit 1810 war er Chef des Generalstabs und des Ingenieurkorps. 438

Mit diesen Ämtern betraut, schuf er ein Volksheer und bereitete damit die Befreiung Deutschlands vor. Dazu waren vor allem notwendig gewesen: 1. eine der neuen Kriegsart entsprechende Einteilung, Bewaffnung und Ausrüstung; 2. „Veredelung" und „Erhebung" des Geistes, d. h. Abschaffung des Systems der Ausländerwerbung, Annäherung an die allgemeine Verpflichtung zum Kriegsdienst; Abschaffung der körperlichen Strafen; Einrichtung guter militärischer Bildungsanstalten; 3. bei höheren Kommandostellen nicht mehr Bevorzugung des Alters, sondern der Leistung; 4. neue, der modernen Kriegsart angemessene Übungen. Zunächst wurde das preußische Offizierskorps radikal von den Personen gesäubert, die sich im letzten Kriege feige gezeigt hatten: Es wurde über alle Kapitulationen, gleich, ob im freien Felde oder hinter Wall und Graben erfolgt, zu Gericht gesessen. Scharnhorst, gleichzeitig vortragender Generaladjutant, besaß dabei maßgeblichen Einfluß. Dadurch wurde er bei vielen geschädigten (!) Offizieren verhaßt. - Dies um so mehr, als der Adel ein Vorrecht nach dem anderen durch die Wirksamkeit des hannoverschen „Jakobiners" (wie Napoleon ihn und seine Freunde bezeichneten) schwinden sah. Scharnhorst erblickte im sozialen Moment die Grundlage seiner Reform. Der Mensch sollte in den Mittelpunkt gerückt werden. So schloß er auch eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Militärgeschichte: das der „entehrenden Strafen", d. h. des Spießrutenlaufens und der Prügelstrafe. Seine Meinung war: „Wenn viele, sonst geachtete Männer meinen, man könne die Disziplin nicht erhalten, wenn nicht jeder 16jährige Fähnrich und rohe Unteroffizier jeden alten Soldaten bei dem Exerzierund Paradewesen über einen unbedeutenden, unschuldigen Exerzier- oder Putzfehler halb zu Tode prügeln dürfe, so darf man dieses nicht anders als ein Vorurteil ansehen." Gegen rückschrittlichen Geist, der gewohnt war, mit dem Stocke zu regieren, setzten er und seine Freunde beim König den Erlaß neuer Kriegsartikel und Verordnungen durch, wonach jede körperliche Züchtigung für die preußischen Soldaten durch Freiheitsstrafen ersetzt wurde. Diese Reform der Militärjustiz bildete eine der wichtigsten Veränderungen innerhalb des preußischen Heeres und die „eigentliche Grundlage der besseren geistigen Entwicklung des Heeres". Die Reformer - Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Grolmann, Clausewitz (Scharnhorsts Lieblingsschüler) u. a. - setzten an die Stelle des Schimpfens die Ehre, an die Stelle der Furcht das Vertrauen. Der Gehorsam, der in der neuen, nur noch aus Landeskindern bestehenden Armee ebenfalls gefördert wurde, hatte nichts mehr gemein mit der blinden und kriecherischen Unterwerfung unter den Willen einer mit furchtbaren Strafmitteln ausgerüsteten „irdischen Vorsehung", sondern erwuchs aus bewußter, freier und williger Hingabe an das Vaterland. In diesem Sinne verlangte Scharnhorst: „Es soll in der äußeren Behandlung der jungen Männer auf eine ihrer bisherigen Bildung und künftigen Bestimmung gleich angemessene Weise verfahren werden. Es soll darauf gesehen werden, daß ihnen der Dienst auf keine Weise verleidet, aber zugleich auch nicht verabsäumt werde, um in ihnen dem jeglichen Kriegsheere unentbehrlichen Geist der Disziplin und Kriegszucht tief und unauslöschlich zu begründen. Es soll ihnen demnach keine ungesetzmäßige Handlung durchgesehen, keine zweckwidrige Ungebundenheit gestattet werden; sie sind in diesem Punkte gerade so streng wie das übrige Militär zu behandeln. Dagegen muß ihre Zurückweisung bei Unwissenheit oder Unbeholfenheit im Dienst auf eine liebreiche und väterliche Art geschehen; bei ihrer begreiflichen Unbekanntheit mit dem Wesen und den Verhältnissen des Dienstes muß nicht gleich alles auf einmal verlangt, zumal im Anfange mancher Fehlgriff übersehen und ihnen das, was sie erlernen sollen, nach und nach in folgerechter Ordnung beigebracht werden." 439

Aber noch viel weiter beschränkte Scharnhorst die Stellung des Adels, nämlich durch die Beseitigung der „Kompaniewirtschaft": Bisher hatten die Kompaniechefs vom Staat die für Verpflegung und Ausrüstung der Truppen notwendigen Gelder selbst verwaltet. Je öfter sie die Soldaten zur Arbeit beurlaubten, desto mehr Geld strichen sie für sich persönlich ein. Scharnhorst erreichte, daß die Offiziere festes Gehalt bekamen und die gesamte Löhnung und Ausrüstung der Mannschaft von der Staatskasse übernommen wurde. Die Adelsherrschaft sollte aber ganz gebrochen werden - und zwar bei ihrem Monopol: der Besetzung der Offiziersstellen. Die Nation, in deren Ideenkreis Standesgrenzen ohnehin keinen Platz mehr hatten, sah allmählich in der Vormachtstellung der Adligen eine beleidigende und unerträgliche Anmaßung. Dem Offizierskorps mußte frisches Blut zugeführt werden. Das revolutionäre Frankreich zeigte den Weg dazu. Scharnhorst vertrat die Meinung: „Ein Anspruch auf Offiziersstellen können im Frieden nur Kenntnisse und Bildung gewähren, im Kriege ausgezeichnete Tapferkeit und Überblick." Das Offizierskorps sollte seine Autorität nur noch auf geistige und sittliche Überlegenheit gründen - also Aristokratie der Bildung, nicht mehr des Standes. Am 6. August 1808 wurde die Adelsvorherrschaft bei der Besetzung der Offiziersstellen durch ein Reglement aufgehoben, in dem es u. a. heißt: . . . Aller bisher stattgehabter Vorzug des Standes hört beim Militär ganz auf . . . Auch hier siegte die neue nationale Auffassung. War die preußische Armee in materieller und geistiger Hinsicht erneuert worden, so trat noch ein Drittes - Entscheidendes - hinzu: die Umwälzung auf organisiatorischem Gebiet. Scharnhorst führte das Krümpersystem ein: Da Napoleon Preußen ein stehendes Heer von nur 42 000 Mann zugebilligt hatte, galt es, ihn zu überlisten. Dies erreichte Scharnhorst dadurch, daß er die Rekruten nur wenige Wochen lang ausbilden ließ, so daß ständig 42 000 Mann unter den Fahnen standen, die Reservearmee aber ein Vielfaches betrug und unaufhörlich wuchs. Am 17. März 1813, als sich das preußische Volk zusammen mit seinen Verbündeten anschickte, den französischen Eroberer aus dem Lande zu jagen, erschien die Verordnung über die Organisation der Landwehr, durch die jeder Preuße zwischen 17 und 40 Jahren zu den Waffen gerufen wurde. Dem Landwehraufgebot folgte der Aufruf zum Landsturm: Die ganze Bevölkerung sollte den Kampf der Soldaten zur Befreiung des Vaterlandes unterstützen. - Die allgemeine Wehrpflicht, die Scharnhorst als Endpunkt seiner Umorganisation angestrebt hatte, wurde allerdings erst nach seinem Tode von seinem Nachfolger von Boyen eingeführt. Nicht genug damit, daß Scharnhorst die Armee zum Kampfe vorwärtsriß. Er gab ihr auch eine Möglichkeit, dieses Ringen siegreich zu bestehen. Er führte im Volksheer die Tirailleurtaktik ein, d. h. das Schützengefecht - im Gegensatz zum starren System der Lineartaktik, die im friderizianischen Heer angewandt werden mußte, um die Söldner auch im Gefecht noch kontrollieren zu können. So hoch die Heeresreformer aber auch den Wert gründlicher, praktischer Ausbildung einschätzten - höher stand ihnen nach Schamhorsts Worten die innige Verbindung der Armee mit der Nation: „ . . . Man muß der Nation Selbständigkeit einflößen. Man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt, nur erst dann wird sie sich selbst achten und von anderen Achtung zu erzwingen wissen. Daraufhinzuarbeiten, dies ist alles, was wir können. Die alten Formen zerstören, die Bande des Vorurteils lösen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und sie in ihrem freien Wachstum nicht hemmen, weiter reicht unser hoher Wirkungskreis nicht." 440

Den „Plebejer" Scharnhorst zeichnete die Freiheit von Vorurteilen aus. Seinen Aufstieg verdankte er nicht äußeren Zufälligkeiten, sondern einer überlegenen Klarheit des Geistes und einer starken Macht des Willens. Anspruchslos und einfach schuf er durch stille und nüchterne Arbeit in wenigen Jahren sein großes Werk: Er wurde zum Begründer des ersten disziplinierten Volksheeres auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht in der Zeit vor den Befreiungskriegen und erfüllte eine historische Aufgabe als Erzieher der Deutschen für den nationalen Staat der Zukunft. Man könnte ihn einen „Beginner" nennen; denn sein Lebenssinn war, immer Sämann sein, niemals Sammler der Ernte. Bei Großgörschen wurde Scharnhorst verwundet und erlag am 28. Juni 1813 - also noch vor der Befreiung Deutschlands von der französischen Fremdherrschaft - seiner Verwundung. Gneisenau übernahm seine Stelle als Generalstabschef des Blücherschen Heeres. Er hat von Scharnhorst, seinem Freund und Mitstreiter, gesagt: „Ich bin ein Pygmäe gegen diesen Riesen, dessen Geistestiefe ich nur bewundere, nimmer aber ergründen kann." Anschrift des Verfassers: Horst Kollat, Stegeweg 19,1000 Berlin 51

Die Staatliche Bildungsanstalt zu Berlin-Lichterfelde von 1920 bis 1933 Von Roland Schröter Der Artikel 176 des Versailler Vertrages verfügte die Auflösung aller Kadettenanstalten in Deutschland. In Preußen betraf das die Anstalten in Naumburg, Köslin, Potsdam, Wahlstatt, Plön und die sogenannte Haupt-Kadettenanstalt in Lichterfelde. Sie führte als einzige der preußischen Anstalten ihre Zöglinge bis zum Abitur. 1878 waren die Gebäude auf dem weitläufigen Grundstück in der Finckensteinallee, das Johann Anton Wilhelm von Carstenn dem preußischen Militärfiskus geschenkt hatte, fertiggestellt, so daß die Kadetten aus dem großstädtischen Berlin in das noch ländliche Lichterfelde umziehen konnten. 1920 endete mit der Bestimmung des Versailler Vertrages diese erste Phase in der bewegten Geschichte der Kaserne. Von der zweiten Phase, während der von 1920 bis 1933 die Anstalt im wesentlichen als Schule genutzt wurde, soll hier ausführlicher berichtet werden. Die dritte Phase währte von 1933 bis 1945. Nach kurzer Übergangszeit wurden die Gebäude Kaserne der Leibstandarte SS „Adolf Hitler" und waren 1945 weitgehend zerstört. Lediglich der Block 3 des alten Gebäudekomplexes konnte wiederhergestellt werden. In der vierten Phase seit 1945 bis heute beherbergt die Kaserne unter dem Namen Andrews Barracks Einheiten der amerikanischen Besatzungs-, später Schutzmacht. In bemerkenswerter Weise spiegeln die vier Phasen in nuce die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts wider. Zuerst waren die Gebäude Schule, Internat und Kaserne zugleich und dienten vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich der Heranbildung des Offiziersnachwuchses für die preußische Armee. Die Anstalt begann mit der Untersekunda (entspricht etwa der heutigen 9. Klasse) und führte die Kadetten, die an einem beliebigen Gymnasium oder aber schon an einem der oben genannten Orte in einem Kadetten-Vorkorps die Obertertia erfoglreich abgeschlossen hatten, in weiteren vier Jahren zum Abitur. Der Geist der Erziehung war selbstverständlich strikt konservativ-monarchisch. 441

In der Nazizeit beherbergten die Gebäude an der Finckensteinallee mit der Leibstandarte Adolf Hitlers eine Eliteeinheit des Systems, die wie keine andere dem Ungeist, dem Rassenwahn und dem hemmungslosen Imperialismus des Nationalsozialismus verschworen war. Auf dem Gelände der Kaserne wurden 1934 im Zuge der Röhm-Affäre zahlreiche unbequem gewordene Parteigänger Hitlers, aber auch Gegner des Regimes ermordet. Die bisher letzte Phase begann im Juli 1945 mit dem Einzug der Amerikaner. Ihr Hiersein steht einerseits für die von uns verschuldete Zerrissenheit Deutschlands und andererseits für den Willen zur Behauptung der Freiheit in Berlin und dem westlichen Deutschland. Der gemeinsame Nenner für die Nutzung in den Phasen 1,3 und 4 könnte der Begriff „Kaserne" sein. Er ist jedoch irreführend, da hinter der militärischen Nutzung jeweils völlig unvergleichbare Gesellschaftssysteme standen bzw. stehen: bis 1918 war es die konstitutionelle Monarchie, 1933 bis 1945 die NS-Diktatur und nach 1945 die Entwicklung zum demokratischen Rechtsstaat. Hier soll nun aber allein die zweite Phase von 1920 bis 1933 untersucht werden, als die Anstalt ganz überwiegend als Schule mit Internat geführt wurde. Mit ihrem fast revolutionären, aber scheiternden Aufbruch, ihrem allmählichen Übergang in einen national-konservativen, nur sehr äußerlich demokratischen Geist und ihrem konfliktlosen Aufgehen im NS-Staat spiegelt auch sie die Probleme ihrer Zeit. Angesichts der vom Versailler Vertrag geforderten sofortigen Auflösung der Kadettenanstalten machte die preußische Regierung aus der Not eine Tugend und wandelte die Kadettenanstalten in Internatsschulen mit der Bezeichnung „Staatliche Bildungsanstalten" um. Kultusminister Haenisch (SPD) beauftragte Dr. Fritz Karsen, der ihm als Mitglied des Bundes Entschiedener Schulreformer bekannt war, mit der Umwandlung der Lichterfelder Anstalt in eine Modellschule, die womöglich richtungweisend für das Schulwesen im demokratischen Staat werden sollte. Das Gebäude hätte diesen radikalen Wechsel von der konservativ-monarchischen Militärpflanzschule zur demokratischen Versuchsschule allenfalls vertragen, nicht aber die Insassen! Es ist für den heutigen Betrachter unverständlich, mit welchem geradezu naiven Optimismus sowohl das Ministerium als auch Fritz Karsen daran gingen, die 700 bis 800 uniformierten, militärisch gedrillten, entsprechender Familientradition verpflichteten, von der Dolchstoßlegende schon infizierten und allen demokratischen Ansätzen mindestens mit Reserve, wenn nicht mit Ablehnung begegnenden Zöglinge in „innerlich selbständige, verantwortungsfrohe Persönlichkeiten für eine demokratische, von sozialem Willen beseelten Gesellschaft" (Karsen) zu verwandeln. Das konnte nicht gutgehen. Die offizielle Schließung der Hauptkadettenanstalt erfolgte am 9. März 1920, der nicht zufällig der Todestag Kaiser Wilhelms I. war. Die Kadetten waren in voller Uniform in der Anstaltskirche, auf der der Erzengel Michael mit dem Flammenschwert weithin sichtbar grüßte, versammelt. Nach Gottesdienst und Choral verlas Exzellenz von Bardeleben, der letzte Kommandeur der Hauptkadettenanstalt, die Auflösungsverfügung der Regierung und schritt mit General Ludendorff, selbst Zögling der Anstalt, die Front der angetretenen Kadetten ab. Die Abgabe der Fahnen des Kadettenkorps gestaltete sich zu einem Triumphzug. In militärischer Formation marschierten die Kadetten mit ihren Offizieren unter klingendem Spiel einer Kapelle der Gardeschützen durch das Brandenburger Tor zum Kriegsministerium in der Leipziger Straße. Es war die Zeit des Kapp-Putsches, und so verzögerte sich die Eröffnung der Staatlichen Bildungsanstalt (Stabila). Nicht wenige Kadetten hatten sich in diesen Tagen in Freikorps und Bürgerwehren gegen den demokratischen Staat engagiert. Am 5. Mai versammelten sich 700 bis 800 Schüler zur Eröffnungsfeier. Zum größten Teil waren es ehemalige Kadetten, aber auch neu aufgenommene Söhne Gefallener oder Versehrter, denen das Schulgeld weitgehend oder 442

sogar ganz erlassen werden konnte. Die „Vossische Zeitung" berichtet über die Eröffnungsfeier. Viele Schüler tragen das Hakenkreuz im Knopfloch, das damals noch nicht Markenzeichen der Hitlerpartei war, sondern allgemein eine antidemokratische und antisemitische Gesinnung symbolisierte. Minister Haenisch führte den 35jährigen Oberstudiendirektor Dr. Karsen in sein Amt ein. Die „Vossische" wörtlich: Karsen sprach „in warmen Worten... über die Schule der Selbstverantwortung" und von „Erziehung zu sozialer Gesinnung". Viele Schüler erreichte er nicht. Schon kurz nach der Feier versuchten einige, die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik vom Hauptgebäude zu entfernen, andere verteilten Flugblätter üblen antisemitischen Inhalts. Karsen kam aus einem jüdischen Elternhaus, war aber im Geist des häufigen Assimilationsbemühens deutscher jüdischer Familien christlich getauft und erzogen worden. Trotz dieser schier hoffnungslosen Ausgangslage gingen Karsen und eine Gruppe reformwilliger Lehrer daran, demokratischen Geist in die Schule zu tragen. Das erforderte eine Umgestaltung des Internatslebens und des Unterrichts. Die Kadettenkompanien wurden in Oberinspektionen umgebildet. Studienräte betreuten als Oberinspektoren und Inspektoren die Schüler und nahmen weitgehend am Internatsleben teil. Die Stubenbelegschaften wurden verändert. Andererseits gelang es Karsen in der kurzen Zeit seines Wirkens nicht, die Institution der Aufwärter, die die Kadetten bedient hatten, indem sie Wasser holten, die Betten machten und die Stuben reinigten, abzuschaffen. Die ungewohnte Auflockerung des Internatslebens wurde von vielen Schülern nicht durch entsprechendes selbstverantwortliches Verhalten honoriert. Sie waren durch den krassen Wechsel überfordert. Immer wieder kam es zu Widersetzlichkeiten mit unverkennbar politischem Akzent. Karsen hatte zu den bisherigen Klassen auch eine Obertertia eröffnet, deren Schüler nicht Kadetten gewesen waren. Insgesamt sank die Schülerzahl im Schuljahr 1920/21 um mehr als 50 %, so daß das Schuljahr 1921/22 mit nur 300 Internats- und 39 Gastschülern eröffnet wurde. Der eigentliche Unterricht wurde durch eine grundsätzliche Revision der Lerninhalte und der Lehrbücher reformiert. Alle Lehrbücher aus der Kaiserzeit wurden abgeschafft, alle Unterrichtsinhalte gestrichen, die sich auf die Kadettenausbildung bezogen hatten. Statt dessen waren die Lehrer gehalten, ihre Unterrichtsplanung mit den Schülern zu besprechen und Anregungen aus den Klassen möglichst aufzugreifen. Der rein dozierende Unterricht wurde aufgelockert durch Lehrausflüge, Schülervorträge und Projektarbeit. Ansätze zu einer Schülermitverwaltung, für die gerade das Internatsleben natürliche Tätigkeitsfelder bot, bildeten sich. Lehrer und Schüler planten außerunterrichtliche Arbeitsgemeinschaften, so für Gartenbau, für Werken zur Verschönerung der Stuben, aber auch freiwilligen Unterricht in Philosophie, Griechisch, Spanisch. Ein großer Erfolg wurde die Einführung von „Unterricht im Freien". Die lockere Sitzweise im offenen Viereck förderte die Aufmerksamkeit und das Unterrichtsgespräch der Schüler untereinander. So gab es durchaus einige hoffnungsvolle Ansätze für eine positive Veränderung der Anstalt. Aber die Forderungen zur Weiterentwicklung des Versuchs, die Karsen erhob (Verkleinerung der Anstalt, relative Autonomie als Versuchsschule, Versetzung der konservativen Lehrer), wurden von der Aufsichtsbehörde für die staatlichen Bildungsanstalten nicht erfüllt. So trat Karsen schon nach drei Monaten von seinem Amt als Leiter der Stabila Lichterfelde zurück. Über seine späteren großen Erfolge als Schulreformer in Neukölln als Leiter des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums (von 1930 an Karl-Marx-Schule) ist hier nicht zu berichten. Studiendirektor Geheimrat Härtung als kommissarischer Leiter nach Karsen erstickte alle Reformansätze im Keim. Es wurde wieder kompanieweise angetreten, zum Essen marschiert, vor den Lehrern „strammgestanden", ein Geschichtsbuch aus der Kaiserzeit wieder eingeführt. Immerhin wurden offene Auflehnungen gegen die republikanische Grundordnung, z. B. feier443

ten einige Primaner den Geburtstag Wilhelms II. und sangen „Heil Dir im Siegerkranz", durch rigorose Relegierungen geahndet. Am 10. April 1922 wurde vom damaligen preußischen Kultusminister Boelitz (Deutsche Volkspartei) der bisherige Studiendirektor Hans Richert als Oberstudiendirektor zum Leiter der Stabila Lichterfelde berufen. Sein Wirken führte zu einer nachhaltigen Konsolidierung der Schule, die in dem fast zweijährigen Interregnum zwischen dem Abgang Karsens und der Ernennung Richerts zu einer Stätte republikfeindlichen Denkens geworden war. Teile der Schülerschaft, insbesondere ehemalige Kadetten, provozierten immer wieder Zwischenfälle, z. B. Feier des Reichsgründungstages am 18. Januar oder des Geburtstages Wilhelms II. am 27. Januar. Die Vorgänge spiegeln sich in Berichten der „Bürger-Zeitung für Groß-Lichterfelde und Dahlem" und der „Vossischen Zeitung" und gipfelten in einer längeren Debatte 1922 im Preußischen Landtag, vor dem Kultusminister Boelitz über die „Schülerrevolte" in Lichterfelde aufgrund zweiter parlamentarischer Anfragen zu berichten hatte. Boelitz erkannte die schwache Führung der Schule durch Härtung und ernannte als unmittelbare Konsequenz der Landtagsdebatte Hans Richert zum Schulleiter. Während Karsen in seiner Arbeit behindert war durch einen gleichberechtigt neben ihm stehenden Verwaltungsdirektor, wurde Richert die Leitung der gesamten Anstalt, also Schule, Internat und Verwaltung, übertragen. Er erkannte - wie Karsen - , daß Veränderungen im Internatsbetrieb die erste Voraussetzung für eine fruchtbare pädagogische Atmosphäre sein mußten. So wurde der riesige Speisesaal geschlossen und durch kleinere, von den Schülern ausgeschmückte Speiseräume ersetzt. Die Schüler einer Klasse wurden auch zur Erziehungsgemeinschaft im Internat. Ältere Schüler waren nicht mehr „Vorgesetzte" der jüngeren. Jegliche Bedienung durch Aufwärter wurde abgeschafft. Das Gemeinschaftsgefühl wurde gestärkt durch die Einrichtung von Heimsonntagen, die mit Urlaubssonntagen zum Besuch der Eltern abwechselten. Auf dieser Basis wurde dann auch der Unterricht neu organisiert. In arbeitsintensiven Konferenzen entwickelte Richert mit den Lehrern einen Anstaltslehrplan, der ein Rahmenplan war, so daß er eine Anpassung an besondere Begabungen der Lehrer, an die von Jahrgang zu Jahrgang verschiedenen Interessenrichtungen der Schüler und auch an ihre unterschiedliche Leistungsfähigkeit zuließ. Damit wurde von Richert an der Stabila Lichterfelde ein Maß an pädagogischem Freiraum im Unterricht geschaffen, das für eine staatliche Schule der damaligen Zeit einmalig war. Schülerarbeitsgemeinschaften ergänzten den Unterricht. Sie kamen den Interessen und Begabungen entgegen, die im Pflichtpensum nicht angesprochen wurden. Die Stoffauswahl durch den Lehrer stand unter der Zielsetzung, die Kräfte der Schüler zu steigern, also nicht unter dem Diktat der Stoffvermittlung. Souverän überwand Richert die jahrhundertealte Forderung nach „Allgemeinbildung". Ein Nachfolger Richerts, Direktor Vogt, schreibt in einer Würdigung der Leistung Richerts: „Er hat den Mut gehabt, diese Forderung als Selbsttäuschung zu bezeichnen ..." Im Vordergrund stand für ihn eine mehr erzieherische Zielsetzung des Unterrichts. Die gute Ausstattung der Schule mit Werkstätten aller Art wurde systematisch genutzt. Richert formuliert später als Zielsetzung gymnasialer Bildung, „ . . . die natürliche Spannung zwischen dem Erwerb sicheren Wissens, ohne das höhere geistige Tätigkeit nicht möglich ist, und dem Erwerb der Fähigkeiten selbständigen Arbeitens, ohne die bloßes Wissen unfruchtbar bleibt, zu überbrücken". Neben die geistige Ausbildung trat ein umfangreiches Programm zu sportlicher und musischer Betätigung und die Förderung von Ausflügen, Wanderungen und Klassenfahrten. Und als Gipfel der Fortschrittlichkeit: „Unbefangener Verkehr der Heimschüler mit jungen Mädchen der Lichterfelder Gesellschaft wurde gern gesehen" (aus einer Schulchronik). Schließlich wurde die Schule mit dem Schuljahr 1923/24 zu einer Vollanstalt ausgebaut, d. h. zu den bisherigen Klassenstufen 444

traten nun die vier unteren Jahrgänge von Sexta bis Untertertia. Gleichzeitig hatte der letzte Jahrgang ehemaliger Kadetten das Abitur abgelegt, so daß die Schülerschaft nun der jedes beliebigen anderen Gymnasiums entsprach. Am 19. September 1923 - es war die Zeit der großen Krise der Weimarer Republik durch Inflation, Frankreichs Ruhrbesetzung und separatistische Tendenzen im Osten, Westen und Süden des Reiches - wurde Richert zum Ministerialrat befördert, ins preußische Kultusministerium berufen und mit der Neuordnung des gesamten höheren Schulwesens betraut. Das Ergebnis dieser Arbeit war die einschneidende „Richertsche Schulreform" der Jahre 1924/25, von der hier nur kurz gesagt sein soll, daß mit ihr die bisher an die alten Sprachen gebundene Schulbildung abgelöst wurde zugunsten einer stärker national betonten Volksbildung. Erziehungsziele sind nun eine harmonische Persönlichkeitsbildung, Nationalerziehung (erstes Hauptfach wird Deutsch!), aber auch staatsbürgerliche Erziehung, Kunsterziehung und philosophische Vertiefung des Unterrichts (in starker Konkurrenz zum herkömmlichen Religionsunterricht). Richert hat sich bei der Ausarbeitung seiner Richtlinien und Lehrpläne ganz wesentlich an der Erfahrung orientiert, die er als Schulleiter in Lichterfelde gesammelt hatte. Man kann also ohne Übertreibung sagen, daß die Neuordnung des preußischen höheren Schulwesens, die übrigens bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fortgewirkt hat, zuerst in der Stabila Lichterfelde entwickelt und erpobt wurde. Seinen Lichterfelder Auftrag hatte Richert voll erfüllt. Organisatorisch und pädagogisch waren Internat und Schule in Ordnung. Zu seinen großen Fähigkeiten als Schulleiter und Pädagoge kam als für den Erfolg gerade an dieser Schule wesentlich hinzu, daß Richert als Mitglied der Deutschen Volkspartei Stresemanns seit 1919 und ehemaliges Vorstandsmitglied der 1916 gegründeten Vaterlandspartei mit dem Ruf des Konservativen nach Lichterfelde kam, während Karsen als Sozialdemokrat und mit jüdischer Abstammung auf weitgehende Ablehnung bei Schülern und Eltern stieß. Die Jahre 1920 bis 1923 der Stabila Lichterfelde war die Zeit des Umbruchs von der konservativen Kadettenanstalt zu einer Schule neuen Typs, eine Zeit der Krise, aber schließlich auch der Konsolidierung. Die pädagogische Arbeit an der Stabila ging nun in eine Phase der Kontinuität über. Die Schule verschwindet völlig aus den Zeitungsspalten und Landtagsdebatten. Nachfolger Richerts wurde am 1. Oktober 1923 Oberstudiendirektor Dr. Güssow, der 1927 im aktiven Dienst starb. In seine Amtszeit fällt die feierliche Einweihung eines Ehrenmals zur Erinnerung an 3000 gefallene Kadetten am 22. Mai 1927 in Anwesenheit des Generalfeldmarschalls von Hindenburg (im Bericht darüber blieb unerwähnt, daß er jetzt Präsident der Republik war), des Reichswehrministers Geßler und des Hohenzollernprinzen Eitel Friedrich. Das Ehrenmal trug den Ausspruch Hindenburgs „Das Mark der Ehre ist die Treue". Auf Dr. Güssow folgte ab 1. August 1927 Oberstudiendirektor Walter Vogt als Schulleiter. Auf seine Anregung hin erschienen von Juli 1929 an in etwas unregelmäßiger Reihenfolge die „Blätter der Staatlichen Bildungsanstalt Lichterfelde" bis zur 14. und letzten Ausgabe vom 20. Dezember 1933. Sie sind vollständig in der Staatsbibliothek vorhanden. Vogt gab im ersten Heft einen kurzen Überblick über den Stand der Schule. Sie hatte nun 450 Intematsschüler in zwei Schulabteilungen, dem Realgymnasium mit der Sprachenfolge Französisch, Latein, Englisch und der Oberrealschule mit Französisch und Englisch. Die Schüler, die in den „Blättern" oft als „Stabilisten" bezeichnet werden, waren in vier Heimabteilungen organisiert: 1. Abt. Sexta bis Quarta, 2. Abt. Unter- und Obertertianer, 3. Abt. Unter- und Obersekundaner, 4. Abt. Primaner. Jeder Abteilung waren drei bis vier Lehrer beigegeben, die im Internat 445

wohnten. Den beiden unteren Abteilungen standen außerdem zwei Heimschwestern zur Verfügung, damit die Jüngeren das weibliche Element nicht gänzlich vermissen mußten. Im Dezember des gleichen Jahres wurde dem Ministerialrat und ehemaligen Schulleiter Hans Richert anläßlich der Vollendung seines 60. Lebensjahres eine ganz ungewöhnliche Ehrung zuteil. Durch Erlaß des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Dr. Becker, vom 18. Dezember 1929 wird die Stabila in „Hans-Richert-Schule, Staatliche Bildungsanstalt, Berlin-Lichterfelde" umbenannt. Im übrigen spiegeln die „Blätter" recht lebendig das alltägliche Schulleben. Sie enthalten ausführliche Berichte über die regelmäßig stattfindenden Sportwettkämpfe, auch mit anderen Lichterfelder Schulen. Die Hans-Richert-Schule schnitt dabei und bei Schachwettkämpfen bemerkenswert gut ab, was wohl mit daran lag, daß das Internatsleben den Schülern vielfältige Möglichkeiten bot. Eine große Rolle spielten Wanderungen in die Umgebung Berlins, aber auch mehrtägige Klassenfahrten innerhalb Deutschlands, etwa nach Rügen oder als Skifahrt ins Riesengebrige. Sogar von einer Klassenfahrt nach Frankreich wird berichtet. Die deutschen und französische Schüler legten Kränze auf den Soldatenfriedhöfen der jeweils anderen Nation nieder. Die heimgekehrten Schüler berichteten in den „Blättern" ausführlich über die herzliche Gastfreundschaft der Franzosen. Eine breiten Raum nahmen im Internat die Schülerarbeitsgemeinschaften ein. Es gab einen Stenographenverein, eine VDA-Gruppe (VDA = Verein für das Deutschtum im Ausland), eine Jungfliegergruppe „Günther Plüschow", benannt nach dem damals viel gelesenen Schriftsteller und Flugpionier („Der Flieger von Tsingtau" und „Silberkondor über Feuerland"), der ehemaliger Lichterfelder Kadett war. Die Theatergruppe brachte u. a. Goldinis „Diener zweier Herren" und Molieres „Der eingebildete Kranke" zur Aufführung und von dem heute vergessenen Heimatschriftsteller des Riesengebirges Hans Christoph Kaergel (1889-1946) „Volk ohne Heimat". Schließlich seien aus den „Blättern" einige Einzelheiten genannt, die ein Schlaglicht auf die Zeit der ausgehenden Weimarer Republik werfen. April 1930: Erlaß der Dienstbehörde über Maßnahmen gegen politische Verhetzung. Juli 1930: Erlaß, der vor der andauernden Aussichtslosigkeit der Studienratslaufbahn warnt. Dezember 1930: Warnung vor Teilnahme an Demonstrationen. Mai 1931: Ein Lehrer weist auf die drohende Arbeitslosigkeit für viele Schulabgänger hin. Von 50 Abiturienten des Jahres sind 15 ganz ohne Arbeit, andere schlagen sich als Autodroschkenkutscher, Eisverkäufer oder Zeitungsboten durch. Empfohlen wird dringend, nicht um jeden Preis ein Studium anzustreben, sondern lieber einen Lehrberuf zu ergreifen. Der Geist der Schule läßt sich gerade aus den „Blättern" als national, rechts von der Mitte, aber nicht wie noch zu Anfang als republikfeindlich, also etwa deutsch-national, bezeichnen. Oberstudiendirektor Vogt wurde am 1. Oktober 1931 nach Minden versetzt. Ihm folgte im Amt als letzter Leiter der Hans-Richert-Schule Johannes Dreyer. Er stellte sich in den „Blättern" mit den folgenden Erziehungsmaximen vor: Die Schule soll Männer erziehen „hart, widerstandsfähig, klaren Verstandes, mit unbeirrbarem Rechtssinn und unbezwinglichem Glauben an des Vaterlandes Zukunft". Am 3. April 1933 erscheint das vorletzte Heft, das erste nach Hitlers Regierungsantritt. Kein Artikel „würdigt" die einschneidende politische Veränderung. Lapidar wird erwähnt, daß Herr Hauptmann Roßbach in zwei Schulstunden die Schüler von Quarta bis Prima in die Möglichkeiten des Luftschutzes einführt. Auch wird von einer feierlichen Flaggenhissung am 22. März berichtet, an der Abordnungen der Lichterfelder SA, des Stahlhelms (rechtsstehender Frontkämpferverband) und der Schutzpolizei teilnahmen. Polizei war übrigens nach der schriftlich vorliegenden Mitteilung eines Zeugen schon seit Anfang der 20er Jahre in der Kadettenanstalt 446

einquartiert, da von den vier großen Gebäudekomplexen nur die Blöcke 2 und 3 von der Stabila benötigt wurden. Letzter Kommandeur der Polizei vor 1933 war ein Mann namens Daluege, der unter Hitler eine große und berüchtigte Karriere machen sollte. Wenige Wochen später wurde von den neuen Machthabern die Verlegung der Hans-RichertSchule nach Spandau in das Gebäude der preußischen Hochschule für Leibesübungen am Hohenzollernring Ecke Radelandstraße (heutiges britisches Militärhospital) verfügt. In die ehemalige Kadettenanstalt sollte nach der Räumung durch die Schule vorübergehend die Führerschule des Reichsarbeitsdienstes einziehen. Seit 1934 beherbergte die Kaserne die Leibstandarte Adolf Hitlers. Der Abschied der Stabila aus Lichterfelde wurde am 27. Juli 1933 mit einem Gottesdienst begangen. Der letzte Schultag in den roten Mauern von Lichterfelde war der 28. Juli. Die Schüler versammelten sich im sogenannten Feldmarschallsaal, in dem wieder die 1926 entfernten HohenzoUembilder hingen und der Schrein mit der Uniform Kaiser Wilhelms II. geöffnet war. Die Feier endete mit einem Siegheil auf den Feldmarschall von Hindenburg und den Führer Adolf Hitler sowie dem Gesang des Deutschland- und Horst-Wessel-Liedes. Die Epoche der Staatlichen Bildungsanstalt in Lichterfelde war beendet. Einen wehmütigen Nachruf ohne Siegheil und Horst-Wessel-Lied schrieb der Vorsitzende des Vereins der Ehemaligen, Ernst Wirth, in der letzten Ausgabe der „Blätter". Wirth schließt mit dem Satz: „Erfüllen wir unsere Verpflichtungen im Sinne jenes Preußentums, dessen hervorragendster Ausdruck die Tradition der roten Mauern gewesen ist." Quellen: Bürgerzeitung für Groß-Lichterfelde und Dahlem. Vossische Zeitung. Blätter der Staatlichen Bildungsanstalt Berlin-Lichterfelde. Literatur: Gerd Radde, „Fritz Karsen", Colloquium-Verlag, Berlin 1973. Dieter Margies, „Das höhere Schulwesen zwischen Reform und Restauration", G. Schindele-Verlag, Rheinstetten 1972. Anschrift des Verfassers: Roland Schröter, Brauerstraße 31,1000 Berlin 45

Karl Klingler (1879-1971) und sein Quartett Von Werner Bollert Innerhalb der drei Jahrzehnte seines Bestehens zählte das Klingler-Quartett - in Berlin beheimatet und von dort aus in die Weite wirkend - zweifelsohne zu den absoluten, heute schon als legendär zu betrachtenden Gütezeichen einer Epoche, in der gerade die Kammermusik blühen und gedeihen konnte. Die älteren Musikfreunde erinnern sich wohl noch an jene goldene Ära, in der neben den Klinglers die Buschs, die Roses e tutti quanti an gutbesuchten Abenden ein wahrhaft sachkundiges Publikum um sich scharen konnten. Beinahe mit Neid registriert man die Tatsache, daß z. B. das Klingler-Quartett damals ohne Mühe ein Abonnement über jeweils sechs Konzertveranstaltungen pro Saison auflegen konnte, die nicht allein von den treuen Stammhörern getragen wurden. Demgegenüber sind in unseren Tagen be447

stimmte Wandlungen spürbar: Wenn es in den größeren Städten jetzt Kammermusik-Zyklen gibt, so sind diese in der Regel auf permanenten Wechsel der Interpreten gestellt und stark international orientiert. Karl Klinglers Straßburger Elternhaus war von Musik erfüllt. Sein Vater Theodor, Bratscher im dortigen Theaterorchester und außerdem Lehrer am Konservatorium, übernahm bei dem Sohn zwar den ersten Unterricht, wollte ihn jedoch nicht Musiker werden lassen (ihm wäre ein Studium der Mathematik willkommen gewesen). Gewissermaßen hinter dem Rücken des Vaters gelang es aber dem ebenso blutjungen wie hochtalentierten Geiger, ein Stipendium an der Berliner Musikhochschule zu erhalten; 1897 kam Karl in die ehemalige Reichshauptstadt und zu dem Mentor, den er längst verehrte und der zum Leitstern seines Lebens überhaupt werden sollte: Joseph Joachim. Daß dieses nicht von ungefähr geschah, machte bereits damals der Stipendiat deutlich, als er sagte: „Ich hatte die Wahl, zu dem großen Geiger Ysaye oder dem großen Musiker Joachim als Schüler zu gehen - ich wählte Joachim." Hier hatten sich, aus einer ähnlichen Kunstanschauumg heraus, Alter und Jugend zusammengefunden; und es ist sicher, daß Joachim schon frühzeitig den Scholaren zum würdigen Nachfolger ausersehen hat. Bereits 1899 sprach man Klingler den Mendelssohn-Preis zu. Im April 1901 trat er eine Konzertmeisterstelle beim Berliner Philharmonischen Orchester an, das der Leitung des von ihm bewunderten Dirigenten Arthur Nikisch unterstand. Trotzdem hielt es ihn dort bloß bis zum Dezember 1902; er wurde es bald müde, immer die gleichen Werke spielen zu müssen und in eine Abhängigkeit zu geraten, die ihm auf die Dauer nicht behagte. Statt dessen strebte er danach, im Musikbereich Selbständigkeit zu entwickeln und eigene Verantwortung zu tragen. Als künstlerisches Ideal schwebte ihm - wie zuvor schon seinem Lehrmeister Joachim - die Gattung des Streichquartetts vor, dessen eigentliche Inhalte ihm keineswegs ausgeschöpft erschienen. Hierfür fand er auch die rechten Partner: als Bratscher seinen älteren, allzeit getreuen Bruder Fridolin (1871-1961), als 2. Violinisten den Russen Joseph Rywkind (Schüler Joachims) sowie als Cellisten den Engländer Arthur Williams (Schüler Robert Hausmanns). Etliche Jahre hindurch musizierte er mit ihnen, bis er sich schließlich in der Saison 1905/06 mit regelmäßigen Quartettabenden an die Öffentlichkeit wagte. In dieser Zusammensetzung konzertierten die „Klinglers" bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wie war es nun um die anderen musikalischen Aktivitäten Klinglers bestellt? Als Violinsolist hatte er sich 1901/02 bei den Philharmonikern profilieren können. Doch so sehr er die Bachschen Geigenwerke und insbesondere die Konzerte von Beethoven und Brahms liebte, die solistischen Aufgaben wollte er dennoch nicht als primäres Wirkungsfeld betrachten. Jedenfalls wurde bald offenbar, daß er die zahlreichen Chancen, welche die fast überquellende Berliner Konzertszene zwischen 1910 und 1930 bot, nur in geringem Maße genutzt hat. So ganz vom Geiste der Kammermusik erfüllt, durfte er der Solistenlaufbahn getrost entsagen (im Alter jedoch hat er solchen Verzicht bisweilen gesprächsweise bedauert). Kompositionsunterricht hatte Klingler bei Max Bruch (der vornehmlich Formenlehre betrieb) und bei Robert Kahn, mit dem sich eine lebenslängliche Freundschaft anbahnte. Der schon damals eifrig Komponierende überlegte ernsthaft, ob er dies zum Hauptberuf machen sollte. Hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen entschied er sich dann doch für das HochschulLehramt, das er seit 1904 innehatte, und für die immer verzweigtere Tätigkeit als ausübender Musiker. - In der bis 1936 geführten Geigenklasse bereitete ihm die konstante Verbindung mit der Jugend viel Freude; und auch seine musiktheoretischen Interessen kamen während dieser Zeit nicht zu kurz (die Abhandlung „Über die Grundlagen des Violinspiels" erschien 1921). Bei all solcher ihm gemäßen Beschäftigung hatte er noch genug Freiraum, um mit dem Quartett sämtliche Berliner Termine wahrnehmen und zudem die Konzertreisen nach auswärts wahr448

nehmen zu können. Wegen des kriegsbedingten Weggangs von J. Rywkind und A. Williams waren im Quartett-Team personelle Umdispositionen notwendig geworden. Nachdem vorerst Alphonse Brun und Hugo Dechert die Lücke hatten kurzfristig schließen können, standen von 1915/16 an Richard Heber (2. Violine) und Max Baldner (Violoncello) ständig zur Verfügung. Daß gegen Ende des Krieges auch die „Klinglers" in bestimmte Dienstverpflichtungen Konzerte im Rahmen der Truppenbetreuung sowie in Industriewerken bzw. Fabrikationsstätten - einbezogen wurden, soll nicht unerwähnt bleiben. Hier ist der rechte Ort, einige Worte über die Programmgestaltung des Klingler-Quartetts zu sagen. In ihrem Kern beruhte sie auf dem klassisch-romantischen Repertoire, wie es vom Joachim-Quartett überkommen und vorgeprägt war. Beethoven und Brahms standen im Zentrum; intensiv widmete man sich ebenfalls den Werken Haydns und Mozarts. Neben Schubert, Schumann und Mendelssohn wurden Spohr und Cherubini, Dvorak und Tschaikowsky nicht vernachlässigt. Hin und wieder gab es einen reinen Mozart-Abend, weit häufiger freilich reine Brahms- und reine Beethoven-Programme; des öfteren wurden, zuletzt 1933 und 1934, an fünf Abenden sämtliche Beethoven-Quartette zyklisch vorgetragen. Innerhalb der Programmfolge wandeln sich bestimmte Grundstrukturen zwar nicht, sie werden allerdings mit gutem Gelingen immer wieder aufgelockert und muten deswegen niemals schematisch an. Dank zusätzlicher Gast-Instrumentalisten wird es für Klingler möglich, die Normalbesetzung zu erweitern und Schöpfungen wie etwa die Mozartschen Streichquintette, die Sextette von Brahms, Beethovens Septett oder Schuberts Oktett zur Darstellung zu bringen. Mitunter wird auch die geliebte Klarinette mit herangezogen, so daß beispielsweise die Quintette von Mozart und Brahms realisiert werden können. Noch im traditionellen Programmaufbau lassen die Klingler-Leute sich bemerkenswerte Dinge einfallen: ein Wiesbadener Zyklus von fünf Abenden (April 1913) beginnt jeweils mit einem Haydn-Quartett und schließt ab mit einem MozartQuintett, während in die Mitte eines der Beethovenschen Streichtrios postiert wird. Werke wie Verdis e-Moll-Quartett, Brückners Streichquintett oder Hugo Wolfs Italienische Serenade tauchen da relativ selten auf; im Laufe der Zeit hat sich Klingler in zunehmendem Maße mit der Kammermusik Regers angefreundet, die er für seine Epoche als besonders wichtig erachtete. Mit der damaligen „Avantgarde" hingegen mochte er nicht mehr mitgehen, ja er lehnte sie prinzipiell ab. Trotzdem sei festgestellt, daß er seinen Hörern sowohl den frühen Schönberg (Sextett op. 4 „Verklärte Nacht", Quartett op. 7) als auch Hindemith (Quartett op. 16) präsentiert und speziell den zeitgenössischen Traditionalisten ein ansehnliches Forum bereitet hat. Die entsprechenden Komponisten seien - ohne hier Vollständigkeit anzustreben - in alphabetischer Folge genannt: v. Baussnern, Wilhelm Berger, Gernsheim, Kahn, Kaminski, Wilhelm Kempff, Pfitzner, Reznicek, Sgambati, James Simon, Taubmann, Felix Woyrsch - wobei es sich für die Werke von Gernsheim (A-Dur, op. 83), Kahn (a-Moll, op. 60), Kempff (d-Moll), Reznicek (Nr. 2, cis-Moll), Simon und Taubmann (e-Moll, op. 33) um Uraufführungen handelte. Beispielhaft haben die Abende des Klingler-Quartetts etwas entwickelt, was sich nach 1945 in den deutschen Konzertsälen kaum mehr einstellen wollte: die Schaffung einer echten Kammermusik-„Gemeinde", die, über ein Zufallspublikum erhaben, beim Hören Begeisterungsfähigkeit wie Sachverstand (anhand von mitgebrachten Taschenpartituren!) walten ließ. In solchem Konsens jedenfalls lag ein Hauptgewinn dieser Konzerte. - „Wo in Berlin Kammermusik gemacht wurde", meinte Klingler selbst, „da war ich auch" - und so erlebte man ihn nicht nur auf dem Podium der Singakademie, sondern auch private, etwa im Hause Mendelssohn. Wer an den Konzerten in Klinglers schönem Charlottenburger Heim (seit 1917) jemals teilgenommen hat, der wird diese musikgesegnete Atmosphäre im Gedächtnis bewahren. 449

„Klingler als Komponist": dieses Kapitel kann bloß flüchtig gestreift werden. Hier seien wenigstens ein paar Schöpfungen namhaft gemacht, die mehrmals zur Aufführung gelangten: Streichquartett f-Moll (Uraufführung 1903), Bratschensonate d-Moll (1909), Streichtrio C-Dur, Streichquartett fis-Moll (1913), Klavierquintett Es-Dur (1929), Variationen A-Dur für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Hörn, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabaß (1938). Für das Violinkonzert in E-Dur fand die Premiere am 4. Januar 1908 statt (Philharmonie Berlin, Dirigent Oskar Fried). Nach Max Baldners Ausscheiden aus dem Quartett (1926) hatte vertretungsweise Francesco von Mendelssohn den Cellopart inne. 1929 stieß dann Ernst Silberstein zum Ensemble, der an der Hochschule von Klingler bereits für solch spezielle Aufgabe herangebildet worden war. So konnte nun der Primarius anscheinend ruhig in eine Zukunft blicken, die sich danach aber rasch verdunkelte. Denn jene einschneidenden Gesetze und Verordnungen, die nach dem „Umbruch" von 1933 in die Tat umgesetzt wurden, mußten gerade Silberstein, das jüdische Mitglied, treffen. Ihn zu entlassen und statt dessen einen „arischen" Cellisten neu ins Quartett zu nehmen, wurde Klingler im Herbst 1934 nahegelegt. Dieser war jedoch nicht willens, Silberstein preiszugeben. Im festen Glauben, gegen die politischen Mächte etwas erreichen zu können, wandte er sich Ende November 1934 brieflich an das Propagandaministerium sowie an Hitler selbst, um diesen Fall wohlbegründet darzulegen und um eingehende Überprüfung zu ersuchen. Ihm wurde nur eine höflich formulierte Ablehnung zuteil. Klingler, auf seinem Standpunkt beharrend, löste daraufhin das Quartett auf, das in dieser Zusammensetzung letztmalig im März 1936 in der Schweiz (St. Moritz, Zürich) konzertierte. - Im gleichen Zeitraum hatte er an der Berliner Hochschule schlimme Stunden zu überstehen; dort protestierte er mit Entschiedenheit (jedoch erfolglos) gegen die Entferung der Joseph-JoachimBüste, was seine Verabschiedung aus dem Lehramt zur unmittelbaren Folge hatte. - Diese beiden Schicksalsschläge konnte Klingler zunächst kaum verkraften; und erst allmählich gelang es ihm, sich wieder zu fangen und auf die zweite Lebensphase einzupendeln, die dann für ihn gänzlich andere Werte bereit hielt. Rückschauend zog er in einem Freundesbrief hierzu das Resümee: „Die Zeiten haben sich so gewandelt, daß von den alten Idealen kaum noch etwas übrig geblieben und daß kaum Verständnis dafür vorhanden ist. Da bleibt eigentlich nichts anderes, als die Musik, wie man sie sich wünscht, für sich zu treiben und dem öffentlichen Musikbetrieb zu seinem Glück fern zu bleiben. So wird es mir aller Voraussicht nach für den Rest meiner Tage auch beschieden sein. Aber ich habe wenigstens einen Trost, keine Konzessionen gemacht zu haben, wie so manche, die ihrer Erziehung und Veranlagung nach gar keine Veranlassung dazu hatten .. f Klingler, seit jeher ein introvertierter Mensch, zog sich nun noch mehr auf sich selbst zurück, auf den engeren Kreis seiner Familie und der wenigen Freunde, die ihm die Treue hielten oder während der letzten Kriegsmonate nahe waren wie etwa Max Planck, mit dem er wissenschaftliche Probleme erörtern durfte. Ja, er kehrte gern wieder zur Mathematik, zur Geometrie zurück, die ihn seit Jugendtagen begleitet hatten und ihm jetzt erneut hilfreich wurden. Gerade die geistige Beschäftigung war es, die ihn wahrhaft beanspruchte, ihm tiefe Befriedigung verschaffte. „Laßt mich mit mir in Ruhe!" - eine Selbstbiographie wollte er keinesfalls schreiben; hingegen war er bis ins hohe Alter hinein stets bereit, über Grundfragen der Musik nachzusinnen und seine Gedanken auch schriftlich zu fixieren. Einiges hiervon hat seine Schülerin, die Geigerin Agnes Ritter, im Jahre 1979 ediert: „Vom Rhythmus", „Vom musikalischen Einfall und seiner Darstellung", „Dies und Das", Anmerkungen zu Pierre Rodes Capricen für Violine allein. Neben dem Komponieren, das er nie ganz aufgab, kam nun auch seine zeichnerische Begabung wiederum eindrucksvoll zum Zuge. 450

Als 1943 nach einem Luftangriff das Berliner Haus unbewohnbar geworden war, ging die Familie Klingler auf ihren Gutsbesitz in der Altmark; und bald nach Kriegsende wurde ein bescheidener Neuanfang in Hannover gemacht, wo man sich im Schüler- und Bekanntenkreis regelmäßig zum Streichquartett zusammenfand (1946-1948). Im öffentlichen Musikleben wieder Fuß zu fassen, gelang Klingler aber nicht mehr. Als die Familie 1949 endgültig nach München übersiedelte, begannen für ihn nochmals gute, von Musik durchpulste Jahre. In den von seinen Angehörigen zusammengestellten „Erinnerungen" sind die folgenden Sätze bemerkenswert: „Sein Dasein erlebte er jetzt immer gelassener und pflegte oft zu sagen, daß für ihn jeder Tag Geburtstag' sei. Er lebte gerne. Täglich spielte er seine zwei Sonaten mit seiner Frau; und er musizierte noch bis ins vorletzte Lebensjahr." Hochbetagt schied er, ohne ernsthaft krank gewesen zu sein, mit 91 Jahren aus dieser Welt, die ihm so viel inneren Reichtum beschert hatte. Über die Intensität, die Resonanz der Künglerschen Kunstausübung ist oftmals nachgedacht worden; er selbst hat es so formuliert: „Ich weiß, was ich Besonderes hatte: daß ich das Geheimnisvolle bringen konnte, die wahre Innerlichkeit." Wodurch vermochte das Spiel Klinglers und seines Quartetts Maßstäbe zu setzen? Zitieren wir hierzu das Urteil eines unbestechlichen Ohrenzeugen jener Epoche, des Münchener Kritikers Alexander Berrsche. Bereits 1920 hatte dieser geschrieben: „Wer einen letzten Beethoven oder einen Brahms von Klingler hört, ist immer wieder erschüttert von der rhythmischen Plastik, der inneren Glut des Ausdrucks und dem sozusagen perspektivischen Weitblick dieses Musizierens. Bei keinem Kammermusiker ist das Gefühl für die organische Struktur Beethovens so stark und so sicher entwickelt wie bei ihm. Er gibt jedem Thema gleich den durch keine Vortragsbezeichnungen ausdrückbaren Grundcharakter, der die weiteren Schicksale dieses Themas nicht als Überraschungen und Neuigkeiten, sondern als determinierte Folgen verständlich macht. So erklärt sich auch die berechtigte Freiheit, mit der er sich der Relativität aller dynamischen Zeichen bewußt bleibt. Das Beethovens Themen keine Einfälle, sondern Teile eines einzigen großen Einfalls sind, spürt gerade bei Klingler auch der stumpfe Hörer. Denn Klingler gehört zu den wenigen, die diese Erkenntnis nicht nur intellektuell, sondern instinktmäßig erfaßt haben." Und noch im Jahre 1934 heißt es bei Berrsche: „Wenn Klingler mit seinen Leuten Haydn, Brahms und letzten Beethoven spielt, ist alles wieder da, was man einmal echte deutsche Tradition und höchste deutsche Vortragskultur genannt hat . . . Von diesen Künstlern Beethovens op. 127 gehört, in ihrer Interpretation das verklärte Abklingen der Außensätze und die überirdische Botschaft des herrlichsten aller Adagios erlebt zu haben, ist einer der Eindrücke, die über das Musikalische hinaus vom ganzen Menschen Besitz ergreifen." Wenn auch die Zahl derjenigen Musikfreunde, welche die „Klinglers" noch gehört haben, sich mehr und mehr verringert, so ist doch dafür gesorgt, daß das Andenken an dieses Ensemble lebendig bleiben wird. Und zwar einmal dank der Karl-Klingler-Stiftung, die, von seiner Tochter Marianne errichtet, durch einen internationalen Wettbewerb der Förderung junger Streichquartette dienen will. Und zum zweiten dank der Schallplatten-Aufzeichnungen, die, schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg einsetzend, sich über ein Vierteljahrhundert erstreckten (daß die realisierten Einspielungen sich in Grenzen hielten, liegt wohl vorwiegend an der Reserviertheit des Primarius gegenüber den aufnahmetechnischen Bedingungen von ehedem). Was auch immer demnächst für die Nachwelt dokumentarisch wieder greifbar wird, man darf aufjeden Fall froh sein, das zu besitzen, was nahezu komplett aufs neue vorgelegt werden kann. Anschrift des Verfassers: Dr. Werner Bollert, Riedelstraße 2 a, 8230 Bad Reichenhall

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Aus dem Mitgliederkreis Mitgliederversammlung am 12. Juni 1986 Unter der zügigen Leitung des Vorsitzenden, Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. Hermann Oxfort, wurde die turnusgemäße ordentliche Mitgliederversammlung am 12. Juni 1986 im Pommernsaal des Rathauses Charlottenburg abgewickelt. Aus der Tagesordnung war der Punkt „Satzungsänderung" zurückgezogen worden, da die hierfür im Zusammenhang mit dem Gedenktafel-Programm ursprünglich für erforderlich gehaltene Notwendigkeit nach Prüfung der Satzung durch das Finanzamt nicht mehr besteht. Nach Erledigung der Regularien ehrte der Verein seine im abgelaufenen Jahr verstorbenen Mitglieder. Ein besonders herzlicher Dank galt dem Betreuer der Bibliothek, Hans Schiller, am selben Tage erst aus dem Krankenhaus entlassen. In seinen Dank schloß der Vorsitzende auch alle anderen ehrenamtlich tätigen Mitglieder und die Autoren ein. Die Versammlung nahm den Tätigkeitsbericht, den Kassenbericht und den Voranschlag 1986 entgegen; diese Unterlagen standen den Mitgliedern schriftlich zur Verfügung. Die Beiträge werden nicht erhöht, freiwillige Spenden sind aber erwünscht. Aus den Berichten der Kassenprüfer H.-D. Degenhardt und K.-H. Kretschmer sowie der Bibliotheksprüfer Frau Dr. E. Crantz und H. Schramm ergaben sich keinerlei Beanstandungen. Gegenstand der Aussprache waren der Beitrag des Vereins zur 750-Jahr-Feier Berlins, das GedenktafelProgramm sowie ein angestrebter neuer Standort für die Bibliothek. Dr. J. Wetzel als Leiter des Ausschusses „750 Jahre Berlin" äußerte sich zu der ursprünglichen Planung, die eine Ausstellung als Selbstdarstellung des Vereins (jetzt noch in Form eines Beitrags in der zentralen Berlin-Ausstellung), ein Faltblatt und Führungen im Stadtzentrum vorsah. Diese Gedanken werden weiter verfolgt. Die Resonanz auf den Vorschlag, einen „jour fixe" einzurichten, war recht bescheiden, an der Anregung soll indes festgehalten werden. Stadtrat a. D. R. Schröter äußerte sich zum Gedenktafel-Programm, zum Kassenbericht und zum Tätigkeitsbericht. Der von H. Grunwald beantragten Entlastung des Vorstandes wurde bei Stimmenthaltung eines neuen Mitglieds sowie bei Enthaltung der Vorstandsmitglieder ohne Gegenstimmen entsprochen. Die Wiederwahl der bewährten Mitglieder Degenhardt und Kretschmer zu Kassenprüfern erfolgte einmütig. Für das nicht mehr als Bibliotheksprüfer kandidierende Mitglied H. Schramm wurde M. Mende vorgeschlagen. Bei einer Enthaltung wurde der Wahl von Frau Dr. Crantz und M. Mende stattgegeben. Unter „Verschiedenes" wurde über zwei Anträge diskutiert, die jedoch beide zurückgestellt wurden, da sie nicht fristgerecht eingereicht bzw. nicht in der Tagesordnung aufgeführt worden waren. Der Bitte K. H. Graves, die Mitgliederversammlungen vom späten Termin Mitte Juni auf einen früheren Zeitpunkt vorzuverlegen, soll entsprochen werden. Nach gut einstündiger Dauer konnte der Vorsitzende, RA und Notar H. Oxfort, die Versammlung mit einem Dank an die Anwesenden schließen. H. G. Schultze-Bemdt

* Frau Dr. Ursula Besser, die langjährige Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des Abgeordnetenhauses von Berlin und bildungspolitische Sprecherin der CDU, Mitglied des Kuratoriums der Technischen Universität Berlin von 1971 bis 1985, ist von der TU Berlin mit der Würde einer Ehrensenatorin ausgezeichnet worden. In Anerkennung ihrer langjährigen Tätigkeit als Mitglied des Kuratoriums der Freien Universität Berlin wurde sie mit der FU-Medaille in Silber geehrt. Professor Dr. Dr. med. Joachim Gabka wurde anläßlich des 25jährigen Bestehens seiner Landesärztlichen Dienststelle für Gesichtsspaltträger in Berlin in Würdigung seiner Verdienste um die Behandlung und Betreuung von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten und Einführung einer symptomatischen Prophylaxe zur Verhinderung dieser Mißbildungen mit der Hans-Nachtsheim-Medaille in Gold sowie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. 452

Professor Dr. Dr. Heinz Goerke, ehemaliger Ärztlicher Direktor des Klinikums Großhadern in München, ist mit dem Bayerischen Verdienstorden ausgezeichnet worden. Professor e.h. Dr. Ernst Gottfried Lowenthal wurde von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen der Dr .-Leopold-Lucas-Preis verliehen, der alljährlich an Persönlichkeiten vergeben wird, die sich um die Verbreitung des Toleranzgedankens durch hervorragende Leistungen in Theologie, Geistesgeschichte und Philosophie verdient gemacht haben. Professor Lowenthal ist mit bedeutenden Schriften vor allem zur Geschichte des Judentums hervorgetreten und hat eine Privatsammlung zur deutsch-jüdischen Historie der vergangenen 100 Jahre aufgebaut. Unser Glückwunsch gilt allen in solch hervorragender Weise ausgezeichneten Persönlichkeiten. SchB.

* Auf der 32. Jahreshauptversammlung des Bundes der Berliner und Freunde Berlins e.V. am 9./10. Mai 1986 im Prälaten Schöneberg wurde der langjährige Vorsitzende des Kreisverbandes Aachen und des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, unser Mitglied Vizepräsident Heinz-Constantin Last, mit überwältigender Mehrheit zum neuen Präsidenten des BdB gewählt. Für seine verantwortungsvolle Tätigkeit an der Spitze von 12 Landesverbänden und 107 Kreisverbänden gelten ihm gute Wünsche. Unser Mitglied Emil Bubeck, Vizepräsident des BdB, hat sich nach 30jähriger Tätigkeit für den Bund der Berliner und Freunde Berlins und für das Hilfswerk Berlin von seinen Funktionen als Vizepräsident und als Referent für Kinder- und Altenhilfe zurückgezogen. Für sein aufopferungsvolles Wirken gebührt ihm herzlicher Dank. SchB.

Nachrichten Friedrichwerdersche Kirche als Schinkel-Museum Der von Karl Friedrich Schinkel am Werderschen Markt bis 1830 geschaffene erste neogotische Kirchenbau in Berlin, die Friedrichwerdersche Kirche, wird seit 1981 wieder aufgebaut. Nachdem sein Schauspielhaus am Gendarmenmarkt nach der Wiederherstellung als Konzertgebäude in Betrieb genommen wurde, soll jetzt die Friedrichwerdersche Kirche Standort eines Schinkel-Museums werden. SchB.

Erste Zweigstellen für das Märkische Museum In einem nach historischen Vorbildern errichteten Gebäudekomplex zwischen den Gaststätten „Paddenwirt" und „Zur Rippe" im Nikolai-Viertel hat das Märkische Museum kürzlich das Berliner Handwerksmuseum als seine erste Zweigstelle eröffnet. Berliner Gewerke (Tischler, Bäcker, Schuhmacher und Tuchmacher) zeigen hier einen Überbück über die Entwicklung des Handwerks von der Gründung der Zünfte bis zum Entstehen von Manufakturen und Industrie. Eine zweite Filiale des Märkischen Museums soll im November 1986 in der Hosemannstraße am Prenzlauer Berg der Öffentlichkeit übergeben werden. Ihr Gegenstand sind die Kultur und Lebensweise des Berliner Proletariats um 1900. Nach Auskunft von Museumsdirektor Herbert Hampe werden weitere Zweigstellen folgen. Das Stammhaus des Märkischen Museums am Köllnischen Park wurde im Zweiten Weltkrieg zu vier Fünfteln zerstört, ein Fünftel der Bestände ging verloren. Als erstes Berliner Museum wurde es am 12. Juli 1946 wiedereröffnet. Aus den damals fünfzehn Ausstellungsräumen sind inzwischen mehr als 40 geworden. Das Märkische Museum ist die größte regionale Sammlung im Zuständigkeitsbereich der DDR, es zählt jährlich mehr als hunderttausend Besucher. SchB.

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Buchbesprechungen Alt-Berliner Humor. Anekdoten und Karikaturen. Herausgegeben von Otto Drude, insel taschenbuch 897. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1986, broschiert 82 Seiten, 10 DM. Karl-Heinz Kerber: Berühmt und unverblümt. Berliner Prominenz im Spiegel der heiteren Anekdote. Herderbücherei Band 1234. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1985, broschiert, 128 Seiten, 7,90 DM. Anekdoten aus Berlin. 111 Anekdoten von A bis Zet. Gesammelt und niedergeschrieben von Richard Carstensen. Husum-Taschenbuch. Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 1983, broschiert, 96 Seiten, 8,80 DM. Denkste! Anekdoten und Witze aus dem alten und neuen Berlin, gesammelt und erschienen im RembrandtVerlag, Berlin-West 1981, Leinen, 134 Seiten, 18,80 DM. Der Berliner Humor oder was man gemeinhin dafür hält, ist offensichtlich so unausschöpflich, daß immer wieder neue Bände auf den Büchermarkt kommen, von denen dies hier nur eine kleine Auswahl ist. Dem Band „Alt-Berliner Humor" ist ein einfühlsames kurzes Nachwort von Otto Drude angehängt worden. Die Abbildungen folgen der Ausgabe „Alt-Berliner Humor um 1830" aus dem Gustav Kiepenhauer Verlag, Leipzig 1919 (die meisten stammen von B. Dörbeck), nur hätte die Zuordnung zu den Künstlern nicht verschwiegen werden sollen. Es ist dies wohl der kürzeste Beitrag zum Thema Berliner Humor, so gediegen wie insel taschenbücher sind. Einige der Anekdoten aus diesem it findet man auch in dem Band „Berühmt und unverblümt" der Herderbücherei, leider ohne Quellenangaben. Die „heiteren Anekdoten" sind nach Berufsgruppen „sortiert", sofem „Könige" auch ein Beruf ist. „Anekdoten aus Berlin" ist ein ehrlicher Titel, der Sammlung von R. Carstensen aus dem Hause Husum kann man eine gute Auswahl und ein buntes Gemisch bestätigen. Bei den Anekdoten handelt es sich nicht um Standard wäre, selbst wenn die Madame Dutitre natürlich nicht fehlen darf. Schon das Umschlagbild Johann Erdmann Hummel „Schachpartie im Palais Voss" (1845) - fällt aus dem hier sonst üblichen Rahmen. Im Vorwort heißt es: „Berlin ist das Abenteuer Bundesrepublik und das Bewußtsein eines zerrissenen Deutschlands mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl, mit dem täglichen Blick auf das Menetekel der totalitären Zwangsherrschaft dahinter,... auf die Menschen jenseits des Brandenburger Tors, die gleichermaßen Berliner sind." Und weiter: „Berlin, das ist Inselschicksal und Sonderstatus,... Arbeitsstätte pflichtbewußter Werkschaffender und Geisterstadt von Berufschaoten mit Krakeelmachern und Gewaltanarchisten,... Verteufelung der Staatsautorität mit der Rückendeckung der Freiheitsordnung des Rechtsstaates." „Denkste!" aus dem Rembrandt-Verlag wartet anstelle einer Einleitung mit zielsicher gewählten Zitaten auf, so etwa von Max Ring, Berliner Leben (1882): Das elfte Gebot des Berliners lautet: „Laß dir nicht verblüffen", und sein Wahlspruch heißt: „nil admirari". ... „Selbst der Papst", sagt Rahel Varnhagen einmal, wahr wie geistreich, „würde in Berlin ruppig." Diese Sammlung scheut auch vor Witzen aus Berlin nicht zurück, denen zum Teil Playboy-Reife bescheinigt werden kann. SchB. Berlin - Bauwerke der Neugotik. Fotografiert von Karl-Ludwig Lange. Texte von Peter Bloch und Richard Schneider. Herausgegeben von Richard Schneider. 120 Seiten, 105 Fotos im Duoton, Großformat 25 x 32 cm, geb. mit Schutzumschlag, 68 DM. Die Aussage: „In frühzeitlichen Epochen drängt sich der Stil dem Künstler auf; heute ist es die Aufgabe des Künstlers, den Stil wiederzufinden" des französischen Architekten und Kunsthistorikers Viollet-le-Duc (1814-1879) mag auch für die neue, also nicht kopierte Gotik gelten, die vom „Eisenacher Regulativ für den evangelischen Kirchenbau" von 1861 bis zu einem Erlaß der Erzdiözese Köln aus dem Jahre 1912 reichte, den gotischen Stil bei neuen Kirchen zu bevorzugen. In dieser Stilart sind dann in der Wilhelminischen Zeit auch alle möglichen profanen Gebäude bis hin zu Wohnhäusern gebaut worden. „Zur kunsthistorischen Neubewertung der Neugotik, deren Rehabilitierung erst vor einigen Jahren begonnen hat, will dieses Buch am Beispiel Berlin einen Beitrag leisten" (Richard Schneider). Die große schöpferische Leistung der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts war das öffentliche Denkmal. Auf die erste Phase der Neugotik seit 1760 folgt seit 1810 eine zweite, bis etwa 1830 dauernde Phase mit dem jungen Schinkel als Repräsentanten. Eine dritte Phase zeigt in den katholischen Provinzen Preußens antipreußische Aspekte. Gegen Ende des Jahrhunderts wird in einer vierten Phase die heimische märkische Backsteingotik entdeckt. Friedrich der Große ist der Schöpfer des frühesten neugotischen Baues auf deutschem Boden: Nach seinen Skizzen entstand 1755 in Potsdam das Nauener Tor. Spätestens mit den Freiheitskriegen wird Neugotik 454

zu einem Zeugnis vaterländischer Gesinnung, ausgeprägt im altdeutsch-patriotischen Denkmalstil. In besonderer Weise verbindet sich die frühe Neugotik aber mit den Berliner Eisengüssen. Schinkels Anteil an der Entwicklung der Gotik-Rezeption ist bekannt, seine Kirchenbauten in Berlin treten heute noch den Beweis dafür an. Zentraler Motor der neugotischen Bewegung war neben dem Straßburger Münster der unvollendete Kölner Dom, der ebenso als Denkmalskirche verstanden wurde wie Schinkels Projekt des Befreiungsdoms in Berlin von 1814. Als man entdeckte, daß der Kölner Dom der Kathedrale von Amiens verpflichtet ist (1842), wurde der Gotik die altdeutsch-patriotische Motivation zugunsten mittelalterlich frommer Bedeutungsbereiche eingeschränkt. In einer weiteren Entwicklungslinie prägte sich der englische „Cottage"-Stil aus, den Schinkel 1826 auf einer Englandreise kennengelernt hatte und dem er im Schloß Babelsberg als Hauptwerk Gestalt verlieh. Den Abschluß bildete die märkische Backsteingotik, mit der zumal in Berlin die eigene Geschichte aktualisiert „und darüber hinaus eine Identifikationsmöglichkeit mit bürgerlichem Selbstbewußtsein der Hansestädte und Stolz auf deutsche Tüchtigkeit angeboten (wurde)" (Peter Bloch). Die Rückbesinnung auf die heimische Tradition löste die Neugotik aus ihrer konfessionellen Isolierung und führte zu einer ungemein reichen, letzten Blüte. Ein interessantes Beispiel hierfür befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei-Gesellschaft Tivoli, der heutigen Betriebsstätte Kreuzberg der Schultheiss-Brauerei AG. Hier finden sich die gotischen Bauformen am ausgeprägtesten. Dies betrifft den 1901 an der Methfesselstraße errichteten Brauereiausschank, eine trutzige „Bierburg", die heute das Zentrallaboratorium der Brauerei beherbergt. Drei Jahrzehnte zuvor war das in den Bauakten als „Gotischer Saal" bezeichnete Gebäude fertiggestellt, das zunächst als Ausschanklokal der Tivoli-Brauerei diente. Das erhalten gebliebene aufwendige Sterngewölbe des Innenraums, seiner Sakralarchitektur wegen „die Kapelle" genannt, vermittelt einen Eindruck vom damaligen Stilwillen. Heute wird der „gotische Saal" als Malerwerkstatt benutzt. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde Berlin zur kirchenreichsten Stadt Europas, weit vor Rom. Dabei wurden die evangelischen Gotteshäuser, von denen sich rund 40 im Spitzenbogenstil im Westteil unserer Stadt erhalten haben, meist von Kaiserin Auguste Viktoria gefördert, der „Kirchen-Guste". Daß bei den katholischen Kirchen die Fassaden häufig in die Häuserfront eingebunden sind und die „sakrale Autonomie" dadurch reduziert wird, soll auf eine Verordnung eben jener frommen Kaiserin zurückgehen. Der Gegenbeweis wird aber im Buch selbst angetreten, wo den gleichfalls „fassadenbündigen" evangelischen Gotteshäusern, der Taborkirche in Kreuzberg und der Friedenskirche im Wedding, die katholische St.-Bonifatius-Kirche in Kreuzberg gegenübergestellt wird. Bis in unser Jahrhundert reicht die Neugotik, jetzt in der Verbindung mit der Moderne, etwa dem Expressionismus. Die Neugotik als „eiskalt" oder „Gotik ohne Gott" abzutun, heißt vorschnell gedacht und argumentiert. „Aber auch diese Neugotik war letztlich ein sekundärer Stil, als Fassadenkunst bezogen auf einen architektonischen und funktionellen Kern und dessen Qualität. Märkische Sekundärgotik als Appell an preußische Sekundärtugenden, und dies am Ende einer preußischen Geschichte, das ist eine Konstellation von eigenartiger Suggestion. Hier stellen sich neue Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt." Mit diesem Wort schließt Peter Bloch, Direktor der Skulpturengalerie, seine Betrachtung. Seine klugen Kommentare zeichnen sich durch eine gut lesbare Sprache aus, was auch Dr. Richard Schneider, Redakteur beim SFB, für seinen Textteil bescheinigt werden kann. In Verbindung mit den vorzüglichen und hier durchaus angemessenen Schwarzweiß-Fotos runden sie den Band zu einem überaus erfreulichen Dokument ab. H. G. Schultze-Bemdl Helmut Ernst, Heinrich Stümbke: Wo sie ruhen... - kleiner Führer zu den Grabstätten bekannter Berliner in West und Ost. Berlin: Stapp Verlag 1986. 301 Seiten, brosch., 19,80 DM. Lang erwartet von den an Berliner Friedhöfen interessierten Lesern erschien im Stapp Verlag das Grabstättenverzeichnis „Wo sie ruhen...", Nachfolger des berühmt - und rar - gewordenen Werkes von Willi Wohlberedt „Verzeichnis der Grabstätten bekannter und berühmter Persönlichkeiten in Groß-Berlin und Potsdam mit Umgebung" (Teil I-IV, 1932-1953). Die freudige Erwartung an die Neuerscheinung wurde leider enttäuscht. Der in diesem Bereich kenntnisreichere Berliner fand viele, viele Fehler und Unstimmigkeiten, Fehlendes gar in Menge. Der interessierte Besucher der Friedhöfe suchte vergeblich Gräber, sogar ganze Begräbnisplätze, am falschen Ort oder fand Grabstätten, weil längst eingeebnet, gar nicht. Ein später dem Büchlein beigefügter Zettel mit Errata versucht nur unzureichend, das Gröbste wiedergutzumachen. Wenn die Verfasser eingangs vorausschicken, daß sie alles nach „bestem Wissen" erarbeitet hätten, so sollte es der Diskussion der Leser überlassen sein, zu entscheiden, ob dieses Wissen für eine Publikation ausreichte. So ein Buch kann nicht nuram Schreibtisch, sondern muß auch durch präzise 455

Arbeit „vor Ort" entstehen (vorzugsweise durch Kenner der Materie und Berlin-,,Connaisseure", wie z. B. Wohlberedt es war). Nun gut, in einer zweiten Auflage könnte vielleicht etliches durch nachträgliche Recherchen verbessert werden. Doch ein weiterer, für mich grundsätzlicher Gesichtspunkt scheint mir noch erwähnenswert. Eine Sache, die man hätte besser machen können, ist die, künstlerisch bedeutende Grabstätten miteinzubeziehen. Damit hätte man das Konzept Wohlberedts sinnvoll und zeitgemäß weiterentwickelt. Die Friedhöfe haben doch gerade auch aus diesem Grunde neues Interesse hervorgerufen! Von Kunsthistorikern wird seit Jahren auf bedeutende, erhaltenswerte Objekte auf den Friedhöfen hingewiesen. War es nicht der Stapp Verlag, der 1984 ein Buch mit dem Titel „Museum Friedhof veröffentlichte? Der Erfolg der ebenfalls zu diesem Thema erschienenen Forum-Bändchen des Berliner Presse- und Informationsamtes über einige der historischen Friedhöfe beweist das allgemeine Interesse. Resultat sind die Maßnahmen, die der Landeskonservator z. B. auf den Begräbnisplätzen vor dem Halleschen Tor und in der Bergmannstraße durchführen läßt. Nicht immer ist eine künstlerisch bedeutende Grabanlage gepaart mit dem Namen einer berühmten Persönlichkeit - oft aber ausgeführt von einem namhaften Künstler und aus diesem Grunde ein Hinweis unbedingt gerechtfertigt und empfehlenswert! Oft haben nähere Recherchen auch ergeben, daß der zunächst unbedeutend erscheinende Bestattete ein höchst interessanter Zeitgenosse unserer Vorfahren war! Sibylle Einholz ComeHus Steckner: „Museum Friedhof. Bedeutende Grabntäler in Berlin". Stapp Verlag, Berlin 1984, 181 Seiten mit zahlreichen Abbildungen Peter Melcher: „Weißensee. Ein Friedhof als Spiegelbild jüdischer Geschichte in Berlin". Haude und Spener, Berlin 1986,132 Seiten. Die zwei Bücher wollen auf die „Sprache der Grabsteine" aufmerksam machen und dabei Geschichte der Berliner Bürger so auf ihren Friedhöfen beschreiben wie in ihren Häusern. Nachdem Peter Bloch die Aufmerksamkeit der Denkmalspflege auf die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor, in der Bergmannstraße und auf den Matthäikirchhof gelenkt hat, wird hier einem anderen Bedürfnis entsprochen: es ist, von verschiedenen Ansätzen her, eine Geistesgeschichte unserer Totenorte geschrieben worden. Seit Wohlberedts letzter Auflage (W. Wohlberedt: „Grabstätten bekannter und berühmter Persönlichkeiten in Groß-Berlin und Potsdam", Berlin) ist die Auflistung nicht wieder aktualisiert worden. Zuerst also die Darstellung von Steckner, „Museum Friedhof. Der Stapp Verlag legt darin ein kenntnisreiches Buch vor, das weitverzweigte Beziehungen zusammenschaut. Es will Stadtgeschichte besonderer Art sein, indem es dem Spaziergänger durch das „Freilichtmuseum Friedhof der Architektur und Skulptur, welches nichts anderes als die Geschichte der bereits historisch gewordenen Personen Berlins ist", führen, „diese einmal als historische Personen porträtierend oder architektonisch symbolisierend, ein anderesmal sie durch ihre Werke zeigend oder die graphologische Charakteristik der Unterschrift" (S. 5). Der Verfasser nennt zunächst Grundsätzliches des Begräbniswesens anhand theoretischer Schriften, danach erhellt er historische Persönlichkeiten im Kontext ihres Lebens. So entsteht eine Doppelschichtigkeit der Schau: einmal die historisch-politische, gesellschaftliche Verflochtenheit der Dargestellten und zum andern eine Geschichte der Grabmalkunst, v. a. im 19. Jahrhundert. Noch tiefer lotet ein Wort von Bachofen seine gedankliche Absicht aus; es besagt, den Toten in ihren Gräbern verdankten wir alle geistigen und künstlerischen Schätze. So läßt sich der Spaziergänger über den Friedhof nicht nur von seiner Stimmungshaftigkeit leiten, sondern der Verfasser als Museumsführer desillusioniert seine ästhetische Gestimmtheit und läßt ihn erkennend neu sehen, läßt ihn bedenken, daß Bürger sein bedeutete, ein Haus und eine (Familien-)Grabstätte in der angestammten Pfarrgemeinde haben, so wie er einen besonderen Kirchstuhl hatte. Die mittelalterliche Form des Totengedenkens war ein weitgehendes Sich-Identifizieren mit dem Grabe Christi. Im alten Berlin gab es die Nachahmung des Gartengrabes Christi, es lag vor dem südöstlichen Stadttor bei der späteren Jerusalemskirche. - Der Verfasser konstatiert danach eine „Achsenzeit des Berlinischen" im Begräbnisgebrauch, die anknüpft an den lutherischen Impuls, im Todesgedenken das Sinnbild des Ewigen zu suchen, auch als persönliches Grabbild des Andachtsbildes. Aber nur sehr allmählich ging der Weg zu persönlichen Grabmalgestaltungen; erste Beispiele finden sich auf dem Friedhof der Reformierten an der Parochialkirche, weil hier eine selbstverwaltete Gemeinde ihren Campo santo prägte in Anlehnung an die Vorbilder von Gruftkapellen im Eisleben und Halle der Lutherzeit. Danach bildete die Reichsgründung von 1871 „das Trennscheid" in der Berliner Friedhofspraxis. Die Begräbnisplätze wurden, nach innerstädtischen Gemeinden getrennt, vor das Weichbild der Stadt gelegt, zuerst der Friedhof von St. Georgen. Mit der Trennung von politischer und kirchlicher Gemeinde warder

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Anstoß dazu gegeben. Der Autor betrachtet - er klammert die Reihengräber aus - die Darstellung innerhalb der Quartiere, in denen sich alte und neue Gräber durchmischen, je nach Ruhezeit. Wer sich so betrachtend auf den verschiedenen Friedhöfen Berlins bewegt, bewegt sich zugleich künstlerisch und geistig zwischen den Zeiten hin und her. An etwa 50 abgebildeten Beispielen stellt der Autor dies heraus, fügt Wichtiges über Architekten, Bildhauer, Werkstätten und Auftraggeber hinzu. So das Grab Zeitler: Mit Beginn der Gründerjahre wird in der Rationalität der Auffassung ein neuer Mensch und ein größeres menschliches Maß erkennbar. Dies zuerst am Grabmal Graefe verdeutlichend, zeigt der Verfasser an vielen anderen Beispielen die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kunstwerkstätten, Künstlern, Architekten, Schriftstellern, öffentlichen Mäzenen, Bankhäusern und Auftraggebern auf. Wir erfahren etwas über die Besetzung des Baumarktes - auch für den öffentlichen Bau - mit Herstellerfirmen farbiger Keramiken und Terrakotten; sie beeinflußten Entwürfe z. B. von Schinkel, Strack und Gropius; auch die Entwürfe der Bronzewerkstätten und Eisengießereien stimulierten Bildhauer und Architekten und umgekehrt. Die Mosaikkunst der Werkstatt Puhl und Wagner kam ins Spiel und zeitigte Wechselwirkungen zwischen Grabmal- und Sakralkunst. Am Beispiel David Hansemann erhellt der Verfasser den Zusammenhang mit städtischer Profanarchitektur, z. B. der Wiederaufnahme von Renaissanceformen in der Palladionachfolge. Interessant ist ferner zu sehen, wie sich im 19. Jahrhundert aktuelle geistige Strömungen niederschlagen, so die Entdeckung der Scipionengräber, archäologische Funde in Griechenland und ihre Adaption als dorische (Grab-)Tempel oder attische Stelen wie auf dem Kerameikos. Mit dem Grabmal Löfen beginnt sich der Jugendstil abzuzeichnen, mit Schwechten kamen neoromanische Formen vom Niederrhein nach Berlin; andererseits erkennt man die Ausstrahlungskraft der Berliner Grabmalkunst auf den gesamtdeutschen Raum, vor allem den Alten Friedhof in Bonn. - So wie Realismus und Idealismus in Dichtung und Philosophie einander widerstreiten und ergänzen, spiegelt es sich in der Grabmalgestaltung wider. Der Leser und betrachtende Spaziergänger wird Kenner des sich durch das 19. Jahrhundert hinziehenden Sich-Ausbildens typischer Grabbildnerei („klassische Bilderwelt der Grabsymbolik") wie der Thorvaldsen-Christus, der Todesgenien, Trauernden, knieenden Engel, der Dekorformen von Blumen und Girlanden. Deutlich spricht sich auch der Zusammenhang zwischen Akademiekünstlern und ihren Ausstellungen aus. Die Namen Strack, Siemering, Schaper, Eberlein, Uphues, Groß werden immer wieder genannt. Den Abschluß der Schinkelzeit markiert das Mausoleum für Kaiser Friedrich III.: es ist eine Wiederaufnahme der Grab Christi-Idee (nach dem Vorbild von Innichen). Der Leser erfährt Neues über Rolle und Bedeutung der Kaiserin Friedrich als Bildhauerin (die in ihrer Selbstverwirklichung zurücktrat, um den sich gerade emanzipierenden Bildhauerinnen nicht im Wege zu sein), ihren entscheidenden Anteil an Entwurf und Ausführung des Kaisergrabes. Es überrascht ein wenig auch die Aussage, Kaiser Wilhelm II. sei in seinen ästhetischen Urteilen von der künstlerischen Auffassung seiner Mutter bestimmt gewesen. Um 1900 werden die Einflüsse der Monumentalbaukunst der wilhelminischen Zeit (Kyffhäuserdenkmal und viele Bismarckdenkmäler) sehr mächtig. - In Auswahl und Deutung klärt der Autor das nach 1945 ausgesprochene Verdienst der wilhelminischen Architektur als Ausdruck des Bombastischen und Unwahren und gewinnt vielen Monumentalgräbern ihre künstlerische Qualität zurück; er rückt als das vorherrschende Prinzip seiner Auswahl Stille und Versunkenheit ins Blickfeld. Jede Darstellung einer historischen Persönlichkeit und ihres Grabmals bietet ein anderes Lebensbild, bei jedem ist die Einbindung in das soziale und geistige Umfeld anders gelagert, und doch gehen zahlreiche Ströme zwischen ihnen hin und her. So wird am Beispiel Liliencroons sichtbar, wie der Verfasser dem geistigen Grundtenor nachgeht. Er nennt auch die Arbeiten der heute in Mißkredit Geratenen wie Breker und Thorak, soweit sie künstlerisch vertretbar sind. Er ist auch über Ostberliner Friedhöfe gegangen, wobei allerdings die Deutung des Grabmals von Hanns Eisler etwas weit hergeholt wirkt. Das Bindeglied zum Buch von Melcher ist das Phänomen des Monumentalgrabes eines reichen Bürgers: Beide Autoren bilden das Grab Aschrott auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee ab und setzen sich in gleicher Weise damit auseinander. Zuerst beobachtet man auf dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee den Anklang an christlichklassizistische Begräbniskultur der Schinkelzeit. Das Tertium comparationis ist die Anpassung jüdischer Friedhofskultur an christliche Begräbnisformen des frühen 19. Jahrhunderts. Dann wird als Hauptanliegen des Buches der Weißenseer Friedhof in den Kontext preußischer und Berliner Kunstentwicklung und Gesellschaftskultur eingebunden. Dieselbe Gründerzeit ist in der Judenschaft widersprüchlich gekennzeichnet: ihre Staatstreue einerseits und der stets latente Zwang, sich gegen laut werdende Judenfeindlichkeit innerhalb einiger Kreise des Bürgertums behaupten zu müssen, sind 457

unlösbar miteinander verwoben. Daraus erwuchsen Merkmale desselben unsozialen Verhalten, wie innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft, nämlich „außerordentliche Prachtentfaltung, schrille Töne und Gigantismus in der Friedhofsarchitektur". Krasser als Steckner merkt Melcher den „Untergang der alten jüdischen Friedhofskultur und Stilunsicherheit der nouveaux riches" an. Auch andere Kennzeichen wie Säkularisierung des Begräbnisritus, überhaupt das Verblassen religiöser Bindung teilen beide Gesellschaftskreise in der späten Kaiserzeit miteinander. „Die Totenstadt Weißensee kann durchaus als ein Abbild der Geschichte im damaligen Berlin gesehen werden" (S. 7). Dies alles läßt sich auf dem Weißenseer Friedhof wegen seiner Abgeschlossenheit exemplarisch ablesen. Den liebevoll ausgeführten Lebensbildern bei Steckner entsprechen bei Melcher die ausführlichen Bildunterschriften unter den hervorragenden, sehr klaren und ausdrucksstarken Fotos. Es ist die Bildpsrache der Todes- und Erlösungssymbolik, in beiden Regligionen fast identisch, die dem Buch seine Seele gibt. Auch hier bilden die Gründerjahre das Trennscheid. Die Wurzeln jüdischer Friedhofskultur liegen ebenfalls im Mittelalter, und auch hier ist ein spannendes Prinzip sichtbar, das des Widerstreites zwischen dem ursprünglichen Reihengrab, das die Gleichheit aller im Tode bezeugen soll, und der Annäherung an christliche Bestattungsformen. Es repräsentiert zugleich den Widerstreit zwischen Anpassung und Widerstand gegen die Assimilation. Den geschichtlichen Stoff hat der Verfasser zusammengedrängt in die Epochen: Wilhelmische Gesellschaft - Assimilation bis zum Ersten Weltkrieg - Abwehrkampf gegen Judenfeindlichkeit um die Jahrhundertwende - Weltkrieg und Weimarer Repubulik - Verdrängungs- und Vernichtungspolitik in der NS-Zeit - Widerstand und Selbstbehauptungsversuche der Berliner Juden - die Epoche nach ihrer Befreiung von 1945. Der Leser geht durch die Seiten wie durch ein Gedenkbuch an große und anrührende Namen und läßt sich tief hineinziehen in die Symbole talmudischer, haggadischer und chassidischer Überlieferungen, deren Kenntnis zu verblassen droht. - Der Leser erfährt viel Neues vom jüdischen Vereinsleben zu seiner Selbstbehauptung, von der Teilnahme der Juden am Ersten Weltkrieg, von den Progromen im Scheunenviertel. Er empfindet es als tragisch, daß die Weimarer Republik die völlige Integration des assimilationsbereiten Judentums gebracht zu haben schien. Um so schmerzlicher waren die Illusion und Desillusion und vergeblich versuchte Anpassung in der frühen NS-Zeit, die in die Vernichtungspolitik einmündete. „Betrachtet man die Gräber und ihre Inschriften aus den Jahren 1933 bis 1945, so werden die verschiedenen Wellen von Terror und Verfolgung deutlich" (S. 77). Zum Seelenhaften des Buches gehören Bilder von der großen Baumallee über den Friedhof oder das Bild der von Bombentrichtern aufgewühlten Ruhestätten oder der heute wildwuchernde Baum wuchs. Persönliche Berichte der Begegnung runden die Darstellung ab und geben ihr Schwergewicht. So gewinnt jedes der zwei Bücher durch die Ergänzung zu dem andern sein eignes Gesicht. Christiane Knop

Neue Mitglieder im III. Quartal 1986 Dr. Sibylle Einholz, Kunsthistorikerin Berchtesgadener Straße 26,1000 Berlin 62 Telefon 7 82 72 80 (Bibliothek) Heinz Franke Stolzingstraße 29, 1000 Berlin 28 Telefon 4 Ol 2002 (Oxfort) Hans Dieter Jaene, Chefredakteur i. R. Remstaler Straße 15,1000 Berlin 28 Telefon 4 0139 58 (Oxfort) Barbara Kössendrup, Lehrerin Leydenallee 95, 1000 Berlin 41 Telefon 793 1116 (Dr. Schultze-Seemann) 458

Heinrich Kössendrup, Lehrer Leydenallee 95,1000 Berlin 41 Telefon 7 931116 (Dr. Schultze-Seemann) Gisela Korth Im Heidewinkel 23, 1000 Berlin 13 Telefon 3 8154 74 (Radler) Ursula Meyer-Luyken, Buchhändlerin Württembergallee 10 b, 1000 Berlin 19 Telefon 304 1904 (Feller) Ruth Thomas Bitterstraße 7 a, 1000 Berlin 33 Telefon 8 3116 25 (Bibliothek)

Die Veröffentlichungen des Vereins Von den früheren Ausgaben des Jahrbuchs

DER BÄR VON BERLIN sind folgende Bände noch erhältlich: 1953 = 4,80 DM; 1964 = 5,80 DM; 1965 (Festschrift) 38,00 DM; 1968 und 1969 je 9,80 DM; 1971 und 1972 je 11,80 DM; 1973,1974 und 1975 je 12,80 DM; 1977 = 18,50 DM; 1978 und 1979 je 22,80 DM; 1980,1981,1982,1983 und 1984 je 24,80 DM; 1985 und 1986 je 28,00 DM.

MITTEILUNGEN des Vereins für die Geschichte Berlins erscheinen vierteljährlich im Umfang von 32 Seiten. Sie enthalten in der Regel mehrere Artikel mit Themen zur Berliner Geschichte (mit Abbildungen), Nachrichten zu aktuellen Anlässen und aus dem Vereinsleben, Buchbesprechungen und das Programm der laufenden Veranstaltungen des Vereins. Einzelhefte aus früheren Jahrgängen sind zum Stückpreis von 4,00 DM noch erhältlich. Von der neuen Folge der

Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins sind bisher erschienen: Heft 59: Johann David Müller, Notizen aus meinem Leben. (1973) Preis 9,80 DM Heft 60: W. M. Frhr. v. Bissing, Königin Elisabeth von Preußen. (1974) Preis 11,80 DM Heft 61: Wolfgang Ribbe, Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen Geschichte von Berlin-Brandenburg. (1977) Konrad Kettig, Goetheverehrung in Berlin. Ein Besuch von August und Ottilie von Goethe in der preußischen Residenz 1819. (1977) Preis 16,80 DM Heft 62: Gustav Böß, Beiträge zur Berliner Kommunalpolitik. Herausgegeben und eingeleitet von Christian Engeli. (1981) Preis 24,80 DM Alle Preise zuzüglich Porto Bestellungen sind an die Geschäftsstelle des Vereins zu richten: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31

Veranstaltungen im IV. Quartal 1986 1. Montag, den 13. Oktober 1986, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer: „Eine historische Reise durch Böhmen und Mähren". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Montag, den 20. Oktober 1986, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Erhard Mayer: „Eine historische Reise durch Schlesien". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Montag, den 3. November 1986, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Joachim Hans Ueberlein: „Von der Hugo-Heimann-Brücke zur ,Weddinger Alster' - die Begrünung der innerstädtischen Panke am Wedding 1951 bis 1986". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Montag, den 17. November 1986, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Hans Werner Klünner: „Berlins ,Gute Stube' - Die St.-Nikolai-Kirche". 5. Donnerstag, den 11. Dezember 1986,16.00 Uhr: „Ludwig Hoffmann - Wiederentdeckung eines Architekten". Führung durch die Ausstellung. Treffpunkt in der Halle des Landesarchivs Berlin, Kalckreuthstraße 1/2, 1000 Berlin 30. Fahrverbindungen: Busse 19, 29, U-Bhf. Wittenbergplatz oder Nollendorfplatz. 6. Montag, den 15. Dezember 1986,18.00 Uhr: Vorweihnachtliches geselliges Beisammensein im „Ristorante La Pineta", Handjerystraße, Ecke Schmiljanstraße in Friedenau, im ehemaligen Gartenrestaurant „Prinz Handjery". Essen nach Karte. Herr Günter WoUschlaeger plaudert über Entstehung und Entwicklung Friedenaus. Fahrverbindungen: U-Bhf. Friedrich-Wilhelm-Platz oder Busse zur Kaisereiche. Von beiden Punkten zwei Minuten Fußweg. Verbindliche Anmeldungen bis zum 8. Dezember unter der Rufnummer 8 54 5816. Bitte beachten Sie die Vortragsveranstaltungen an den geänderten Wochentagen!

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21,1000 Berün 20, Telefon 3 33 2408. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 3 23 28 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38,1000 Berlin 22, Telefon 3 65 7605. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter WoUschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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Januar 1987

ie Brandenburger Judensau Grundsätze der Gründergeneration Berlins im Wandel Von Joachim Schlenk Auf ihren Wegen vom Lehniner Altar zum Kloster Lehnin fanden die Teilnehmer Ende Mai des Vorjahrs im Dombereich von Brandenburg verschiedene Dokumente, Spolien und Ornamentik mit figürlichen Darstellungen aus der Zeit um 1237. In Fällen der Bunten Kapelle und der Judensau waren die baugeschichtlich datierten Zeugen aus der Gründungszeit Berlins sogar in ursprünglichen Zusammenhängen erhalten. Sie gewinnen zur 750-Jahr-Feier unserer Stadt erneut an Aktualität. Vermittelt die Bunte Kapelle nur gewisse Färb- und Raumvorstellungen, so gewährt die Judensau einen direkten Einblick in das Denken und den künstlerischen Ausdruckswillen unter dem Bischof, dessen geistlicher Gewalt auch die Gründergeneration Berlins unterstellt gewesen war. Unter Judensau im engeren Sinn wird ein Kunstmotiv verstanden, das Menschen mit Judenhüten, später auch Gugeln, gelben Jüdenringlein, Hörnern oder anderen Abzeichen ihrer Glaubenszugehörigkeit1 an einer realistisch in Seitenansicht dargestellten Sau zeigt. Die Sau säugt einige dieser Menschen. Andere befinden sich vor oder hinter der Sau. Einer liest. Seit der Renaissance fängt er auch den Urin oder den Kot der Sau mit dem Mund oder einem Behälter auf. In verschiedenen Fällen ist die Darstellung beschriftet. Das Mittelalter umschreibt darin den Begriff „Judensau", der sich erst in unserem Jahrhundert durchgesetzt hat. Das Motiv erscheint in zahlreichen Abwandlungen in Bildschnitzerei, Bauplastik, Malerei, Glasmalerei, in der Druckgraphik, in Buchillustrationen bis hin zum Flugblatt. Das Motiv soll aus mittelalterlichen Lasterdarstellungen entstanden sein, und zwar von Luxuria und Gula. Seine Verbreitung erstreckt sich von Aerschot, etwa 50 km nordöstlich von Brüssel, bis Gnesen und von Uppsala bis Salzburg. Über alle Ausführungen liegt eine Monographie von Isaiah Shachar vor.2 Behandelt sind darin auch Geißelung Christi, Ecclesia und Synagoge, Hostienschändung, Kindermord, Ritt auf dem Schwein, Judeneid, Judenbad sowie Sprüche, in denen sich zuletzt Walther Rathenau auf Judensau reimt. Die Brandenburger Judensau ist erstmals im Jahre 1912 vom Architekten Paul Eichholz kunsthistorisch beschrieben worden3, und zwar als derbe Verunglimpfung der Mutterreligion des Christentums. Aus den Jahrhunderten davor fehlen Akten oder Publikationen, nach denen sie schon früher explizit oder implizit als Judensau bezeichnet worden ist. Ein Zusammenhang zwischen Judensau und dem Nachbarornament, das zwei prunkvoll ausgerüstete, aber unterlegene Ritter in Kämpfen mit einem großen und vier kleinen Drachen zeigt, ist bisher nicht gesehen worden. Beide Autoren haben aber auf das Drachenkapitell und die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Judensau hingewiesen. Shachar berichtete ferner, daß in Brandenburg Spannungen zwischen Christen und Juden beim Entstehen der Judensau nicht vorlagen, da Juden sich in Brandenburg erst zu Beginn des nachfolgenden Jahrhunderts niedergelassen haben. Schließlich stimmt es nachdenklich, daß der deutsche Kaiser sich im Gegensatz zu den Königen von Frankreich und England in den ersten Jahrzehnten geweigert hat, dem Beschluß des 4. Laterankonzils vom November 1215 zu folgen, in dem gefordert wird, die „verdammungswürdige fleischliche Vermischung von Juden und Christen durch Kleiderkennzeichen zu unterbinden".1 Die Teilnehmer betrachteten die Brandenburger Judensau nach der Beschreibung von Shachar als das älteste aller noch vorhandenen Exemplare, und zwar aus der Zeit um 1230. Sie besteht 462

aus Backstein und erscheint als Ornament (Bild 1) am Kapitell von Bündeldiensten im östlichen Kreuzgang auf dem Weg vom Kapitelsaal zur Bunten Kapelle und zum Dom. Das Kapitell zeigt von links nach rechts die Positionen 1. ein (beschädigtes) nach rechts laufendes Schwein, von dem nur Körper und Beine erhalten sind (Bild 2), 2. vergrößert dargestellte Eicheln (Bild 2), 3. eine (beschädigte) Frau mit flacher Kopfbedeckung, die der Judensau in ihrer Schürze offenbar Futter anbietet (Bild 1 und 2), 4. ein (zerstörtes) Ferkel, von dem nur die nach rechts laufenden Beine erhalten sind (Bild 1), 5. die Judensau. Auf ihrem Rücken sind die Borsten senkrecht aufgerichtet (Bürste, bei Hunden Merkmal ihrer Erregung, d. Verf.). Sie säugt (weiter nach Shachar) fünf Ferkel, von denen die linken vier realistisch, das rechte aber wohl mit Menschenkopf und mit einem menschenähnlichen Hinterbein ausgestattet ist. Die Sau selbst hat einen Menschenkopf mit randlosem Judenhut, unter dem langes Haar hervorquillt. Sie hebt ihr rechtes Vorderbein, das als menschlicher Arm mit offener Hand ausgebildet ist. Der Judenhut dringt in den oberen Randstreifen des Kapitells ein, der rechts vom Hut einen Materialfehler hat (Bild 1). Hinter der Sau kauert 6. ein Mann in langer Amtskleidung (Bild 3). Er hebt mit seiner (abgetragenen) Rechten den (stellenweise schadhaften) Schwanz der Sau und hantiert darunter mit seiner (beschädigten) Linken. Die Schwanzspitze berührt seinen Kopf. Er trägt eine flache Kappe, unter der rechts Haare hervorquellen. Darüber erscheint auf dem Rand des Kapitells ein Kleeblattornament. Auf dem Rand des Kapitells befindet sich ferner die Inschrift PINNEC AS (Bild 4). Shachar glaubt einerseits, daß es sich um einen hebräischen Namen handelt, der das Relief mit einem bestimmten Juden der Entstehungszeit in Verbindung bringt, und berichtet andererseits, daß dieser Name unter Juden des 13. Jahrhunderts nicht zu finden ist. Die Betrachter zweifelten an der Bezeichnung Judenhut, weil der Hut auch an seinem spitzen Ende weder exakt Kegelform noch eine Kugel hat (Bild 8), sondern die geschwungene Kontur eines gotischen Kielbogens und nicht hoch auf dem Kopf getragen wird, sondern trotz abgeschnittenen Randes bis an die Ohren der Sau reicht. Die Kontur des gotischen Kielbogens ist zudem zu gleichmäßig, um von einem eingebeulten Judenhut zu sprechen. Es gibt außerdem keine zweite Sau, die selbst einen Judenhut trägt, oder einen Juden an einer der bei Shachar abgebildeten zahlreichen Judensäue, der einen Hut von der Form der Brandenburger (Bild 1) hat. Der Körperbau der Brandenburger Judensau ist in der Seitenansicht nicht elliptisch, sondern betont gestreckt mit verlängertem Beinabstand. Ihre tierischen Beine sind kräftiger als bei einem Schwein. Ihr Schwanz ist nicht dünn und kurz, sondern ebenfalls kräftig (Bild 3). Er bildet schlangenförmig verschiedene Windungen, verschwindet hinter dem Kopf des Mannes, hinter dem er weitere Windungen bilden dürfte, und erscheint über seinem Kopf als Spitze links vom Kleeblatt (Bild 4) auf dem Rand des Kapitells. Gestreckt und auf den Rücken der Sau gelegt, könnte er die Nase der Judensau erreichen. Die Nachbarschaft zwischen Schwanzspitze und Kleeblatt ergibt keinen Sinn. Der hebräische Name Pinkus, vielleicht Pinehas aus 2. Mose 6,25 oder Pinkeies bei Bahlow, ist als Name eines Juden erst um 1350 in Breslau in der Form Pynchas belegt. Die Form Pinne erscheint dagegen ebenfalls nach Bahlow im niederdeutschen Sprachgebiet in der Bedeutung von Nagel, in Hamburg, Pommern, Brandenburg, Mecklenburg außerdem in der Bedeutung von Schmutz.4 Das Suffix CAS läßt sich vom lateinischen casa (= Haus), wahrscheinlicher aber vom lateinischen caseus (= Gärstoff, Käse) ableiten, denn caseus wurde im Altertum als Kosename verwendet. Der vielleicht mit Drecky zu übersetzende Name PINNECAS steht 463

zudem nicht über der Sau, sondern über der Kotentnahme (Bild 3). Er kann sich nur auf den Mann in Amtstracht beziehen. Dieser liest nicht und ist nach seiner Kopfbedeckung weder Jude noch Kleriker, sondern hoher Beamter. Auch der Hinweis Shachars, wonach die Brandenburger die einzige als Mischwesen dargestellte Judensau sei, überzeugte die Betrachter nicht. Herkunft, Bedeutung und Gestaltwandel der Mischwesen aus verschiedenen Tiergattungen oder aus Mensch und Tier sind am Beispiel des Sphinx im Pauly zusammenfassend beschrieben worden.5 Danach gehen Misch wesen auf den Pharaonenkult in Ägypten zurück, wo der Sphinx von Weisheit (Menschenkopf) und Kraft (Löwenleib) des Herrschers kündete. Nach Kreta, Athen und Rom kamen die Mischwesen über Syrien, Mesopotamien und Kleinasien. Gleichzeitig gerieten die Mischwesen unter animistische Einflüsse. Dabei wurden sie apotropäisch zu Wächtern, die Feinde oder böse Geister abwehrten. Der Sphinx erhielt zusätzlich Flügel und wurde weiblich. Auf Kreta, in Griechenland und Italien erlangten die Misch wesen ornamentale Bedeutung, ohne ihre vorherigen oder zeitweilig angenommenen Bedeutungen restlos zu verlieren. Davon zu unterscheiden sind Mißbildungen (Ungeheuer, Monstren), wie Mensch mit einem Bein (Skiapode), Mensch mit Hundekopf (Kynokephalos) oder der schreitende Löwe mit Menschenkopf (Martikhora, auch Maticora oder Mantichora), über die zu Beginn des 4. vorchristlichen Jahrhunderts Ktesias von Knidos und im 1. nachchristlichen Jahrhundert Plinius (sen.) vom Hörensagen aus Indien berichtet haben. Mißbildungen sind von Wittkower zusammenfassend als „Wunder des Ostens" beschrieben worden. Im frühen Christentum haben sie eine große Rolle gespielt. Hrabanus Maurus deutete sie im 9. Jahrhundert nach Psalm 145,17 als Geschöpfe des Willens Gottes, der gerecht in allen seinen Wegen und heilig in allen seinen Werken ist.6 Für Plinius7 waren Mischwesen und Monstra gleichermaßen Spiele der Natur (nat. hist. VII. 32), die größere Fähigkeiten besaß als die Götter (nat. hist. II. 27). Den unerfahrenen Menschen erscheinen sie so lange unglaubhaft oder als Wunder, bis sie sie mit eigenen Augen sehen. Die Macht und die Hoheit der Natur aber ist in allen Stücken unglaubhaft, wenn man sie nur in ihren Teilen und nicht in ihrer Gesamtheit im Geiste erfaßt (nat. hist. VII. 7). Demgegenüber hat die Judensau weder ihre Herrschaft noch Abwehr ihrer Feinde, noch ein Geschöpf Gottes oder seiner Heilslehre (einschließlich biblischer Tiersymbolik), noch Spiele der Natur verkörpert. Sie zielt auf Volksmeinungen des Mittelalters, die sich aus Bibelstellen über die Unreinheit des Schweins gebildet hatten. Ägypten, Mesopotamien und Indien wurden für Europa etwa gleichzeitig mit animistischer Umdeutung der Mischwesen und Ausformung der Monstra Ursprungsländer der Dreckapotheke. Sie wendete Kot, Urin, Schweiß, Ohrenschmalz, Auswurf oder feuchten Schmutz als medizinische Wirkstoffe für äußerliche oder innere Anwendung allein oder unter festen Kombinationsregeln mit pflanzlichen sowie Ton- oder Lehmzusätzen an. Tonzusätze gelangten als zerstoßene Gefäß-, Backstein- oder Ziegelbruchstücke, im Mittelalter auch als Abrieb von Backsteinkirchen (Bild 9), in die Medizin. Wie Mischwesen und Mißbildungen unterlag auch die Dreckapotheke auf ihren Wegen nach und durch Europa einem vielfachen Bedeutungswandel. Für Israeliten war die Dreckapotheke gegenstandslos. Im Alten Testament galt ausnahmslos die theurgische Medizin, in der Gott Sünder mit Krankheit straft und Krankheit zur Belohnung für Wohlverhalten wieder nimmt.8 Für Christus war Krankheit eine psychosomatische Folge des Unglaubens von einzelnen und Kollektiven (Mark. 5,36). Unglaube wiederum beruht auf unsauberen Geistern (Mark. 6,6-7). Diese und so die Krankheit trieb er mit Mitteln der animistischen Medizin aus, um das Reich Gottes auf Erden aufzurichten (Matt. 12,28), und forderte auch seine Jünger dazu auf9, ließ Geister in Säue fahren, die sich ihrerseits ins Meer stürzten10, oder heilte einen Blindgeborenen unter äußerlicher Anwendung von Dreck 464

(Joh. 9,6-15). Während Menschen keine Macht über den Geist haben (Pred. 8,8), also darauf angewiesen sind, ihren Glauben (am Medikament?) zu prüfen (1. Joh. 4,1), befähigt Gott die Religionsstifter, zu sehen (2. Mos. 4,11). Christus konnte daher Glauben und somit Heilungsmöglichkeit unmittelbar beurteilen." Auch in Rom erhielt die animistische Medizin zu diesem Zeitpunkt neue Inhalte. Zwar faßt die Vokabel lutum die meisten Bedeutungen von Dreck zusammen, wie feucht und weich gewordene Erde, Kot, Ton, Lehm und Wau (Gilbkraut zur Herstellung gelber Farbe)12, doch benutzte Plinius das Wort lutum nur noch für Wau (nat. hist. XXXIII. 87) und die Lehmbauweise (nat. hist. VII. 194). Menschenkot als Gegengift ist für Plinius excrementum (nat. hist. VII. 100). Ton ist terra (= Erde) (nat. hist. XXXV 161). Plinius berichtet von stinkenden Speisen im Götterkult (nat. hist. II. 16), empfiehlt, Knaben in Urin von Menschen zu baden, die zuvor Kohl gegessen haben, damit sie stark werden (nat. hist. XX. 83), und rät, gegen Ekel gekochte Plantago-(Wegerich-)Stengel (Bild 10) anzuwenden (nat. hist. XXVI. 41). Als weitere Mittel gegen Ekel nennt er Möhre und Betonie. Plinius überliefert nur einen geringen Teil der im Altertum bekannten Rezepte. Grundlegend sind für ihn nicht animistische Überlegungen, sondern allgemeine Bestrebungen, dem Überhandnehmen einzelner Erscheinungen aus der mannigfaltigen Natur (etwa der Kalokagathie, d. Verf.) durch Hinzufügen der Gegensätze zu steuern (nat. hist. XX. 1 und IL 11). Das gilt für das Glück im Leben (nat. hist. VII. 134) wie für die Baustofftechnologie: Signia aus Kalkmörtel (CaO + Si0 2 ) ist durch Zusatz zerstoßener Tongefäß-Scherben (Si0 2 + A1203 + F e ^ ) für Plinius Musterbeispiel für Bruch (früher wohl Dreck), der höchste Festigkeit liefert (nat. hist. XXXV. 165). Heute erkennen wir darin Bestandteile des Betons. Die letzten in der Praxis „bewährten" Rezepte der Dreckapotheke hat Christian Franz Paullini (1643-1712, 1675 kaiserlicher Pfalzgraf und Leibarzt) im Jahre 1696 in Frankfurt am Main herausgegeben. Sein Buch ist auch postum mehrfach aufgelegt oder nachgedruckt worden, zuletzt 1969 in München. Diese Dreckapotheke verstand sich als Schule christlicher Demut an Stoffen, die ebenfalls zu Gottes Wundern und zu den Wundern der Natur zählen, nicht animistisch, auch nicht als Gegensatz, sondern als integrierter Bestandteil der Medizin. Als Quellen nannte Paullini praktische Erfahrung, neuere Literatur, einen Judendoktor in Hamburg, Paracelsus, Galen und mehrfach Plinius. Verwendet werden Menschen- und Tierkot allein oder mit zerstoßenen Ziegelsteinen und/oder pflanzlichen Zusätzen, Urin von gehängten Dieben, Dreck aus Eselsohren und Schweiß Sterbender für äußerliche oder innere Anwendung bei Krankheit und zur Kosmetik. Bevorzugt anwenden sollten die Rezepte Bauern, weil sie die Dreckarzneien beständig um sich hätten, Arme, da sie erschwinglich seien, aber auch hohe und niedere Standespersonen, die sie teils selbst produzieren könnten, wenn sie auf Reisen sind und andere Medikamente nicht beschaffen können. Gegen göldne Ader empfiehlt er zur inneren Anwendung Esels- oder Saukotsaft in Wegbreitsaft. Zedier13 beschreibt die goldene Ader als Haemorrhois und Haemorrhoides (in heutiger Bedeutung). Haemorrhois ist die „kleine indianische Schlange" Apis Isidori (Biene Isidors), die auch in Ägypten lebt. Ihr Stich führt zu Haemorrhous (= Blutungen aus Mund, Nase, vernarbten Wunden sowie des Zahnfleisches mit Zahnausfall). Wegebreit ist nach Zedier plantago, unser Wegerich, d i e universelle Heilpflanze von mittelmäßiger, kalter und trockener Natur der Humoralpathologie. Auch Plinius hatte sie universell verwendet.'" Sein Hinweis auf Ekelminderung fehlt bei Paullini. Die Naturkunde von Plinius, Mischwesen und Monstren sind vom Physiologus15 wohl in Ägypten zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert zu einer Sammlung volkstümlicher Heilsgeschichten umgestaltet worden (Mark. 4,11). Sie beschreiben in griechischer Sprache, wie die 465

Erlösung von der Sünde und dabei auftretende Gefahren in vielfältigen Erscheinungen der Natur erkennbar werden. Als Herkunftsländer seiner Geschichten nennt der Physiologus unter Nrn. 7,19, 34 und 46 Indien, unter Nrn. 7 und 26 Ägypten, unter Nr. 7 den Libanon und unter 36 Mesopotamien. Plinius verschweigt er. Unter Nr. 26 bespricht der das Ichneumon. Es ist gleich einem Schwein und sehr feindlich dem Drachen. Bei dessen Anblick beschmiert es sich mit Lehm. Mit dem Schwanz schützt es seine Nase, bis es die Schlange getötet hat. So sei der Heiland Mensch geworden, bis er den geistlichen Drachen, den Pharao (Hes. 29,3), getötet hat. Das ist der Teufel (Offb. 12,9; Matth. 4,11). Als körperloses Wesen hätte der Heiland es nicht tun können. Der Drache habe seinem Widersacher bestätigt: Du bist Gott, und ich kann dir nichts anhaben. Daraus zieht der Physiologus die christliche Moral für Fürsten: „Aber der größer war als alle, der hat sich selbst gedemütigt, daß er alle errette." Verständlich wird dieser Text erst durch Plinius und daraus, daß der Urtext des Physiologus für Drache und Schlange dieselbe Vokabel ohne Umschreibungen benutzt. In nat. hist. VIII. 32-37 beschreibt Plinius große Schlangen (serpentes), die er Drachen (dracones) nennt. Unter kleinen umschreibt er fliegende Schlangen und die Uräusschlange aus dem ägyptischen Götter- (speziell Isis-) und Pharaonenkult, die er aspis nennt (nat. hist. VIII. 85-86). In nat. hist. VIII. 87-88 lebt das Ichneumon in Todfeindschaft mit der Uräusschlange. Es stammt ebenfalls aus Ägypten. Dort taucht es häufig in Schlamm (limus) und trocknet sich jeweils danach an der Sonne. Wenn es sich mit mehreren Krusten gepanzert hat, hebt es seinen Schwanz und fängt abgewendet die unwirksamen Bisse auf, bis es mit schräggestelltem Kopf dem Gegner die Kehle einreißt. Dem Ungeheuer (malum), das er crocodilum nennt, springt es ins Maul und zerfrißt ihm von innen den Bauch (nat. hist. VIII. 90). Die Panzerungstechnik findet sich noch beim Ichneumon im Zedier von 1735. Nach Plinius (nat. hist. VIII. 212) wenden sie auch Eber der Wildschweine an. Die heutige Zoologie kennt unter Herpestes ichneumon eine Pharaonsratte mit gestrecktem Leib und spitzer Schnauze. Sie gehört jetzt zur Familie der Schleichkatzen. Den Ägyptern war sie heilig. Hinsichtlich Mischwesen/Mißbildungen und Dreckapotheke knüpft der Physiologus an die animistischen Auffassungen um 1000 v. Chr. an. Im einzelnen ist das jeweilige aus antiken Texten frei nach biblischer Tiersymbolik (z. B. Matth. 10,16) neu kombinierte Ungeheuer Abschreckmittel gegen Sünder, und zwar unter Nr. 10 Mörder, unter Nr. 13 Häretiker, unter Nr. 20 Zweifler im Glauben, Nr. 39 Wankelmütiger, Nr. 57 Mächtiger, Habgieriger und Ungerechter. Kombinationen von Menschenkopf mit Schweins- oder Ichneumons-Körpern fehlen. Unter Nr. 52 scheint der Physiologus ein christliches Monstrum zu kennen. Seel übersetzt es allerdings mit Walroß, das somit nur scheinbar als Mißbildung auftritt. Daneben kennt der Physiologus auch nichtzusammengesetzte teuflische Tiere, wie den Fuchs (Nr. 15). Das bei Plinius vom Ichneumon bekämpfte Krokodil wird auch vom Physiologus (Nr. 57) für die Hölle bestimmt. Krankheit faßt der Physiologus unter Nr. 3 als beseeltes Wesen auf. Vom Vogel Charadrius wird es im Kranken gesehen und die Krankheit als unheilbar oder als heilbar eingestuft. Im letzten Fall schluckt der Charadrius die Krankheit, fliegt damit in die Himmelsluft, verbrennt und verstreut sie dort. Danach ist der Kranke gesund. Der Kot des Charadrius heilt trübe Augen. Im ersten nachchristlichen Jahrtausend bestätigt der Physiologus auf diese Weise, wie notwendig die Annäherung Christi an den Animismus und die Weitergabe der Dreckapotheke durch Plinius selbst in geringer Auswahl und unter veränderten Deutungen waren, um vor den Nachgeborenen bestehen zu können. Entgegen der Bibel, in der Schwänze bis auf die Apokryphen (Tobias 11,9) keine Bedeutung haben, folgt der Physiologus beim Ichneumon den 466

unterschiedlichsten Beobachtungen an Schwänzen durch Plinius. Am Ende dieser Entwicklung gibt Zedier (Stichwörter Schwantz, Cauda, Ruthe) sogar Bibelzitate, die heute allerdings unter Nachhut, Nachkommen, Nachwirkung, Ende, Strafe zu suchen wären, aber so vergessene Formensprachen erneut zugänglich machen. Die greifbaren Enden der durch Jahrtausende laufenden Entwicklungsstränge von Ichneumon und Dreckapotheke bei Zedier und Pauliini ermöglichen es nun, die ursprünglichen Aussagen der Brandenburger Judensau und den Wandel, dem diese Aussagen in der Zwischenzeit unterworfen waren, aus dem Ornament selbst abzulesen. Körperbau und Schwanz der Judensau belegen eindeutig, daß sie ursprünglich als Ichneumon konzipiert worden war. In dessen Interpretation erweist sich der mit Ritzmonogramm (Bild 4) zeichnende Künstler als eigenwilliger, die Grenzen der Kunst seiner Zeit vielschichtig überschreitender, die Renaissance antizipierender Entdecker des kraftvoll Persönlichen. Hamann nannte diesen Stil: Protorenaissance.16 Für den kritischen Künstler ist das Ichneumon n i c h t gleich einem Schwein. Das macht er mit dem unter Position 1 korrekt dargestellten Schwein (Bild 2) deutlich. Er überschreitet so die Grenzen des geistlich naturkundigen Physiologus zu den Quellen in Zoologie und der lateinischen natura, der sich immer wieder selbst erneuernden (geboren werdenden) Natur. Das sich in Demut panzernde, jederzeit sprungbereite (erregte = zum Dienen mutige) Ichneumon (Bild 1) hat nicht nur Ferkel, sondern auch einen Menschenkopf mit (Ichneumon als Mischwesen = Landesherr:) Spitzhelm. Hiermit erinnert der Künstler nicht nur an Christus, sondern auch an die ersten Brandenburger Markgrafen, die Spitzhelme unterschiedlichster Formen trugen. Dabei überschreitet er auch räumlich die Grenzen, in die er sein Ornament gestellt hat, wechselt außerdem vom Relief in die Ritzzeichnung auf dem Rand des Kapitells über (Bild 1), knüpft an die Jahrhunderte unterschwellig überlieferte Idee des Sphinx an und rief seine Zeitgenossen zur Besinnung, die unter z w e i Markgrafen, Johann I. (~ 1213-1266) und Otto III. (~ 1215-1267), lebten. Da Johann und Otto sich auf allen Brakteaten und Münzen ohne Helm, ihr Vormund mit der flachen Kappe des hohen Beamten darstellen ließen und ihr Vorgänger Albrecht II. (~ 1177-1220) in den wenigen Fällen, in denen er auf Prägungen mit Helm erschien, darauf ausnahmslos eingearbeitete Sicken oder aufgenietete Verstärkungen trug, dürfte das Ichneumon einen noch früher verstorbenen Markgrafen darstellen. Die meisten Brakteaten mit Helmen ohne Verstärkung zeigen Otto I. (~ 1130-1184).17 Dagegen trägt er auf Siegeln auch Helme mit Verstärkung. Ein Vergleich mit Siegeln Albrechts des Bären (~ 1100-1170) ergibt allerdings, daß Otto zumindest einen Stempel Albrechts für sich hat nacharbeiten lassen.18 Der 1220 verstorbene Albrecht IL, Johann I. und Otto III. hatten Papst und Brandenburger Bischof um den Zehnten aus eroberten Landen hinterhältig betrügen wollen und Krieg gegen Christen geführt, wie es in einem Brief Papst Gregors IX. vom 18. Februar 1234 heißt. Der Jahrzehnte dauernde Zehntstreit endete erst mit erheblichen Zugeständnissen der Markgrafen in der sogenannten Berliner Gründungsurkunde. Von Otto II. (~ 1147-1205) wird angenommen, daß er mit Kirchenbann belegt war. Otto I. ist der erste offizielle Markgraf von Brandenburg, Gründer Lehnins und mit Abstand wirksamster Förderer von Burg, Dom sowie Stadt Brandenburg gewesen. Sonst hat er die Mark vorzugsweise durch Beamte regiert, da er meist im sächsisch-thüringischen Raum lebte. Hierbei hatte er Schwierigkeiten mit dem Reichsburggrafen Siegfried in Brandenburg, der seinerseits mit dem Bischof in Harmonie lebte." Religiös überschreitet der Künstler die Grenzen des Legendären im Physiologus, indem er auf Ursprünge in der Bibel zurückgreift. Seines christlichen Glaubens, seiner Demut, deshalb auch seiner Unüberwindlichkeit (Ps. 112) bewußt und die zu allen Zeiten hoffärtig Fortschrittsgläubigen mahnend, zeigt das Ichneumon seinen ungebrochenen Arm (Bild 1), denn nach 467

Hiob 38,15 wird der Arm der Hoffärtigen zerbrochen (ferner Ps. 10,15 und 37,17). Auch dieser Beweis christlichen Lebenswandels stützt den Grundsatz der Demut, wie er vom Ichneumon verkörpert wird, und widerspricht einer Auffassung des Tieres als Judensau. Der heutige Riß oberhalb des Ellbogens (Bild 1) ist ein Biegespannungsriß. Er beginnt am unteren Rand des Kapitells zwischen Frau und Ferkel, springt in den Oberarm über, setzt sich zwischen Gesicht und Unterarm des Ichneumons fort und endet rechts von seinem Kopf auf dem oberen Rand des Kapitells. Durch neuzeitliche Überbauung des Kreuzgangs für die Ritterakademie von 1705 ohne Verstärkung der Fundamente sanken die Bündeldienste, an denen das Kapitell angebracht ist, wobei seine Enden gehoben und die Mitte nach unten gedrückt wurde. Der Riß hat sich nach dem letzten Krieg nicht verstärkt. Am interessantesten ist zweifellos die Drölerie unter dem Namen Pinnecas (Bild 3). Sie verkörpert für Untergebene stärker, aber auch weltlicher als das fürstliche Ichneumon die biblische Mahnung zu Demut und Selbsterniedrigung.20 Die Beschreibung der heute nicht mehr identifizierbaren kleinen indianischen Schlange des heiligen Isidor (aus Aspis Isis?) von Ägypten (~ 360-435) bei Zedier könnte auf eine untergegangene Parallellegende zum Ichneumon mit christlicher Moral für Beamten deuten. Die Fabel ist noch im Roman vom Ende der Dreckapothekenzeit faßbar. Der Leibarzt Ludwigs XIII. von Frankreich wird darin gefragt: „Der Herr Doktor hat neulich etwas von einem Fürsten in den Mund genommen und demselben seinen Geschmack abgewinnen müssen." Der Arzt antwortete: „Das mußte ich nicht tun, sondern ich tat es gern, damit, wenn der Fürst sähe, wie sauer mich's ankäme, um seinen Zustand recht zu erkunden, meine Verehrung desto größer würde".21 Für den Künstler und wohl mehr noch für den Bischof von Brandenburg scheinen solche weltlichen Demutsbeweise unter dem Schutz des Landesherrn durchaus nicht absurd, aber doch unter bestimmten Umständen amüsant tadelnswert gewesen zu sein. Darauf könnte der Rest einer Rosette von Plantago media (kein Kleeblatt! Bild 4 und 10) auf dem Rand des Kapitells weisen, deren Stengel und fehlende Blätter zu Wegbreitsaft verarbeitet worden sein mögen: Die Demut und der Glaube von Pinnecas dürften also allein nicht ausgereicht haben, seinen Ekel zu überwinden. Nichts deutet daraufhin, daß Pinnecas an Hämorrhoiden, Mundbluten oder Zahnausfall leidet (Bild 3). So könnte das Motiv die Kirchenmänner vielleicht auch nur humorvoll an den schweren Stand der Kirche zwischen rivalisierenden Freunden einerseits und dem Teufel verfallenen, dem Untergang preisgegebenen Betrügern andererseits erinnern. Ein hoher Gast, der vom Kapitellsaal zum Dom schritt, erlebte den Übergang vom weltlichen zum geistlichen Bereich, indem er zuerst am Drachenkapitell einen liegenden hoffärtigen Ritter (Bild 7) sah, dem je ein kleiner Drache in Oberschenkel, Gesäß, Rücken und Nacken beißt, dann einen hoffärtigen Ritter, der vom Schwanz eines großen Drachen an den Hüften umschlungen und auf den Rücken gedrückt wird (Bild 5), während derselbe Drache sein Pferd beißt (Bild 6), das außerdem von einer Schlange bedroht wird. Im Weiterschreiten erkannte der Gast am nächsten Kapitell den unvollkommenen hohen Beamten (Bild 3) und dann das vorbildliche sich und die Seinen erneuernde, in Demut gepanzerte, wachsame Ichneumon (Bild 1) als Schutz der herbeieilenden Mühseligen und Beladenen (Bild 2). Erst hier dürfte ihm aufgefallen sein, daß es den Helm eines lange verstorbenen demütigen Markgrafen trägt und am vorigen Kapitell zwei Hoffärtige von Drachen gepeinigt werden. Diese Betrachtungsweise war - wie auch die wegweisenden Grundsätze heute - durchaus nicht allgemein anerkannt. Ferkelkörper, Schürze, Hände sowie Rücken der Frau und Kopf des Schweins, die sich dem Ichneumon zuwenden, also nicht von unsauberen Geistern besessen sein können, sind mit Messern oder Löffeln abgerieben worden (Bild 1 und 2), wie das an Sockelgesimsen von mittelalterlichen Backsteinkirchen oder an Aüßenmauern neben Portalen 468

in Armhöhe üblich war (Bild 9). Verbesserte Schabmesser werden noch heute als Reibahlen gebraucht. Die Schablöffel sind vorübergehend mit dem Fachwerkhausbau untergegangen, in dem sie zuletzt als Hohl- und Riegelbohrer (Bild 11) dem Zimmermann zum Einpassen abgespaltener Holznägel beim Verzapfen von Riegeln in Ständern gedient haben. Neuerdings verwenden werkgetreue Restauratoren sie wieder als Löffelbohrer. Solche Abriebe für Ziegelöl (Benennung bei Zedier) dürfen nicht mit 1. scharfkantigen Brüchen, 2. scharfkantigen geraden Wetzrillen, 3. gerundeten Knetfugen in Kästen handgestrichener Backsteine oder 4. lockeren, meist schichtweise gewölbten Korrosionsflächen verwechselt werden. Offenbar ist Tieren, einer möglichen Last auf dem Rücken der Frau und deren Schürze, die sie dem Ichneumon dargeboten hat, dem Analbereich des Ichneumons und den Händen des Pinnecas (Bild 1 bis 3) eine besondere Heilwirkung gegen die unsauberen Geister zugeschrieben worden. Am Kapitell mit kämpfenden Rittern ist kein Abrieb zu erkennen (Bild 5 bis 7). Demnach müssen für Backsteinabriebe verschiedener Provenienz Wertunterschiede und Gewinnungsvorschriften bestanden haben. Das Ichneumon ist nicht abgeschabt worden. Es blieb mit dem Grundmaterial des Kapitells als Inkarnation der Demut Christi voll respektiert. Zur Judensau kann das Ichneumon erst Jahrhunderte nach Entstehung beider Motive umgedeutet worden sein, als ihre Unterscheidungsmerkmale und die Gründe religiöser Auseinandersetzungen in Vergessenheit geraten waren. Nach Luther22 und Fabricius23 geht die Judensau zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert (vermutlich aber schon seit Entstehung des Motivs am Ende des 13. Jahrhunderts, d. Verf.) auf die Austreibung der unsauberen Geister durch Christus und seine damit verbundenen Heilungen zurück, die nach Meinung der Juden Gott allein zuständen. Dieser Argumentation haben sich immer wieder auch Christen angeschlossen. Um das zu verhindern, bezieht sich Luther unter anderem auf eine Jahrhunderte diskutierte, 1520 noch gedruckte und von Luther auszugsweise übersetzte Handschrift des Salvagus Porchetus de Salvaticis aus dem 14. Jahrhundert und auf überlieferte Volksweisheit. Es geht traditionell um Matth. 12, wonach Christus aus jüdischer Sicht mit dem Beelzebub (Teufel) im Bunde sei, eine falsche Abstammung angegeben und nach Porchetus mit der Formel des Sehern Hamphoras gezaubert habe. Luther reagiert darauf bibelfest (Matth. 23,15) mit Verteufelung der Juden (Joh. 8,44; 2. Tim. 2,26) und mit alten Sprichwörtern, wonach 1. „die Juden gerne (entgegen Phil. 3,14; Kol. 2,18 ziellos) schlipfern und fladdern" (vgl. Ps. 35,6; Ps. 119,113), 2. „der Teufel den hindern (... und) die Nasen anwischt" (in Umkehr von 5. Mos. 34,9; Matth. 9,18; Mark. 6, 5 usw.), 3. Blender nicht im Gesetz Gottes (Neh. 8, 8; Matth. 12, 5; Luk. 10, 26), sondern „der Saw im hindern lesen" und 4. „Milch diebe" mit Zauberei in Verbindung gebracht werden. Neu seit der Renaissance sind 5. unermüdliche Hinweise nach Matth. 12,33 „die Juden sind nu Fünffzehn hundert jar ausser Jerusalem im elende (da noch kein ende . . . werden kan)", weil sie ihre Rabbiner mehr achten als die Gesetze Moses, 6. Hinweis, daß Juden nicht Gott gegenüber nach Ps. 81,11 den Mund auftun, sondern sich „vom Teufel in den Mund sprützen lassen" und 7. das Wortspiel „Sehern Hamphoras - Peres schama - Scham Haperes" (nach Luther: „Scham heisst: hie oder da, Peres, das der Saw und allen Thieren jnn den Dermen ist"). 469

All das richtet Luther nicht an die Juden, sondern an „die losen Christen, so Juden worden sind oder werden wollen". Er wird darin von der Aufstellung mittelalterlicher Judensäue innerhalb christlicher Kirchen bestätigt, wo sie Juden gar nicht ansprechen, sondern nur lose Christen vom Entschluß, ihre Kirche zu verlassen, abhalten können. Zum Christentum übergetretene Juden waren den Christen dagegen im gesamten Mittelalter höchst willkommen. Aus diesem Grund ist die Übertragung des modernen Begriffs Judensau auf derartige Motive höchst irreführend. Fladder- oder Schlipfer-Sau träfe mittelalterliche Vorstellungen besser. Tatsächlich treten übergelaufene Christen mit Judenkennzeichen an den noch deutlich erkennbaren Judensäuen des Mittelalters in Wimpfen, Magdeburg, Köln, Metz, Regensburg, Uppsala, Gnesen, Colmar, Wittenberg nur als Milchdiebe auf oder lesen (der Saw im hindern oder wo der Teufel sonst noch anwischte). Fabricius ergänzt, daß in Berlin und anderen Städten außerdem gemalte oder plastische Schweine an Eingängen Juden als den beständigen Feinden des Namens Christi (Apg. 4,10; Phil. 2, 10) den Zutritt zu öffentlichen Herbergen verwehren. In seiner (unvollständigen) Aufzählung der Judensäue fehlen noch diejenigen in Nachbarschaft von Drachen. Zu deren Umdeutung mußte vor allem 1. der Physiologus, 2. der Unterschied zwischen besessenen, schlipfernden, fladdernden und dem Heil zustrebenden Schweinen, 3. der Unterschied zwischen den Grundsätzen Demut (Ichneumon) und Proselyten-Abwehr (bessesenes Schwein), 4. der Unterschied zwischen Schutz- oder Vernichtungsfunktionen langer und der Flatterhaftigkeit kurzer Schwänze und 5. die Dreckapotheke als Schule christlicher Demut vergessen sein. Die Umdeutung mittelalterlichen Denkens setzte schon unter Luther ein, etwa mit der Wahl einer betont niederen Stilschicht für seine Angriffe gegen lose Christen. Daß er bei hohen Beamten nichts mehr erreichen würde, bestätigte Paullini 150 Jahre später, indem er den Judendoktor als Lehrer in die Schule christlicher Demut aufnahm. Für Verwirrung sorgte auch 2. Kön. 18, 27, da nach Luther mit Wiederholung von 2. Kön. 19, 35 nicht mehr gerechnet wurde. Es darf deshalb nicht verwundern, wenn heute die Judensäue Berlins nach Fabricius mit den losen Christen an schlipfernden Säuen und gar mit dem Ichneumon als Fürsprecher christlicher Demut unter demselben Terminus technicus behandelt werden. 750 Jahre nachdem das Brandenburger Motiv zum ersten Mal gesehen wurde, verdrängen umgekehrt als vor 750 Jahren - Sorglosigkeit die Wehrbereitschaft, Illusionen von Lustgewinn und Selbstverwirklichung die Demut, öffentliches Eigenlob die Selbsterniedrigung, der zufällig gegenwärtige Wissensstand den Glauben, Hygiene den Dreck, Parteilichkeit das Kraftvoll-Persönliche, Abgrenzung die mannigfaltige Natur und nicht zuletzt Autorität objektives Betrachten. Vor der geballten Verdrängungsleistung so vieler, am rechten Ort durchaus angebrachter Grundsätze geht der Wink des Ichneumons heute ins Leere. Der Bewältigung eigener Vergangenheit ist der Boden entzogen. Solange das optimale Gleichgewicht der genannten Grundsätze nicht definiert ist, hilft wie vor 750 Jahren kein beliebiger Grundsatz, sondern naturkundige Betrachtung. Dann erkennt man Plantago statt Klee (Bild 4 und 10), ein demütiges Ichneumon, vor dem eine Christin ohne Judenkennzeichen gläubig kniet, und statt der Eicheln deren Füße (Bild 2), auf keinen Fall aber nach Shachar eine ungeheuere Judensau, vor der eine Frau steht. Seit Solon duldet die Natur nichts Ausschließliches und kein Übermaß; sie mischt den Gegensatz hinzu, um das Gleichgewicht durch Disharmonie herzustellen. 470

Literaturnachweise 1. Singermann, Felix: Über Juden-Abzeichen. Ein Beitrag zur sozialen Geschichte des Judentums. Berlin 1915. Einführung der Abzeichen in Deutschland S. 36 ff. 2. Shachar, Isaiah: The Judensau. A medieval anti-jewish motif and its history. Warburg Institute Surveys V. London 1974. Die Brandenburger Seite 15 f., Aufzählung Fabricius S.48. 3. Die Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg. Herausgegeben vom Brandenburgischen Provinzialverband. Band II, Teil 3, Stadt und Dom Brandenburg. Berlin 1912. Die Judensau S. 340 ff. 4. Bahlow, Hans: Deutsches Namenlexikon. Suhrkamp Taschenbuch 65. Frankfurt am Main 1972. S. 385. 5. Pauly's Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, neue Bearbeitung begonnen von G. Wissowa... 68 Bände, 15 Supplemente, 1 Register, Stuttgart 1894-1978. Der kleine Pauly. 5 Bände. Stuttgart 1964-1975. Beispiele für Mischwesen auch unter ihren Stichwörtern. 6. Wittkower, Rudolf: Die Wunder des Ostens: Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer. In: Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. DuMont Taschenbuch 142. Köln 1980. S. 109 ff. (Übersetzung aus Journal of the Warburg and Courtauld Institute V. London 1942). 7. C. Plinii secundi naturalis historiae, libri XXXVII. 8. Bibelstellen: 1. Mos.20,17 - 4 . Mos. 12,13 - 5. Mos. 28,35 und 32,39 - 2. Chr. 21,18;30,20und 36,16 -Hiob5,18-Ps.6,3;41,5;60,4;103,3undl47,3-Pred.3,3-Jes.l9,22;53,5und57,18-Jer.3,22; 8,22; 14,19; 17,14; 30,17; 33,6 und 51,9 - Klagl. 2,13 - Hes. 34,4 - Hos. 5,13; 6,1; 7,1 und 14, 5 Sach. 11,16. (Alle Stellen Auswahl aus Luther-Bibel und in ihren Textzusammenhängen verständlich.) 9. BibelsteUen:Matth.8,16;9,33;10,lundl0,8-Mark.3,ll;3,15;3,22;6,7und6,13-Luk.6,18;8,35; 8, 38; 9,1 und 11, 14 - Apg. 8,7 und 19, 12 (vgl. auch 1. Sam. 16, 14, 23 - Sach. 13, 2). 10. Bibelstellen: Matth. 8,31 - Luk. 8, 33. 11. Bibelstellen: Matth. 9,2 - Mark. 2,5 - Luk. 5,20 - Joh. 11.4 - ferner Matth. 9,22 - Mark. 5,34- Luk. 7, 50; 8,48; 17,19; 18, 42. 12. Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Wörterbuch. Hannover 1962. 13. Zedier, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 64 Bände, 4 Supplemente. Leipzig/Halle 1732-1754. 14. Plinius nat. hist. XXVI. 44,78,90,92,101,110,113,115,118,119,122,126,129,131,136,137,141,153. 15. Der Physiologus: Letzte Übersetzungen mit Erläuterungen und Hinweisen auf frühere Ausgaben: Seel, Otto. Zürich und Stuttgart 1960 und 1967. Treu, Ursula. Berlin 1981. 16. Hamann, Richard: Deutsche und französische Kunst im Mittelalter. I. Südfranzösische Protorenaissance und ihre Ausbreitung in Deutschland. Marburg/Lahn 1923. Hinweis auf eine solche Bauschule in der Mark Brandenburg S. 88. 17. Bahrfeld, Emil: Das Münzwesen der Mark Brandenburg von den ältesten Zeiten bis zum Anfange der Regierung der Hohenzollern. Berlin 1889. S. 70 ff. 18. Voßberg, Friedrich August: Die Siegel der Mark Brandenburg nach Urkunden des Königl. Geh. Staatsarchivs und anderer Archive. Berlin 1868. S. 7. 19. Schultze, Johannes: Die Mark Brandenburg. Band 1. Berlin 1961. S. 97ff. Podehl, Wolfgang: Burg und Herrschaft in der Mark Brandenburg. Mitteldeutsche Forschungen Band 76. Köln/Wien 1975. S. 496-526. 20. Bibelstellen Demut: Zeph. 2, 3 - Apg. 20, 19 - Eph. 4, 2 - Phil. 2, 3 - Kol. 2, 18, 23 und 3, 12 1. Petr. 5,5. Hoffart: Hiob 33,17 - Ps. 59,13 - Spr. 8,13; 29,23 - Jes. 13,11- Jer. 13,9,17 - Hes. 7,20,24; 16,49; 30, 6; 33, 28 - Hos. 5, 5 -Am. 6, 8 - Zeph. 2,10 - Mark. 7, 22. Hochmut: Hiob 35,12 - PS. 31, 24 - Spr. 8, 13; 16,18 - Jes. 10, 12; 13,11; 16, 6 - Jer. 49. 16. erniedrigen: 2. Sam. 22, 28 - Jes. 2, 12; 10, 33; 57,9 - Hes. 21, 31 - Math. 23,12 - 2. Kor. 11, 7. 21. Grimmeishausen, Hans Jakob Christoffel (Ps. German Schleifheim von Sulsfort): Gantz neu eingerichteter allenthalben viel verbesserter Abentheuerlicher Simplicius Simplicissimus. Mompelgart (Nürnberg) ohne Jahr (kurz nach 1671). 4. Buch, 2. Kapitel. 471

22. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe: Predigt 1544. 49. Band, Weimar 1913, S. 547. Wider die Sabbather 1538. 50. Band, Weimar 1914, S. 309-337. Von den Juden und ihren Lügen 1543. 53. Band, Weimar 1920, S. 417-552. Vom Sehern Hamphoras und vom Geschlecht Christi 1543. 53. Band, Weimar 1920, S. 579-648. 23. Fabricius, Laurentius: Oratio de Schemhamphorasch usu, et abusu apud Judaeos, orationes duae. Wittenberg 1596. (Zitiert nach 2.) Anschrift des Verfassers: Joachim Schlenk, Potsdamer Straße 40, 1000 Berlin 45

Bild 1: „Judensau"-Kapitell, Ansicht von vorn: verheiratete Frau (unterder Haube), Ferkel, Ichneumon. Das Bild zeigt, daß die Schriftleiste zwischen PINNE und CAS einen Knick aufweist. (Ichneumon als Judensau.)

Bild 2: „Judensau"-Kapitell, Ansicht von links: Schwein, verheiratete Frau mit Haube. 473

Bild 3: „Judensau"-Kapitell, Ansicht von rechts: Ichneumon, Pinnecas.

Bild 4: „Judensau"-Kapitell, oberer Rand: Beschriftung „PINNECAS", Schwanzspitze, drei WegerichBlätter, Monogramm.

474

Bild 5: Drachen-Kapitell, Ansicht von links: Ritter, großer herabgelassenem Visier, Kopf links.)

le, Pferd. (Ritter in voller Rüstung mit

Bild 6: Drachen-Kapitell, Ansicht von vorn: Drache beißt Pferd, daran Schlange.

475

Bild 7: Drachen-Kapitell, Ansicht von rechts: Vier kleine Drachen (unten) beißen Ritter (oben, liegend in voller Rüstung mit herabgelassenem Visier, Kopf links).

Bild 8: Judenhutformen, Deutschland O.Jahrhundert. (Spitzkegel in freiplastischen Ausführungen oft auch als Kegelstumpf ausgebildet, punktiert eingezeichnet.) 476

Bild 9: Schönhausen, Dorfkirche, 1212 als Kirche des bischöflich-havelbergischen Tafelgutes geweiht. Backsteinmehlgewinnung links vom Südportal in Armhöhe. Zustand der Schablöcher vom 8. Mai 1975.

Bild 10: Plantago media (Wegerich), Rosette mit Stengeln.

Bild 11: Riegelbohrer (F335) aus Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, Band 6, Tafel 8. Berlin 1775. 477

Dfe Moabiter Gondelfahrt Von Arne Hengsbach Die Geschichte der „Moabiter Gondelfahrt" hat der Chronist Wilhelm Oehlert bereits vor einem knappen Jahrhundert in einem Aufsatz festgehalten1, der aber, wenigstens in WestBerlin, nicht mehr nachweisbar ist. Dieses Kapitel der Berliner Verkehrsgeschichte ist auch sonst hin und wieder behandelt worden, wenn auch nicht immer ganz befriedigend, so von Christoph Voigt.2 Im folgenden wird versucht, die verstreuten Notizen über die Moabiter Gondeln in einem Überblick zusammenzufassen. Gondeln als öffentliche Verkehrsmittel sind in Berlin in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Aufnahme gekommen. Man darf wohl Voigt folgen, der diese Gondeln als Nachkommen jener Treckschuten bezeichnete, die Friedrich I. eingeführt hatte, um das Charlottenburger Schloß auf dem Wasserweg zu erreichen. Friedrich Nicolai3 schreibt: „Hinzu kommen die Wasserfahrten, durch den Unterbaum nach Charlottenburg, und sonderlich durch den Oberbaum nach Stralau, Trepto und Rummelsburg, usw. nach Köpenick . . . Zu diesen Spazierfahrten kann man an verschiedenen Orten Kähne und bedeckte Gondeln mieten." Die Gondeln hatten die gleichen Funktionen wie die kurz vor 1800 aufgekommenen Torwagen auf den Landstraßen, nämlich das Publikum zu den beliebten „Vergnügungsorten", wie man damals Ausflugslokale usw. nannte, zu befördern. Nicolai erwähnt die Gondelfahrten nach Moabit noch nicht, wohl aber Joh. Dan. Fr. Rumpf4 im Jahre 1793: „Wer nach Moabiterland, Charlottenburg, Spandau fahren will, findet im Tiergarten bei den Zelten Gondeln." Seitdem nehmen die zeitgenössischen Hinweise auf diese Gondelfahrten, die bei den „Zelten" ihren Anfang hatten, zu. Wilhelm Oehlert5 zitiert einen in der Zeitschrift für Freunde der schönen Künste 1799 veröffentlichten Passus: „Von den Gezeiten aus kann man auch den Weg nach dem Garten von Bellevue auf der Spree in bequemen Gondeln machen, welche hier immer bereit sind, und diese angenehme Fahrt auch noch fortsetzen. Steigt man am andern [dem Moabiter] Ufer aus, so findet man gleichfalls einige nicht unangenehme Partien und einige Kaffeehäuser, die indessen nur von den niederen Ständen besucht werden." Joh. Christian Gaedicke6 erwähnt 1806: „Moabit oder Moabiterland, vor dem Unterbaum hinter den Pulvermagazinen an der Spree gelegen... Jetzt sind hier fast nur Wirts-, Garten- und Landhäuser für die Berliner Einwohner, und diese können und pflegen auch vom Tiergarten aus über die Spree hierher zu fahren ..." Am ausführlichsten hat D. Korth 7 1821 die Gondelfahrt nach Moabit dargestellt: „ . . . dieses Moabit ist ein Belustigungsort der niedern Volksklasse, wohin des Sonntags und Montags zu Wasser auf niedlichen Gondeln gefahren wird, welche hinter den Zelten im Tiergarten halten. Sonntags Nachmittags werden die Bretter zum Einsteigen ausgeworfen und die Gondoliers rufen: ,Wer will mit nach Moabit!'. Es dauert nicht lange, so sind ein paar Gondeln mit Reiselustigen beider Geschlechter gefüllt, es wird abgestoßen und ein Leyermann, Harfenist oder ein Guitarrenspieler, die sich gewöhnlich auf den Gondeln befinden, beginnt mit einem Volkslied, worin sogleich die ganze Gesellschaft einstimmt. Nicht nur das bunte Gewühl auf dem Einsteigeplatz, wo auch wohl ein Guckkastenmann für 6 Pfennige London, Paris, Wien, Konstantinopel etc. sehen läßt oder ein Affen- und Bärenführer seinen Eleven Kunststücke machen läßt, sondern auch das Hin- und Herfahren der Gondeln auf dem Spiegel der Spree, das Gesinge und Gejauchze der Fahrenden, die schöne Aussicht auf die jenseits der Spree liegenden Landhäuser und schönen Baumgruppen . . . können den ruhigen Beobachter wohl ein Stündchen fesseln. Die Gondeln, deren es 6 bis 8 gibt, sind zierlich ausgestattet. Der Kasten 478

ist mit grüner und weißer Ölfarbe angestrichen, die Fensteröffnungen haben zu beiden Seiten der Gondel Rouleaux [Rollos] von feiner weißer Leinwand, um vor der Sonne zu schützen, und auf der Gondel weht ein rot, grün oder blau seiden Fähnchen. Eine jede Gondel kann 40-50 Personen fassen, und da sie bis spät Abends in Tätigkeit sind und die Person für jede Fahrt - hin und zurück - nur 1 Gr. zahlt, so kann man sicher ein paar Tausend Menschen rechnen, welche bei schönem Wetter Moabit des Sonntags besuchen, wo sie sich mit dem Tanz in den Wirtshäusern oder mit allerhand Spielen auf dem großen Rasenplatz zwischen den Besitzungen vergnügen ..." Carl Julius Weber8 geht 1828 ebenfalls kurz auf die Moabiter Gondeln ein: „Das MoabiterLand besteht ohngefähr aus einem Dutzend Krügen, wo sich die Volksklasse tummelt. Man fährt auf Gondeln, mit Sang und Klang unter den Zelten ab; die Gesellschaft gewährt dem Beobachter so viel Unterhaltung..." Auch in den dreißiger Jahren finden unsere Gondeln noch Hinweisungen. Helling9 im Jahre 1830: „ . . . Moabit ist im Sommer ein stark besuchter Vergnügungsort, von der Mittelklasse und den niederen Ständen, besonders zu Wasser, von den Zelten aus." Leopold Frhr. v. Zedlitz10 vermerkt kurz 1834: „Die Überfahrt mit Gondeln ist bei den Zelten." In den folgenden Jahren werden die Moabiter Gondeln in den Berlin-Führern und Handbüchern nicht mehr genannt. Alexander Cosmar" etwa sagt von Moabit 1840, es werde „von der dienenden Volksklasse, welche sich hier Sonntags im Freien belustigt, stark besucht", ohne zu bemerken, wie man dahin gelange. Und Julius Löwenberg berichtet 1847, hier sei Sonntags das „Elysium" der Berliner Köchin. „Hier ist ihr Tanzvergnügen, ihr Spielplatz, ihre grüne Wiese." Verkehrsverbindungen werden wiederum nicht angeführt. Das könnte man als Indiz dafür werten, daß die Bedeutung der Gondel als Verkehrsmittel nach den Moabiter Vergnügungslokalen zurückgegangen war. Erst A. Merget12 schildert 1858 noch einmal die Gondelfahrten nach Moabit: „Das Dorf Moabit ist von Alters her ein Vergnügungsort der mittleren und unteren Stände Berlins... Es finden sich hier gemischte Gesellschaften von Leuten aus der dienenden Klasse zusammen, die sich mit allerlei Spielen im Freien und hernach in mehreren Sälen mit Tanz unterhalten. Der Weg nach dem Orte kann zu Fuß zurückgelegt werden, geht aber neben der Chaussee durch tiefen Sand; darum fährt man gern zu Wasser dorthin, wozu man bei den Zelten Gondeln in großer Zahl vorfindet. Es geht auf einer solchen, wenn sie voll beladen ist, fröhlich genug zu, und wird das Vergnügen noch gewöhnlich durch das Spiel eines Leierkastens oder anderer Straßenmusik erhöht." In all diesen Fällen, die hier zusammengestellt sind, diente die Gondel als Nahverkehrsmittel, so wie die Torwagen und Kremser, um Besucher zu Vergnügungslokalen zu befördern. Doch wurden die Gondeln gelegentlich auch für andere Zwecke eingesetzt. Am 5. Juli 1857 inserierte das „Kaffee-Haus zum Moabiter Zelt Alt-Moabit Nr. 17": „Montag, den 6. Juli findet eine Gondelfahrt von der Marschallbrücke aus mit Musik- und Gesang-Begleitung statt. Im Lokale findet Concert von zwei Trompeter-Corps und einem Männer-Quartett statt. Der Garten wird auf das eleganteste dekoriert und erleuchtet... Die Abfahrt der Gondeln beginnt präcise um 5 Uhr . . . Bei Ankunft der Gondeln beginnt ein Doppel-Concert. Billets zum Gondel-Corso und sämtlichen Festlichkeiten ä 5 Sgr. ..." Derartige Fahrten gehören in den Kreis der „Wasserkorsos", die von den vierziger bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von den Wirten großer Ausflugslokale an Ufern veranstaltet wurden. Besonders auf dem Stößensee bei Picheisberg und in Treptow-Stralau an der Oberspree wurden solche Wasser-Korsofahrten mit Musik, z.T. auch farbiger Beleuchtung in den Abendstunden abgehalten; mit derlei Abwechslungen sollte das Berliner Publikum in die Restaurants gezogen werden. Trotz der zahlreichen Belege über die Moabiter Gondelfahrt wird nur selten vermerkt, wo die 479

Moabiter Gondeln ihren Endpunkt gehabt haben. Es liegen nur zwei Zeugnisse vor. Bogdan Krieger13 zitiert ohne Quellenangabe einen zeitgenössischen Bericht, der aus etwas späterer Zeit stammt: „ . . . Unterhalb des Zeltes No. 1 . . . lag etwa ein halbes Dutzend Gondeln; sie faßten 20-30 Menschen, waren mit Brettern überdacht und an der Spitze mit einem in Holz geschnitzten bemalten Kopf geziert. An Sonn- und Montagen lockte ein in der Nähe des Steuerruders sitzender Drehorgelspieler so lange, bis der Kahn mit Fahrgästen, zu denen die Küche und die Armee [d.h. Köchinnen und Soldaten] das Hauptkontingent stellten, überfüllt war; dann stiegen zwei Mann auf das Dach und stießen ihn bis an die Moabiter Brücke..." Auch Voigt14 spricht von Gondeln, „wie sie auf der Unterspree zwischen den Zelten und Kaffee Gärtner" verkehrten. Auch Cafe Gärtner lag nahe der Moabiter Brücke. Diese Strecke war etwa 1 km lang. Mit dieser Distanz war die Moabiter Gondelfahrt zwar länger als der Weg einer Fähre, andererseits aber für eine echte Wasserpartie wiederum zu kurz. Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß die Gondeln gelegentlich auch Moabiter Ziele etwas unterhalb der Moabiter Brücke angelaufen haben. Eingegangen sind die Moabiter Gondelfahrten im Jahre 1887.15 Über das Aussehen der Moabiter Gondeln in den letzten drei Jahrzehnten ihres Bestehens hat Voigt einige Nachrichten gebracht. Der Schiffsbauer Jahnke, der eine schon vorhandene Werft an der Moabiter Brücke 1856 übernommen hatte, „erbaute vier solcher Gondeln, die in Übereinstimmung mit den angebrachten Gallionsbildern die Namen ,Mohr', ,Drache\ .Schlange' und ,Schnecke' führten ..." Ein „Anonymer Bericht aus den achtziger Jahren" 16 berichtet ebenfalls: „ . . . Weiter zurück die großen Wasseromnibusse mit den grotesken Schiffsfiguren am Schnabel, mit roten und gelben Türkenköpfen, mit einem Dach versehen, wie die beste venezianische Gondel. Sie fahren von den Zelten nach Moabit und von Moabit nach den Zelten, zehn Pfennige die Person." Da dieser Zierrat in den älteren Berichten nicht erwähnt wird, könnte es sich um erst spät verwendete Verzierungen handeln, die das eklektizistische Stilgefühl der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert widerspiegeln. Entstehung und Ausbildung der Gondelfahrten nach Moabit hingen eng von der topographischen und wirtschaftlichen Entwicklung ihres Zielortes ab. Solange Moabit seine überwiegend ländliche Physiognomie noch wahren konnte, war es mit seinen zahlreichen Wirtshäusern einer jener gern besuchten Ausflugs- und „Vergnügungsorte", wie sie auch an der Hasenheide und an der Schönhauser Allee sich entwickelt hatten. Dabei handelte es sich um für die damalige Stadtrandzone ganz typische Anhäufungen volkstümlicher Biergärten, Tanzlokale usw. Man gab der Gondel den Vorzug, das Ziel zu erreichen, da die unbefestigten Wege nach Moabit sehr sandig waren. Hugo Wauer, der in den 1830er Jahren in Moabit wohnte, erinnerte sich17: „Hatte man die Brücke, gleichviel ob die Moabiter oder Charitegraben = hinter sich, dann versank man nach wenigen Schritten bis an die Knöchel im märkischen Schnee", d.h. im Sande. Die schon wiederholt erwähnte Moabiter Brücke, etwa Mitte der 1820er Jahre als Privatbrücke erbaut, ermöglichte nun den Besuch Moabits auch vom Tiergarten aus. Die nach 1840 einsetzende Industrialisierung Moabits sowie die zunächst noch langsamer, aber stetig voranschreitende Wohnbebauung verdrängten nach und nach die alten volkstümlichen Bier- und Tanzlokale, andererseits wurde die Erschließung des Stadtteils gefördert durch Verbesserung der Straßenverhältnisse wie der Anlegung der Moabiter Chaussee. Seit 1849 verkehrte auch eine Omnibuslinie vom Lustgarten nach Moabit, die Pferdebahn erreichte Moabit 1874. So war Moabit auch „zu Lande" hinlänglich aufgeschlossen, und zu den wenigen großen Lokalen des Stadtteils, wie z. B. zu dem vormals Ahrens'schen Brauerei-Ausschank, gelangte man nun, wenn nicht zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Gondel verkehr konnte von dem 480

großen Strukturwandel, der Moabit ergriffen hatte, nicht profitieren, im Gegenteil, er hatte sich überlebt und mußte eingestellt werden. Aber als buntem Tupfer in der Berliner Verkehrsgeschichte und in der Volkskunde der Stadt wird man der Moabiter Gondelfahrt gern einmal gedenken.

Anmerkungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

Oehlert, Moabiter Gondelfahrten 1895. Voigt, Die Moabiter Gondel, in Mitt. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins, Jg. 1918, S. 42/43. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. 1786, S. 951. Rumpf, Berlin oder Darstellung der interessantesten Gegenstände dieser Residenz. 1793, S. 167. Oehlert, Moabiter Chronik 1910, S. 44. Gaedicke, Lexicon von Berlin und der umliegenden Gegend, 1806, S. 235. Korth, Neuestes topographisch-statistisches Gemälde von Berlin und dessen Umgebungen. 1821, S. 531/32. (Weber) Deutschland oder Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen. Bd. III. 1828, S. 395. Helling, Geschichtlich-statistisch-geographisches Taschenbuch von Berlin. 1830. S. 261. Zedlitz, Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam. 1834, S. 783. Cosmar, Neuester und vollständigster Wegweiser durch Berlin. 4. A., 1840, S. 80. Merget, Heimathskunde von Berlin und Umgegend. 1858, S. 298. Krieger, Berlin im Wandel der Zeiten, 1923, S. 380. WieAnm. 2. Oehlert, wie Anm. 5, S. 168. In den Zelten ... Hrsg. v. H. Goertz, S. Kiok, K. Pomplun, 1977, S. 15. Wauer, Humoristische Rückblicke auf Berlins gute alte Zeit. 5. A., 1910, S. 12. Anschrift des Verfassers: Arne Hengsbach, Joachim-Friedrich-Straße 2, 1000 Berlin 31

Nachrichten Friedrich der Große und die Staatsoper Die Staatsoper Unter den Linden, die während des Krieges bereits einmal wiederaufgebaut worden war und dann 1955 restauriert werden konnte, hat jetzt die ihr bislang vorenthaltene Inschrift im Giebelfeld unterhalb des Tympanons erhalten. Die jetzige originalgetreue Inschrift „FRIDERICVS REX APOLLINI ET MVSIS" war auf Befehl des damaligen Ersten SED-Sekretärs Walter Ulbricht binnen zwei Stunden entfernt und später durch den Schriftzug „Deutsche Staatsoper" ersetzt worden. Dies war Anlaß für Erich Kleiber, den ihm angebotenen Posten eines Generalmusikdirektors der Staatsoper auszuschlagen. SchB. 481

„Friedrich der Große und die Kunst" im Neuen Palais in Sanssouci Am 26. Juli 1986 besuchte der Verein für die Geschichte Berlins die Ausstellung „Friedrich der Große und die Kunst" im Neuen Palais in Potsdam. Wir wurden dort von Frau Karola Paepke geführt, die in der Verwaltung der Schlösser und Gärten in Potsdam tätig ist. - In dem neu hergestellten und erstmals wieder zugänglichen Wohnbereich Friedrichs war in 25 Räumen sehr reichhaltiges und meist gut plaziertes Material ausgebreitet. Eingestimmt auf den 200. Todestag durch die Trauerdekoration, wie man sie im Potsdamer Stadtschloß 1786 hatte sehen können, führt die Ausstellung den Besucher durch die Gebiete der Malerei (Friedrichs Sammlung der Lancrets, Paters, Watteaus und Rubens'), seinen Anteil an der Porzellanmanufaktur, das Musikleben an seinem Hof, Wissenschaft und Literatur, Stadtplanung und Bauten in Berlin und Potsdam, seine Büchersammlung, die der Kameen und Tabatieren. Alle Gegenstände waren eingepaßt in den innenarchitektonischen Rahmen des Zopfstils, der die Kombination von Blau-Silber und Karmoisin-Gold bevorzugt. Die fein durchgearbeitete Konzeption der Ausstellung machte die Vielseitigkeit des Königs, seine künstlerische Anregungskraft und Wandlungsfähigkeit sichtbar. Auch das Berlin des 18. Jahrhunderts war in vielen Stichen und Aquarellen, vor allem von Schleuen und Rosenberg, präsent. Ferner war da ein Holzmodell des Potsdamer Stadtschlosses, das als „unser schmerzlichster Verlust" bezeichnet wurde. Friedrichs Unkenntnis oder Nichtachtung der gleichzeitigen deutschen Literatur (Lessing) ist bekannt; als einzige deutsche Beispiele waren Ramler und die Karschin zu sehen. In zwei Stunden konnten die Besucher nur einen Überblick gewinnen; ein zweiter individueller Besuch zur Betrachtung der Einzelheiten wäre nötig. Schon in dieser zweiten Woche ihres Bestehens erwies sich die große Anziehungskraft der Ausstellung auf die Bewohner der DDR, die zwischen zwei und vier Stunden Wartezeit an den Kassen willig in Kauf nahmen. - Da die Anzahl der Filzpantoffeln nur beschränkt ist, kann jeweils nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe eingelassen werden. Um so bedauerlicher war es, daß nicht alle angemeldeten Teilnehmer erschienen waren; denn man hatte uns freundlicherweise die nötige Anzahl reserviert, weshalb eine Reihe von DDR-Besuchern zurückbleiben mußte. Wir wurden als Gäste sehr freundlich aufgenommen und freimütig informiert. Der Potsdamer Führung gebührt herzlicher Dank. Christiane Knop

Restaurierung des Roten Rathauses Wie der stellvertretende Kulturminister der DDR, Friedhelm Grabe, verlautbaren ließ, werde sich die Denkmalpflege in der DDR nicht zuletzt auch aus Kostengründen in den nächsten Jahren prinzipiell auf Baudenkmale konzentrieren, die aus der Sicht des Staates „von der größten Bedeutung und der größten gesellschaftlichen Wirksamkeit" sind. Als wichtigste Projekte in den nächsten fünf Jahren nannte er unter anderem die Restaurierung des Roten Rathauses und der Neuen Wache im Bezirk Mitte sowie der Stadtbefestigungen in Neubrandenburg und Bernau. Die Maßnahmen zur generellen Instandsetzung der Museumsinsel einschließlich des Wiederaufbaus des Neuen Museums werden sich bis weit in die 90er Jahre hinziehen. SchB.

Bekrönung des Deutschen Domes am Gendarmenmarkt Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte 1,51 schwere Skulptur der „Triumphierenden Tugend" auf der Kuppel des Deutschen Domes am jetzigen Platz der Akademie war nach historischen Fotos vom Berliner Bildhauer Gorch Wenske neu geschaffen worden. Am 16. August 1986 wurde sie von einem Hubschrauber der Abteilung Industrieflug der INTERFLUG auf ihrem angestammten Platz in mehr als 60 m Höhe abgesetzt. Das Gegenstück zu der mit Sockel 7 m hohen goldglänzenden „Tugend" auf dem Deutschen Dom, dem einstigen Domizil des Vereins für die Geschichte Berlins, bildet die Figur „Religion", die den Französischen Dom auf der anderen Seite des Gendarmenmarktes krönt. SchB. 482

Aus dem Mitgliederkreis Studienfahrt nach Lübeck Es mußte doch wieder ein doppelstöckiger Omnibus bestellt werden, so groß war die Zahl der Interessenten an der Exkursion vom 12. bis 14. September 1986 nach Lübeck! Gleich der Auftakt in der alten Hansestadt war verheißungsvoll, wurde doch nicht eine der üblichen Hafenrundfahrten mit einem Schiffchen geboten, sondern eine unkonventionelle Besichtigung der „Innereien" eines Hafens. Um die aufschlußreiche Führung haben sich Prokurist H. Winkler und sein Mitarbeiter Prusky verdient gemacht, der Lübecker Hafengesellschaft gilt der Dank für die unerwartet kredenzte Kaffeetafel. Dann aber nahm Senatsdirektor a. D. Dr. W. Neugebauer die Gäste zum ersten einer ganzen Reihe von Rundgängen durch Lübeck an die Hand und führte sie vom Heilig-Geist-Hospital in den Audienzsaal des Rathauses, wo Senator Lund im Namen des Senats der Hansestadt Lübeck die Besucher aus Berlin willkommen hieß. Es muß als ein Glücksfall bezeichnet werden, daß Dr. W. Neugebauer an allen drei Tagen mit seinem unerschöpflichen Detailwissen, mit seiner Geduld bei allen Fragen und mit geradezu hartem körperlichem Einsatz zur Verfügung stand, um das Bild Lübecks in Historie und Kunstgeschichte lebendig werden zu lassen. So wurde auch am Sonnabend den Mitreisenden die Zeit nicht zu lang, als sie der Weg erst zum Dom und dann durch die Stadt zu St. Marien und St. Jakobi führte. Das Mittagessen als angenehme Unterbrechung in der Schiffergesellschaft verdient nicht nur des historischen Fluidums wegen ein großes Lob! Immer noch schien die Sonne, als der Nachmittagsausflug mit Schlutup und der Landschaft der unteren Trave bekannt machte. Mit einer Zwischenstation am Hünengrab Waldhusen langte der Bus auf der „Hermannshöhe" am Brodtener Steilufer an, wo auch das Gemüt mit dem sehr schönen Blick auf die See zu seinem Recht kam. Die „Passat", Schwesterschiff der 1957 im Atlantik gesunkenen „Pamir" und heute Attraktion des Travemünder Hafens, wurde den wißbegierigen Berlinern von Kapitän Kaßner in Dichtung und Wahrheit vorgeführt, daß sich selbst die recht stabilen Planken dieses Seglers bogen. In der vornehmen Atmosphäre des Schabbeihauses mundete das abendliche Menü, das nun schon ein Abschiedsessen für Lübeck war. Am Sonntag früh hatte der Himmel alle Schleusen geöffnet, doch auf der „5-Seen-Fahrt" von MalenteGremsmühlen nach Fegetasche ließ der Regen nach. Der vorzügliche Eindruck von der Landschaft der Holsteinischen Schweiz wurde beim anschließenden ausgedehnten Fußweg auf der Halbinsel „Prinzeninsel" zum Niedersächsischen Bauernhaus bestätigt, wo nicht nur ein geheizter Pavillon, sondern auch ein herrliches Maränenessen auf die Gäste wartete. Hier konnte Dr. W. Neugebauer auf die im Plöner Schloß erzogenen preußischen Prinzen hinweisen, denen die Insel ihren Namen verdankt; sie ist heute noch Privateigentum des Hauses Hohenzollern. Ein letztes Mal meldete sich Dr. Werner Neugebauer mit seinen kenntnisreichen Erläuterungen in Seedorf am Schaalsee zu Wort, wo er nach der obligaten Kaffeetafel in der Kirche auf bemerkenswerte Befunde an Wandmalerei hinweis. Auch die Heimfahrt verlief reibungslos, und Teilnehmer wie auch Organisator möchten diese Studienfahrt im Schatz ihrer Erinnerungen nicht missen.

Exkursion 1987 Da der Wunsch geäußert worden war, die traditionelle Studienfahrt auf zweieinhalb Tage zu verkürzen oder 1987 der 750-Jahr-Feier wegen gänzlich auf einen derartigen Ausflug zu verzichten, wurde erstmals davon abgesehen, das Fahrtziel sozusagen als Überraschung zu präsentieren. Vielmehr wurde versucht, ein Meinungsbild zu gewinnen - immerhin hatte die Lübecker Reise mehr Teilnehmer als die Mitgliederversammlungen ! In zunehmender Reihenfolge bekundeten die Mitreisenden Interesse an: einer verkürzten Studienfahrt, einem Ausfall der Reise 1987, einer gewohnt dreitägigen Fahrt in eine kleine Stadt mit freundlichem Umland (z. B. Witzenhausen mit Hohem Meißner und Kaufunger Wald), in eine mittelgroße Residenzstadt (etwa Detmold) oder in eine größere Stadt (Vorschlag: Kassel). Am meisten Zustimmung fand der Gedanke, die traditionelle Studienfahrt auf vier Tage auszudehnen, um so lockende Ziele wie Ulm, Trier oder auch Hechingen zu erreichen.

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Wenn die nächstjährige Exkursion vom 11. bis 14. September in Deutschlands älteste Stadt nach Trier an der Mosel führt, so schließt dies in den kommenden Jahren weder die übliche Zeitdauer noch auch verkürzte Ausflüge aus. Eine hinreichende Zahl auch von Einzelzimmern konnte in Trier gesichert werden, wo sich die Konturen des Programms bereits abzeichnen: Es bewegt sich zwischen Weinprobe und Karl-Marx-Haus, einem Empfang des Oberbürgermeisters und einem Besuch des dann mit verdoppelter Ausstellungsfläche neueröffneten Landesmuseums. Unverbindliche Voranmeldungen nimmt der Schriftführer jetzt schon entgegen. H G. Schultze-Berndt

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Dr. Clemens/G.Szamatolski: „Der historische Friedhof in Berlin", hrsg. im Auftrag des Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III, Natur - Landschaft - Grün, in Verbindung mit der Bundesgartenschau 1985 in Berlin. Gartendenkmalpflegerische Wiederherstellung, dargestellt an den Beispielen einiger alter Dorfkirchen und der ältesten Friedhofsanlagen „vor den Toren" in Berlin. Broschüre mit 36 Seiten, zahlreichen Abbildungen und Skizzen sowie einem Literaturverzeichnis. Der Arbeitstitel „Historische Friedhöfe als kulturelles Erbe der Stadt Berlin" nennt das Programm, nämlich das Bedürfnis nach Bewahrung der Grabmalkunst und des sich immer mehr akzentuierenden Bewußtseins, seine Problematik aufzufangen. Darüber hinaus dient es der besonderen Begegnung mit der Geschichte unserer Stadt und Preußens. Grundlage für die Tätigkeit der Senatsabteilung ist das Denkmalschutzgesetz vom 22. Dezember 1977, das auch Gartenanlagen und Friedhöfe in den Rang von Baudenkmälern erhebt und damit der Denkmalpflege anheimgibt. Der fortgeschrittene Verfall vieler Grabanlagen ist aufzuhalten, das Problembewußtsein zu wecken. Die Vf. gehen nicht nur dem historischen und künstlerischen Werden der Ensembles von Grabmälern und Mausoleen nach, sondern berücksichtigen auch Bepflanzung, Einfassungen, Grabgitter und Wegegestaltungen. Die Veröffentlichung ist als ein erstes Arbeitsergebnis anzusehen, dem weitere Unternehmungen folgen sollen. „Friedhöfe dienen nicht nur der zeitlich begrenzten Aufnahme unserer Toten, sondern sie sind zugleich Orte der langfristigen Besinnung und Erinnerung. Sie sind in ihrer Gesamtheit, mit ihren Gebäuden, ihrer gärtnerischen Gestaltung und ihren Grabdenkmälern Zeugnisse des Zeitgeistes mit einer jeweils spezifischen geistigen und künstlerischen Aussage. Sie spiegeln die sich wandelnde Einstellung zum Tode und zum Toten und sind Zeugnisse der Geschichte der jeweiligen Gemeinde und handwerklichen Kunst." (Boehlke 1984) Die Studie setzt die Anstöße der „Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V." in Kassel fort; so hat das Referat Gartendenkmalspflege in der Abt. Natur - Landschaft - Grün mehrere Gutachten in Auftrag gegeben, zu erkunden, wo und wie die umfangreichen Wiederherstellungsmaßnahmen zu beginnen seien. Schwerpunkte sind gesetzt worden, konkrete Wiederherstellung ist erfolgt; so wird z. B. auf dem Dorfkirchhof Zehlendorf nach der ursprünglichen Gestalt geforscht. Weitere Kapitel suchen auf anderen Friedhöfen das Phänomen „historische Gestalt" zu erfassen und seine Bezogenheit auf uns Lebende herzustellen. Der Leser erfährt, daß es in West-Berlin 120 Friedhöfe gibt, darunter einen hohen Anteil alter Ruhestätten, meist aus dem 19. Jahrhundert. Ihre Dichte nimmt vom Stadtkern (Kreuzberg, Schöneberg, Wedding) her nach den Außenbezirken hin ab, dazwischen sind die erhaltenen Dorfkirchhöfe eingestreut. Es wird auch unser undifferenzierter Wortgebrauch „Friedhof korrigiert. Kirchhöfe sind den parochialen Gemeinden zugeordnet, Friedhöfe sind städtische oder landeseigene Begräbnisplätze. Die Schrift beschreibt 12 Dorfkirchhöfe in Berlin. Sie enthält auch eine Skizze mit Lageangaben der historisch bedeutsamen Friedhöfe und Dorfkirchhöfe. Die Aufarbeitung erfolgt nach Stoff und Gehalt in derselben Weise, wie die beiden Bücher von Melcher und Steckner sie vornehmen (s. Bespr. d. Vfn. in Heft 4/1986 der „Mitteilungen"). Beide können ergänzend dazu verwendet werden. Die Gestaltung der Gartendenkmalpflege ist schwierig, weil die Gemeinden, denen sie gehören, nicht finanzkräftig genug sind, bestimmte Einschränkungen der Nutzung zu tragen. Die Gartendenkmalpflege hat deshalb als Kompromiß den Arbeitsbegriff „lebendiger Friedhof eingeführt, der besagt, daß auch in der Gegenwart behutsame Nachbestattungen auf historischen Erbbegräbnissen vorgenommen werden sollten. Die Studie bringt Beispiele dafür, ferner beschreibt sie Rekonstruktionsmaßnahmen einschließlich der Bepflanzung nach alten Kriterien. 484

Am Schluß sind weitere Gesichtspunkte angeführt: Friedhöfe sind Erholungsplätze und dienen als Stätten der Begegnung mit Bildhauer- und Steinmetzkunst vergangener Zeiten, also der historischen Identifizierung. Nur scheinbar ist die Intention des „lebendigen Friedhofs" unterschiedlich von der des „Museums Friedhof, wie Steckner es darstellt; denn auch hier soll bei der historischen Bewußtmachung das Gegenwärtige fortgeführt, das Vorhandene aber nicht in musealen Zustand zurückgeführt, sondern nur pfleglich erhalten werden. Eine weitere Absicht ist die Erhaltung der Grünflächen von 120 Friedhöfen als „ökologisches Potential". Seit 1982 gibt es wissenschaftliche Studien über die ältesten Friedhöfe, die vor dem Halleschen Tor, den von St. Matthäus und den Dorfkirchhof Zehlendorf sowie den Luisenstädtischen und denen auf dem Wedding und Nikolskoe. Bei der angeführten Sekundärliteratur ist der Name unseres Mitglieds Wollschlaeger falsch geschrieben. Christiane Knop

Harri Günther: „Peter Joseph Lenne - Garten / Parke / Landschaften". Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart. 196 Seiten, 148 DM. Eulen nach Athen zu tragen hieße es, das neue Geschichtsbewußtsein der DDR und deren PreußenRenaissance uns noch einmal in das Bewußtsein bringen zu wollen. Andererseits sollte man im Interesse unserer in dieser Beziehung noch immer von Arroganz geprägten, aber orientierungslosen Gesellschaft wiederholt und nachdrücklich darauf hinweisen. Harri Günther hat im dortigen Verlag für Bauwesen die Monographie seines Vorgängers Peter Joseph Lenne vorgelegt, die das vorhandene, teilweise bisher unveröffentlichte Planmaterial verwertet und durch Genauigkeit und Liebe zum Detail besticht und fast fünfzig Jahre nach dem Erscheinen der Publikation über die Potsdamer und Berliner Anlagen von Gerhard Hinz diese wirkungsvoll ergänzt. Der Verfasser erreicht hierbei auch ein hohes Maß von Anschaulichkeit durch die vorzügliche Bebilderung des Bandes. Schon der Rokokogarten hatte den festlich-repräsentativen Charakter aufgegeben und in der reichen Dekoration seiner einzelnen Teile dafür eine äußerst reizvolle Intimität entfaltet. Oder anders ausgedrückt, der große gesellschaftliche Repräsentationsraum des Hochbarockparkes hatte sich nun in den privaten Gesellschaftsraum des Rokoko gewandelt, den die persönliche Wohnstätte prägte. Aber immer noch blieb die Forderung des italienischen Renaissance-Architekten Bartolomeo Ammanati verbindlich, das Gemauerte müsse führen und dem Gepflanzten überlegen sein. Denn noch immer legten die Architekten die Gärten an. Inzwischen hatte sich jedoch in England der Landschaftsgarten entwickelt, der als Park der Empfindsamkeit in Deutschland die Übergangsphase zwischen der organischen Renaissance-Barock-Periode und der neuen abstrakten Kunst des 19. Jahrhunderts bildete. Unter Ausnutzung der gegebenen Geländesituation verzichtete er auf eine durchgehende Gestaltung. Als Barockreminiszenz an die alte Achsengestaltung waren Sichtbahnen geblieben. Alles in allem eine noch unausgeglichene Haltung, die sich an die Landschaften der Maler Lorrain, Poussin, Rosa und Ruisdael anlehnte. Bauten als Stimmungsträger, die zum Teil als bewußt gestaltete Ruinen an die Vergänglichkeit erinnerten, gehörten zu ihnen. Aus diesem Landschaftsgarten der Empfindsamkeit entwickelte sich der Landschaftspark der Romantik, der auf alles Nichtgärtnerische verzichtete. Die Romantik will die reine Malerei, die reine Architektur, den reinen Garten. Er besitzt daher keine Verwendung für die Plastik, nicht einmal für die Blume. Die geschlossenen Wiesenteile wirken teppichartig und entsprechen der abstrakten Fläche, die die Kunst der Romantik forderte. Die Bauten wurden sachlich und hatten ihren Bedeutungsinhalt verloren. Sie bildeten eine künstlerische Einheit mit der Natur. Der Park ist durchgehend gestaltet, wobei man Vorhandenes belassen konnte. Gepflanzt wurden hauptsächlich heimische Bäume, die in die Landschaft passen. Und zwar kulissenartig. Von Gärtnern, die Künstler sind, nicht mehr von Architekten. Peter Joseph Lenne, der gebürtige Bonner, gehörte zu ihnen. Er wurde über die Epochen der Romantik und des Biedermeiers hinaus zum großen Gartengestalter des 19. Jahrhunderts. Hier setzt Harri Günther ein und läßt die allgemein etwas nüchtern und trocken wirkende Persönlichkeit Peter Joseph Lennes, aus einer Gärtnerfamilie kommend, in Kunst, Intuition und Empfinden überaus lebendig werden. Dafür sei ihm gedankt. Über ideologische Verrenkungen, die auch die Lizenzausgabe beibehält, sollte man hinweglesen. Geradezu grotesk mutet die Bemerkung an, Lenne habe seine Studienreise nach England unter den politischen Aspekt „Auswüchse des englischen Frühkapitalismus in Stadt und Landschaft in Preußen zu verhindern" gestellt (Seite 20). 485

Die Gartenkunst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nun einmal aus dem englischen Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts erwachsen, und Lenne hat in England einzig und allein die dortigen Vorbilder kennenlernen wollen. Günther stellt auch die Planungen anderer Schloß- und Gutsparke Lennes vor und erläutert ebenfalls dessen Städtebauplanungen. Lenne kommt es allein zu - von einigen vereinzelten Beispielen früherer Zeiten abgesehen -, den Park des adligen Grundbesitzers in einen Park für die allgemeine Bevölkerung zu übertragen, also den Volkspark der künftigen Großstädte zu entwickeln, an dessen Gestaltung maßgeblich auch seine Schüler wirken sollten. Alles in allem - ein gutes Buch, dessen Inhalt von seinem Autor exakt erarbeitet worden ist und das durch die Zitate Lennes, die der Verfasser den einzelnen Abschnitten voranstellt, auch die Arbeitsauffassung dieses Gartengestalters anschaulich verdeutlicht. Günter Wollschlaeger

Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Hrsg. von Cecile Lowenthal-Hensel und Rudolf Elvers. Bd. 6. Berlin: Duncker & Humblot 1986. 285 S., 11 Abb.-Taf., brosch., 65 DM. Wieder ist ein Band der in unregelmäßiger Folge erscheinenden Mendelssohn-Studien anzuzeigen, die von Band 3, 1979, an gemeinsam von Cecile Lowenthal-Hensel, der Ersten Vorsitzenden der MendelssohnGesellschaft, und Rudolf Elvers, dem Leiter der Musikabteilung und des Mendelssohn-Archivs der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, herausgegeben werden.* In nun schon bewährter Tradition gelten die Aufsätze dieses Bandes mehreren Generationen dieser bedeutenden Berliner Familie, von Moses Mendelssohn bis zu dem vor 50 Jahren verstorbenen kunstbeflissenen und -fördernden Bankier Franz von Mendelssohn (1865-1935; Autorin: Cecile Lowenthal-Hensel) und dem Philosophen Paul Hensel, dem Enkel von Felix Mendelssohn Bartholdys Schwester Fanny und ihrem Mann, dem Maler Wilhelm Hensel. 1860, vor mehr als 125 Jahren geboren, amtierte er seit 1902 als ordentlicher Professor in Erlangen, wo er 1930 auch starb (Autor: Dieter Miosge). Moses Mendelssohn, den Klaus-Werner Segreff als „Philosophen und Menschenfreund" vorstellt, steht femer im Mittelpunkt eines Briefes des jungen Berliner Buchhändlers und Schriftstellers Friedrich Nicolai an den Dichter Johann Peter Uz von 1759, den Eva Engel abdruckt und kenntnisreich kommentiert, während Dominique Bourel mit der Wiedergabe von Lazarus Bendavids Trinkspruch auf den Philosophen anläßlich der Feier von dessen 100. Geburtstag einen Beitrag zum Thema der Moses-MendelssohnRezeption beisteuert. Als eine ihrer Hauptaufgaben betrachtet die Zeitschrift die Veröffentlichung unbekannter Quellen zum Wirken der verschiedenen Familienmitglieder. Daher nehmen vor allem Briefeditionen einen umfangreichen Platz in diesem Band ein. Sie beginnen mit einer fortzusetzenden Reihe „Quellen zur Biographie von Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy", die der Schweizer Musiker Christian Lambour herausgibt und die er mit Briefen von Fannys Tante väterlicherseits, der als Erzieherin in Paris lebenden Henriette Mendelssohn, und ihrem Onkel mütterlicherseits, dem preußischen Generalkonsul in Rom, Jacob Salomon Bartholdy, an die Nichte eröffnet. Die Originale befinden sich im Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Hinzu kommt aus privatem Besitz ein Schreiben des infolge eines Unfalls mit seinem Wagen in England festgehaltenen Felix Mendelssohn Bartholdy zur Hochzeit seiner Schwester, 1829. Der Komponist ist ferner der Korrespondenzpartner des Malers Philipp Veit, ebenfalls ein Moses-Mendelssohn-Enkel und Sohn Dorothea Schlegels. Die von Norbert Suhr wiedergegebenen Briefe bezeugen Felix Mendelssohns Wertschätzung der bildenden Kunst und der Werke seines Vetters, insbesondere dessen für das Frankfurter Stadel als Deckengemälde ausgeführten und dann auch lithographierten „Schilds des Achilles". Außerdem beleuchten sie die nazarenische Kunstszene. In einem weiteren Beitrag legen Konrad Feilchenfeldt und Lieselotte Kinskofer eine Reihe von Briefen der jüngeren Schwester Felix Mendelssohn Bartholdys, Rebekka, der Frau des Mathematikers Peter Gustav Lejeune Dirichlet, vor, die sie an den preußischen Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense, dessen Schwägerin Friederike Robert und dessen Nichte Ludmilla Assing richtete (nebst Beilagen). Die früher im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek befindlichen und lange als Kriegsverlust betrachteten Vorlagen werden zur Zeit innerhalb des Nachlasses bzw. der Sammlung Varnhagen in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau verwahrt. Eine musikwissenschaftliche Arbeit von Hellmuth Christian Wolff gilt dem nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Singspiel „Dichterliebe" nach Heinrich Heine, dem der musikalische Bearbeiter, Emil Stern, ausschließlich Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy unterlegte. 486

Gisela Gantzel-Kress stellt in ihrem Aufsatz „Noblesse oblige" die Problematik der aufgrund finanzieller Leistungen erfolgten Nobilitierung einer Linie der Mendelssohn Bartholdys dar, die vor allem in zwei erstmals mitgeteilten Briefen der Vettern und Schwäger Otto und Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Enkel Felix Mendelssohns, von 1907 zum Ausdruck kommt, die die Spannungen zwischen dem mehr künstlerisch-wissenschaftlich-liberal bestimmten Familienzweig (Albrecht war damals Professor für bürgerliches Recht in Würzburg, später Ordinarius für Auslandsrecht und Zivilprozeß in Hamburg und Gründer des „Hamlfurger Instituts für auswärtige Politik") und der in die wilhelminische Gesellschaft integrierten Bankiersfamilie aufzeigen. Über die „Bedeutung des Bankhauses Mendelssohn & Co. für die Industrialisierung Estlands" seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts schreibt Manfred Rasch und belegt den Einsatz der Firma, der vor allem der Versorgung der deutschen Kriegsmarine mit Heizöl zugute kam, durch neu aufgefundene Dokumente aus dem Nachlaß des Wärmeingenieurs Paul Rosin (jetzt im Deutschen Bergbau-Museum, Bochum). Die Autoren, über die das Mitarbeiterverzeichnis Auskunft gibt, sind sämtlich ausgewiesene Fachleute auf ihrem Gebiet. Hervorhebung verdient das den „Studien" vom ersten Band an beigegebene Personen- und Firmenregister, das zugleich die in den Texten genannten Persönlichkeiten mit Lebensjahren und Berufsangaben identifiziert und die wissenschaftliche Auswertung der Beiträge erleichtert. Aber auch der kunstund kulturhistorisch interessierte Laie dürfte an der Lektüre des mit elf Abbildungen ausgestatteten Bandes - darunter Wiedergaben von Zeichnungen bzw. Lithographien Wilhelm Hensels und Philipp Veits - seine Freude haben. Ingeborg Stolzenberg * Vgl. die Besprechungen von Bd. 1, 1972, und 2,1975, in den „Mitteilungen" des Vereins, Jg. 70, 1974, S. 464, und 72, 1976, S. 175.

Neue Mitglieder im IV. Quartal 1986 Wolfgang Bock, Versicherungskaufmann Dröpkeweg 15,1000 Berlin 47 Telefon 6 05 4149 (Geschäftsstelle) Heinz Buchholtz, Oberschulrat Am Fischtal 56, 1000 Berlin 37 Telefon 81313 58 (Walter) Elisabeth Busch Pionierstraße 11,1000 Berlin 20 Telefon 3 75 45 41 (Scheid) Gudrun Düsel Gotha-Allee 45,1000 Berlin 19 Telefon 3 05 67 57 (Schlenk) Alfred Gleitze, Bezirksbürgermeister a. D. Badensche Straße 6,1000 Berlin 62 Telefon 8 54 57 05

Prof. Dr. Heinz-Georg Klös, Direktor des Berliner Zoos Budapester Straße 32, 1000 Berlin 30 (Geschäftsstelle) Christel Kötz Werbergstraße 9, 1000 Berlin 42 Telefon 7 52 39 76 (Franzke) Herbert May, M. A., Historiker Neufertstraße 12, 1000 Berlin 19 Telefon 3 22 35 00 (Bibliothek) Erika Müller-Lauter, Dolmetscherin Klopstockstraße 27, 1000 Berlin 37 Telefon 8 02 6155 (Dr. Einholz) Dr. Hans-Joachim Schlüßler, Dipl.-Chemiker Am Mühlenbusch 43, 5657 Haan/Rhl. Telefon (02129) 68 05 (Dr. Schultze-Bemdt) Christiane Schuchard, Archivarin Bamberger Straße 57, 1000 Berlin 30 Telefon 31248 86 (Siewert)

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Veranstaltungen im I. Quartal 1987 1. Montag, den W.Januar 1987, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Andreas Kaiesse: „Ergebnisse der gartendenkmalpflegerischen Voruntersuchungen und Maßnahmen zur Wiederherstellung im Gutspark Tegel". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Montag, den 26. Januar 1987, 19.30 Uhr: Vortrag von Frau Dr. Iselin Gundermann: „Das Haus Brandenburg in der Reformationszeit". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Montag, den 9. Februar 1987,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Sibylle Einholz: „Die historischen Berliner Friedhöfe und die Berliner Bildhauer-Schule". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 4. Montag, den 23. Februar 1987,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Ingeborg Nöldeke vom Marien-Gymnasium in Jever: „Bericht über die Reise des Dodo von Knyphausen von Emden nach Berlin an den Hof des Großen Kurfürsten im Frühjahr 1683". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 5. Montag, den 9. März 1987,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Dr. Hella Reelfs: „Zur Einrichtung märkischer Gutshäuser um 1800 am Beispiel Steglitz". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 6. Montag, den 16. März 1987,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Ingeborg Hensler und Herrn Oswald Hensler: „Die Kongreßhalle in der Erneuerung". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Bitte beachten Sie die Vortragsveranstaltungen an den geänderten Wochentagen!

Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21, 1000 Berlin 20, Telefon 3 332408. Geschäftsstelle: Frau Liselott Gründahl, Damaschkestraße 33,1000 Berlin 31, Telefon 3 2328 35. Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 3 65 7605. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 0381801200. Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 488

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 83. Jahrgang

Heft 2

April 1987

Heutiger Ruheplatz der verstorbenen Spandauer Juden auf dem AdassJisroel-Friedhof im Ostberliner Stadtbezirk Weißensee, Wittlicher Straße. In seiner Nordwestecke befindet sich das sogenannte „Spandauer Feld".

Die jüdische Gemeinde in Spandau Von Karl-Heinz Bannasch

742 Jahre würde die jüdische Gemeinde Spandau alt, wäre sie nicht von den Nationalsozialisten im „Dritten Reich" vernichtet worden. 1244 wurde sie erstmals urkundlich erwähnt und bald zu einer der größten im ostelbischen Raum. War die Gemeinde in den ersten anderthalb Jahrhunderten in ihrer Existenz immer wieder bedroht, so erblühte sie seit der Zeit des Großen Kurfürsten im Zeichen der Toleranz und führte bis in unser Jahrhundert hinein ein reges Leben. Heute erinnert bis auf eine kleine Gedenktafel in Spandau nichts mehr an ihr Bestehen. Als ältester erhaltener Beleg gilt ein Grabstein von 1244, ein sehr früher Beweis jüdischen Lebens in Spandau. Er trägt folgende Inschrift (Übersetzung): „Dieses Mal wurde errichtet über dem Haupte der Grabstätte des Herrn Jona, des Sohnes des Herrn Dan, der einging zu seiner Ewigkeit im Monat Marcheschwan (des Jahres) 5 der Zeitrechnung."' Das Datum läßt sich für den Zeitraum vom 5. Oktober bis 2. November ermitteln. Vier weitere Spandauer Grabsteine aus dieser Zeit befinden sich heute auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Grunewald. Sie lassen auf eine voll funktionstüchtige jüdische Gemeinde in Spandau schließen. Andere aus dieser Zeit wurden später in der Mauer des Palas der Spandauer Zitadelle verarbeitet. Erste amtliche Erwähnung findet die Gemeinde 1307 in einer Schlachtordnung Markgraf Hermanns für Spandaus Juden. Sie befiehlt den Spandauer Juden, sich zu „unterstehen", ohne Hausbesitz in der Stadt zu schlachten und das Fleisch zum Verkauf anzubieten.2 Jüdische Hausbesitzer sollten das städtische Schlachthaus benutzen und ihre Ware in der Schlächterbude feilbieten. Die Schlachtordnung kam auf Drängen der Spandauer Fleischergilde zustande, die so ihre Marktanteile schützen und die freischlachtenden Juden unter ihre Kontrolle bringen wollte. Andere Städte der Mark, wie Brandenburg an der Havel, zogen später nach.3 Spandau gehörte im 14. Jahrhundert zu den wenigen deutschen Städten, die die Juden nicht ghettoisierte, sie konnten sich in der gesamten Stadt ansiedeln. Wie überall in Deutschland durften sie nicht den Zünften angehören und betätigten sich deshalb im Klein-, Hausierer- und Fleischhandel sowie in dem den Christen verbotenen Geldleihgeschäft. Eine am 30. September 1319 für Spandau erlassene Zinsordnung zeugt von ihrer frühen wirtschaftlichen Bedeutung. In der Urkunde wird den Juden die Erhebung „ungebührlicher Zinsen" verboten.4 Aus dieser Zeit stammte die erste Spandauer Synagoge, die sogenannte „Judenschule", in der späteren Jüdenund heutigen Kinkelstraße. In Höhe der Hausnummer 49 wurde im 14. Jahrhundert die erste Synagoge in einem Wohnhaus eingerichtet.51342 wird sie als „Judenschule" erwähnt. Sie stand auf dem Gelände des späteren Stadthofes und bildete an dieser Stelle das Ende der Straße. Wie Spandaus Chronist Daniel Friedrich Schulze vermerkt, gehörten zur „Judenschule" auch ein „eigener Schul-Klepper und Hof'.6 Der erste jüdische Friedhof der Stadt, der „Juden-Kiewer", wird bei Schulze 1324 erwähnt.7 Auch die Berliner jüdische Gemeinde konnte gegen ein Entgelt ihre Verstorbenen hier begraben.8 Aus religiösen Gründen lag er außerhalb der Stadtmauer, nahe der späteren Hochgerichtstraße. Die festgestellten Grabsteine lassen vermuten, daß der Kiewer spätestens seit 1244 als Begräbnisstätte genutzt wurde. Der Friedhof wurde später aufgelassen. 1342 befahl Markgraf Ludwig dem Rat der Stadt, für die Sicherheit und den Schutz der Spandauer Juden zu sorgen.9 Anfang der vierziger Jahre des 14. Jahrhunderts hatten die Spannungen zwischen Christen und Juden zugenommen. 490

Ehemaliger Jüdischer Friedhof Spandaus zwischen Schülerbergstraße und der Neuen Bergstraße. 1940 zwangsweise umgewidmet. Heute Gelände einer Chemiefabrik. Der Hauptweg befand sich nahezu an gleicher Stelle. Das Jahr 1348 brachte dann die ersten Judenpogrome in Spandau. Die Pest breitete sich über ganz Europa aus, und die Schuld hierfür fanden die christlichen Würdenträger bei den Juden. Nun wurde der Friedhof zerstört, die Grabsteine wurden zum Zitadellenbau verwendet. Die Gemeinde wurde stark dezimiert. Der dunklen Zeit folgte wieder eine andere, in die die Belehnung des Juden Fritzel mit dem Turmamt zu Spandau durch Brandenburgs Markgrafen im Jahre 1356 fällt. Die am 8. September ausgestellte Urkunde belehnt Fritzel wegen „ . . . , manvaldige getrewe dinste, die uns der bescheidin Knecht Fritzel, und sinen elichen erben ghelegen haben und lihen daz ambacht (Amt) unseres tormes zcu Spandow, ...". Verbunden war die Belehnung mit allen Nutzen, Früchten, Ehren und der Gerechtigkeit an der Mühle.10 Es war schon einzigartig, daß ein Jude mit dem erblichen Lehen versehen wurde. Seine „manvaldige getrewe dinste" dürfte Fritzel bei den Auseinandersetzungen des Markgrafen Ludwig des Römers mit dem „Falschen Woldemar" zur Verfügung gestellt haben. Da Markgraf Ludwig nach Beendigung der Thronstreitigkeiten nicht in der Lage war, seine Schulden zu begleichen, wurden die Kreditgeber mit den Einnahmen aus solchen Ämtern ausgezahlt. Benachteiligungen für die Spandauer Juden hielten sich in dieser Zeit in Grenzen. Bekannt ist lediglich, daß sie zur Neuwahl des Spandauer Magistrats 1442 die Hälfte des genossenen Bieres begleichen mußten." Aus dieser Zeit stammt auch die 1537 erstmals beurkundete Jüdenstraße.12 Sie beherbergte die einfacheren Leute: Tagelöhner, aber auch viele aus dem Textilgewerbe." In der aufstrebenden Handelsstadt Spandau wurde sie zu einem Beispiel für das Zusammenleben von Christen und Juden.'4 Die Jüdenstraße war nie eine Ghettostraße, es siedelten sich hier christliche Honoratioren und das Prediaerwitwenheim an. Nahe der heutigen Kinkelstraße stand in der mittelalter491

liehen Stadtmauer auch der sogenannte „Judenturm" 15 , für dessen Unterhalt und Verteidigung im Angriffsfall die Spandauer Juden verantwortlich waren. 1510 kam es zur zweiten Verfolgung in Spandau: Der Kesselflicker Paul Frohm 16 , so die Legende, sollte angeblich in die Dorfkirche von Knobloch im Havelland eingebrochen, zwei Hostien gestohlen und eine davon verzehrt haben. Die zweite sollte er dem Juden Salomon aus Spandau veräußert haben, der einen Teil in einem Kuchen verarbeitete, nachdem er die Hostie verflucht und verwünscht hatte. Dieser Kuchen sollte in einer Synagoge ausgehängt worden sein, wo man ihn angeblich auch gefunden haben will. Diese Aussagen machte Salomon unter Folter vordem Kurfürsten Joachim I.17, der die Untersuchungen auf Druck seiner Landstände leitete.18 Der Hohenzoller forcierte das Verfahren und die Verfolgung, Verurteilung und Vertreibung der märkischen Juden. Auf Betreiben des Bischofs von Brandenburg Hieronimus wurden 111 Juden festgenommen und 51 von ihnen zum Tode verurteilt.19 Mit 37 anderen Glaubensgenossen wurde der Spandauer Jude Salomon im Zentrum Berlins auf einem Scheiterhaufen verbrannt.20 Noch im gleichen Jahr 1510 rehabilitierte Frohm in seiner Beichte Salomon, doch der brandenburgische Bischof unterband die Weitergabe seiner Aussage an den Kurfürsten.21 Spandaus Juden ließ der Rat der Stadt im gleichen Jahr nach Bernau verbringen.22 Wenige Jahre später öffnete der Kurfürst Joachim II. seine Grenzen für handeltreibende Juden aus Polen. Gänzlich vertrieben wurden sie aus Brandenburg deshalb nie, aber die Zeit bis zum Großen Kurfürsten blieb für sie geprägt von Mißtrauen und Verfolgung. Immer wieder waren sie Repressalien ausgesetzt.23 Es war der Große Kurfürst, der ihnen wieder größere Freiheiten gewährte. 1671 erlaubte er 50 vertriebenen Familien aus Österreich Aufenthalt und Ansiedlung24, und am 21. Mai 1671 erließ er das „Edikt wegen aufgenommenen 50 Familien Schutz-Juden, jedoch, daß sie keine Synagogen halten". Er regelte darin in 10 Punkten das künftige Leben der Juden in Brandenburg. Ihnen wurden religiöse Freizügigkeit und der freie Handel garantiert, ansiedeln durften sie sich im Herzogtum Krossen und der Kurmark und Mark Brandenburg.25 Im Jahre 1700 hatte sich der erste Jude wieder in Spandau niedergelassen.26 Einem „Bericht zum Judenwesen der Stadt Spandau" vom 3. April 1720 ist zu entnehmen, daß es nunmehr zwei jüdische Familien mit insgesamt 14 Köpfen in Spandau gab.27 „Sie handelten beide mit Kram waren und Silber", so der Bericht, und konnten „kaum ihre nötige Subsistenz finden".28 Organisatorisch waren sie noch der Berliner Gemeinde angeschlossen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde eine größere Anzahl von Familien hier ansässig. 1782 zählte man 39 Personen.29 Eine wichtige Rolle spielte Spandau bei der Gewährung von Rechten für Juden. Als Friedrich der Große 1750 ein „Generaljudenprivileg" erließ, bestimmte er Spandau zum Ort für die „Hauptversammlungen der Kurmärkischen Landjudenschaften" sowie der „Generalversammlung der Deputierten aus allen königlichen Provinzen".30 Bei den Wahlen der Landjudenschaft am 28. August 1775 wurde der Spandauer Gössel Joseph zu einem der sieben Landesältesten gewählt.31 Obwohl mehrfach aus der Judenschaft der Wunsch geäußert wurde, einen anderen Tagungsort auszuwählen, hielt der Alte Fritz an Spandau fest.32 Der Vorteil der Stadt lag darin, daß sie im Zentrum des Staates lag. Obwohl ihnen viele Rechte zugesprochen wurden, konnte von Freizügigkeit nicht gesprochen werden. Es blieben Zuzugssperren, Berufsverbote und eine extrem hohe Kopfsteuer. Erst die immer weiter vorangetriebene Aufklärung änderte auch das Los der Juden. Besondere Erwähnung muß hier das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate" vom 11. März 1812 finden, das den Juden bürgerliche Rechte zusprach, die Berufsbeschränkung aufhob und bestimmte, daß sie sich bürgerliche Vor- und Nachnamen zulegen sollten.33 492



Eingang zum Haus Ritterstraße 12, in der sich von 1880 bis 1894 eine Wohnungssynagoge befand

Im gleichen Jahr, 1812, zählte Spandau 20 jüdische Familien. 1880 war die Gemeinde schon auf 139 Angehörige angewachsen.34 Mit der Expansion ihrer Mitgliederzahl im 19. Jahrhundert wuchs auch der Grad ihrer Organisation. Gehörten die Spandauer Juden bis dahin als Ortsverband zur Kreissynagogengemeinde Nauen15, so wurde schon 1871 die Gemeindeverwaltung aus dem osthavelländischen Städtchen Nauen in das auch religiös aufstrebende Spandau verlegt. 1894 erhielt die Stadt eine selbständige Synagogengemeinde.36 Bis 1939 blieb sie erhalten, um dann der Berliner Gemeinde angeschlossen zu werden.37 Das Aufstreben der Spandauer Gemeindeorganisation läßt sich auch an ihren religiösen Stätten verfolgen. Lange Jahre hatten sich Spandaus Juden mit Mietwohnungen als Synagogen begnügen müssen. Noch heute sind Teile einer solchen Synagoge im Hause der altstädtischen Ritterstraße 12 erhalten.38 Sie war von 1880 bis 1894 in Gebrauch.39 1889 suchte die Gemeinde einen Bauplatz für eine neuzubauende Synagoge. Dabei versuchte man zunächst, ein Grundstück in der alten Jüdenstraße zu erhalten. Dies war auch bald gefunden, doch es erwies sich als wenig geeignet, weil es von Nachbarn in belästigender Weise eingesehen werden konnte.40 Schließlich baute die Gemeinde am Lindenufer. 1895 wurde die neue Synagoge eingeweiht.41 1865 hatte die Gemeinde in den Schülerbergen, zwischen der heutigen Neuen Bergstraße und Schülerbergstraße, bereits eine Parzelle für einen Friedhof erworben. Das Provisorium, die Toten in Berlin begraben zu müssen, hatte nun ein Ende.42 Nun wurde auch das jüdische Gemeindeleben rege. Ende des 19. Jahrhunderts unterhielt die Gemeinde eine Religionsschule für Kinder.43 1903 wurde der Humanitätsverein „Gemiluth 493

Chassidim", eine Gemeindewohlfahrtskasse für bedürftige Mitglieder, gegründet.44 In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gab es in Spandau ein jüdisches Altersheim in der Feldstraße 8, die „Selig-und-Rosa-Sternberg-Stiftung", sowie einen jüdischen Frauenverein, der sich in der Inflationszeit besonders der Hungernden aller Konfessionen annahm.45 Aber auch im Spandauer Stadtleben erwarben Juden angesehene Stellungen. Seit 1841 bestand das von M. K. Sternberg gegründete Spandauer Kaufhaus „Der guten Qualitäten". Fast 100 Jahre wurde der zum Schluß in der Breiten Straße 21 gelegene Betrieb von dem jeweiligen Oberhaupt der Familie streng patriarchalisch geführt. Dann wurde es von den Nazis enteignet. Zur Familie gehörte der langjährige Armenarzt, Dr. Hermann Kantorowicz, der in den zwanziger Jahren für die liberale Deutsche Demokratische Partei auch der Bezirksverordnetenversammlung Spandaus angehörte, in der er sich besonders um die Naherholungsgebiete kümmerte.46 1933 wurde er als Jude entlassen47 und emigrierte nach Amerika.48 1933 gab es noch 725 Juden in Spandau.49 Bis 1939 schrumpfte die Gemeinde schon auf 205 Personen.50 Den Holocaust überlebten nur 81 Spandauer Juden - 48 Frauen und 33 Männer.51 In Spandau tilgten die Nazis alle Erinnerungen an sie gnadenlos. Als erstes benannten sie 1938 die alte Jüdenstraße in Kinkelstraße um. Am 28. September verkündete das „Amtsblatt für den Landespolizeibezirk Berlin" die Umbenennung.52 Das Auswechseln der Straßenschilder erfolgte ohne öffentliches Aufsehen. Kein Politiker hielt eine Rede, keine Zeitung berichtete darüber. Trotz möglicher Terrormaßnahmen der Nazis blieben einige Anwohner dem alten Straßennamen, solange es irgend möglich war, treu. In Geschäftsanzeigen des „Spandauer Anzeigers" druckten sie ihre Geschäftsadresse weiter unter dem Namen Jüdenstraße aus.53 Wenige Wochen daraufbrannte in der „Reichskristallnacht" die Synagoge am Lindenufer. Sie wurde vermutlich 1942 abgerissen.54 Der Jüdische Friedhof wurde 1940 umgewidmet, und die Gräber der Verstorbenen wurden auf den Adass-Jisroel-Friedhof in Berlin-Weißensee verlegt, auf dem sich heute noch ein Spandauer Feld befindet. Die Umwidmung geschah nicht freiwillig, sondern entgegen der religiösen Auffassung der Juden, auf Drängen des zuständigen Wehrkreiskommandos, das das Friedhofsgelände in seine Bebauungspläne einbeziehen wollte. Im April und Mai 1940 nahmen die Spandauer und die Berliner Gemeinde in eigener Regie die Umbettung vor, wobei der Transport unauffällig abgewickelt wurde. Auch die Grabsteine konnten mitgenommen und neu aufgestellt werden.55 Während in anderen Berliner Bezirken nach dem Krieg die alten jüdischen Straßennamen wiederhergestellt wurden, geschah dies in Spandau nicht. Nur dem engagierten Eintreten des jetzigen Besitzers des Hauses Ritterstraße 12 und dem Geldmangel des Bezirksamtes ist es zu verdanken, daß das Haus, in dem sich die letzte Wohnungssynagoge der Stadt befand, nicht abgerissen wurde.56 Das Prädikat „erhaltenswert", vom Landeskonservator ausgesprochen, wollte der Bezirk nicht berücksichtigen. Jahrelang duldete die Bezirksverwaltung auf dem Gelände der abgerissenen Synagoge eine Kohlenhandlung. Die Nordwand des Gotteshauses stand noch bis 1979 und wurde dann restlos abgetragen.57

Anmerkungen 1. Eugen Ludwig Rapp: Die mittelalterlichen hebräischen Epitaphien aus der Zitadelle von Spandau 1244-1347, Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 23. Band. Berlin 1972, S. 14ff. 2. Daniel Friedrich Schulze: Zur Beschreibung und Geschichte von Spandau, Hrsg. Otto Recke, Spandau 1913, Bd. 1, S. 555. 3. Werner Heise: Die Juden in der Mark Brandenburg bis zum Jahre 1571, in: Historische Studien, Heft 220, Hrsg. Emil Ehering, Berlin 1932, S.21. 494

Synagogeneingang auf dem Hof Ritterstraße 12

4. Ebd., S. 46f. 5. Daniel Friedrich Schulze: a. a. O., S. 555. Andreas Kaiesse und Joachim Pohl: Der „Plan der Stadt Spandau Intra Moenia" von 1728 und Die Topographie der Stadt Spandau im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Historische Grundrisse, Pläne und Ansichten von Spandau, Berlin 1984. 6. Daniel Friedrich Schulze: a.a.O., S.555. 7. Ebd. 8. Ebd. 9. Ebd. 10. Günter Stein: Spandau und Spangenberg. Zwei landesherrliche Burgen im 14. Jahrhundert in jüdischer Hand? Zu den Begriffen Turmamt und Burglehen, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte, 25. Band, Berlin 1974, S. 16ff. 11. Eugen Wölbe: Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg, Berlin 1937, S. 39. Woran die ca. 50 im Jahre 1439 verstorbenen Spandauer Juden zugrunde gegangen sind, ist nicht geklärt. Es kann sich ebenso um eine große Lebensmittelvergiftung in der Gemeinde, um eine Epidemie wie um eine Verfolgung gehandelt haben. Daniel Friedrich Schulze: a.a. O., Bd. 2, S. 22. Werner Heise: a. a. O., S. 144ff. Eugen Wölbe: a. a. O., S. 40. 12. Daniel Friedrich Schulze: a. a. O., Bd. 2, S. 47. 13. Andreas Kaiesse und Joachim Pohl: a.a.O. 14. Ebd. 15. Ebd. 495

16. Paul Frohm war ein Christ. 17. Friedrich Holtze: Das Strafverfahren gegen die märkischen Juden im Jahre 1510, in: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins. Heft 21, Berlin 1884. 18. Ebd. 19. Die Geschichte der Juden in Berlin, in: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung, Berlin (Ost), 24.9.1972,1. Teil. 20. Friedrich Holtze: a.a.O.: Eugen Wölbe: a.a.O., S.57. 21. Eugen Wölbe: a.a.O., S.63. 22. Daniel Friedrich Schulze: a.a. O., S. 555, Bd. 1. 23. Werner Heise: a.a. O., S. 234ff. 24. Daniel Friedrich Schulze: a.a. O., S. 555, Bd. 1. 25. Selma Stern: Der Preußische Staat und die Juden, I.Teil, Die Zeit des Großen Kurfürsten und Friedrichs I., Zweite Abteilung: Akten, Berlin 1925, S. 13. 26. Stefi Jersch-Wenzel: Juden und Franzosen in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg, mit einem Geleitwort von Otto Busch, Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Berlin 1978, S. 59. 27. Selma Stern: a.a. O., II. Teil, Die Zeit Friedrich Wilhelms I., Zweite Abteilung: Akten, S. 87. 28. Ebd. 29. Daniel Friedrich Schulze: a.a. O., S. 556, Bd. 1. 30. Selma Stern: a.a.O., III.Teil, Die Zeit Friedrichs des Großen, Zweite Abteilung: Darstellung. Tübingen 1971, S. 50 ff. 31. Ebd., III. Teil, Die Zeit Friedrichs des Großen, Zweite Abteilung: Akten, Tübingen 1971, S.581f. 32. Ebd., S. 805. 33. Franz Kohstall: Aus der Chronik der Spandauer Jüdischen Gemeinde, Berlin 1929, S. 32. 34. Otto KuntzemüUer: Urkundliche Geschichte der Stadt Spandau und Festung Spandau von der Entstehung bis zur Gegenwart, Spandau 1881, S. 173. 35. Franz Kohstall: a.a.O., S. 26ff. 36. Ebd., S. 42. 37. Der Friedhof von Adass Jisroel in Berlin-Weißensee, unveröffentlichtes Manuskript (o. O., o.J. Berlin [Ost]), 1986. 38. Franz Kohstall: a.a.O., S.42. 39. Besichtigung des Autors mit dem Hausbesitzer 1986. 40. Franz Kohstall: a.a. O., S.47. 41. Ebd., S. 38. 42. Ebd., S. 58. 43. Ebd., S. 56. 44. Ebd., S. 61. 45. Ebd. 46. Protokoll der Stadtverordnetenversammlung Spandau, 10. Juni 1920, Stadtgeschichtliches Museum Spandau/Archiv Aa 39. 47. Landesarchiv Berlin, Akte, Rep. 208, Acc. 1822, Nr. 9411. 48. Entschädigungsamt Berlin, Reg.-Nr.: 62032. 49. Slawenburg, Landesfestung, Industriezentrum, Hrsg. Wolfgang Ribbe, Berlin 1983, S. 311. 50. Berlin in Zahlen 1945, Hrsg. Statistisches Amt der Stadt Berlin, Berlin 1947, S. 68. 51. Berlin in Zahlen, 1946-1947, Hrsg. Hauptamt für Statistik von Groß-Berlin, Berlin 1949, S. 67. 52. Amtsblatt für den Landespolizeibezirk Berlin, Ausgegeben Berlin am 28. September 1938, Stück 78, lfd. 753. 53. Spandauer Anzeiger, Jahrgang 1938. 54. Synagogen in Berlin, Teil 2, Hrsg. Rolf Bothe, Berlin 1983, S.25f. 55. Der Friedhof von Adass Jisroel in Berlin-Weißensee. unveröffentlichtes Manuskript, (o.O., o.J. Berlin [Ost]), 1986. 56. Andreas Kaiesse in einem Gespräch mit dem Autor 1986; Gespräch mit dem Hauseigentümer 1986. 57. Andreas Kaiesse in einem Gespräch mit dem Autor 1986.

Anschrift des Verfassers: Karl-Heinz Bannasch. Hasenmark 22, 1000 Berlin 20

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Paralipomena - Glienicker Antiquitäten aus dem Kunsthandel Von Harry Nehls 1985 konnten auf einer Auktion zwei KPM-Vasen, sogenannte Weimar-Vasen, mit Darstellungen des Glienicker Schlosses, Stibadiums, Klosterhofes und Casinos (Abb. 1, 2, 5, 6) ersteigert werden.1 „Die Bezeichnung ,Weimar'-Vase geht auf eine Bestellung der Herzogin von Weimar zurück, deren Gemahl, der Regierende Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, am 17. Januar 1786 die (Berliner = Anm. des Verf.) Manufaktur besuchte." 2 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr dieser Vasentypus mit dem für ihn so charakteristischen eiförmigen Vasenkörper auf rundem Fuß eine Neuauflage. Daß diese Vasenmodelle antike Vorbilder zur Grundlage haben, hob jüngst Winfried Baer3 hervor. In die Zeit der Neuauflage gehören auch unsere aus dem Kunsthandel stammenden Vasen. Mit großer Sicherheit kann man davon ausgehen, daß sie gleichzeitig sind, genauer gesagt, daß sie zu einem bestimmten Anlaß bei der KPM in Auftrag gegeben wurden. Einen „terminus post quem" liefert uns sowohl die Karyatide vom Stibadium (Abb. 2, 3), eine 1850 gefertigte Nachbildung von Rauchs „Ceres" bzw. „Felicitas publica" für das Münchener Max-JosephDenkmal 4 (Abb. 4), als auch das Porzellanbildnis des „Venetianischen Klosterhofes" (Abb. 5). den Prinz Friedrich Carl Alexander von Preußen (1801-1883) „zur Erinnerung an seinen oft wiederholten Aufenthalt in Venedig und zur Aufstellung einer ausgesuchten Sammlung mittelalterlicher Kunstschätze im Charakter eines Byzantinischen Chiostro" 5 im Jahre 1850 durch den Architekten Ferdinand von Arnim (1814-1866) errichten ließ. Der Blick des Betrachters unseres Vasenbildes wird geschickt vom Kreuzgang hinweg über den Innenhof mit dem venezianischen Brunnen zur Ostwand gelenkt. In der großen Apsis erkennt man bei genauerem Hinsehen mehrere eingemauerte Spolien, darunter auch das Grabmal des Pietro d'Abano 6 . Eine ganz ähnliche stimmungsvoll-romantische Innenansicht des Klosterhofes zeigt die - in Berliner Privatbesitz befindliche - Radierung von Bernhard Mannfeld, die erst kürzlich in der Ausstellung „Prinz Karl von Preußen und der Goslarer Kaiserstuhl" der Berliner Staatsbibliothek zu besichtigen war. Zucholds Datierung der Mannfeldschen Radierung in die „Mitte des vorigen Jahrhunderts" 7 bedarf der Korrektur. Karl Julius Bernhard Mannfeld, ein Schüler von Friedrich Otto Georgi (1819-1874), wurde am 6. März 1848 (!) in Dresden geboren und starb am 29. März 1925 in Frankfurt am Main.8 Er kann demnach im Kindesalter den Glienicker Klosterhof kaum gezeichnet haben. Die Radierung muß daher später datiert werden, etwa in die Zeit 1870 bis 1875. Vasenbild und Radierung sind meines Wissens die einzigen bisher bekannten zeitgenössischen Darstellungen vom Interieur des Klosterhofes, der dem Prinzen sehr am Herzen lag. Testamentarisch verpflichtete er deshalb seinen Sohn Friedrich Karl (1828-1885) dazu, „den Klosterhof zu Glienicke mit allen eingemauerten Fragmenten" 9 unter Aufwendung eines alljährlichen Betrages in Höhe von 30000 Mark zu erhalten. Zurück zu unseren Vasen: Für eine genauere Datierung nach 1850 sind die jeweils dreizehn „Stifternamen" von Bedeutung, die im goldradierten Blattrand der Vasen stehen und leider nicht im Foto, sondern nur am Objekt selber zu erkennen sind. Die Weimar-Vase mit der Ansicht des Klosterhofes und Casinos (Abb. 5, 6) trägt folgende Namen: 1. von Alvensleben10 2. von Roon" 3. Casper12 497

von Armin13 Marquis von Lucchesini14 Graf von Schaffgotsch15 Graf Wrschowetz-Scherka von Sedczicz16 8. Graf von der Groeben 17 9. von Witzleben18 10. Weihs19 11. Freiherr von Puttkammer 20 12. Misitschek von Wischkau21 13. Graf von Brühl22 Auf der zweiten Weimar-Vase mit der Darstellung von Schloß und Stibadium (Abb. 1,2) stehen ferner die Namen von: 1. Freiherr von Moltke23 2. von Borcke24 3. Carl Prinz von HohenloheIngelfingen25 4. von Böse26 5. Freiherr von Reisewitz 6. Gräfin V. von Hacke 27 7. Gräfin J. von Seydewitz28 8. Gräfin C. von Lucchesini29 9. von Froreich30 10. Graf von Pückler31 11. Graf von Keller32 12. von Rudolphini33 13. Freiherr von Senden34 Neben Mitgliedern des Berliner Hofes dominieren unter den insgesamt 26 Dedikanten ganz auffällig Angehörige des preußischen Militärs, z. T. von höchstem Range. Schon von daher liegt es nahe anzunehmen, daß unsere beiden Weimar-Vasen ein Geschenk für den Prinzen Carl von Preußen anläßlich seiner Ernennung zum „General-Feldzeugmeister mit dem Range eines General-Feldmarschalls und zum Chef der Artillerie"35 am 30. März 1854 bilden. Darauf weisen auch die vergoldeten, paarweise gekreuzten Kanonenrohre vor den Henkeln mit dem darübersitzenden preußischen Adler hin, während die achtspitzigen weißen Kreuze unmittelbar unter den Henkeln das Insigne des Johanniterordens 36 repräsentieren. Ein Jahr zuvor, am 15. März 1853, war Prinz Carl zum Herrenmeister (Abb. 8) der Bailei Brandenburg dieses wohltätigen Ordens ernannt worden; zwei Monate später, d.h. am 17. Mai, erfolgte die Investitur in der Kapelle des Charlottenburger Schlosses.37 Die finanziellen Verhältnisse38 des Königssohnes, ohne reale Chance als Drittgeborener und damit im politischen Schatten Stehender jemals auf den preußischen Thron 39 zu gelangen, erlaubten ihm aber - neben seinem Glienicker Sommersitz, dem attraktiven Anziehungspunkt von Monarchen, Adel, Miliar, Künstlern und Geisteswissenschaftlern - auch ein Stadtpalais (am Wilhelmplatz) mit aufwendigem Hofstaat (Abb. 7) zu unterhalten.40 Schwieriger jedoch als die Datierung der Vasen in das Jahr 1854 ist die Bestimmung des Künstlers der Bildvorlagen. Der Maler hat sich bemüht, Schloß, Stibadium, Klosterhof und Casino mit unglaublicher Genauigkeit der architektonischen Details bei aller vorherrschenden sensiblen Atmosphäre, welche die Porzellanmalereien unzweifelhaft ausstrahlen, wieder4. 5. 6. 7.

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Abb. 1: Der Sommersitz des Prinzen Carl von Preußen: Schloß KJein-Glienicke (1825-1828) mit der 1837 entstandenen Löwenfontäne. Die Porzellanmalerei wird durch je zwei sich zuwendende C-förmige Goldblattkranzgebilde gerahmt, die unschwer als Initialen des Prinzen zu erkennen sind. Vor den Vasenhenkeln je zwei gekreuzte Kanonenrohre mit aufsitzendem preußischem Adler, unmittelbar unter den Henkeln das - in der Aufnahme nicht sichtbar - achtspitzige weiße Johanniterkreuz. Weimar-Vase, 1854.

zugeben. In Frage kämen vielleicht zunächst Künstler, die unter anderem auch als Porzellanmaler tätig waren, z. B. Eduard Biermann (1803-1892) und Carl Daniel Freydanck (1811-1887). Aberauch Maler bzw. Lithographen wie Ernst Hasse (1819-1860), August C. Haun 1815-1894), Julius Hennicke, Johann Heinrich Hintze (1800-1861), W. Loeillot, A. Lompeck, Xaver Sandmann, August Wilhelm Ferdinand Schirmer (1805-1866) oder Julius Schoppe (1795-1868) wären bei der Künstlerfrage wohl zu berücksichtigen. Eine genauere kunsthistorisch-stilistische Analyse, die an dieser Stelle aufgrund der unzureichenden Fotovorlagen nicht geleistet werden kann, wird sicherlich bald eine Antwort auf die aufgeworfene Frage geben können.41 Etwas jünger als unsere Weimar-Vasen ist der KPM-Teller (Abb. 9), der im vergangenen Jahr in der Berliner Ausstellung des deutschen Kunsthandels im Knobelsdorff-Flügel des Charlottenburger Schlosses zu besichtigen war.42 Die Rückseite des Porzellantellers trägt die Aufschrift „Die Glienicker Brücke bei Potsdam" und ist in den Zeitraum 1837 bis 1844 zu datieren. Wie schon bei den vorhergehenden Vasen, so läßt sich auch hier - vorläufig jedenfalls - der Maler nicht näher bestimmen. Von Potsdam her erkennt man rechts die „Rotunde" bzw. die soge499

nannte Große Neugierde sowie am linken Bildrand das Glienicker Casino am Hochufer des Jungfernsees. Motivisch verwandt ist ein etwa zeitgleiches Bild (1833) des Malers, reproduzierenden Lithographen und Verlegers W. Loeillot.43 Allein die zahlreichen Porzellangefäße mit Darstellungen von Glienicke44 wären einmal eine Ausstellung zu dem Thema „Glienicke im Porzellanbild" wert. Etwas anders verhält es sich bei unserem letzten Kunsthandelsobjekt, einer kleinen goldenen Tabatiere (Abb. 10), die ebenfalls in der oben erwähnten Ausstellung im Knobelsdorff-Flügel zu sehen war und im dazu erschienenen Katalog wie folgt beschrieben wird: „Schnupftabakdose, Gold, allseitig graviert und mit hellblauem und weißem Email eingelegt; auf dem Deckel Elfenbeinminiatur mit dem Porträt des Prinzen Carl von Preußen (1801-1883) Neuenburg (Schweiz)45, um 1820 (die Dose ist wahrscheinlich ein Geschenk des Prinzen an seinen langjährigen Erzieher, Baron Minutoli), 8 X 5 und 5X3 cm."46 Ob es sich hierbei tatsächlich um ein „Geschenk des Prinzen an seinen langjährigen" Gouverneur (1810-1820), Johann Heinrich Carl Freiherr Menü von Minutoli (12. Mai 1772 Genf 16. September 1846 Lausanne), handelt, mag vorläufig dahingestellt bleiben. Die Provenienzangabe „Neuenburg" ist nur bedingt beweiskräftig, zumal gerade in der Schweiz mehrere Kunstobjekte aus dem ehemaligen Carlschen Besitz aufgetaucht sind.47 Doch im Gegensatz zu den Weimar-Vasen und dem Porzellanteller läßt sich diesmal die Mal vorläge eindeutig bestimmen: das Porträt des Prinzen Carl geht ohne jeden Zweifel auf eine um 1825 datierte Zeichnung von Franz Krüger (1797-1857) zurück.48 Prinz Carl trägt die Uniform eines Generalmajors, wozu er am 30. März 1824 - also kurz vor dem Erwerb seines Glienicker Sommersitzes (1. Mai 1824) - befördert worden war.49 Demnach gehört unsere Neuenburger Schnupftabakdose in die Zeit um 1825, ist also etwas später zu datieren. Da die Erforschung der Biographie des Prinzen Carl von Preußen50 eigentlich erst begonnen hat, wäre es sinnvoll, auch die hier nur kurz besprochenen Glienicker Novitäten des Kunsthandels darin mit einzubeziehen. Mit großem Interesse darf man in diesem Zusammenhang wohl jetzt schon der bevorstehenden Berliner Ausstellung „Schloß Glienicke - Bewohner, Künstler, Parklandschaft", die am 1. August ihre Pforten öffnen wird, entgegensehen dürfen. Anmerkungen 1. Die Vasen befinden sich derzeit im Besitz der Staatlichen Schlösser und Gärten, Berlin-Charlottenburg, KPM-Archiv. Für Hinweise und Fotos (Abb. 1,2, 5,6, 9) habe ich ganz besonders Frau Edith Mischell, Köln, zu danken. Der Auktionsort wird hier bewußt nicht erwähnt. - Höhe der Vasen: 52 cm. 2. Winfried Baer: Ausgewählte Werke des Kunsthandwerks. Erwerbungen der Berliner Schlösserverwaltung in der Nachkriegszeit, in: Martin Sperlich/Helmut Börsch-Supan (Hrsg.): Schloß Charlottenburg Berlin Preußen. Festschrift für Margarete Kühn. München-Berlin 1975, S. 110. 3. Winfried Baer: Der Einfluß der Antike auf das Erscheinungsbild der Berliner Porzellanmanufakturen, in : Willmuth Arenhövel (Hrsg.): Berlin und die Antike. Ausstellungskatalog. Berlin-West 1979, S. 253 Nr. 471. 4. Johannes Sievers: Bauten für den Prinzen Karl von Preußen. Berlin 1942, S. 61. - Norbert Lieb: München. Die Geschichte seiner Kunst. München 1971, S.291 f. mit Abb. - Zum antiken Vorbild (= Tyche von Antiochia) und preußischem Allegoriegehalt der Glienicker Karyatide vgl. Liselotte Wiesinger: Der Elisabethsaal des Berliner Schlosses, in: Jahrbuch der Berliner Museen 24 (1982), S. 220. 500

Abb. 2: Nach dem Vorbild des an der Gräberstraße vor dem Herculaner Tor zu Pompeji gelegenen Grabmals der Venuspriesterin Mammia aus dem frühen 1. Jahrhundert n. Chr. schuf Ludwig Persius 1840 das sogenannte Stibadium, einen erhöhten Gartensitz, im Glienicker Pleasureground. Die vor der Karyatide (= nach Chr. D. Rauch, 1850, ausgeführt vom Bildhauer Heinrich Berges, 1849) sichtbare Granitschale erbte Carl von Friedrich Wilhelm III. Bereits am 26. Juni 1840 wurde sie durch den Bauinspektor Christian Cantian aufgestellt. Seit ca. 1940 verschollen, gelangte die am Fuß signierte Granitschale („C. Cantian. Berlin.") am 15. März 1982 aus der Schweiz wieder nach Glienicke zurück. Weimar-Vase, 1854 (Detail).

5. Zitiert nach den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams 1864, S. 82. Zum Glienicker Klosterhof vgl. Gerd-Harald Zuchold: Byzanz in Berlin. Der Klosterhof im Schloßpark Glienicke. Berlin-West 1984 (= Berliner Forum, 4). 6. Malve Gräfin Rothkirch: Prinz Carl von Preußen. Kenner und Beschützer des Schönen 1801-1883. Eine Chronik aus zeitgenössischen Bildern und Dokumenten. Osnabrück 1981, S. 141. - Dieselbe: Der Glienicker Klosterhof. Eindrücke - Fragen - Gedanken, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 3 (1983), S.67. - Zuchold (wie Anm.5), S.22f. mit Anm.31. Die genauere Provenienz der eingemauerten Spolien des Klosterhofes ist aufgrund des fehlenden Carlschen Inventars bisher unbekannt. Das gleiche gilt auch für die überwiegende Mehrheit der griechisch-römischen Antiken des Schloßhofes, der Kleinen Neugierde und des Kasinos. Der Ankauf norditalienischer Altertümer lief über das Wiener Finanzamt, da Oberitalien nach der französischen Besetzung an Österreich kam. Möglicherweise existieren in Wien noch Unterlagen hierüber, so daß sich die Herkunftsfrage eventuell doch noch klären ließe (so Zuchold auf einer Lesung in der Berliner Thaer-Buchhandlung am 27. November 1986). 7. Zuchold (wie Anm. 5), in der Legende zur Farbbildung auf S. 12 und ders.: Prinz Karl von Preußen und der Goslarer Kaiserstuhl. Kunstgeschichte und Denkmalpflege in Berlin und Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin-West 1986, S. 135 Nr. 3/S. 139.

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8. Zu Mannfeld vgl. Thieme-Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler Bd. 24. Leipzig 1930, S. 21. Hingewiesen sei ferner auf zwei Schraubbandmappen im Studiensaal des Berliner Kupferstichkabinetts mit zahlreichen, z. T. datierten Radierungen des Künstlers. 9. Sievers (wie Anm. 4), S. 165. 10. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man hier sämtliche Stifternamen detailliert vorführen. Deshalb sei wenigstens auf unentbehrliche biographsiche Nachschlagewerke wie den „Gotha" bzw. Thomas Freiherr von Fritsch: Die Gothaischen Taschenbücher, Hofkalender und Almanach. Registerband. Limburg 1968 (= Aus dem Deutschen Adelsarchiv, 2), Stammfolgen-Verzeichnisse. Genealogisches Handbuch des Adels. Deutsches Geschlechterbuch. Registerband. Limburg 1977 und Ernst Heinrich Kneschke (Hrsg.): Neues allgemeines Deutsches Adeis-Lexicon. Bd. 1-9. Leipzig 1929-1930 (= Unveränderter Abdruck von 1859-1870) hingewiesen. Der vor kurzem erschienene vierbändige Deutsche Biographische Index (vgl. Anm. 15) ist leider unvollständig. Gustav von Alvensleben (1803-1881). Angehöriger des preußischen Generalstabes. Vgl. Georg Schuster (Hrsg.): Briefe, Reden und Erlasse des Kaisers und Königs Friedrich III. Berlin 1907, S. 65 ff. Zum altmärkischen Adelsgeschlecht vgl. Kneschke, a. O., Bd. 1,1929, S. 63 ff. - Neue Deutsche Biographie, Bd. 1. Berlin 1953, S. 233 Nr. 5. 11. Albrecht Graf von Roon (1803-1879). preußischer Generalfeldmarschall, zeitweiliger Erzieher des Sohnes des Prinzen Carl, Friedrich Karl, vgl. Neue Deutsche Biographie. Bd. 5. Berlin 1961, S. 566. Erhard Ingwersen: Standbilder in Berlin-West 1967. S. 91 Nr. 39 (= Berlinische Reminiszenzen. 16). Zum niederländischen Geschlecht von Roon vgl. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 6, 1930, S. 570. 12. Geheimrat Johann Ludwig Casper (1786-1864), Schriftsteller und Hofarzt des Prinzen Carl. vgl. Meyers Konversations-Lexikon. Bd. 4. Leipzig 1875, S. 197. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), S. 180 (Notiz vom 12. Februar 1858). 13. Möglicherweise Leopold Ferdinand Eduard Dietrich Graf von Arnim (1794-1856), preuß. Major, vgl. Gerd Heinrich (Hrsg.): Karl Ludwig von Prittwitz: Berlin 1848. Berlin-West/New York 1985, Personenreg. S. 503 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60). 14. Franz Marquis von Lucchesini, königl. preußischer Kammerherr, Wirklicher Geheimer Rat und Hofmarschall des Prinzen Carl, vgl. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 6, 1930, S. 26 - Dagobert von Rentzell: Geschichte des Garde-Jäger-Bataillons 1808-1888. Berlin 1889, S. 342/S. 362 Nr. 173. Zum alten, aus Lucca (daher der Name) stammenden Patriziergeschlecht, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Preußen kam, vgl. Kneschke, a. O. - Heinrich Otto Meisner: Vom Leben und Sterben der Königin Luise. Berlin-Leipzig 1926, S. 59/S. 91 Anm. 81. - Merete van Taack: Königin Luise. Tübingen 1978, S. 328. - Malve Gräfin Rothkirch (Hrsg.): Königin Luise von Preußen. Briefe und Aufzeichnungen 1786-1810. München 1985. Personenreg. S. 617. 15. Vermutlich Graf Emmo von Schaffgotsch, den Louis Schneider: Aus meinem Leben. Bd. 2. Berlin 1879, S. 2 („Kammerherr Ihrer Majestät der Königin"), beiläufig für das Jahr 1848 erwähnt. Zum altadeligen Geschlecht der aus Schlesien und Böhmen stammenden Schaffgotschs vgl. Meyers Konversations-Lexikon. Bd. 14. Leipzig 1878, S. 209. - Die Königin Luise in 50 Bildern für Jung und Alt. Berlin 1896 (= Reprint 1981), Text zu Taf. 19 („Das Königspaar in Begleitung der Familie des Grafen von Schaffgotsch auf der Schneekoppe"). - Willi Gorzny (Hrsg.): Deutscher Biographischer Index. Bd. 4. München London New York Oxford Paris 1986, S.1765. - Wegen des Streites um die Wallenstein-Dokumente, die kürzlich auf der Berliner „Antiqua 86" gezeigt wurden, tauchte mehrmals der Name eines Nachfahren aus diesem Geschlecht in der Öffentlichkeit auf, nämlich der von Gotthard Graf Schaffgotsch, vgl. die Tagespresse (Der Tagesspiegel, Berliner Morgenpost und BZ) vom 2. Dezember 1986. Vgl. femer Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 8. 1930. S. 82ff. 16. Hugo Graf Wrschowetz-Scherka/Sekerka von Sedczicz (geb. 1809). königl. preußischer Major und Adjutant. Vgl. Schneider (wie Anm. 15), Bd. 1, 1879, S.405. - Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 9, 1930, S. 610. Zum böhmischen Geschlecht der Wrschowetz' vgl. Kneschke, a. O., S. 609f. - Gorzny (wie Anm. 15), Bd. 4, S. 2256 s. v. Wrschowetz-Sekerka und Sedczicz. 17. Vermutlich Karl Joseph Graf von der Groeben (1788-1876), General der Kavallerie und Generaladjutant, oder dessen Sohn, Georg Graf von der Groeben (1817-1894). vgl. Neue Deutsche Biographie. Bd. 7. Berlin 1966. S. 105. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 281. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 4, 1930, S.43ff. 18. Job Wilhelm David von Witzleben (1813-1867), seit 1852 persönlicher Adjutant des Prinzen Carl; starb am 23. April 1867 als Generalmajor und Kommandeur der 9. Kavalleriebrigade zu Potsdam, vgl. Wolfgang Foerster: Prinz Friedrich Karl von Preußen. Denkwürdigkeiten aus seinem Leben. Bd. 1.

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Abb. 3: Die Aufnahme (um 1870, ehem. im Besitz des 1985 verstorbenen Baron P. Cerrini, jetzt in der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten, Schloß Charlottenburg) vom inzwischen fast zugewachsenen Stibadium zeigt - wie das Vasenbild Abb. 2 - die heute nicht mehr vorhandenen Schinkelschen gußeisernen, auf der Porzellanmalerei mit rotem Farbanstrich versehenen Gartenmöbel. - Verschollen sind ebenfalls die zahlreichen antikisierenden Kratere aus Zink- oder Eisenguß sowie die nur noch schemenhaft erkennbare Bronzestatuette eines nackten Knaben auf der linken Mauerbrüstung.

Stuttgart-Leipzig 1910, S. 119 Anm. 1. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 288. - Dieselbe: Der Glienicker Klosterhof (wie Anm. 6), S. 77. 19. Möglicherweise identisch (?) mit dem „Stabsarzt Dr. Weiß", den Schneider (wie Anm. 15). Bd. 2, S. 305/vgl. S. 309 („Regisseur Weiß") erwähnt. 20. Entweder identisch mit von Puttkammer. Hauptmann des 1. Garderegiments zu Fuß, vgl. Ludwig Geiger (Hrsg.): Bettine von Arnim und Friedrich Wilhelm IV. Ungedruckte Briefe und Aktenstücke. Frankfurt/Main 1902, S. 50. - Heinrich Otto Meisner (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Tagebücher von 1848 bis 1866. Leipzig 1929, S. 205. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 285. - Heinrich (wie Anm. 13), Personenreg. S. 512 oder, was wahrscheinlicher ist, mit Constantin Freiherr von Puttkammer (1807-1899), preußischer Generalmajor und Rechtsritter des Johanniterordens, vgl. Gorzny (wie Anm. 15), Bd. 3. S. 1606. Das alte pommersche Adelsgeschlecht von Puttkammer ist übrigens verwandt mit dem der Wrschowetz', vgl. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 7, S. 290. 21. Miesitscheck von Wischkau (gest. 1866 an der Cholera in Prag), Abteilungskommandeur, Major und Oberstleutnant der Artillerie, vgl. die Memoiren des Generals der Artillerie und Generaladjutanten Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen: Aus meinem Leben. Bd. 3. Berlin 1908, S. 170/ S. 223/S. 240/S. 249/S. 331 ff. und S. 374, wo von der Errichtung eines Denkmals für von Wischkau berichtet wird. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 6, S.288/Bd.9, S.89. - Helmut Börsch-Supan: Die Gemälde im Jagdschloß Grunewald. Berlin-West 1964, S. 125, erwähnt eine alte Beschriftung auf der Rückseite des um 1860 zu datierenden Gemäldes von Carl Steffeck „Prinz Carl von Preußen als Roter Jäger zu Pferde" (versehentlich ist anstelle dieses Gemäldes Eduard Grawerts „Generalfeldmarschalt Wrangel als Roter Jäger" abgebildet!), wo ein „Hauptmann Miesitscheth" genannt wird. Da die' Schreibweise von Namen im 19. Jahrhundert nicht homogen ist, liegt es nahe, den von Steffeck porträtierten „Hauptmann Miesitscheth" mit unserem Miesitscheck von Wischkau gleichzusetzen. 503

Abb. 4: Rauchs Bronzedenkmal (hier seitenverkehrt abgebildet) des Königs Maximilian I. Joseph auf dem Max-Joseph-Platz in München, 1826-1835. Von Leo Klenze stammt die architektonische Gesamtform, von Rauch die Figuralkomposition. Zwischen den Löwen die Figur der Felicitas publica/Ceres, die in Glienicke zweimal Verwendung gefunden hat: als Karyatide am Stibadium und als Allegorie über der „Weinlaube" des Kavalierhauses (zwischen der Iphigenie und dem Odysseus, Gipsabgüsse).

22. Vermutlich Albrecht Graf von Brühl (1821-um 1890), Kammerherr des Prinzen Carl, vgl. Balduin Möllhausen: Die Dreilinden-Lieder. Berlin 1896, S. XIX. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 278. Zu seinem berühmten Vater, Karl Friedrich Moritz Graf von Brühl (1772-1837), vgl. Caroline von Rochow/Marie de la Motte-Fouque: Vom Leben am preußischen Hofe 1815-1852. Berlin 1908, S. 167 Anm. 3. - Meisner (wie Anm. 14), S. 33 mit Anm. 44. 23. Helmuth Graf von Moltke (1800-1891), späterer preußischer Generalfeldmarschall, Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 6, S. 335ff., vgl. Ingwersen (wie Anm. 11), S.91 f. Nr.40. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 284. 24. Heros von Borcke (gest. um 1890), Rittmeister, Ordonnanzoffizier, Leutnant, Major und persönlicher Adjutant des Prinzen Friedrich Karl. vgl. Möllhausen (wie Anm. 22), S. XIX. - Foerster. Bd. 2 (wie Anm. 18), S. 24/S. 79/S. 103/S. 110/S. 294/S. 502/S. 511/S. 515. - Prittwitz (wie Anm. 13), S. 158. Zum pommerschen Adelsgeschlecht von Borcke vgl. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 568 ff. 25. Prinz Carl Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen (1820-1890), Major der Kavallerie, vgl. Meisner: Friedrich III. (wie Anm. 20). S. 394. - Joachim Werner (Hrsg.): Maxe von Arnim, Tochter Bettinas. Gräfin von Oriola 1818 bis 1894. Leipzig 1937, S. 118. Zu dessen bekannteren Bruder, dem General der Artillerie und Generaladjutanten, Prinz Friedrich Wilhelm zu Hohenlohe-Ingelfingen (1827-1892) vgl. Möllhausen (wie Anm. 22), S. XIII/S. XIX, sowie seine postum erschienenen Memoiren (vgl. hier Anm. 21).

Abb. 5: Interieur des „Venetianischen Klosterhofes" mit - in der Apsis der Ostwand - eingemauerten byzantinisch-mittelalterlichen Spolien, die größtenteils aus Venedig bzw. Norditalien herstammen. Weimar-Vase. 1854.

26. Julius Graf von Böse (1809-1894), General, vgl. Schuster (wie Anm. 10), S. 268 Anm. 2. - Foerster (wie Anm. 18), Bd. 2, S.46. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), S.218 (= Brief der Prinzessin Marie vom 18. September 1870). 27. Virginie Gräfin von Haacke/Hacke, Hofdame der Prinzessin Carl, vgl. Schneider (wie Anm. 15), Bd. 2, S.370/S.379. - Der Bär 6 (1880), S. 440 (Wagener). - Rudolf Vierhaus: Das Tagebuch der Baronin Spitzenberg. Göttingen i960, S. 77 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts. 43). Schwester oder Tochter der Editha Gräfin von Hacke, Hofdame der Königin Elisabeth, vgl. Rochow/ Marwitz (wie Anm. 22), S. 291. 28. Josephine von Seydewitz, Hofdame der Prinzessin Carl bzw. Marie. Prinz Carl unterhielt wahrscheinlich eine Liaison mit dieser „berühmten Schönheit am Preußischen Hof". Auch Graf Georg von der Groeben (vgl. hier Anm. 17) soll den „gefährlichen Augen der Gräfin Seydewitz verfallen" gewesen sein, vgl. Werner (wie Anm. 25). S. 83/S. 85. - Wilhelm Moritz Freiherr von Bissing: Sein Ideal war der absolut regierte Staat. Prinz Carl von Preußen und der Berliner Hof, in: Der Bär von Berlin 25 (1976), S. 132 mit Anm. 18. Anders Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), S. IX/S. 211 (Notiz vom Juli 1867), die die Ehe zwischen Carl und Marie als „glücklich" bezeichnet. 29. Gemahlin des Grafen Lucchesini (vgl. Anm. 14). 30. Genaue biographische Daten zu den von Froreich und Freiherr von Reisewitz waren dem Verf. über die herkömmliche Literatur nicht zugänglich. Zum alten liefländischen bzw. pommerschen Adelsgeschlecht von Froreich vgl. vorläufig Kneschke (wie Anm. 10). Bd. 3. 1929. S. 379f. - Gothaisches genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser. Teil B. 24. Jg. Gotha 1932. S. 148 ff. (= identisch

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Abb. 6: Schinkels erste Schöpfung in Glienicke: Blick auf das 1824/25 errichtete Casino mit den seitlich flankierenden Pergolen am Ufer der Havel. Kaum erkennbar die Porphyrsäule mit dem Figuralkapitell und dem daraufsitzenden preußischen Adler, vor dem linken Pergola-Arm. Weimar-Vase, 1854.

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mit Carl Ludwig Ernst von Froreich, geb. 1790, gest. 1867, königl. preußischer Generalmajor?). Zum schlesischen Adelsgeschlecht von Reisewitz vgl. Gothaisches genealogisches Taschenbuch der Freiherrlichen Häuser. 40. Jg. Gotha 1890, S. 667ff., bes. S. 668 (möglicherweise Georg Wilhelm Leopold Freiherr von Reisewitz, geb. 1822, gest. 1882). - Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 7, 1930, S. 443 f. s. v. Reisewitz-Kaderzin und Grabowska. Vermutlich identisch (?) mit Sylvius Graf von Pückler (1800-1859), Kammerherr der Königin Elisabeth, Vetter des berühmten Fürsten (seit 1822 Fürst) Hermann Ludwig Heinrich Graf von Pückler-Muskau (1785-1871), vgl. Schneider (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 272. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 285. Alexander Graf von Keller, Hauptmann im 1. Garderegiment zu Fuß, Wirklicher Geheimer Rat und Hofmarschall, vgl. Schneider (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 247/S. 260. - Hohenlohe-Ingelfingen. Bd. 2 (wie Anm. 21), Personenreg. - Meisner: Friedrich III. (wie Anm. 20), S. 22/S. 73/S. 81. - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Personenreg. S. 282. - Prittwitz (wie Anm. 13), Personenreg. S. 509. Identisch (?) mit von Rudolphi, General bzw. Flügeladjutant in Petersburg, vgl. Hohenlohe-Ingelfingen. Bd. 2 (wie Anm. 21), S. 73. - Foerster. Bd. 1 (wie Anm. 18), S. 227. Verwandt/identisch (?) mit Karl Freiherr von Senden-Natzlaff, Regierungspräsident, vgl. Meisner: Friedrich III. (wie Anm. 20), S. 383, oder aber mit Ernst Freiherr Schuler von Senden (1812-1899), Oberstleutnant, aus einer alten Offiziersfamilie stammend, vgl. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 8, S. 465 ff. - Gorzny (wie Anm. 15), Bd. 4, S. 1861/S. 1903. Carl, Prinz von Preußen, in : Der Bär 6 (1880), S. 316. Der Autor (= D.) dieses kleinen Beitrages gibt irrtümlich als Datum der Ernennung den 2. März 1854 an. Bissing (wie Anm. 28), S. 126/S. 139 gar verlegt sie in das Jahr 1856 (!). Das präzise Datum der Ernennung zum Generalfeldzeugmeister durch seinen Bruder, Friedrich Wilhelm IV., war jedoch der 30. März 1854, vgl. Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), S. 158 (= Brief Carls vom 27. März), S. 159.

Abb. 7: Anonymes Foto von 21 hohen Chargen des Prinzen Carl von Preußen, aufgenommen im Hof seines Stadt- bzw. Ordenspalais am Wilhelmplatz, um 1878. 36. Zum Johanniterorden vgl. Leopold Freiherr von Zedlitz: Neuestes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam zum täglichen Gebrauch der Einheimischen und Fremden aller Stände. Berlin 1834, S. 556 f. - Soweit der Erdkreis reicht. Johann Moritz von Nassau-Siegen 1604-1679. Ausstellungskatalog des Städtischen Museums Haus Koekkoek Kleve. Zweite Auflage Kleve 1980, Register S. 431 s. v. Johanniterorden. - Eckhart Berckenhagen/Gretel Wagner: Der bunte Rock in Preußen. Militär- und Ziviluniformen. 17. bis 20. Jahrhundert in Zeichnungen, Stichen und Photographien aus dem Bestand der Kunstbibliothek. Ausstellungskatalog Berlin-West 1981. Register S. 480 s. v. Johanniter. - Klaus J. Lemmer: 1888 - Ein deutsches Bilderbuch. Berlin-West 1981, S. 78 f. - Malve Gräfin Rothkirch: Prinz Carl von Preußen. Berlin-West 1981, S. 18ff. - Dieselbe: Im Glienicker Schloßgarten. Ein Skizzenbuch 1984, S. 37. 37. Vgl. Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm.6), S. 153. 38. Vgl. Bissing (wie Anm.28), S. 173f. - Gerd Heinrich: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt Berlin Wien 1981, S.336L 39. Vgl. Bissing (wie Anm. 28), S. 141 (Carl als Anwärter für den griechischen Thron). 40. Vgl. Berckenhagen/Wagner (wie Anm. 36), S. 400 Nr. 292. 41. Möglicherweise kämen auch Wilhelm Barth (1779-ca. 1854) oder Eduard Gaertner (1801-1877) in Betracht: beide haben sich als Porzellanmaler betätigt. 42. Frau Edith Mischeil, Köln, gilt mein Dank für die Überlassung eines Fotos. Der KPM-Teller, der zu einem mehrteiligen Service gehört - vom selben Modell waren in der Ausstellung zwei weitere zu sehen - wird im Ausstellungskatalog (vgl. Anm. 46) nicht erwähnt. Er war mit 9600 DM ausgepreist und ist nicht verkauft worden (freundliche Auskunft von Frau E. Mischell, mündlich vom 28. Februar 1987). 43. Irmgard Wirth: Potsdam und seine Umgebungen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog. Berlin-West 1980, S. 38 Nr. 170 Abb. 35. - Marie-Louise Plessen (Hrsg.): Berlin durch die Blume oder Kraut und Rüben. Gartenkunst in Berlin-Brandenburg. Ausstellungskatalog. BerlinWest 1985, S. 219 mit Abbildungen. Zu W. Loeillot vgl. Hans-Joachim Giersberg/Adelheid Schendel: Potsdamer Veduten. Stadt- und Landschaftsansichten vom 17. bis 20. Jahrhundert. Potsdam 1981, S. 149 f. 44. Neben den hier besprochenen vgl. Sievers (wie Anm.4), S. 124 Abb. 122 (= Porzellanschale mit Panorama von Glienicke). - Wolfgang Scheffler: Berlin im Porzellanbild seiner Manufaktur. BerlinWest 1963, S. 48 Abb. 29 (= Porzellanuntertasse mit Darstellung des Schlosses „Glienick bei Potsdam" und - leider nicht abgebildet - Deckel eines Sahnekännchens mit der Großen Neugierde. - Martin

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Sperlich/Michael Seiler: Schloß und Park Glienicke. Zweite Auflage 1979, S. 21 oben (= Vase mit Schloß Glienicke, Porzellanmalerei von J. E. Forst, 1828) (= Zehlendorfer Chronik, 2). - Erich Köllmann: Berliner Porzellan. Zweite Auflage Braunschweig-Berlin 1979. S. 74 mit Abbildungen auf S. 75 (= Porzellanteller mit Darstellung einer Schlittenfahrt des Prinzen Carl, nach einer Lithographie „Equipagen" von Franz Krüger, um 1815-1820). - Wirth (wie Anm. 43), S. 48 Nr. 324(Teller mit Blick von Potsdam auf das Casino und nicht auf das Schloß, wie Frau Wirth versehentlich schreibt). S. 49 Nr. 327 (= Krater-Vase. Blick vom Schloß auf den Pleasureground mit der Kleinen Neugierde). Michael Seiler: Neue Untersuchungen zur ursprünglichen Gestaltung und zur Wiederherstellung des Pleasuregrounds von Klein-Glienicke. in: Schlösser Gärten Berlin. Festschrift für Martin Sperlich. Tübingen 1980, S. 118 Abb. 14(= Vase, Blick vom Stibadium auf Potsdam, um 1850, nach Vorlage von Freydanck, Museum Schloß Fasanerie bei Fulda), S. 119 (= sogenannte Münchener Vase, Blick auf den Pleasureground mit Kleiner Neugierde. 1832). - Helmut Börsch-Supan: Der Schinkel-Pavillon im Schloßpark zu Charlottenburg. Dritte Auflage Berlin-West 1982, S. 32 mit Abb. 14 auf S. 31 (= Terrine mit Ansicht von Schloß und Casino, 1825). - Winfried und Ilse Baer:... auf Allerhöchsten Befehl... Königsgeschenke aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin-KPM. Berlin-West 1983, S. 18 Abb. 4 (= Ansicht vom Schloß und ehemaligen Gewächshaus, auf dem runden Untersatz mit darauf stehender Münchener Vase), S. 37 Nr. 8 a mit Abbildungen auf S. 15 (= sogenannte Münchener Vase, 1832 - wie Seiler, a. O., S. 119). 45. 1707-1856 zu Preußen gehörend, vgl. Mevers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 17. Mannheim 1976, S.99f. 46. Deutscher Kunsthandel im Schloß Charlottenburg. Ausstellungskatalog. München 1986, S. 226 mit Farbabbildung. Die Schnupftabakdose war mit 66 000 DM ausgepreist. Sie ist verkauft worden und befindet sich in Privatbesitz (freundliche Auskunft von Frau E. Mischell, mündlich vom 28. Februar 1987). Zu Minutoli vgl. Kneschke (wie Anm. 10), Bd. 6, 1930, S. 304. 47. Zum Verkauf einiger Objekte aus dem Carlschen Kunstbesitz vgl. demnächst Verfasser. 48. Karl Friedrich Schinkel 1781-1841. AussteUungskatalog. Berlin-Ost 1980, S.219L Nr. 331 (Bartoschek). - Rothkirch: Prinz Carl von Preußen (wie Anm. 6), Abb. 85. Zur Tätigkeit des Malers in Glienicke vgl. H. Nehls: Zur Provenienz und Lokalisierung des Festspielzeltes im Gartenhof des Schlosses zu Klein-Glienicke, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 4 (1986), S. 434 mit Anm. 7. Obwohl nicht unmittelbar zum Thema gehörend, sei hier ein kurzer Nachtrag gestattet: Die „Kaiserpinie" auf dem Gemälde von Julius Schoppe (= Nehls, a. a. O., S. 437 Abb. 2) kann noch genauer, nämlich als „Kaiser Nik(olaus) Pinie" (so tituliert im Kraatzschen Plan = Nr. 38, vgl. Nehls, a.a.O., S.436 Anm. 11), bezeichnet werden. Sie wurde zur Erinnerung an den russischen Zaren Nikolaus I. (1825-1855), den Gemahl der Schwester Carls, Charlotte, postum so benannt. In diesem Kontext sei zugleich auf die ca. 150 Jahre alte Blutbuche im Glienicker Pleasureground, zwischen Löwenfontäne und Stibadium, hingewiesen. Ihr Alter läßt sich durch eine Kammerdiener-Notiz vom November 1837 errechnen: „Seine Königliche Hoheit pflanzten selbst die aus dem Garten des Kriegsministers [= Job Wilhelm von Witzleben (1783-1837)] hergekommene Blutbuche im Garten an der Chaussee." [= Rothkirch (wie Anm. 6), S. 99]. 49. Der Bär (1880), S. 316. 50. Von der neueren Forschung bisher unbeachtet geblieben ist zum einen der kleine biographische Artikel in Zedlitz' Conversations-Handbuch von 1834 (wie Anm. 36), S. 123, und zum anderen der mehr am militärischen Werdegang des Prinzen orientierte Aufsatz in der Zeitschrift Der Bär 6 (1880), S. 316, mit einem Porträt Carls auf S. 309. Eine auch in biographischer Hinsicht wichtige Quelle bleibt nach wie vor die Publikation des Kunsthistorikers Johannes Sievers (1880-1969; vgl. Anm. 4), dessen pflegebedürftiges (!) Grab sich übrigens auf dem Alten Wannseer Friedhof, Abt. 7 U 6. Friedenstraße, befindet. Man lese unbedingt Sievers umfangreiche Autobiographie: Aus meinem Leben. Berlin-West 1966 (= unpubliziertes Maschinenmanuskript). Neben der nützlichen, in mancherlei Hinsicht jedoch unzulänglichen Chronik von Rothkirch (wie Anm. 6) bereitet Zuchold eine Edition Carlscher Briefe vor, die voraussichtlich 1990 in der Schriftenreihe des Geheimen Staatsarchivs erscheinen wird. Zahlreiche, größtenteils noch unpublizierte Gemälde, Zeichnungen, Photos und Korrespondenzen aus dem Besitz der jüngeren Tochter des Prinzen Carl, Prinzessin Anna von Preußen (1836-1918), seit 1853 Landgräfin von Hessen-Kassel, befinden sich ferner im Archiv der Hessichen Hausstiftung in Schloß Fasanerie bei Fulda. Vgl. auch Hans Retzlaff: Barockschloß und Museum bei Fulda. 1959, S. 16/S.71 mit Abb. (= Gemälde der Prinzessin Anna von Franz Xaver Winterhalter, 1859, im Philippsruher Zimmer). 508

Abb. 8: Prinz Carl von Preußen als Herrenmeister der Bailei Brandenburg des Johanniterordens, im Hintergrund das 1671 gestiftete Hospital in Sonnenburg an der Oder (polnisch: Sionsk bei Kostrzyn, früher Küstrin). Die Farblithographie, um 1853/54. nach einem Gemälde des Krügerschülers Friedrich Randel (1808-1886), stammt von dem in Warschau geborenen Maler Ludwig Burger (1825-1884).

Abb. 9: „Die Glienicker Brücke bei Potsdam", KPM-Teller, Berlin 1837-1844.

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Abb. 10: Goldene Tabatiere mit dem Porträt des Prinzen Carl von Preußen. Privatbesitz, um 1825.

Abbildungsnachweis Abb. 1, 2, 5, 6, 9: Foto E. Mischell, Köln. Abb. 3: Repro nach Seiler: Neue Untersuchungen (wie Anm. 44), S. 123, Abb. 22. Abb. 4: Fotoarchiv des Autors. Abb. 7: Repro nach: Berckenhagen/Wagner: Der bunte Rock in Preußen (wie Anm. 36), S. 401. Abb. 8: Adolf von Winterfeld: Geschichte des Ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem mit besonderer Berücksichtigung der Bailei Brandenburg oder des Herrenmeisterthums Sonnenburg. Berlin 1859, Taf.l. Abb. 10: Deutscher Kunsthandel. Ausstellungskatalog (wie Anm. 46), (Repro nach:) S. 226. Anschrift des Verfassers: Harry Nehls, M. A., Seelingstraße 35,1000 Berlin 19

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Das Französische Gymnasium in Berlin und seine Schüler Zu seinem 300. Geburtstag Von Karl Voß* In diesen Tagen, in denen die Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten aus Anlaß des 750jährigen Bestehens der zweigeteilten Stadt an der Spree auf vollen Touren laufen, sollte nicht unterlassen werden, eines markanten Datums in der Geistesgeschichte Berlins zu gedenken. Das traditionsträchtige, altbewährte Französische Gymnasium, eine Brücke zur Kultur Frankreichs und eine Pflegestätte europäischer Gedankenwelt, begeht seinen 300. Geburtstag. Im Jahre 1685 hatte der Große Kurfürst von Brandenburg mit dem Potsdamer Edikt die hugenottischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich eingeladen, „ihren Stab zu versetzen und sich zu sicherer Retraite in des Kurfürsten Land zu begeben". Hier sollten sie - so Theodor Fontane, selbst hugenottischer Herkunft, der seinen Namen stets französisch ausgesprochen haben wollte, in einem Prolog zur Feier des 200jährigen Bestehens der französischen Kolonie in Berlin - ein Obdach, eine „Freistatt für den Glauben und Zuflucht vor Bedrängnis des Gewissens" finden. Die vor den Toren Berlins neuerrichtete, nach des Kurfürsten zweiter Gemahlin benannte Dorotheenstadt, in der sich die meisten der aus ihrer angestammten Heimat geflohenen Franzosen niederließen, die Französische Straße in der Friedrichstadt, der Französische Dom am Gendarmenmarkt, dem heutigen Platz der Akademie, und nicht zuletzt das Französische Gymnasium erinnern an die Zeit, als Berlin ihre neue Heimat wurde, in der sie sich nicht nur materieller Hilfe, sondern auch des Rechts, Kirchen und Schulen einzurichten, wo sie ihre Muttersprache pflegen konnten, erfreuen durften. Unmittelbar vor dem Tod des Großen Kurfürsten legte er seinem Sohn seine Sorgen um das Wohl der Verfolgten ans Herz. Auch dieser empfand den Wunsch seines Vaters als Verpflichtung und unterzeichnete am 1. Dezember 1689 die Gründungsurkunde für die „aus kurfürstlicher Freigebigkeit gestiftete Schule", wo die Zöglinge „wie es im Königreich Frankreich gewöhnlich, in der Gottesfurcht und guten Sitten, nicht weniger als in der lateinischen Sprache, Eloquenz, Philosophie und mathematischen Wissenschaften informiert, und dem Vaterlande zum besten sonder Verwendung ihrer eigenen Mittel, unterwiesen werden mögen". Als erster auf der langen Liste der Direktoren des „College francais" amtierte ein Mann mit dem ansprechenden Namen Jean Sperlette de Montguyon, der seit Gründung der Schule als „Lecteur in der Philosophie und humanioribus" tätig gewesen war. Ihm verdankt die Lehranstalt die erste, in lateinischer Sprache abgefaßte Schulordnung, die „Disziplinarordnung des vom Allergnädigsten und Mächtigen Kurfürsten von Brandenburg Friedrich III. zu Berlin gegründeten College francais, gedruckt in der Offizin des kurfürstlich-brandenburgischen Drucksetzers Ulrich Liebpert zu Kölln an der Spree". Wenn auch dieser Erlaß für die damalige Zeit einen außerordentlich fortschrittlichen Geist verrät und sich an junge Menschen wendet, die sich ihrer Pflichten der Gesellschaft gegenüber, in der sie leben, bewußt werden sollen, so würde die überwiegende Zahl ihrer Paragraphen die ungetrübte Heiterkeit der Schüler von heute erregen. Und wenn es bisher noch keinen Aufstand der Schüler des Französischen Gymnasiums gegen autoritäre Führung gegeben hat, so deshalb, weil fast alle Forderungen des damaligen Prinzipals im Lauf der Jahrhunderte und Jahrzehnte * Nachdruck mit Genehmigung des Autors aus „Die Warte" Nr. 2/1987 511

ohne jede Diskussion längst zu den Akten gelegt wurden. Welcher Schüler würde heute noch in jedem Fall und immer der Anordnung nachkommen, daß die aufgegebenen Lektionen „vor dem Betreten der Schule" zu erledigen sind, daß im Unterricht nichts geschrieben oder gemalt wird, was nicht zum Unterricht gehört, daß Bekannte und Freunde, die keinen Studien nachgehen, vermieden werden müssen, daß „lächerliche Schriften, Bilder oder Gespräche", „Fluchen oder böse Reden und Verwünschungen" nicht gestattet sind? Ein Punkt der Schulordnung jedoch verdient hervorgehoben zu werden, zeigt er doch, daß schon vor drei Jahrhunderten Toleranz und Achtung des Mitschülers wesentliche Faktoren der Erziehung an der Schule bildeten: „Die Schüler sollen niemand verlachen, sei es durch Worte, sei es durch Grimassen, noch mit falschen Namen oder Schimpfworten anreden, noch mit Spott oder Schmähreden belästigen. Keine Kränkung oder Beleidigung soll über ihre Lippen kommen." Nicht vergessen soll sein, daß Sperlette de Montguyon sich bereits um eine enge Verbindung zwischen Elternhaus und Schule bemühte und daß er als der Erfinder des Entschuldigungszettels gilt. Vom ersten Tag des Bestehens der Schule an wurde der Unterricht natürlich ausschließlich von Lehrern französischer Nationalität in französischer Sprache erteilt. Innerhalb des Schulgebäudes übrigens war als Umgangssprache das Lateinische obligatorisch. Im Lauf der Jahre drängten aber bei der Wertschätzung, die die französische Sprache und Kultur bei den höhergestellten Berlinern, besonders in den kultivierten jüdischen Familien, erfuhr, immer mehr deutsche Jugendliche in die Anstalt, so daß ein absolut neues und begrüßenswertes Element eine Rolle zu spielen begann. Da saßen nun Berliner Jungen neben den Sprößlingen französischer Familien auf denselben Bänken, und im Lehrerzimmer konferierten in freundschaftlichem Einvernehmen deutsche mit französischen Pädagogen. Im Jahre 1825 kam das „College francais", das bis dahin dem Konsistorium der französischen Kolonie unterstand, unter die Verwaltung des neugegründeten Provinzialschulkollegiums, womit in Anpassung an die anderen Berliner Schulen eine stärkere Betonung der naturwissenschaftlichen und musischen Fächer einherging. Ein gründliches Studium des Französischen in den ersten drei Klassen des Gymnasiums schuf und schafft noch heute für die deutschen Schüler die unerläßliche Voraussetzung, dem Unterricht vom vierten Oberschuljahr an in der Fremdsprache zu folgen. Unter dem Nationalsozialismus wurde der von Toleranz und Humanität geprägte Geist der Schule, der sie zweieinhalb Jahrhunderte hindurch geprägt hatte, ins Gegenteil gekehrt. Die jüdischen Schüler und Lehrer sowie ihre liberalen Ideen nachhängenden Kollegen wurden der Schule verwiesen. Nach der Zerstörung ihrer Gebäude wurde die Schule in ländliche Gebiete verlegt. Als am 2. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation das Ende des Dritten Reiches besiegelt wurde, bot die damalige Reichshauptstadt das Bild einer Ruinenlandschaft. Ihre Einwohner waren unter den Trümmern elend umgekommen oder geflohen und geschändet, verkrüppelt, dem Hungertod nahe. Von dem mehr als 70 Jahre alten roten Backsteinbau am Reichstagsufer, dem letzten Domizil des Gymnasiums vor dem Zusammenbruch, zeugten nur noch Außenmauern und - merkwürdig genug - die vollständig erhalten gebliebenen goldenen Buchstaben der Inschrift „Staatliches Französisches Gymnasium" über den leeren Höhlen der Aulafenster, ein makabres Bild wie so manches im damaligen leidgeprüften Berlin. Aber wenn auch von der Heimstätte der berühmten Schule nur Trümmer übriggeblieben waren, die heute längst abgeräumt sind, der Geist dieser Schule sollte fortleben und in neuer Gestalt wieder auferstehen. Dank unermüdlichen Bemühens dreier Lehrer, die den Krieg überstanden hatten, konnte das Gymnasium mit sechs Schülern, die sich zufällig trafen, als eine der ersten Schulen Berlins den Unterricht wieder aufnehmen. Seine erste Unterkunft fand es in einem halbzerstörten Gebäude 512

inmitten der Ruinenfelder der trümmerübersäten Niederwallstraße, nur wenige Schritte von ihrer ersten Heimstätte entfernt - , nur auf Trampelpfaden erreichbar - in Klassenräumen, in denen das Fensterglas fehlte und der Putz von den Wänden bröckelte. Sechs Jahre vor der Einführung der Koedukation saßen nun auch Mädchen aus allen Teilen der Berliner Bevölkerung auf den Bänken des Gymnasiums, zu dem bisher nur Töchter aus Hugenottenfamilien zugelassen waren, womit die Schule der Entwicklung im Berliner Schulwesen um mehrere Jahre voraus war. Heute gehört das Französische Gymnasium, in einem mit allen pädagogischen Erfordernissen ausgestatteten modernen Gebäudekomplex im Bezirk Tiergarten untergebracht, zu den Eliteschulen besonderer Prägung in der Bundesrepublik Deutschland. Auch kann es bei weitem nicht alle Jungen und Mädchen, die Einlaß begehren, aufnehmen. Die Schüler aller Nationen, Konfessionen und Bevölkerungskreise, die aus allen Bezirken West-Berlins kommen - elitär in ihrem selbstgewählten Bildungsanspruch - , gehen hier gern zur Schule und akzeptieren die hohen Anforderungen, die an sie gestellt werden, wissen sie doch, daß ihnen nach der Reifeprüfung hohe und höchste Stellen im privaten und öffentlichen Leben in Aussicht stehen. Kein Geringerer als Francois Poncet hat in seinem Glückwunschtelegramm zum 260. Geburtstag der Schule, in seiner damaligen Eigenschaft als Hochkommissar der Französischen Republik in Deutschland, eine anerkennende Feststellung getroffen, als er sagte, daß es nicht mehr möglich sei, sich Berlin ohne das Französische Gymnasium vorzustellen, denn diese Schule sei eine der besten der Stadt und sogar Deutschlands geworden. Beim Blättern in den Schülerlisten entdeckt man fast auf jeder Seite Persönlichkeiten, deren Namen heute noch in Literaturgeschichten und Nachschlagewerken zu finden sind. Zu ihnen gehört der französische Emigrant und zu einem Berliner gewordene Schriftsteller Adalbert von Chamisso, nach seinen Pazifik- und Arktisexpeditionen Adjutant und Kustos des Botanischen Gartens in Berlin, der auf Anweisung der Königin Friederike Luise, in deren Dienst der Fünfzehnjährige als Page stand, neben seinem Dienst das Französische Gymnasium besuchte. Hier empfing er den ersten geregelten Unterricht, hier lernte er die deutsche Sprache so intensiv, daß er nach kurzer Zeit Schillers Gedichte im Original lesen konnte, und hier zeichnete er sich in Rhetorik und in den klassischen Sprachen, wie es in den Schulprogrammen heißt, „in der vorteilhaftesten Seite ganz besonders" aus. Der elfjährige Heinrich von Kleist, der nach dem Tode seines Vaters zur Fortsetzung seiner schulischen Ausbildung in die Obhut eines Hugenotten, des Predigers und Professors am Französischen Gymnasium S. H. Catel, gegeben wurde, ging ein Jahr lang mit seinem Ziehvater täglich zur Schule, wo er fleißig Französisch lernte, das er zeitweilig „korrekter" gesprochen haben soll als seine Muttersprache. Der Barde des kaiserlichen Deutschland, Ernst von Wildenbruch, gedachte jedesmal, wenn er als renommierter Dichter in der heute verschwundenen Niederlagstraße an der Hoftür des alten Gymnasiums, die den Schülern vorbehalten war, vorbeikam, der schönen Jahre, die er in der von ihm geschätzten Schule verbrachte. Der Seidenhändlerssohn Felix Ernst Witkowski, der unter dem Schriftstellernamen Maximilian Harden als Herausgeber der avantgardistisch-kämpferischen und umstrittenen Wochenschrift „Zukunft", des „Spiegels" des wilhelminischen Berlin, berühmt und gefürchtet wurde, lief als Primus der Sekunda des Gymnasiums von zu Hause fort und schloß sich einer wandernden Schauspieltruppe an. Im Jahre 1927 starb er im Schweizer Exil. Goebbels widmete ihm viele Jahre später einen makabren Nachruf: „Wir bedauern den Tod dieses Mannes nur insofern, als er uns die Möglichkeit raubte, mit Isidor Witkowski auf unsere Weise abzurechnen." 513

Auch Theodor Fontane, der mittlere Sohn des Schriftstellers, war Schüler, und zwar „Primus omnium", des Gymnasiums, sehr zum Stolz des Vaters, der bekennen mußte, „daß nie ein Fontane das Abiturientenexamen gemacht, geschweige vorher die Stelle eines ,Primus omnium' bekleidet hat", im Gegenteil immer aus Oberquarta abgegangen sei. Der Schriftsteller und Journalist Ernst Heilborn, der 1886 das Abitur am Gymnasium bestand, über Novalis und E. T. A. Hoffmann, über den „Geist der Schinkel- und der Bismarckzeit" gearbeitet hat, kam als 74jähriger nach Verhaftung durch die Gestapo unter ungeklärten Umständen in einem Gefängnis ums Leben. Wohl der berühmteste Schüler des Gymnasiums war Kurt Tucholsky, der hochbegabte Journalist, Kritiker und Moralist der Weimarer Zeit, der, wie Erich Kästner sagt, „mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte" und der auf der Flucht vor den Schergen des nationalsozialistischen Regimes Zuflucht in Schweden fand, wo er seinem Leben ein Ende setzte. Nach dem Besuch der Obertertia wechselte der schwierige, aufsässige und kritische Schüler auf das Kgl. Wilhelms-Gymnasium. In seinen autobiographischen Schriften läßt er kein gutes Haar an seinen Lehrern und Schulen, nicht zuletzt, weil die Deutschlehrer immer zweifelten, daß er seine Aufsätze selbst schrieb, und glaubten, ihn zu selbständiger Arbeit auffordern zu müssen. Nicht mit Haß dachte er an seine Schulzeit zurück, sie blieb ihm „völlig gleichgültig". Voller Stolz dagegen bekennt sich der Literat Hans Jacob in seinen Memoiren „Kind meiner Zeit" dazu, Schüler des Gymnasiums von der Vorschule bis zu seinem Notabitur im Kriegsjahr 1914 gewesen zu sein. Der liberalen jüdischen Großbourgeoisie Berlins entstammend, lobte der Autor die begrenzte Schülerzahl, aus der ihm besonders die Kinder des französischen Küchenchefs des Kaisers und der großen Berliner Hotels „Bristol" und „Kaiserhof' imponierten. Sie waren neun in ihrer Klasse, Felix Bressart, der Ältere, unter uns noch als glänzender Schauspieler bekannt, gehörte zu seinen Kameraden. „Erst jetzt", so schreibt er, „sehe ich, wie modern meine Schule war. In den oberen Klassen war der Unterricht das, was man heute ein Seminar nennen würde... Ich bin sehr gern zur Schule gegangen, und das rote Haus am Reichstagsufer, das .Theater an der Spree', steht unverrückbar in meiner Erinnerung." Auch der Romanist von Weltruf, Professor Klemperer, der in seinem „Notizbuch eines Philologen - LTI" die Sprache des Dritten Reichs entlarvend analysierte, saß um die Jahrhundertwende auf den Bänken des Gymnasiums. Zwei weitere weltbekannt gewordene Schüler seien noch angeführt, der Botschafter Sigismund und sein Bruder, der Raketenkonstrukteur Wernher von Braun. Der Raumfahrtforscher mußte die Schule allerdings wegen mangelnder Leistungen in Physik frühzeitig verlassen. Daß daran nicht der Unterricht in diesem Fach die Schuld trug, zeigt die Tatsache, daß er auf der Schule, auf der er seine Ausbildung dann mit Erfolg fortsetzte, seinen Mitschülern Nachhilfeunterricht in Physik erteilen konnte. Daß der bekannteste deutsche Chansonnier Reinhard Mey auf den Bänken des Französischen Gymnasiums saß und hier seine erste Frau, eine Französin, kennenlernte, möge nicht unerwähnt bleiben. Und letztlich soll auch der Sohn des schon erwähnten renommierten Germanisten und Diplomaten Andre Francois Poncet, der bis 1938 als Botschafter beim Deutschen Reich in Berlin residierte, zu Wort kommen. Louis Poncet, der das Französische Gymnasium in den letzten Jahren der Weimarer Republik besuchte, denkt nicht nur mit Wohlwollen an seine Schulzeit zurück. Nicht zuletzt trug dazu der deutschnationale Direktor mit seinen nationalistischen Tiraden von der Wiedereroberung der im Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete und mit seinen Haßtiraden auf die schwarzrotgoldenen Farben der Republik erheblich bei. Aber nicht 514

eine einzige Unterrichtsstunde, schreibt er, hat er je bereut und fühlte sich dem „College francais" für immer verbunden. Noch heute haben die Worte, die der französische Premierminister Georges Bidault, als Akademiker kompetent für den pädagogischen und als Mitglied der Resistance für den politischen Gehalt seiner Ausführungen, anläßlich seines Besuchs des Französischen Gymnasiums im Frühjahr 1954 gefunden hat und die ein Ruhmesblatt in der Chronik der Schule bilden, uneingeschränkte Gültigkeit: Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Sie meiner Anteilnahme und der meines Landes und meiner Regierung an der Aufgabe, der Sie sich hier widmen, zu versichern: Sie ist von historischer Bedeutung. Seit Generationen stellt sich diese Aufgabe dem französischen und dem deutschen Volk gleichermaßen. Beiden Völkern hat die Geschichte tragische Prüfungen auferlegt. Jetzt endlich bietet die Zeit uns und unserer Generation an, gemeinsam friedlich und brüderlich Lösungen der uns gestellten Probleme zu finden. Neue Wege müssen Sie als Lehrer beschreiten, wenn Sie vor einer Klasse stehen, auf deren Bänken französische und deutsche Schüler nebeneinander sitzen. Und welch großartige und einmalige Chance haben Sie, den jungen Franzosen zu eröffnen, was Deutschtum bedeutet, und den jungen Deutschen, was es heißt, Franzose zu sein. Das ist, und die Geschichte hat es uns gezeigt, eine überaus schwierige Aufgabe. Aber ist es nicht auch ein großartiges, bewundernswertes und erregendes Unterfangen, das sich Ihnen da bietet? Ich muß Ihnen gestehen, daß den Lehrer, der ich einmal war, diese Aufgabe ungemein reizen würde. Machen Sie weiter, darum bitte ich Sie. Sie sollen wissen, daß, wenn Sie dem Selbstmord unserer Kultur entgehen wollen, Sie mit der Erfüllung des Auftrags, der Ihnen obliegt, dazu beitragen, daß den schweren Zeiten, die hinter uns liegen, eine hellere Zukunft folgt. Unsere beiden Völker, die sich über Jahrhunderte hindurch verkannt haben und sich dennoch auf mysteriöse Weise zueinander hingezogen fühlten, müssen sich jetzt verpflichtet fühlen, den neuen Weg zu finden, der uns gemeinsam in Freiheit, Frieden und Arbeit in eine bessere Zukunft führt. Anschrift des Verfasses: Dr. Karl Voß, 24, nie Frantz Clement, L-1345 Luxembourg

Aus dem Mitgliederkreis Der Hauptartikel des Heftes 1/1987 stellt die schriftliche Form eines Vortrages von Herrn Joachim Schlenk dar, den er aus Zeitgründen stark verkürzt den Teilnehmern der Exkursion nach Brandenburg und Lehnin des Vereins für die Geschichte Berlins im Kreuzgang des Domes von Brandenburg gehalten hat. Es erschien uns angebracht, die Gründe alter Vorurteile rational aufzuarbeiten. Die Redaktion. * Die Schatzmeisterin bittet dringend, dafür zu sorgen, daß Absender bei Einzahlungen nicht vergessen werden. Bei Banküberweisungen ist unbedingt darauf zu achten, daß der Absender leserlich durchgeschrieben ist. * Der Vorstand würde sich freuen, wenn sich aus dem großen Kreis der Mitglieder jemand bereit fände, die schmerzliche Lücke, die Frau Gründahl hinterlassen hat, auszufüllen und die Geschäftsstelle zu übemeh515

men. Bereitschaftserklärungen hierzu würde unser Schriftführer, Herr. Dr. Schultze-Berndt, unter der im Impressum angegebenen Telefonnummer gern entgegennehmen.

Frau Lieselott Gründahl am 10. Februar 1987 verstorben Wir haben Abschied zu nehmen von der stellvertretenden Schriftführerin des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Am 10. Januar hatten wir noch mit dem erweiterten Vorstand unbeschwert in ihrer Wohnung getagt und uns der wärmenden Atmosphäre ihrer Häuslichkeit und ihrer Persönlichkeit erfreut, dann hinterließ sie uns eine Nachricht, bis zum 1. Februar sei sie „verschwunden". Bei der nächsten Vorstandssitzung am 2. Februar warteten wir im Rathaus Charlottenburg vergeblich auf unsere so pünktliche und zuverlässige Kollegin - wir wußten nichts von ihrer Krankheit . . . Zum Jahresbeginn 1968 war sie Mitglied des Geschichtsvereins geworden und hatte sich mehr nehmend, interessiert Anteil nehmend, als gebend den Veranstaltungen und der Lektüre der Publikationen gewidmet. Als wir 1982 mit unserer Geschäftsstelle in Not gerieten, meldete sie sich spontan mit dem Anerbieten, hier ihre Erfahrungen einzubringen, ihre Kraft einzusetzen und von der freien Zeit eines Ruheständlers nützlichen Gebrauch zu machen. Am 3. Dezember 1982 wurde sie mit der Führung der Geschäftsstelle betraut, am 18. Mai 1983 von der Mitgliederversammlung einmütig in den Vorstand gewählt. Lieselott Gründahl wurde am 2. Januar 1912 in Stettin geboren. In Berlin-Spandau schloß sie 1931 ihre Schulzeit ab (Lyzeum und realgymnasiale Studienanstalt), 1937 hat sie in Berlin geheiratet. Nach langjähriger beruflicher Tätigkeit ist sie 1975 aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Wir danken Frau Lieselott Gründahl, die im letzten Jahrfünft ihres Lebens mit spürbarer Liebe und unübertrefflichem Engagement die Geschäfte unseres Vereins besorgt hat. Den Mitgliedern war sie bei allen organisatorischen Fragen eine gewissenhafte, stets freundliche Anlaufstation, fremden Bittstellern zeigte sie sich als so kundiger wie liebenswürdiger Ansprechpartner. Keiner blieb ohne Antwort, ohne Hilfe. Damaschkestraße 33 war eine gute Adresse! Frau Lieselott Gründahl war ein guter Kamerad! In ihrer uneigennützigen Art, ein Ehrenamt als die selbstverständlichste Sache der Welt anzusehen und Idealismus im Sinne preußischer Pflichterfüllung nicht zu zelebrieren, sondern tatkräftig vorzuleben, wird sie uns unvergessen bleiben. Wir wollen sie liebbehalten! H. G. Schultze-Bemdl

Jahreshauptversammlung 1987 Tagesordnung: 1. Entgegennahme des Tätigkeitsberichtes, des Kassenberichtes und Bibliotheksberichtes. 2. Berichte der Kassen- und Bibliotheksprüfer. 3. Aussprache. 4. Entlastung des Vorstandes. 5. Wahl des Vorstandes. 6. Wahl von zwei Kassenprüfern und zwei Bibliotheksprüfern. 7. Erhöhung des Mitgliedsbeitrages. 8. Verschiedenes. Anträge aus den Kreisen der Mitglieder sind bis spätestens 15. April 1987 der Geschäftsstelle einzureichen.

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Studienfahrt nach Trier vom 11. bis 14. September 1987 Vorläufiges Programm Freitag, 11. September 1987: 6.00 Uhr: Abfahrt mit Omnibus an der Berliner Bank, Hardenbergstraße 19.30 Uhr: Eintreffen in den Hotels, gemeinsames Abendessen (Halbpension) Sonnabend, 12. September 1987: 8.30 Uhr: Stadtrundgang/Stadtrundfahrt (Führung: Frau Marga Müller-Möller), Treffpunkt an der Porta Nigra 11.30 Uhr: Empfang der Stadt Trier im Rathaus, gegeben vom Beigeordneten Reinhard Heinemann, Baudezernent der Stadt Trier 12.00 Uhr: Denkmalpflege in Trier, vorgestellt an der Konstantin-Basilika (Städtischer Denkmalpfleger Helmut Lutz) 13.00 Uhr: Gemeinsames Mittagessen 14.30 Uhr: Besichtigung des Rheinischen Landesmuseums Trier (Führung: Frau Marga Müller-Möller) 16.00 Uhr: Wahlweise: Führung durch die Schatzkammer der Stadtbibliothek oder durch das KarlMarx-Haus 17.15 Uhr: Spaziergang über den Weinlehrpfad Olewig (Führung: Albert Oberbillig-Schieben), Treffpunkt Sickinger Straße 19.15 Uhr: Weinprobe (acht Proben) mit Schwenkbraten im Weingut Deutschherrenhof, Trier-Olewig (20 DM) Sonntag, 13. September 1987: 9.00 Uhr: Aufbruch zur Eifelrundfahrt - Dörfer im Kreise Bitburg-Prüm, Einführungsvortrag im Hause Beda (Bitburg) und Führung Frau Dipl.-Ing. Marie Luise Niewodniczanska 12.00 Uhr: Gemeinsames Mittagessen 13.30 Uhr: Fortsetzung der Eifelrundfahrt - Geologische Exkursion in die Vulkan-Eifel und zu den Eifelmaaren (Kalkmulden, Vulkanologie und Hydrogeologie) 17.00 Uhr: Rückkehr nach Trier 19.30 Uhr: Gemeinsames Abendessen in den Hotels (Halbpension) Montag. 14. September 1987: 8.00 Uhr: Aufbruch 8.45 Uhr: Besuch des Geburtshauses Nikolaus von Kues'/des St.-Nikolaus-Hospitals (Cusanusstift) in Bernkastel-Kues, Führung Landrat Dr. Helmut Gestrich Änderungen

vorbehalten!

Die Unterbringung ist im Hotel Blesiusgarten und gegebenenfalls im zugehörigen Hotel Neils Park vorgesehen. Da in Trier gerade im Monat September touristische Hochsaison ist und sich dies vor allem an den Wochenenden bemerkbar macht, mußte an zwei Tagen in den Hotels Halbpension gebucht werden. Diese wird in der Weise in Anspruch genommen, daß am Ankunftstag und am Vorabend der Abreise jeweils das Abendessen in den Hotels eingenommen wird. Es steht eine hinreichende Zahl von Zimmern zur Verfügung. Ein Einzelzimmer kostet je Nacht mit Frühstück 55 DM, mit Halbpension 72 DM, ein Doppelzimmer mit Frühstück 80 DM, mit Halbpension 114 DM. jeweils Endpreis. Das Teilnehmerhonorar schließt alle Führungen und den Stadtrundgang, den Besuch der Schatzkammer der Stadtbibliothek bzw. des Karl-Marx-Hauses, der Römerbauwerke sowie der Cusanus-Stätten ein. Es wurde auf 112 DM festgelegt. Zu den bereits vorliegenden Anmeldungen können weitere unverbindliche Reservierungen jederzeit gerichtet werden an den Schriftführer Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon: 4509-291. Diese Damen und Herren werden dann vorab unterrichtet und erhalten den eigentlichen Anmeldeschein, wenn im Heft 3/87 der „Mitteilungen" ein letzter Aufruf zur Teilnahme erfolgt und das hier in den Grundzügen abgedruckte Programm gegebenenfalls noch ergänzt oder verfeinert worden ist. Auf Hin- und Rückreise ist je eine Mittagspause vorgesehen. H. G. Schultze-Berndt 517

Nachrichten Deutscher Dom wird Zentrum für Kunstausstellungen Kurt Löffler, als Staatssekretär im Kulturministerium der DDR auch Sekretär des vom Staatsratsvorsitzenden und Parteichef Erich Honecker geleiteten Komitees für die 750-Jahr-Feier Berlins, hat in einem Interview in der „Neuen Zeit" (Ost-Berlin) ausgeführt, der Deutsche Dom am Gendarmenmarkt, dem heutigen Platz der Akademie, solle nach seinem Wiederaufbau als Zentrum für nationale und internationale Kunstausstellungen dienen. Bis zu seiner Zerstörung wurde der 1708 als „Neue Kirche" fertiggestellte Deutsche Dom von der evangelischen Jerusalem-Gemeinde genutzt, die heute im Westteil der Stadt tätig ist. Außerdem war der Turm dieses Gotteshauses das Domizil des Vereins für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Dort befand sich die nach der Beschädigung des Turmes abhanden gekommene und an anderen Stellen nur noch in Resten vorhandene Bibliothek, dort trafen sich aber auch Mitglieder und Vorstand zu Aussprachen, den einst beliebten „Brezelabenden". In den 70er Jahren sind die Eigentumsrechte nach Absprache mit der Leitung der Berlin-Brandenburgischen Kirche von dieser auf den Magistrat von Berlin (Ost) übergegangen. Seit Mitte der 80er Jahre ist der Wiederaufbau in Gange. Die Kuppel des Gebäudes konnte inzwischen wiederhergestellt werden. SchB.

Latein und Griechisch in Berlin Nun schon im 31. Jahrgang erscheint das Mitteilungsblatt des Landesverbandes Berlin im Deutschen Altphilologenverband (DAV), das vom Verlag Moritz Diesterweg (Frankfurt am Main, Berlin, München) betreut wird. Professor Andreas Fritsch ist im Heft 2/1986 der Antike im Spiegel Berliner Straßennamen aufmerksam nachgegangen und stellt fest, welch „fast unglaubliche Fülle von Beziehungen" das Schulfach Latein zur 750jährigen Geschichte unserer Stadt hat. Hier ist auch Ursula Greiff mit ihrem Aufsatz „Neuzeitliche lateinische Inschriften in Berlin (West)" zu nennen. Nicht minder kurzweilig und belehrend ist vom selben Autor die Betrachtung „Berolinum - orbi lumen", in der er der Wirkungsgeschichte des Anagramms nachgeht (die Aussage orbi lumen wiederholt die Buchstaben des lateinischen Namens der Stadt in veränderter Reihenfolge). Wem lumen orbi, Licht der Welt, noch nicht genug Aufschluß gibt, kann auch die Anagrammvariante „nur im Lobe" verwenden. Hier sind schließlich auch von Professor Dr. Eckart Mensching (TU Berlin) „Texte zur Berliner PhilologieGeschichte" zu nennen, in denen in Form von Schlaglichtern verschiedene Aspekte der Klassischen Philologie in den frühen Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Berlin beleuchtet werden, als zumindest in Deutschland das Berliner Institut führend war. A. Fritsch bezeichnet Latein als „Schlüsselfach der europäischen Tradition". Das Mitteilungsblatt kann in folgenden Bibliotheken der Freien Universität Berlin eingesehen werden: a) Zentrale Universitätsbibliothek, b) Bereichsbibliothek Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, c) Bibliothek des Seminars für Klassische Philologie im Fachbereich Altertumswissenschaften. SchB.

Vortragsreihe der Historischen Kommission Die Historische Kommission zu Berlin veranstaltet eine Vortragsreihe in der Staatsbibliothek zur 750Jahr-Feier Berlins: „Berlin im Bewußtsein der Deutschen". Freitag, 24. April 1987, 20 Uhr: „Berlin und die deutsche Nation", Prof. Dr. Hellmut Seier, Marburg. Freitag, 8. Mai 1987,20 Uhr: „Das Wirtschaftszentrum Berlin aus der Sicht der Unternehmer", Prof. Dr. Dr. Wolfram Fischer, Berlin. Freitag, 15. Mai 1987, 20 Uhr: „Integration durch die Metropole? Berlin aus der Sicht der ,Reichsfeinde'", Prof. Dr. Dieter Groh, Konstanz. Freitag, 22. Mai 1987, 20 Uhr: „Berlin als Kulturmetropole und Wissenschaftszentrum", Prof. Dr. Kurt Düwell, Trier. 518

Freitag, 29. Mai 1987,20 Uhr: „Das geteilte Berlin und die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg", Prof. Dr. Ernst Nolte, Berlin. Veranstaltungsort: Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Potsdamer Straße 35, 1000 Berlin 30 (Tiergarten). Der Eintritt ist frei! Verantstalter: Historische Kommission zu Berlin, Kirchweg 33. 1000 Berlin 38, Telefon 8 031061 / 8160010.

Buchbesprechungen Gerhard Kutzsch: „Berlin mit Umgebung", in der Reihe: „Deutsche Landeskunde" bei Glock und Lutz. Heroldsberg 1968. 212 S. und 24 Abb., 39 DM. Der bisherige Vorsitzende unseres Vereins hat der zur 750-Jahr-Feier erscheinenden Berlinliteratur ein Buch beigesteuert, das im Kontext der Reisehandbücher steht. Er hat es aber, wie er im Vorwort sagt, als vertiefendes Kompendium gedacht: Die deutsche Trennung soll für den Nichtberliner ins verpflichtende Bewußtsein gehoben werden. Dies involviert die schwierige Aufgabe, so reichhaltigen Stoff, wie ihn der Untertitel „Landschaft - Geschichte - Gegenwart - Kunst - Volkstum" umschreibt, zusammenzudrängen. Das ist ihm in bewundernswerter Weise gelungen; die Sachverhalte sind auf knappste Formulierungen gebracht (so kommt Vf. mit einem Sachregister von etwa 200 Stichworten aus). Von der geographischen Beschaffenheit und der ersten Besiedlung des Raumes bis hin zur letzten Erklärung des Regierenden Bürgermeisters wird der umfassende geschichtliche Stoff aus neuester Sicht abgehandelt. Wenn Vf. den Titel „Berlin mit Umgebung" wählt, hat er die alte, aus fünf Einzelstädten entstandene Residenz vor Augen, für welche die späteren Ortsteile Umgebung waren. Das Zusammenwachsen zur Gesamtgemeinde Groß-Berlin unter den sie formenden Kräften ist der eigentliche Inhalt und wird anhand eines Gangs von der Altstadt (Bezirk Mitte) durch die 20 Verwaltungsbezirke an Havel und Spree erzählt. Als roter Faden durchzieht ihn das immer mehr hervortretende Gesetz, nach dem die Ansiedlung angetreten ist: Gewerbe, Handel, Wirtschaft und arbeitende Bevölkerung und wie sich ihre soziale Situation im Spannungsfeld zwischen Herrscherhaus und Bürgervertretung entfaltete. Vf. bringt seine Erfahrungen in der Quellenarbeit aus dem Landesarchiv Berlin ein. Beim Verfolgen der Ausformung der Kolonistendörfer im Umfeld der Städte Spandau, Köpenick und Charlottenburg, bei der Entstehung des bürgerlichen Berlin im 18. Jahrhundert und später tritt dieses Anliegen besonders zutage. Obwohl auf zahlenreicher und forschungsintensiver Basis stehend, ist der Stoff keineswegs trocken, sondern lebendig erzählt (so bes. die Passagen über die Fluß- und Waldlandschaften). Das Sichverlagern der Ost-West-Achse zwischen Alexanderplatz und den Linden mitsamt der Friedrichstadt zur neuen City am Kurfürstendamm kehrt in vielen Kapiteln wieder als Ursache für das Entstehen West-Berlins in seiner jetzigen Eigenart. Vf. hat der konzentrierten Gesamtdarstellung drei frühere Arbeiten, „Berlin in spätfriderizia nischer Zeit", „Hinter den Fassaden" und „Berlin 1927", hinzugefügt, zusammengebunden unter kulturgeschichtlichem Gesichtspunkt. Sie zeigen seinen Forschungsansatz von der materiellen Kultur her; alle drei Aufsätze sind sozial- und wirtschaftsgeschichtlich aufgefaßt und stellen drei aufeinander bezogene, in sich gleichartig strukturierte Epochen dar. Es ist immer wieder der Blick auf die zuwandernden Arbeitskräfte, auf die Berlin seine Anziehungskraft ausübt, ihre sozialen Lebensbedingungen und die Rückwirkung auf das Stadtgebilde und das Reich bzw. die Bundesrepublik und die DDR. Die Formulierung „Hinter den Fassaden" (der Wohn- und Mietshäuser) will gleichsam programmatisch die Rückseite der Industriegesellschaft in Berlin zeigen und jede Verklärung der „guten alten Zeit" vermeiden. Zwar betont er, „eine vom Raum und seinen Menschen her vorbestimmte Hauptstadt ist sie (die Metropole) nie gewesen" (S. 53). aber als geschichtswirksame und kontinuierliche Macht verfolgt er das Zuströmen von Menschen verschiedenster Herkunft und Qualitäten seit der Ostkolonisation der Askanier bis in die Gegenwart, in ihr gefördert durch Maßnahmen der Bundesregierung. Dabei treten viele Berliner und Neuberliner als ursprüngliche Persönlichkeiten ins Licht, so der „alte Heim", Eberty, Zille und die Kollwitz, Zuckmayer, Glassbrenner. v. a. natürlich Fontane, aber auch die sächsischen Weber des Vogtlandes (Textilarbeiter) sowie Borsig und seine Arbeiter im 19. Jahrhundert, Adolf Damaschke und Stephan Born, ferner die Stadthistoriker und -archivare Fidicin und Kaeber. Das bedeutet nicht, die Herrschaft der brandenburgischen Kurfürsten und Könige zu vernachlässigen, ihnen ist der historisch angemessene Platz zugewiesen. Ebenso sind ihre

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Impulse für die kulturelle Entwicklung Berlins umschrieben. Aber gerade aus dem Quellenmaterial der Lebenserinnerungen, Verordnungen und Stadtpläne ist das vielfältige Leben erwachsen. Die drei genannten Aufsätze mit ihrer Vertiefung an besonderen Punkten ergänzen die komprimierte Gesamtdarstellung. Seine Absicht, die Klammerfunktion beider Halbstädte neu verständlich zu machen, ist gelungen, so daß Vf. einige Zitate aus der Regierungserklärung des Reg. Bürgermeisters von 1985 zu Recht als Ermutigung oder Bestätigung zitieren kann. Eine Neuauflage sollte die zeitliche Herkunft der Fotos kenntlich machen; die alten sind als solche nicht kenntlich. Christiane Knop Günter Wollschlaeger: „Chronik Friedenau" bei Wort & Bild Specials (Hans Peter Heinicke), Berlin 1986, 103 S. mit 20 Abbildungen und einem Lit.-Verz., 42 DM. Günter Wollschlaeger, stellvertretender Vorsitzender unseres Vereins, erzählt sich mit dieser Veröffentlichung seine Heimatliebe vom Herzen und stattet, wie sein Verleger auch, einer Bürgergemeinde Lebensdank ab, die sich im Vorfeld des Stadtjubiläums auf ihre Bedeutsamkeit besinnt. Er legt über die städteplanerische Idealskizze um den Friedrich-Wilhelm-Platz aus der Gründerzeit (Abb. auf dem rückwärtigen Buchdeckel) das heutige Straßennetz mit seinen topographischen Sehenswürdigkeiten, so daß das Werden vom Gutsbezirk über die Landhauskolonie der Gründerjahre bis zum modernen Ortsteil durchsichtig wird. Der Verfasser berichtet mit so viel Erzählfreude, daß sich der fontanische Grundsatz bewahrheitet, ein Geschichtserzähler fasse die Historie am stimmigsten, die etwa zwei bis drei Generationen zurückliegt. Aus dem Erzähler, der sich mit viel Sachtreue und Detailkenntnis in die Quellen vertieft hat, ist ein Geschichtenerzähler des bunten Lebens geworden. Man spürt, eine jahrelange Beschäftigung hat hier ihren gestalterischen Abschluß gefunden! Der Leser erfährt vieles über alte Grundstückspreise und Gasbeleuchtung, Pferdebahnen und Friedenauer Originale wie „Onkel Ete", Lehrergehälter und Verwaltungsgeschick der ersten Ortsvertreter, Markttreiben und Gewerbefleiß und kirchliches Gemeindeleben, v. a. der Goßnerschen Mission. Es kann aus der Fülle des Stoffes nur einiges herausgegriffen werden, um die Neugier zu wecken. Seitdem vor wenigen Jahren die Berliner Kietze (Kieze) als menschlich bedeutsame Umfelder entdeckt worden sind, folgen nun allenthalben die Landhauskolonien der Gründerjahre. Jetzt, im Abstand, erkennt man die ihnen gemeinsamen Gestaltungszüge. Mit Alt-Westend verbindet Friedenau Geist, politische und wirtschaftliche Struktur der 80er Jahre, mit Frohnau die gleiche Art der Namengebung und der Gartenstadtcharakter - sowohl im Stadtplanerischen wie in der Landhausarchitektur (Muthesius). In beiden Fällen lebte „die Kolonie" lange von den Vorgaben der erschließenden Kapitalgeber (Carstenn, Fürst von Donnersmarck). In beiden Fällen war auch der Grundbesitzerverein die erste Bürgervertretung, bis sich im Spannungsfeld zwischen den Landräten der Kreise Teltow und Niederbarnim bzw. der Königlichen Regierung in Potsdam einerseits und der Stadt Berlin andererseits eine selbstbewußte Bürgermeinde entwickelte. Wir bewundern heute ihren weitschauenden Sinn, der modernes Großstadtleben ermöglichte. Doch sieht der Verfasser die sich bewahrende Eigenständigkeit als das Wesentliche. Die „verinnerlichte Idylle" ist nur teilweise Kleinstadtbehagen, sie ist vielmehr Tüchtigkeit der aufstrebenden Bürgerkultur. Das erhellt z. B. an der Geschichte der Schulen, deren jede eine eigene Persönlichkeit wurde, am Aufstieg des Gewerbes zur Industrie (z. B. der Bildgießerei Noack, Optische Industrie) und an der Ausformung des Stadtbildes in seinen verschiedenen Epochen vom Landhausstil über den Jugendstil im Miethausbau bis in die Moderne. Der Verfasser bringt hier seine gründlichen Kenntnisse im Architekturwesen ein und läßt den Leser das Straßenbild der neuen Viertel, die Haberland erschlossen hat, ganz frisch sehen. Die „Kirche zum guten Hirten" ist räumlich wie innerlich zum Mittelpunkt einer geistig bedeutsamen Gemeinde geworden. Der Leser erfährt Unbekanntes über Lenin und Rosa Luxemburg in Friedenau, über Goebbels (!), und zwar in der wichtigsten Phase seines Kampfes um Berlin, und Heuss, über Rilke und George, Uwe Johnson und Günter Grass, Gorki und Kästner u. a. Die Niedstraße war eine Straße der Literaten. Er erfährt Ungewußtes über Komponisten, Kinos und das Kleine Theater. Es kommt der Widerstand, v. a. der „Roten Kapelle", ebenso ins Wort wie das Hineingezogenwerden der Schulen in die NS-Zeit und Kinderlandverschickung, der Kirchenkampf wie die vertrauten Beziehungen der alten Friedenauer zur Hohenzollerndynastie (Besuch des Kaiserpaares bei den Bildhauerwerkstätten der Wilhelmstraße) und die Beziehung des Lyzeums zur Königin Luise. Die Chronik ist nicht nur eine Lesefreude, sie ist auf jeder Seite aufschlußreich. Die Abbildungen illustrieren das historisch Gewachsene des Stadtbildes. Christiane Knop

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b + r hildebrandt und Christiane knop: Gartenstadt Frohnau. Frohnauer Bürger erforschen ihren Ortsteil von der Gründung bis heute. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung GmbH. Berlin 1985, broschiert. 226 Seiten. Unter der Überschrift „Die steuerfreie Stadt" preist die „Direktion der Gartenstadt Frohnau" 1910 die Vorzüge dieser neuen Siedlung an der Nordbahn zwischen Hermsdorf und Stolpe an. hinsichtlich der Wohnlage, der Anbindung an die Stadtmitte und der Steuerbegünstigungen, die Frohnau zur „frohen Au'" werden lassen. Lyrisch heißt es dort: Dicht bei Berlin ihr Plätzchen hat / Frohnau die neue Gartenstadt. / Sie liegt so schmuck im grünen Park, / Und wer da wohnt, spart manche Mark. Die Idee, die Geschichte der Gartenstadt Frohnau zu ihrem 75. Jahrestag zu erforschen, ist 1982 geboren worden. In zehn Kapiteln wird wiedergegeben, was an schriftlichen Unterlagen zutage kam und die Jubiläumsausstellung im Centre Bagatelle anstelle eines Kataloges begleitete. Sehr beeindruckend sind die Schilderungen aus der Nachkriegszeit, die ja auch etwa in der Mitte des Berichtszeitraums liegt. Schon in der Nacht vom 21. zum 22. April 1945 wurde Frohnau von der Ersten Weißrussischen Armee Marschall Shukows eingenommen. Neben Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen aus jener Zeit sind Plakate wiedergegeben, auf denen bezeichnenderweise vom „politischen Umschwung" und nicht von Befreiung und Kapitulation gesprochen wird. Einer gedruckten Bekanntmachung aus dem Schaukasten der Ortsverwaltung Frohnau, wonach sich „sofort alle Frauen, die in der letzten Zeit mehrmals den Besuch von Soldaten der Roten Armee erhalten haben (...), bei den örtlichen Bürgermeistereien zu melden haben", sonst aber alle Nachbarn verpflichtet werden, eine Meldung einzureichen, „da (...) manche dieser Frauen sich nicht freiwillig melden werden", ist die Mitteilung gegenübergestellt, daß Dr. Dietrich Bios, der spätere Präsident des DRK Berlin, im Hause Sigismundkorso 15 eine Abtreibungsklinik eingerichtet habe. Einer Schilderung, was eigentlich „Gartenstadt" heißt, folgen charakteristische Beispiele Frohnauer Häuser. Von den Kapiteln „Frohnauer Gemeindeleben", „Schulen in Frohnau" und „Soziale Einrichtungen in Frohnau" ist dieses besonders aufschlußreich. Die eingeblendeten Tonbandaufzeichnungen beleben die Darstellung. Im Rahmen der Betrachtung der Invalidensiedlung wird auch Oberst Wilhelm Staehle gewürdigt, der erste und einzige Kommandant der Invalidensiedlung, der einen Tag nach der Besetzung Frohnaus hinter dem Lehrter Bahnhof als Angehöriger des Widerstandes erschossen wurde. In der Anklageschrift wird übrigens 1877 als Geburtsjahr angegeben, im Bericht 1888. Weitere Kapitel gehen auf Künstler und kulturelles Leben in Frohnau ein, behandeln Verkehr und Verbindung, Umgebung und Versorgung Frohnaus sowie schließlich den Sport dieser Gartenstadt. Eine Fülle von Abbildungen trägt dazu bei, die Jubiläumsschrift lebendig und anschaulich werden zu lassen. Den Vorlagen entsprechend sind die Abbildungen allerdings von unterschiedlicher Qualität. Vielleicht hätte eine Landkarte Frohnaus den Band vorteilhaft ergänzen können. Sicher ist es schwer, bei den in Frohnau ansässig gewesenen bedeutenden Wissenschaftlern eine Grenze zu ziehen, doch hätte eine so herausragende Persönlichkeit wie o. Professor Professor h. c. mult. Dr.-Ing. E. h. Dipl.-Ing. Paul Kolbach sicher in diese Reihe gehört. Der Ausstellungsgruppe Frohnau und dem Verlag Haude und Spener ist ebenso wie den Herausgebern Hildebrandt und Frau Dr. Knop dafür zu danken, daß sie eine so umfangreiche und verläßliche Geschichte der Gartenstadt Frohnau vorgelegt haben. H. G. Schultze-Bemdr Ilse Kleberger: „„Eine Gabe ist eine Aufgabe.' Käthe Kollwitz." Mit 66 Abb., davon 35 auf Kunstdrucktafeln, Erika Klopp Verlag. Berlin 1984. 5. Aufl. Die Darstellung zeigt Frau Kleberger in Auffassung und Anlage als Jugendbuchautorin im besten Sinne. Es ist ihr gelungen, die Sachverhalte biographischer, künstlerischer, zeitgeschichtlicher und sozialkritischer Art in ihrer Komplexität auf die jeweils knappsten Umrisse zurückzuführen und zugleich die menschlichen Untertöne hörbar zu machen. Die Autorin beherrscht die Kunst der rechten Auswahl. - Im Brennpunkt steht das Gefallenenmal für ihren Sohn Peter in Flandern. Dorthin führt ihr Entwicklungsgang, und von dort setzt sich ihre eindringliche Alterskunst in Gang. Das Buch ist nicht nur zur Unterrichtung der Jugend geeignet, für welche Leben und Zeit der Kollwitz schon historisch sind und ihr künstlerisch hoher Wert unbestritten, sondern auch die Älteren begegnen allem wieder, was ihnen die Künstlerin so liebenswert gemacht hat. In Käthe Kollwitz erkennen wir ein verdichtetes Stück Berliner Hauptstadtgeschichte, das es verdient, im Jahr der 750-Jahr-Feier ins Bewußtsein gerufen zu werden. Eine Biographie für Jugendliche zu schreiben birgt immer die Gefahr in sich, zeitgeschichtliche Erläuterungen, wie etwa Stand und Einfluß der Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende, Voraussetzungen

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für die nationalsozialistische Machtergreifung, die Ausstellung über „entartete Kunst" oder das Frauenbildnis im Dritten Reich, sehr vereinfachend zu formulieren und dabei zu simplifizieren. Dieser Simplification terrible ist die Vfn. entgangen. Vfn. legt das Geflecht ihrer Arbeit mit den gegenseitigen Beeinflussungen, Abhängigkeiten und Anerkennungen bloß, das Zusammenwirken mit großen Künstlergenossen wie Menzel, Liebermann, Barlach, Nolde, Schmidt-Rottluff und Nagel, das Geprägtwerden von Goethe, Hauptmann, Gorki oder Heinrich Mann. Es werden die Vorgänge um die „Große Berliner Kunstausstellung" und ihre Absonderung in der „Berliner Sezession" und der Vorwurf der „Rinnsteinkunst" geschildert. Im nachhinein finden wir es erwähnenswert, daß das Modell des trauernden Elternpaares vor seiner Aufstellung in Roggevelde 1932 im Kronprinzenpalais ausgestellt war. Ebenso belangvoll will es uns erscheinen, daß sie es sich zuerst (1914) auf einer Anhöhe über der Havel bei Schildhorn gedacht hat. Ihr Entwicklungsbild wird begleitet von einer Reihe sehr schöner, ausdrucksstarker Fotos und Selbstdarstellungen, die das Sichherauslösen aus jugendlich oppositionell geübtem Materialismus zu selbsterfahrener Religiosität erkennen lassen. Mit der künstlerischen Krise von 1910 und bald danach mit dem Soldatentod ihres Sohnes Peter 1914 wuchs sie in die Rolle der Alternden und Vereinsamten, die überschrieben ist mit dem Leitwort: „Kunst ist ein lebenslanges Gespräch mit dem Tode." Sie stellte sich ihm ebenso unbedingt wie dem Leben und schaute ihm seine vielfältigen Bilder ab, so, wie sie auch das Leben sah als Leiden in Armut, in Krieg und Nachkriegszeit, im Kampf gegen erneuten Krieg. So ist in ihrer Kunst wie im persönlichen Leben das Mütterliche zur Leitfigur geworden, anders gesagt, das Angefochtensein der Mütterlichkeit überhaupt befreite ihre Begabung zur Aufgabe. Der Preis sind die Selbstzweifel, die keinem Künstler erspart bleiben. - Von hier aus wird verständlich, warum Vfn. die Schwarzweißkunst als das Eigentliche der Kollwitz ansieht. In ihr ist kein Ausweichen möglich, und sie beförderte das Sichwandeln der Idee zu immer neuen Gestalten, bis sich die letzte Gestalt herausgeschält hatte. Das verband die Plastikerin Kollwitz mit Barlach. Ein eigener Bereich ist ihre Flugblatt- und Plakatkunst - u. a. die Mitarbeit am „Simplizissimus". Seine Betrachtung führt zur Erörterung der Frage, ob sie eine politische Künstlerin gewesen sei. Vfn. stellt ihrer Beanspruchung durch die DDR („Sie schürte die Flamme des revolutionären Widerstands") ein abgewogeneres Urteil aus westlicher Feder (S. 120) gegenüber und versucht eine eigene Deutung aus den Selbstaussagen der Tagebücher, die für einen Sozialismus sprechen, „in dem man l e b e n kann". Sie selbst lebte einen Sozialismus ohne Klassenkampfcharakter. Damit wird der Blick auf die Rolle ihres Mannes Dr. Karl Kollwitz gelenkt, dessen ärztliches Wirken immer als Ergänzung ihres Schaffens im Arbeiterbezirk gewertet wird. Ohne die Geschlossenheit, Tiefe und Berechtigung der vorliegenden Darstellung berühren zu wollen, sei der Rezensentin eine persönliche Aussage gestattet: Man kann das Lebensbild der Familie - in dem die Künstlerin Kollwitz nicht a l l e s war - auch als das eines bürgerlichen Daseins in einer bürgerlichen Umwelt zeichnen. Es bleiben dabei die gleichen redlichen Verhaltensformen, die umfassende Güte und das leidenschaftliche Engagement bewahrt. Die Häuser um den damaligen Wörther Platz (heute Kollwitzplatz) und die Weißenburger Straße beherbergten in den Hinterhäusern Arbeiterquartiere, mehr aber Kleinbürgerwohnungen; die Vorderhäuser um den Platz und an der Schönhauser und Prenzlauer Allee - damals noch neue Bauten nannte man das „Kleine Geheimratsviertel" wegen seines mittleren Bürgertums. Hier war Dr. Kollwitz, unter dessen Händen die Rezensentin zur Welt kam, der Vater und Freund a l l e r seiner Patienten und ihr Berater auch in bürgerlichen Nöten. Er kannte und teilte auch liberale Ansichten und vertrat auch sie, obwohl er sozialdemokratischer Stadtverordneter war, in seinem politischen Amt. Das soziale Umfeld war differenzierter, als es im allgemeinen dargestellt wird. Die Nachbarschaft war stark vom jüdischen Bürgertum durchsetzt, dessen Söhne ins akademische Bürgertum aufstiegen und sich assimilierten. Dies führte innerhalb der Familien zu Konflikten, die oft Dr. Kollwitz schlichtete. Unter seinen Patienten war ferner von i h r e m Hausarzt bekannt, daß er mit den fortschrittlichen Kollegen im Jüdischen Krankenhaus in gutem Einvernehmen stand. Hier dachte man liberal. - So falsch es ist, Rudolf Virchow in seiner Stadtverordnetenrolle einseitig sozialistisch zu sehen, so ist es das auch für das Ehepaar Kollwitz. Es bekannte sich zu den Schwachen des Berliner Nordens und Nordostens, weil ihre Unbedingtheit des Lebens und Leidens ehrlich war. Es ist wohl denkbar, daß Käthe Kollwitz die Unmittelbarkeit des Leidens auch an „bürgerlichen" Sujets gefunden hätte; denn sie lebte in der Weißenburger Straße, von allen geliebt und doch wenig wirklich gekannt, die Schwere und Schwermut eines unerlösten Daseins, auch in einer krisenhaften Ehe. Der Kampf um Befreiung fand da ihren Ausdruck; sie hätte ihn auch andernorts und mit anderen Themen gekämpft. Sie erkannte spät, daß das ärztliche Tun ihres Gatten und das eigene künstlerische Ringen sich verwandter waren, als beide lange Zeit geglaubt hatten. Man konnte in den 30er Jahren die Eheleute Kollwitz an Sommerabenden auf einer der Bänke des

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Wörther Platzes sitzen sehen, wie sie den spielenden Kindern zuschauten. Es umgab sie dann eine gewisse Abwehr, ein Nicht-berührt-werden-Wollen als Ausdruck des Gefangenseins in einer Lebensschwere, die medizinisch nicht angehbar ist. Die habitualisierte Schwere ihres Menschseins wurde ihr bewußt, als Käthe Kollwitz - Vfn. zitiert die Tagebuchstelle - ihre Pietä mit der der befreundeten Frieda Winkelmann, einer konvertierten Katholikin, verglich. Sie befindet sich heute als „Unsere liebe Frau von Frohnau" in der St.-Hildegard-Kirche in Frohnau. Bei ihrer Aufstellung war das Ehepaar Kollwitz zugegen, und im Anschluß daran notierte die Kollwitz im Tagebuch: „Meine Pietä ist (im Gegensatz zu der der Winkelmann) nicht religiös... Meine Mutter bleibt im Sinnen darüber, daß der Sohn nicht angenommen wurde. Sie ist eine alte, einsame und dunkel nachsinnende Frau." - Damit ist wohl ihre tiefste Lebensproblematik berührt. Ein besonderes Kapitel ist der Darstellung ihrer spezifischen Techniken und ihrem entsprechenden ideellen Gehalt gewidmet. Auch Sekundärliteratur aus der DDR ist mit einbezogen. Chrisliane Knop

Eingegangene Bücher, Besprechungen vorbehalten Jens Christian Jensen: „Adolph Menzel", eine Lebensbeschreibung mit vielen bekannten Bildern. DuMont's Bibliothek großer Maler. R. Winau, E. Vaubel: „Chirurgen in Berlin", 100 Portraits, Verlag Walter de Gruyter Berlin 1983. Karl Nolden: „Friedrich von Holstein", in der Reihe „Preußische Köpfe", Politik, Stapp Verlag 1983. Herbert Roch: „Fontane", Berlin und das 19. Jahrhundert. Eine Biographie. Droste Taschenbücher Kulturgeschichte 1985. Josef Tal: „Der Sohn des Rabbiners", ein Weg von Berlin nach Jerusalem. Quadriga Verlag 1985. Reinhard Bendix: „Von Berlin nach Berkeley", deutsch-jüdische Identitäten. Autorisierte Übersetzung von Holger Fliessbach, Suhrkamp Verlag 1985. Angelika Marsch: „Salzburger Emigration in Bildern". Konrad Verlag Weissenhorn. „August Boeckh", Altertumsforscher, Universitätslehrer und Wissenschaftsorganisator im Berlin des 19. Jahrhunderts. Ausstellung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zum 200. Geburtstag vom 22.11.1985 bis 18.1.1986. „Die Mendelssohns in Berlin", eine Familie und ihre Stadt. Ausstellung des Mendelssohnarchivs der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz 1983/84. Richard von Weizsäcker: „Von Deutschland aus", die großen Reden des Präsidenten mit der Ansprache zum 8. Mai und der Rede auf dem Kirchentag. Siedler Verlag 1985. Wolfgang Stresemann: „Philharmonie und Philharmoniker", Stapp Verlag Berlin 1977. Michael Kuschnia: „100 Jahre Deutsches Theater Berlin 1883-1983". Henschelverlag Kunst und Gesellschaft Berlin 1983. „Max Reinhardt in Berlin". Herausgegeben von Renate Vatkovä und Kurt Boeser in der Reihe „Stätten der Geschichte Berlins", Band 6. Edition Hentrich Frölich und Kaufmann 1984. Hugo Fettig (Hrsg.): „Alfred Kerr: Mit Schleuder und Harfe", Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Verlag Severin und Siedler 1982. „Im Cafehaus", von Bernd Müller, mit einem Vorwort von Boleslaw Barlog. Verlag Kurt Pfennig GmbH Berlin 1984. Angela Schönberger: „Die neue Reichskanzlei von Albert Speer", zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur. Gebrüder Mann Verlag Berlin 1981. Hans Curjel: „Experiment Krolloper 1927-1931", in der Reihe „Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts", Band 7. Prestel Verlag München 1975. „Siedlungen der zwanziger Jahre heute", vier Berliner Großsiedlungen 1924 bis 1984. Eine Ausstellung im Bauhausarchiv vom 24.10.1984 bis 7.1.1985. Klaus Klam (Hrsg.): „Riehmers Hofgarten Berlin-Kreuzberg", Modernisierung in einem Stadtquartier der Gründerjahre. Archivbook Verlagsgesellschaft mbH Berlin 1985. J. Roth: „Berliner Saisonbericht", unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920-1939. Verlag Kiepenheuer und Witsch Köln 1984. L. und A. Orgel-Köhne: „Der Tiergarten Berlin, Geschichte und Gegenwart". Quadriga Verlag. Eberhard Roters: „Berlin 1910-1933". die visuellen Künste. Verlag Rembrandt Kunstbuch Berlin. Heinrich Klotz: „Die neuen Wilden in Berlin". Klett-Cotta Verlag Stuttgart 1984.

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Veranstaltungen im IL Quartal 1987 1. Montag, den 13. April 1987,19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Herrn Günter Wollschlaeger: „Das Berliner Stadtschloß und seine Baumeister". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 2. Montag, den 27. April 1987, 19.30 Uhr: Tonbildschau von Herrn Hans-Joachim Müller: „Sechs Jahrzehnte Theater der leichten Muse in Berlin". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 3. Montag, den 4. Mai 1987,19.30 Uhr: Jahreshauptversammlung im Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. Tagesordnung auf Seite 516. 4. Sonnabend, den 9. Mai 1987, 11.00 Uhr: Festveranstaltung des Vereins für die Geschichte Berlins im Rathaus Schöneberg zur 750-Jahr-Feier der Stadt: Festvortrag von Herrn Bundesminister i. R. Professor Dr. jur. h.c. Ernst Benda, Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D.: „In Berlin ist Revolution - Erinnerungen eines Berliners an 1848". Teilnahme nur nach schriftlicher Anmeldung. 5. Montag, den 18. Mai 1987, 19.30 Uhr: Lichtbildervortrag von Frau Ingeborg Hensler und Herrn Oswald Hensler: „Die Lessingbrücke - Abriß und Neubau. Errichtung an Land und Verschub über die Spree". Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg. 6. Sonnabend, den 13. Juni 1987,10.00 Uhr: Friedhofsbegehung am Halleschen Tor. Leitung: Frau Dr. Sibylle Einholz. Treffpunkt: Eingang Zossener Straße. 7. Sonnabend, den 27. Juni 1987,10.00 Uhr: Ortsteilbegehung Tiergarten. Leitung Herr Prof. Dr. Helmut Engel. Treffpunkt: Großer Stern am Bismarckdenkmal.

Neue Mitglieder im 1. Quartal 1987 Gertrud Krüger Arnulfstraße 131, 1000 Berlin 42 Telefon 7531125 Dr. Heike Langmaack, Arztin Fregestraße 42, 1000 Berlin 41 Telefon 8 521916

(Franzke)

Thomas Schön, Verw.-Beamter Kreinauer Straße 11,1000 Berlin 37 Telefon 8111417

(Koepke)

(Köhler)

Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21,1000 Berlin 20, Telefon 3332408. Geschäftsstelle: bis 30. April 1987 beim Schriftführer (siehe nachstehend), vom 1. Mai 1987 an bei der Schatzmeisterin (siehe zwei Zeilen weiter). Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38,1000 Berlin 22, Telefon 365 7605. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010). Kto.-Nr. 433 80-102, 1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2, 1000 Berlin 62: Dr. Christiane Knop. Rüdesheimer Straße 14, 1000 Berlin 28. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung. 524

rcxnabt der B e r , i n e r Stadtbibliothek A

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 83. Jahrgang

Heft 3

„Das neue Schauspielhaus zu Berlin", L. Serruner del., P. Haas sculp.

Juli 1987

Johann Georg Moser, ein Architekt im Berlin des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts Von Gisela Thietje

Auf seiner ersten Reise nach Italien entwarf Karl Friedrich Schinkel im Oktober 1804 in Genua einen Brief, der begann1: „Wertester Freund. Noch ehe ich einen Blick in Genuas Schätze werfe, erinnert mich das gegebene Wort an seine Erfüllung, in der ich für die Entbehrung eines Ihnen werten Umgangs, wenn nicht Entschädigung, doch einigen Ersatz zu finden hoffe. Und von meiner aufrichtigen Zuneigung versichert, werden Sie mir glauben, daß ich mich glücklich preise, hier ein Mittel zu haben, sich widrige Umstände, die mir die Zeit nach meiner Ankunft zu verderben drohte(n), auf das angenehmste zu vernichten." Dieser Brief mit dem etwas gewunden klingenden Anfang war an einen in Rom zurückgebliebenen Freund gerichtet, wie im weiteren Verlauf des Schreibens deutlich wird. Daran, daß Schinkel hier eine angefangene Diskussion über den Schiefen Turm zu Pisa schriftlich fortsetzt und mit einer Skizze erläutert2, zeigt sich, daß der Adressat auch als Architekt angesprochen wurde. Es war Johann Georg Moser, wenn man dem Herausgeber dieses Brief-Brouillons, Gottfried Riemann, folgt.3 Schon im September 1804 hatte Schinkel noch in Rom seinem vormaligen Reisegefährten auf Sizilien Carl Gotthard Graß geschrieben4: „Der Architekt Moser aus Berlin, von dem ich Ihnen schon in Sizilien erzählte, ist aus Paris angekommen und freut sich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich denke, daß er bald nach Neapel gehn wird, wo Sie ihn sehn und (sich), wie ich hoffe, in seiner Gesellschaft gewiß nicht langweilen werden." In seinem Postscriptum fügte er hinzu: „Die griechischen Vasen, welche Sie für mich und Steinmeyer in dem Kasten besitzen, schicken Sie, wenn es recht bald möglich ist, an Moser und bitten ihn, es mit seinen Sachen nach Berlin zu besorgen." Und im Dezember 1804 teilte Schinkel aus Paris seinem ehemaligen Lehrer und väterlichen Freund David Gilly mit5: „Mit Herrn Moser habe ich noch vor vier Wochen sehr froh unter dem Genuß der Schönheiten Roms verlebt; seit ich Rom verließ, habe ich keine weitere Nachricht von ihm." Gilly, der vom Ausbruch des Gelbfiebers in Italien gehört hatte, wie man seinem Brief an Schinkel vom 14. Dezember 1804 entnehmen kann 6 , erhielt noch im selben Monat von Schinkel zur Antwort 7 : 526

„Die Gefahr in Italien ist nicht so groß, als man sich entfernt von dem Unglück einbildet, und deshalb fürchte ich für Moser, der bei seinem Verstände sich gewiß zu schützen weiß, nicht..." Die Auflistung von Textstellen über Moser in Schinkels Schriftverkehr veranschaulicht seinen engen freundschaftlichen Kontakt mit diesem Berliner Architekten, der sich ebenfalls auf einer ausgedehnten Auslandsreise befand und in zwei erhaltenen, bisher nicht veröffentlichten Briefen an Schinkel den Eindruck von enger Freundschaft vertieft: den einen schrieb er am 21. November 1804 in Neapel an Schinkel in Paris, den anderen im Februar 1805 in Rom an ihn in Berlin (vgl. Abschnitt 5).8 In den Erläuterungen der Herausgeber zu den Briefen Schinkels an Moser bzw. zu Textstellen über ihn findet man kaum Angaben zur Person.9 Der Hinweis aber, daß Moser - später als 1804 - in Berlin Baurat gewesen sei, versprach hilfreich zu sein: die Behörde seines Wirkens mußte das Berliner Hofbauamt gewesen sein. Doch der bedauerliche Verlust des archivalischen Bestandes „Preußisch) Br(andenburgisches) Rep(ositum) 12 HofBaubehörden" - er ist 1945 durch Brand vernichtet worden10 - läßt eine Forschung auf direktem Wege über die ehemals wichtigste Archivalie dieses Amts nicht zu. Es gibt nur die Möglichkeit, weniger relevante Quellen zu erschließen und auf Literatur zurückzugreifen, die vormals noch vorhandene Archivalien verarbeitet wiedergibt." Bei diesen Bedingungen kann füglich nur ein unvollständiges und unausgewogenes Bild vom Leben und Wirken Mosers geboten werden. Die Angaben reichen aber aus, um zu einem überraschenden Ergebnis zu gelangen: der Aufdeckung einer Verwechslung.

1. Herkunft Johann Georg Moser wurde in der fürstbischöflichen Residenzstadt Eutin im Holsteinischen geboren und am 15. Oktober 1761 in der evangelischen Michaeliskirche getauft.12 Sein Vater war der Hofbildhauer und zeitweilige Bau-Entrepreneur Johann Georg Moser (1713-1780), seine Mutter die zweite Gattin Catharina Margaretha geborene Packendorff.13 Der Junge wuchs mit acht Geschwistern in einem großen Haus an der Straße vor dem Lübschen Thor auf (Lübecker Straße 42). Der Vater bildete die Söhne zu Bildhauern aus; der älteste wurde wiederum Hofbildhauer in Eutin, anderen gingen nach Lübeck. Warum Johann Georg jun. dagegen Architekt wurde, ist nicht zu ermitteln gewesen. Auch der Zeitpunkt seiner Auswanderung ist nicht bekannt, er lag jedoch vor dem 3. November 1785, denn damals wurde Moser in Berlin bereits getraut. Er wird Eutin verlassen haben, nachdem sein Vater 1780 verstorben war und der älteste Bruder Haus und Amt übernommen hatte. Auf hoher Ebene hatte es zwischen Eutin und Potsdam schon seit längerem Kontakte gegeben. Sie fanden ihren Ausdruck darin, daß der Eutiner Fürstbischof Adolph Friedrich (von 1751 an schwedischer König) im Jahre 1744 Luise Ulrike von Preußen heiratete, eine Schwester Friedrichs IL, und daß ein Bruder des Fürstbischofs, Herzog Georg Ludwig von Gottorf, als hoher Offizier in der Armee Friedrichs II. diente - er war Generalmajor des Dragonerregiments Nr. 9 Holstein-Gottorp.' 4 So mögen dynastische, aber auch wohl private Beziehungen den jungen Moser zur Auswanderung nach Berlin motiviert haben. Möglicherweise waren die Eutiner Mosers mit der verzweigten Berliner (Hof-)Steinmetzfamilie Moser verwandt, doch ließ sich eine genealogische Verbindung noch nicht herstellen.15 527

2. Familie Am 3. November 1785 heiratete der „Kgl. Conducteur" Johann Georg Moser in der Jerusalemskirche zu Berlin Johanna Margaretha Christiana Leitholdt, die älteste Tochter des aus Bayreuth stammenden „Kgl. Werkmeisters" Johann Georg Leitholdt und der Johanna Elisabeth geborene Rüdiger.16 Leitholdt mag mit der Beschaffung und Lieferung von Baumaterialien an den Potsdamer Hof zu Vermögen gekommen sein, ob er allerdings in der Lage gewesen war, Klein-Glienicke zu erwerben und dort die Ziegelei zu betreiben, wie Spiker angibt, ist fraglich und wird von Sievers nicht bestätigt.17 Leitholdt, der sicherlich zur Bayreuther Gruppe um den Baumeister Gontard in Potsdam gehört hatte, war schon vor der Hochzeit seiner Tochter Johanna verstorben.18 Seine Witwe heiratete in zweiter Ehe einen bedeutenden Berliner Baumeister, den ebenfalls aus Bayreuth stammenden Georg Christian Unger.19 So wurde dieser nun Mosers Schwiegervater, was der beruflichen Zusammenarbeit eine weitere Qualität gegeben haben wird. Mosers Gattin stammte aus Potsdam, wo sie am 15. Oktober 1767 geboren worden war.20 Im Eutiner Kirchenbuch ist vermerkt, daß Johanna Moser, „Bauinspectorin zu Berlin", 1790 in der Heimatstadt ihres Gatten eine Patenschaft überrnahm. 21 Im Jahre 1800 wurde in der Berliner Akademie der Künste von der Malerin Friederike Liszewska das Portrait der Frau „Oberbauräthin Moser" ausgestellt.22 Über diese wenigen Nachrichten hinaus konnte kaum etwas über Johanna Moser ermittelt werden. Sie überlebte ihren Gatten um fast dreißig Jahre, wohnte in den letzten Jahren ihres Lebens in der Leipziger Straße 7623 und starb am 19. März 1847 in Berlin24. Begraben wurde sie auf Groß-Ziethen, dem Gut ihres jüngsten Sohnes August.25 Moser selbst wurde auf dem Friedhof der Jerusalemskirche am Halleschen Tor zu Berlin begraben. Seine Sterbeurkunde lautet26: „Johann George Moser, Kgl. Ober-Hof-Baurath allhier, Markgrafenstr. 51,57 J., hinterläßt die Witwe und 3 Kinder, davon 2 major, (erwachsen, Anm.). 106.03.1818 - Schlagfuß • 10.03.1818." Zu den Kindern, die ihren Vater überlebten, gehören der älteste Sohn Carl und das jüngste Kind August. Im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin konnten sechs Taufbucheintragungen von Kindern Johann Georg Mosers gefunden werden. Die darin enthaltenen Angaben über seine jeweilige Stellung im Hofbauamt bieten nunmehr die wichtigste Quelle über seinen beruflichen Werdegang.27 Seine beiden schon namentlich erwähnten Söhne wurden 1837 bzw. 1861 geadelt und wurden die Stammväter der preußischen Familien von Moser.28 Die Wohnsituation der Familie Moser ist den Berliner Wohnungsanzeigern zu entnehmen, die allerdings nicht lückenlos vorhanden sind29: Moser zog zunächst in die Nähe des Gendarmenmarktes, er wohnte 1787 in der Charlottenstraße, 1788 und 1789 in der Markgrafenstraße zur Miete und bewohnte in den Jahren 1790 und 1791 in der Kronenstraße bereits ein eigenes Haus; erst das 1792 bezogene eigene Haus an der Spree, Weidendamm 1/Ecke Friedrichstraße, war wohl von ihm selbst erbaut worden und wurde das eigentliche Zuhause der Familie. Noch vor dem Tod Mosers wurde es allerdings aufgegeben: in seiner Sterbeurkunde wird Markgrafenstraße 51 angegeben. 1796 richtete Moser in seinem Haus am Weidendamm seiner Schwester Margreth J. Moser geboren 1768 in Eutin - die Hochzeit mit dem späteren Hauptmann der Artillerie Johann Carl Ferdinand Penne aus. 30 Diese nur am Rande zu erwähnende Nachricht ist insofern von Interesse, als die 1797 geborene Tochter dieses Ehepaars die Mutter des Gelehrten Hermann 528

von Helmholtz wurde.31 Der Text der Trauungsurkunde Penne/Moser ergibt überdies den Nachweis darüber, daß Johann Georg Moser tatsächlich aus Eutin stammt: Margreth Johanna Moser wird als „nachgelassene 3. Tochter des zu Eutin verst. Landbaumstrs. Moser" bezeichnet. Unterstützt wird dieser Nachweis nicht zuletzt vom Inhalt eines Schreibens, das der älteste Bruder Johann Georgs, August Friedrich Moser, 1793 an den Eutiner Hof richtete: Bei der Beschaffung von Marmor hatte er sich der Hilfe seines in Berlin wohnenden Bruders bedient und zum Beweis zwei Teile von Briefen beigelegt, die dieser ihm geschrieben hatte.32 Diese Briefreste nun zeigen die authentische Schrift Johann Georgs und waren der erste Hinweis darauf, daß er nicht der Briefpartner Schinkels gewesen sein konnte.

3. Im Hofbauamt zu Berlin Nach den erwähnten Personenstandsurkunden läßt sich Mosers beruflicher Werdegang in etwa rekonstruieren. In den Jahren 1785 und 1786 war er Kondukteur, ging also einem erfahrenen Architekten zur Hand. Für 1787 fehlt eine Angabe, aber in den Jahren 1788 bis 1790 war er Bauinspektor beim Königlichen Hofbauamt. 1795,1796 und 1797 wird er Stadtrat bzw. Stadtund Baurat genannt. Die Stellung des Oberbaurats ist für 1800 nachweisbar. 1807 wird er „Kgl. Ober Hof Bau Rath" und 1818 „Kgl. Ober-Hof-Baurath" betitelt. In den rund 35 Jahren seines Wirkens für das Berliner Hofbauamt - zeitweise unterbrochen von seiner Tätigkeit als „Professor" - arbeitete er mit namhaften Architekten und Bildhauern zusammen und war an einigen wichtigen Neubauten beteiligt.

3.1. Zusammenarbeit mit Karl von Gontard und Georg Christian Unger Die Bezeichnung „Kgl. Conducteur" in Mosers Trauungsurkunde von 1785 beweist, daß er schon Mitglied des Berliner Hofbauamts war, als Friedrich II. noch lebte. Leiter des Amts war damals Karl von Gontard, von Friedrich aus Bayreuth nach Potsdam berufen, wo jener mit Georg Christian Unger maßgeblich am Ausbau der Residenz beteiligt war. Als der König auch in Berlin eine rege Bautätigkeit entwickelte, siedelten die beiden Baumeister bekanntlich hierher um. Mit zahlreichen Bauten prägten sie das damalige Berliner Stadtbild, insbesondere am Gendarmenmarkt und in seiner Umgebung. Dies war das berufliche Umfeld, auf das der junge Moser hier traf. Als Kondukteur hatte er also diesen Baumeistern zur Hand zu gehen. Seine Zusammenarbeit mit ihnen ist im Fall des Rosenthaler Tors konkret belegbar (Abb. 1). Als Teil der neuen Stadtbefestigung war es zusammen mit dem Oranienburger und dem Hamburger Tor „zufolge Cab.-Ordre vom 13. Januar" 1786 nach Zeichnungen von Gontard und Unger im Oberhofbauamt entworfen worden, wie Borrmann mitteilt.33 Schmitz tendiert dazu, in Gontard den Planer zu sehen, und setzt als Erbauungszeit 1781 bis 1788 an 34 , während Borrmann sich auf das o. a. Datum bezieht und hinzufügt, daß für die Vollendung des Tors im Jahre 1793 noch 5000 Taler erforderlich gewesen seien.35 Vielleicht für die Bildhauerarbeiten? Er stimmt aber mit Schmitz darin überein, Unger als den Bauleiter und Moser als den ausführenden Architekten anzugeben.36 Nach neuerer Publikation ist das Tor 1788 entstanden.37 Es war eine dreiteilige Anlage mit Giebelvorbauten und toskanischen Säulen, mit Statuen auf der Attika und Trophäen auf dem Aufsatz. In den Jahren 1867 und 1868 wurde es wie die beiden anderen Tore mit Rücksicht auf den Verkehr abgebrochen.38 529

Ein weiteres Beispiel der Zusammenarbeit Johann Georg Mosers mit Georg Christian Unger stellt der Bau der Alten Charite dar (Abb. 2). Ungers im Jahre 1785 entstandener Entwurf wurde erst um die Jahrhundertwende von Moser ausgeführt, wie Georg Dehio angibt39: „klassizist. Putzbau von 3flügl. Anlage, in den Risaliten von toskanischer Ordnung gegliedert, beg. 1785 von Unger, voll. 1800 von Moser, abgebrochen 1910 ..." Danach hätte Unger allerdings schon selbst mit dem Bau begonnen gehabt, doch mag Moser auch damals schon beteiligt gewesen sein. Der Angabe Dehios von 1922 folgen Thieme/Becker 193940: „Beginn des Baues der Charite (von Moser vollend.)", so steht es unter den biographischen Daten Ungers zu lesen. 1931 brachten die Herausgeber des Künstlerlexikons aber das Stichwort Moser mit den Vornamenkürzeln J. C. F. in Verbindung, obwohl sie sich auf das soeben wiedergegebene Zitat von Dehio berufen, in dem keine Vornamen genannt sind.41 Die Verwechslung Johann Georg Mosers mit J. C. F. Moser geschieht in der Fachliteratur öfter, wie noch darzulegen sein wird, und scheint vornehmlich von Thieme/Becker verursacht worden zu sein.42 Ein Bauvorhaben großen Umfangs waren die sogenannten Immediatbauten, ein Werk, das schon unter Friedrich II. begonnen worden war und unter seinen beiden Nachfolgern fortgesetzt wurde. Dem Projekt lag ein städtebauliches Konzept zugrunde, nach dem es galt, die Stadt Berlin nicht nur mit schönen öffentlichen Gebäuden zu bereichern, sondern die dazwischen liegenden Häuserzeilen so zu gestalten, daß in ästhetischer Hinsicht eine Annäherung erreicht wurde. Dieser Vorgang betraf viele Privathäuser, die eine kunstvolle Fassade erhielten. Es wurden aber auch ganze Gebäude neu geschaffen, in denen Beamtenwohnungen eingerichtet und Behörden untergebracht wurden. Ein Beispiel ist die Wohnung, in der Mosers Witwe lebte: Das Haus Leipziger Straße 76 war ein Immediatbau Ungers mit „einfacher, gequaderter Front mit Rundbogenfenstern im oberen Stockwerk", wie Borrmann angibt und hinzufügt, daß hier (später) das königliche „Civilcabinet" sein Domizil gehabt habe. 43 Viele dieser unterschiedlich gestalteten - Immediatbauten waren unter Gontards Leitung entstanden, aber wohl mehr noch unter der Ungers, der 1788 Direktor der Immediatbaukommission wurde.44 Im Bereich dieser Bauten lag sicherlich eine langfristige Aufgabe auch für Moser vor. Zu seiner Zeit wurden vor allem der Dönhoffplatz mit der Leipziger Straße und Straßenzüge um den Gendarmenmarkt gestaltet (Abb. 3).

3.2 Zusammenarbeit mit Karl Gotthard Langhans Im Jahre 1788 wurde Karl Gotthard Langhans Direktor der Zentralbehörde des Oberhofbauamts; nach Borrmann gehörten zum damaligen Kollegium neben Georg Christian Unger Friedrich Becherer, Konrad Wilhelm Titel, Karl Friedrich Lessling und von „jüngeren Kräften die Bauinspectoren Joh. Georg Moser und Georg Meinecke", nicht mehr als sieben Architekten also.45 Hier verbindet Borrmann den Namen Moser ausdrücklich mit den Vornamen Johann Georg und bezieht sich auch an allen anderen Stellen, wo von Moser die Rede ist, auf sie. Kurz nachdem Langhans mit seiner Arbeit im Hofbauamt angefangen hatte, brach in Paris die Französische Revolution aus. Der Baumeister hatte mit dem Bau des Brandenburger Tores begonnen, während Unger mit der Errichtung der Vordergebäude des Schlosses Monbijou beschäftigt war. Am 21. Februar 1790 verfügte eine Kabinettsordre wohl aus Gründen notwendiger Sparsamkeit bei wenigen Ausnahmen für drei Jahre den absoluten Baustopp.4* Es ist daher erklärlich, daß aus dieser Zeit Nachrichten über eine bauliche Tätigkeit Mosers bisher 530

Abb. 1: „Das Rosenthaler Thor zu Berlin von der Stadt-Seite", L. Serrurier / F. Haas, Kupferstich von 1799.

fehlen. In der Zeit um 1795 scheint er nicht einmal mehr Mitglied des Hofbauamts gewesen zu sein, denn er wird Stadtrat genannt. Um diese Zeit übte er eine lehrende Tätigkeit aus, wie noch darzustellen sein wird. Nachdem 1797 Friedrich Wilhelm III. die Regentschaft in Preußen übernommen hatte, wurden wieder öffentliche Bauvorhaben verwirklicht, wie für 1800 im Fall der Charite schon vorgrifflich erwähnt. Neben den älteren Baumeistern wie Langhans, Titel, Unger und Becherer traten vor allem Johann Friedrich Gentz und David Gilly hervor. Gilly wurde 1798 Zweiter Direktor des Oberhofbauamts und ist Mitbegründer der Bauakademie. Am Lustgarten entstanden nun das Münzgebäude von Gentz und am Werderschen Markt die Börse von Becherer; nach Borrmann waren sie Beispiele „jenes noch unbeholfenen und unfertigen antiken Stils vor dem Auftreten Schinkels".47 Es war die Zeit, in der man an den Bau eines Schauspielhauses dachte. Es war notwendig geworden, nachdem das Französische Komödienhaus am Gendarmenmarkt zum Nationaltheater erklärt war und nun der Platz nicht mehr ausreichte, um das Publikum und eine verbesserte Bühnenausstattung unterzubringen, zumal August Wilhelm Iffland 1796 die Generaldirektion übernommen hatte. Karl Gotthard Langhans legte einen Entwurf vor, der „mit seinen etwas schweren, noch vom Spätbarock und Zopf beeinflußten Formen" 48 am Gendarmenmarkt verwirklicht wurde (Titelbild). Der ausführende Architekt war Johann Georg Moser, wie Borrmann schon 1893 angegeben hatte.49 „Im April 1800 begannen die Arbeiten unter der Mitwirkung des Oberbaurats Moser," berichtet Walther Th. Hinrichs in seinem 1909 erschienenen Buch über Karl Gotthard Langhans.50 Thieme/ Becker aber nennen 1931 auch hier J. C. F. Moser, wobei sie sich auf die soeben zitierte Stelle bei 531

Hinrichs berufen51, in der aber keine Vornamen genannt sind, und daß sie sich auch hier irren, geht aus der Titelangabe für Moser hervor: der Oberbaurat Moser war zu jener Zeit Johann Georg, während J. C. F. Moser 1816 erst zum Baurat ernannt wurde.52 Das mit seinen 2000 Plätzen riesige Theater erforderte eine Bauzeit von 1800 bis 1803, aber schon am 1. Januar 1802 fanden „in Gegenwart des Königs und der Königin mit einem von Iffland gesprochenen Prolog und den Kreuzfahrern von Kotzebue" die Eröffnungsfeierlichkeiten statt, so Herrmann Schmitz.53 Das Schauspielhaus fiel bekanntlich am 29. Juni 1817 einer Brandkatastrophe zum Opfer. Der in der Zeit von 1818 bis 1821 von Schinkel errichtete Nachfolgebau bezog stehengebliebene Grundmauern und den Portikus ein, doch verzichtete man auf die vorherige Größe des Hauses.

3.3 Zusammenarbeit mit Johann Gottfried Schadow Bei den zur Zeit der Eröffnung noch ausstehenden Arbeiten am Langhansschen Schauspielhaus hatte es sich unter anderem um den plastischen Schmuck der östlichen Vorhalle gehandelt, der erst im Oktober 1803 fertig wurde.54 Alle am Hause angebrachten Reliefs in Giebelund Wandfeldern waren nach Entwürfen und Modellen des Bildhauers Johann Gottfried Schadow geschaffen worden55; eine zeitgenössische Aufrißzeichnung nach Langhans zeigt die Fassade im Schmuck dieser Arbeiten (Abb. 4). Damit kann als sicher gelten, daß Moser an diesem Bau mit Schadow zusammengearbeitet hat. Die Phase der Napoleonischen Kriege, die auch tief auf das Berliner Leben einwirkten - am 27. Oktober 1806 begann die bis 1808 andauernde Besetzung Berlins durch Napoleon - , kann hier nur angedeutet werden. Sie erklärt, daß in diesen Zeitläuften die öffentliche Bautätigkeit darniederlag.56 Aus diesen Jahren wäre von Mosers beruflicher Tätigkeit auch nichts zu berichten gewesen, wenn nicht König Ludwig I. von Bayern durch Berlin gereist wäre, um das Kriegsheer in Polen zu besuchen: Beim Anblick des Brandenburger Tores ließ Ludwig sich bekanntlich zu dem Plan anregen, großen Deutschen eine Weihestätte zu errichten, später als Walhalla bei Regensburg verwirklicht. Am 7. Januar 1807 kam er erneut nach Berlin, um den Bildhauer Schadow in dessen Atelier zu besuchen. Er wurde dabei nicht nur von dem „Aufseher der Münchner Bildergalerie" Dillis, sondern auch „von dem preußischen Baumeister Moser" begleitet, wie Graf Raczynski in seinem 1840 erschienenen Buch mitteilte.57 Daß die Wahl auf Moser gefallen war58, hatte vermutlich mit seinen engen Beziehungen zu Schadow zu tun und wohl auch ein wenig damit, daß er von Haus aus mit bayerischer Mentalität und mit der Bildhauerei vertraut war.59 Er trug damals schon den Titel eines königlichen Oberhofbaurats, man hatte dem König also einen der ranghöchsten Beamten des Oberhofbauamts mitgegeben. Vielleicht mußte Moser den möglicherweise schon um diese Zeit kranken Direktor Langhans vertreten, der im darauffolgenden Jahr starb. Das Ergebnis des königlichen Besuchs war, daß Schadow den Auftrag zur Schaffung einer Reihe von Marmorbüsten für die Walhalla erhielt. Wie eng der Entschluß zu ihrem Bau zeitlich mit dem Besuch bei Schadow verknüpft war, ergibt sich aus dem Text im Fußboden jenes Tempels: „BESCHLOSSEN IM JANUAR MDCCCVII." In einem weiteren Fall ist zwar Schadows, nicht aber J. G. Mosers Beteiligung sicher bezeugt: bei der Festdekoration Schinkels von 1814, von der hier noch die Rede sein soll. Beide, Moser und Schadow, haben aber mit Sicherheit am Bau der Neuen Wache von Schinkel mitgewirkt. Dies soll ebenfalls an anderer Stelle noch dargelegt werden. 532

Abb. 2: „Die Charite", gez. v. Stock, gest. v. Finden, Verlag George Gropius in Berlin.

Abb. 3: „Die Leipziger Straße zu Berlin vom Döhnhofs-Platz aus aufgenommen" von F. A. Calau und F. A. Schmidt.

533

3.4 Zusammenarbeit mit Karl Friedrich Schinkel Nach dem Tilsiter Frieden im Jahre 1807 wurde das Oberhofbauamt aufgelöst und statt dessen die „Hofbau-Commission" eingerichtet, deren Direktor Johann Heinrich Gentz wurde.60 In der nun folgenden Zeit kündigte sich das Talent Karl Friedrich Schinkels an, der 1810 sein erstes Amt antrat.61 Nach den Befreiungskriegen ging es auch im Bauwesen wieder aufwärts. Zunächst aber sollte die Heimkehr der preußischen Truppen 1814 mit einer Siegesfeier am Brandenburger Tor gewürdigt werden. Schinkel erhielt den Auftrag, eine Festdekoration zu entwerfen. Er sah dafür unter anderem zehn Siegessäulen vor, die, durch Girlanden verbunden, in weitem Oval den Platz vor dem Tor umstehen sollten. „Die Ausführung übernahmen J. G. Schadow, die Bauräte Moser und Langerhans und der Zimmermeister Glatz", gibt G. Riemann an.62 Er erläutert in seinem Personenregister, daß es sich dabei um Friedrich Moser gehandelt habe 63 ; er beruft sich auf Paul Ortwin Rave, der aber am angegebenen Ort den Vornamen Mosers nicht erwähnt.64 Wenn der Titel im Zitat, Baurat, genau die Beförderungsstufe wiedergegeben hat, wäre Johann Georg Moser in der Tat nicht gemeint gewesen, denn er war um diese Zeit schon Oberhofbaurat; Friedrich Moser aber wurde erst 1816 Baurat, seine Beteiligung ist damit ebensowenig bewiesen. Eine eindeutige Zuordnung ist hier also derzeit nicht zu leisten. In einem anderen Fall ist die Zusammenarbeit Schinkels mit Johann Georg Moser jedoch zu belegen: bei der Neuen Wache, dem bekannten Bau zwischen Universität und Zeughaus. Schinkel selbst nämlich erwähnt den Oberbaurat Moser in einem Brief vom 10. März 1817 an den Bildhauer Christian Rauch65: „Mit unserm Bau des neuen Wachtgebäudes wird es so sehr schnell nicht gehn, weil die Bauverhältnisse hier immer noch sehr ungünstig sind und dieser Bau von dem weitläufigen Herrn Ob. Bau-Rath Moser ausgeführt werden soll." Die präzise Angabe des Titels ermöglicht es, die Ausführungsarbeiten klar Johann Georg Moser zuzuordnen. Dieser befand sich damals in seinem letzten Lebensjahr und mag schon unter seiner Krankheit gelitten haben, weshalb der um zwanzig Jahre jüngere Schinkel ihn als umständlich empfunden haben wird. Moser starb wie erwähnt am 16. März 1818 am Schlag. Die Bauausführung war 1816 schon begonnen worden, doch hatte man im ersten Jahr mit Tiefbauarbeiten zu tun. So wird Moser den Hochbau nur knapp ein Jahr lang geleitet haben. „Im Jahr 1818 hatte die Bauleitung, da Moser zu Beginn des Jahres verstorben war, der Bauinspektor Schlaetzer inne", gibt Paul Ortwin Rave zur Nachfolge an.66 Damit bestätigt er zugleich Johann Georg Moser als zuvor bauleitenden Architekten, denn Friedrich Moser starb erst nach 1836.67 Johann Gottlieb Schlaetzer hatte nur noch etwa fünf Monate am Bau weiterzuarbeiten, wenn vorausgesetzt werden kann, daß Moser bis März 1818 noch zu arbeiten in der Lage gewesen war, denn schon am 18. August jenes Jahres wurde die Wache eingeweiht.68 Schlaetzer könnte ein Schüler Mosers und vielleicht auch sein Kondukteur gewesen sein. 1793 hatte er sich als „Oberhofbauamts-Kondukteur" an den Arbeiten beteiligt, die Becherer von seinen ersten Zuhörern in der Akademie der Künste ausstellte6', Schlaetzer war also Eleve jener Lehranstalt gewesen, in der auch Moser lehrte (vgl. Abschnitt 4). Der Entwurf der zehn Viktorien an der Vorhalle des Wachtgebäudes stammt von Johann Gottfried Schadow70, sein Zusammenwirken mit Moser war also auch an diesem Bau gegeben. Der Bildhauer Christian Rauch hingegen hatte die beiden Marmorstandbilder der preußischen 534

Abb. 4: Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin, zeitgenössische Aufrißzeichnung nach Langhans.

Generäle Scharnhorst und Bülow geschaffen, die zu beiden Seiten der Neuen Wache aufgestellt wurden.71

4. Lehrende Tätigkeit Im Jahre 1790 gründete Friedrich Becherer die „Architektonische Lehranstalt bei der Akademie der Künste" und unterhielt sie bis 1799. n Dieser Institution zur Förderung des Baunachwuchses gehörte Moser zeitweise als Dozent an. Schon sein privater Kontakt zu Becherer, der sich 1788,1795 und 1807 in Taufurkunden von Kindern Mosers dokumentiert Becherer bzw. sein ältester Sohn waren Paten 7 ' - , hatte nicht nur im Bau-, sondern auch im Lehrbereich berufliche Beziehungen vermuten lassen. Im Archiv der Akademie der Künste konnte kein Hinweis auf Mosers lehrende Tätigkeit gefunden werden74, doch im Hochschularchiv der Technischen Universität in Berlin führte man die „Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin 1799-1899" an, in der unter dem Stichwort „Die Bauakademie" der „Professor" Johann Georg Moser im Text erwähnt wird75: In der „ architektonischen Lehranstalt bei der Akademie der Künste' wurden Vorlesungen über die Construction und Veranschlagung der Stadtgebäude, über Geschichte und den guten Geschmack in der Baukunst gehalten und ward Unterricht im architektonischen Zeichnen ertheilt. Im Jahr 1798 wirkten an diesem Institut außer dem Director Becherer, der zugleich als erster Lehrer fungierte, der Professor und zweite Lehrer Gentz, der Bau-Inspector Meinecke als dritter Lehrer und der Zeichner Roesel. Auch Prof. Johann Georg Moser hat an der akademischen Architekturschule gewirkt." Im Fall Moser wird als Quelle die Festschrift „Zur Jubelfeier 1696-1896, Kgl. Akad. Hochschule für die Bildenden Künste zu Berlin" angegeben, wo es heißt76: 535

„Außer dem Oberhofbaurath Becherer, dem Direktor der Schule, waren Professor Johann Georg Moser und Bauinspektor Meinicke, Lehrer bei derselben. Zu ihnen trat später Rösel als Lehrer für Freihandzeichnen." Die unterschiedliche Gewichtung, die sich in der jeweils anderen Reihenfolge der Erwähnung zu dokumentieren scheint, erklärt sich vielleicht damit, daß Moser wohl nicht während der gesamten zehn Jahre des Bestehens an diesem Institut tätig war.77 In der am 13. April 1799 von Friedrich Wilhelm III. eingerichteten „Allgemeinen Bau-Unterrichtsanstalt", der Bauakademie, erscheint Mosers Name im Kollegium nicht.78 Vielmehr führte er wieder, wie im Fall der Alten Charite und des Langhansschen Schauspielhauses, als bauleitender Architekt Bauten aus.

5. Biographische Abhebung J. G. Mosers von J. C. F. Moser Nachdem Johann Georg Mosers Biographie in etwa überblickt werden kann, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, daß er jener Architekt Moser war, den Schinkel in Rom traf und mit dem er Briefe wechselte. Er war zwanzig Jahre älter als Schinkel, der in seinem erwähnten Brief an Moser einen Ton anschlägt, wie er sich nur auf einen jüngeren, ihm im Lebensalter näheren Mann beziehen konnte. Der ehemalige Professor Moser aber wäre von dem 23 Jahre alten Schinkel eher mit einem gewissen Respekt zu behandeln gewesen. In Mosers Brief aus Rom vom Februar 1805 an Schinkel gibt es gleich mehrere Anzeichen dafür, daß der Absender nicht Johann Georg sein konnte. Zunächst spricht aus dem Brief eine Verehrung für Schinkel, die weder das Alter noch die Stellung Johann Georgs zugelassen hätten. Vor allem aber werden Fakten angegeben, die ihn als den Briefpartner der Italienreise ausschließen: So erwähnt der Briefschreiber seinen lebenden Vater, wohingegen doch der Vater J. G. Mosers schon 1780 verstorben war; er spricht von seiner Wohnung bei dem Herrn Glatz, die er nach seiner Rückkehr von seiner Auslandsreise wieder zu beziehen wünschte, während doch Johann Georg im eigenen Haus Weidendamm 1 wohnte; er äußerte den Wunsch, sich mit Schinkels Hilfe ein Haus zu bauen, Johann Georg aber war seit 1790 Eigentümer eines Hauses. Wenn es nicht Johann Georg Moser war, so muß nun nach der Identität des anderen Moser gefragt werden. Sein Rufname mußte mit F beginnen, wie beide Unterschriften unter den Briefen an Schinkel beweisen. Zunächst könnte Johann Georg Mosers ältester Sohn Johann Georg Carl David Friedrich Moser in Betracht kommen; die Namenkürzel J. C. F. sind in seinem Namen enthalten. 1786 geboren, war er vier Jahre jünger als Schinkel, 1804 aber erst 18 Jahre alt und damit für einen fertigen Architekten noch zu jung. Zudem gilt nicht Friedrich, sondern Carl als sein Rufname, wie man der Eintragung im „Gotha" entnehmen kann. Er wurde auch nicht Baurat, sondern Ingenieuroffizier und - speziell - Garnisonsbaudirektor und wohnte nach dem Adreßkalender von 1836 in der Jägerstraße 62, während dort der „Reg. Baurath a. D. J. C. F. Moser" als wohnhaft in der Großen Präsidentenstraße 7 angegeben ist.79 Im Taufbuch der Marienkirche zu Berlin konnte folgende Eintragung gefunden werden: Am l.Mai 1771 wurde Johann Christian Friedrich Moser als Sohn des Bürgers und Steinmetzmeisters Johann Christian Moser und Maria geborene Burchhaltern getauft, das Geburtsdatum ist der 22. April 1771.80 Danach wäre J. C. F. Moser zehn Jahre älter als Schinkel gewesen. Der Name Friedrich bot sich als Rufname an, weil damit eine Unterscheidung vom Vater, als Hofsteinmetzmeister sicherlich kein unbekannter Mann 81 , möglich war. Der Vater war Eigentümer des Hauses „Präsidentenstraße", in dem 1836 offenbar sein Erbe J. C. F. Moser 536

wohnte. Die Mutter Friedrich Mosers war die Tochter des Steinmetzmeisters Burghalter aus Potsdam 82 , und dieser wird von F. Moser 1805 in seinem Schreiben an Schinkel erwähnt: Er bittet ihn, die Familie Burghalter zu grüßen. Es hat sich eine 13 Seiten umfassende Personalakte Friedrich Mosers finden lassen, die „die Anstellung des Oberhofbauinspektors . . . als Assessor bei der Oberbaudeputation und seine damit zusammenhängende Vereidigung im Jahre 1814 sowie seine Ernennung zum Baurat 1816" betrifft.8' Die Oberbaudeputation war die Behörde, in der auch Schinkel angestellt war.84 Nach Spiker hat „Baurat Moser" unter der „Ober-Aufsicht des Herrn Ober-Bau-Direkttor Schinkel" bei dem 1821 begonnenen Bau der Friedrichs-Werderschen Kirche die Bauleitung gehabt.85 Es gibt noch einzelne weitere Nachrichten über diesen Architekten, doch dürften die vorgelegten Angaben ausreichen, um ihn in seiner Biographie von der Johann Georg Mosers deutlich abzuheben und als jenen Moser zu kennzeichnen, der Schinkels Freund gewesen ist.

6. Zusammenfassung In dem aus Eutin stammenden Johann Georg Moser konnte ein Berliner Architekt der Jahrzehnte um 1800 nachgewiesen werden, dessen Aufgabe es war, Entwürfe führender Berliner Baumeister zu realisieren, wobei der Grad der Verantwortung bis zu selbständiger Bauleitung reichte. Dabei handelte es sich, um die bisher nachgewiesenen Arbeiten noch einmal zu nennen, um das Rosenthaler Tor in Zusammenarbeit mit Gontard und Unger, die Alte Charite mit Unger, das Schauspielhaus mit Langhans und die Neue Wache mit Schinkel. Moser war offenbar nicht der kreative, wohl aber der technisch begabte Architekt, dem man die Ausführung wichtiger Bauwerke anvertraute. Zudem war er einer der Baubeamten, die ihr Wissen und Können lehrend an den Berliner Baunachwuchs weitergaben. Es hat sich in ihm nicht der Freund Schinkels bestätigen lassen, der Reise- und Briefpartner der ersten Reise nach Italien, doch mit der Klärung dieser Frage wurde zugleich jene nach der Bauleitung bei einigen wichtigen Berliner Bauten beantwortet und damit erst die Möglichkeit geschaffen, das Lebenswerk Johann Georg Mosers in wenn auch nur groben Zügen sichtbar werden zu lassen. Mit diesem Werk hat er keine Kunstgeschichte weitergeschrieben, doch hat er auf seine Weise dennoch Anteil an ihr gehabt.

Anmerkungen 1. Zitiert nach der Form der Veröffentlichung, wie sie GottfriedRiemann 1979 in Berlin herausgeben hat, in: Karl Friedrich Schinkel / Reisen nach Italien / Tagebücher, Briefe, Zeichnungen. Aquarelle, V. Rütten & Loening, Berlin, S. 110-113. 2. Die Skizze wird wiedergegeben in: Schinkel, Karl Friedrich / Aus Schinkels Nachlaß / Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen, hrsg. v. Alfred von Wolzogen, Berlin 1862/63, Bd. I, S. 146. Er gab den Brief Schinkels von Okt. 1804 an Moser ebenfalls, allerdings in etwas gekürzter Form, hier heraus, S.142-147. 3. Wie in Anm.l, S. 110. 4. Der Brief an Graß wurde schon 1862/63 von Wolzogen in: wie Anm. 2, S. 141 u. 142, herausgegeben, dieser war allerdings nicht sicher, daß Graß der Adressat war, vgl. Fußnote 1, S. 141 ebd., und auch das Datum wird nur vage angegeben („wohl im September 1804"). - Hans Maekowsky, der diesen Brief ebenfalls herausgab - in: Karl Friedrich Schinkel / Briefe, Tagebücher. Gedanken, Berlin 1922, S. 76 u. 77 -, läßt die Frage des Adressaten offen, nennt aber als Datum klar September 1804. - Gottfried Riemann schließlich - in: wie Anm. 1, 2. Aufl. 1982, S. 59 u. 60 - gibt Carl Gotthard Graß als den 537

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Empfänger an, eine Datumsvermutung aber läßt er aus. - Der im Text zitierte Auszug wurde nach der Form von Riemann, S. 60, wiedergegeben. Dieser Brief wurde zuerst von Hans Mackowsky in: wie Anm. 4, S. 83-87, Zitat auf S. 87, herausgegeben (1922). Es folgte Günter Meier in: Karl Friedrich Schinkel / Aus Tagebüchern und Briefen, Berlin 1967, S. 41-44, Zitat auf S. 44. Riemann folgte 1979 in: wie Anm. 1 bzw. 4, S. 117-122, Zitat auf S. 122. Mackowsky und Meier datieren Dezember 1804, Riemann gibt kein Datum an. David Gilly erwähnt Moser in seinem Brief an zwei Stellen. Schinkel antwortet in unserem Zitat auf die zweite Stelle, die lautet: „Den guten Moser bedaure ich wegen der Gefahr in Rücksicht des gelben Fiebers." Der Brief Gillys wurde von Riemann in: wie Anm. 4, S. 300, wiedergegeben. Hrsg. v. Riemann in: wie Anm. 4, S. 122-124, hier S. 124, undatiert. Sie befinden sich in der Sammlung der Zeichnungen. Nationalgalerie, Staatl. Museen zu Berlin (Hst. d. DDR), und tragen keine Signatur. Frdl. Mitteilung von Kustos Dr. Gottfried Riemann v. 7.1.1987. Wolzogen in: wie Anm. 2, S. 141, Fußnote 5, über Moser: „Wurde später (als 1804, Anm.) Baurath in Berlin und war sehr musikalisch, ein Stammgast der Berliner Symphonie-Concerte, wie Schinkel selbst." - Mackowsky in: wie Anm. 4, S. 202, über Moser: „Johann Georg Moser, später Baurat". Riemann in: wie Anm. 4, S. 296, über Moser: „Johann Georg Moser, Architekt und Baurat in Berlin". Lt. frdl. Mitteilung Dr. Vogels v. 18.4.1984. Geh. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz Berlin. - In diesem Archiv konnten über Moser auch an anderen Stellen keine Nachrichten ermittelt werden, so die frdl. Mitteilung v. Dr. Letkemann v. 12.5.1986; nachgesehen wurden die vorh. Restbestände der Personaireposituren der preuß. Könige Fr. Wilh. II. u. III. - Im Fall des Br. Pr. Hausarchivs Rep. 14 (= Schlösser und Gärten) und Rep. 113 (= Ober-Hofmarschallamt) sowie in Archivalien des Ministeriums der öff. Arbeiten (I. HA Rep. 93) wurde das Zentrale Staatsarchiv Merseburg um Auskunft gebeten, doch konnten dort keine Angaben zur Person J. G. Mosers ermittelt werden (Sehr. v. 18.9.1986). Es wurde von dort aber darauf hingewiesen, daß die Bestände Oberbaudeputation, Minist, d. öff. Arb.. Kultusmin. u. Min. des königl. Hauses eine Reihe von Aktenbänden über die v. d.Verf. genannten Bauwerke (wie im Text erwähnt) aufweisen, die bei intensiver Durchsicht vielleicht Hinweise auf Moser enthalten, „ohne daß allerdings große Aussicht auf Erfolg besteht". Eine Monographie über ihn konnte nicht ermittelt werden. Lediglich die Verfasserin selbst hat - unter Betonung des Eutiner Aspekts - über ihn einen Artikel geschrieben, der unter dem Titel „Ein Eutiner als Architekt im königlichen Hofbauamt zu Berlin - Johann Georg Moser jun. (1761-1818)" in der Beilage des Ostholsteiner Anzeigers von März 1986 (42. Jg., Nr. 7) veröffentlicht wurde. Taufbuch der ev. Michaeliskirche zu Eutin, Jg. 1761, Nr. 66. Die Verf. bereitet derzeit eine Biographie über den Vater Mosers vor, wo die archiv. Nachweise über die Familie zu finden sein werden. Über Adolph Friedrich: Diether Rudioff, Fürstbischof Adolph Friedrich von Lübeck (1727-1751), und das Eutiner Residenzschloß, in: Kunst in Schleswig-Holstein, hrsg. v. E. Schlee, Flensburg 1961, S. 41-52, hier S. 50. - Über Georg Ludwig: Preußen / Versuch einer Bilanz, Katalog der Ausst. in Berlin 1981. Bd. 1, S. 182. Vgl. Abschn. 5. Es liegen der Verf. weitere Unterlagen über diese Familie vor. - Steinmetzmstr. Moser war 1795 Pate bei einem Kd. v. J. G. Moser in Berlin (vgl. Anm. 27). Traubuch der Jerusalemskirche zu Berlin, 3.11.1785: „Johann George Moser, Kgl. Conducteur mit Jgfr. Johanna Margaretha Christiana Leitholdtin weiland Herrn Johann George Leitholdt, Kgl. Werkmeisters nachgelassene ältest. Tochter". Lt. Sehr. v. 6.11.1984 aus dem Ev. Zentralarchiv Berlin. - Die Nachricht über Leitholdts Herkunft aus Bayreuth und über Namen und Herkunft seiner Gattin stammt aus der Kartei Dr. Kaschner/ Schlesw.-Holst. Ges. f. Fam.-Forschung u. Wappenk. in Kiel (frdl. Sehr. v. 27.4.1984 v. Friedr. Schmidt-Sibeth) und aus dem Inst. z. Erforschung histor. Führungsschichten in Bensheim v. 20.6.1985 u. 23.1.1986 (H. Euler). Johanna E. Rüdiger stammt aus Ermsleben am Harz, geb. 1740. Samuel Heinrich Spiker, Berlin und seine Umgebungen im neunzehnten Jahrhundert.... Berlin 1833, S. 126: „Die Besitzung arrondirte sich unter den Händen ihres neuen Herrn (des Gen.-Majors v. Möllendorff)..., der sich auch die Gerechtsame zur Anlegung einer Ziegelei zu erwerben wusste. Diese wurde aber erst im J. 1771 von dem folgenden Besitzer, Leitholdt, benutzt. So ging das Gut noch durch verschiedene Hände". - Johannes Sievers, Schloß Glienicke, in: Bauten für den Prinzen Karl von Preußen (Prinzen I), 1942, erwähnt statt Leitholdt den Ingenieur-Leutnant Schiott als Nachbesitzer v. Möllendorffs (S. 19 u. 20).

18. Johann Georg Leitholdt wurde am 2.3.1728 in Bayreuth geboren und starb in Berlin am 23.11.1778; am 22.7.1766 hatte in Potsdam seine Hochzeit mit Johanna Elisabeth Margaretha Christiana Rüdiger stattgefunden. Quelle: Kartei und Inst, wie Anm. 16. 19. Der Nachweis geht aus der Sterbeurkunde seiner Witwe hervor: „Unger geb. Rüdiger, Johanna Elisabeth Margaretha, Wwe. des Kgl. Oberhofbauraths Georg Christian Unger, Französische Str. 42; 75 J., Hinterläßt 4 Kinder maj.: 1) Johanne Moser geb. Leithold, des Kgl. Oberhofbauraths Moser zu Berlin Ehegenossin, ... (es folgen die Angaben über die weiteren Kinder), t 12.02.1814 ...; begr. 15.02.1814 Kirchhof bei der Dorotheenstädtischen Kirche." Totenbuch der Jerusalemskirche zu Berlin, Sehr. v. 25.7.1986 aus dem Ev. Zentralarchiv Berlin. 20. Die Nachricht über das Geburtsdatum ist dem Inst, in: wie Anm. 16 zu verdanken (Sehr. v. 23.1.1986). 21. Taufbuch der ev. Michaeliskirche zu Eutin, Jg. 1790/Nr. 71. Der Täufling war eine Tochter August Friedrich Mosers. 22. „Kataloge der Berliner Akademie-Ausstellungen 1786-1850", bearb. v. Helmut Börsch-Supan, Bd. 1, Jg. 1800, S. 93, Nr. 388, in: Quellen und Schriften zur bildenden Kunst. Nr. 4, hrsg. v. Otto LehmannBrockhaus u. Stephan Waetzoldt. 23. Nachzuweisen z. B. für 1836 aus den Berliner Adreßkalendern: die Nachrichten daraus sind Herrn Pudwell vom Landesarchiv Berlin zu verdanken (Sehr. v. 9.9.1985). 24. Totenbuch der Neuen Kirche/Berlin: „Moser, geb. Leitholdt, Johanna Justine Margarethe. Wittwe des Oberbauraths Moser, Leipziger Str. 76,79 J., hinterl. 2 maj. Kinder, 2 min. Enkel. 119.031847 Gehirnschlagfluß; begraben 22.03.1847 in Groß-Ziethen." Ev. Zentralarchiv Berlin, Sehr. v. 25.7.1986. 25. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser Gotha 1929. S. 450. 26. Ev. Zent-alarchiv Berlin, Sehr. v. 6.11.1984. 27. Taufkartei Alt-Berlin von 1750-1799, Ev. Zentralarchiv Berlin: 1) Jerusalemskirche Nr.262, S. 311: 10.8.1786 - „Kgl. Conducteur" -; 2) ebd. Nr. 175, S.357: 11.5.1788 - „Bau Inspector b. Kgl. Hoff Bau Amt" - ; 3) ebd. Nr. 194, S. 409: 29.4.1790 - „Kgl. Bau Inspector b. Kgl. Ober Hoff Bau Amt" -; 4) Dorotheenstädt. Kirche Nr. 138, S.925: 25.10.1795 „Stadtrath" -; 5) ebd. Nr. 177, S.976: 28.10.1797 - „Stadt und Bau Rath" - ; Kartei 948 der Dorotheenst. Kirche: 25.10.1807 - „Kgl. Ober Hof Bau Rath" -. (Ev. Zentralarchiv Berlin). 28. Wie Anm. 25, S.449 u. 450. 29. Für die angegeb. Jg. nachgewiesen von: wie Anm. 23. 30. und 31: Traubuch der Dorotheenst. Kirche zu Berlin, 24.4.1796: getraut wurden „Penne, Carl Friedrich Heinrich, Lieut. u. Adjut. des 2. Feld-Art.-Regt. - Julie Moser, nachgelassene 3. Tochter des zu Eutin verst. Landbaumstrs. Moser. Auf Dimiss. der Garnisonkirche in Heim des Stadtraths Moser am Weydendamm getr." Lt. Sehr. v. 25.7.1986, Ev. Z.-A. Berlin. Margreth Johanna Moser nannte sich in Berlin Julie oder Juliane nach einer Patin, wohl um Verwechslungen mit Johanna Moser in Berlin zu vermeiden. - Traubuch der Sophienkirche/Berlin, 5.10.1820: Trauung Julius Ferdinand Helmholtz / Caroline Auguste Penne. Quelle wie oben. - Weitere Nachrichten, insbesondere der Hinweis auf den am 31.8.1821 in Potsdam geb. Sohn Hermann (v.) Helmholtz, sind dem Inst, wie Anm. 16 zu verdanken, das eine Ahnentafel der Fam. Helmholtz zur Verfügung stellte. 32. Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 260, Nr. 623, Anlage A und C zum Sehr. August Fr. Mosers v. 6.10.1793. 33. Richard Borrmarm, Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin, in: Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, hrsg. vom Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz - Landeskonservator -, hier Beiheft 8,1. Aufl. Berlin 1982 als unveränderter Nachdruck der 1. Aufl von 1893, S. 150. 34. Hermann Schmitz, Berliner Baumeister vom Ausgang des 18. Jahrhunderts, in der Reihe wie in Anm. 33 angegeben, Beiheft 2, Berlin 1980, unverä. Nachdruck der 2. Aufl., Berlin 1925, S. 324. Das Rosenthaler Tor ist im Abbildungstext fälschlich als Oranienburger Tor, im erklärenden Text aber richtig bezeichnet. 35. Borrmann, wie Anm. 33, S. 149. 36. Ders., ebd. S. 151. - Schmitz, wie Anm. 34, S. 324. 37. Die Bau- und Kunstdenkmale in der DDR, Hauptstadt Berlin I, Berlin 1983, hrsg. v. Inst. f. Denkmalpflege, bearb. v. einem Kollektiv der Abt. Forschung, 2. Aufl. 1984, S. 269. 38. Borrmann, wie Anm. 33, S. 150 u. 151. 39. Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bd. II, Nordostdeutschland, 2. Aufl. Berlin 1922. S. 35. 539

40. Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler, hrsg. v. Ulrich Thieme und Felix Becker. Leipzig, mehrere Jahrgänge. Hier Jg. 1939, S. 572. 41. Dieselben, ebd., Bd. 25, 1931, S.180. 42. Vgl. unseren Abschnitt 5. 43. Borrmann, wie Anm. 33, S. 420 u. 421. 44. Ders., ebd., S. 128,133,417 ff., 421. 45. Ders., ebd., S. 421. 46. Ders., ebd., S. 135, Anm. 1, Spalte 1. 47. Ders., ebd., S. 333. 48. Irmgard Wirth in: Berlin 1650-1914 . . . , Stadtdarstellungen aus der Sammlung des Berlin Museums, Christians V., o. J., Vorwort datiert mit Jan. 1979, S. 108. 49. Borrmann, wie Anm. 33, S. 137. 50. Walther Th. Hinrichs in: Carl Gotthard Langhans - ein schlesischer Baumeister 1733-1808, in der Reihe: Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 116, Straßburg 1909, S. 77. 51. Thieme/Becker, wie Anm.41, S.180. 52. Vgl. Anm. 83. 53. Schmitz, wie Anm. 34, S. 33. 54. Borrmann, wie Anm. 33, S.371. 55. Ders., ebd., S. 372, Fußnote 1. 56. „In den auf die Niederlage von Jena und Auerstedt (am 14.10.1806) folgenden Jahren erliegt nahezu jede Art von Bautätigkeit in Preußen." So G. Bartoschek / G. Riemann / U. Riemann-Reyher in: Das Napoleonische Jahrzehnt, in: Karl Friedrich Schinkel 1781-1841, Kat. z. Ausst. im Alten Museum 1980/81 - deb-reprint / vertag das europäische buch, Westberlin 1981, S.36. 57. Athanasius Graf Raczynski, Geschichte der neueren deutschen Kunst, 2. Bd., Berlin 1840, S. 100. 58. Die Bezeichnung Baumeister weist nicht von vornherein auf Johann Georg Moser, doch kann man davon ausgehen, daß er gemeint ist, war er doch damals Oberhofbaurat, während J. C. F. Moser wohl noch nicht einmal Bauinspektor war, 1814 wurde er erst zum Assessor und 1816 erst zum Baurat ernannt, (vgl. Anm. 83). 59. Sein Vater, der Eutiner Hofbildhauer, stammte wahrscheinlich aus Traunstein, vgl. Anm. 13. 60. Borrmann, wie Anm. 33, S. 137. 61. Er wurde Ober-Bau-Assessor bei der Technischen Ober-Bau-Deputation mit den Aufgaben des Bereichs „Öffentliche Prachtgebäude", Hofbauten, angegeben in: Karl Friedrich Schinkel / Eine Ausstellung aus der Deutschen Demokratischen Republik, Katalog, Berlin 1982, darin Daten zu Leben, Werk und Zeit, S. 323-330, hier S. 325. 62. Gottfried Riemann, Denkmäler, in: Katalog wie Anm. 56, S. 94-103, hier S. 94 (mit Abb. auf S. 95). 63. Katalog wie Anm. 56, S. 424. 64. Paul Ortwin Rave, Hrsg., Karl Friedrich Schinkel, in: Berlin, dritter Teil / Bauten für Wissenschaft, Verwaltung, Heer, Wohnbau und Denkmäler, Dt. Kunstverlag Berlin 1962, S. 264. 65. Dieser Brief Schinkels wurde von HansMackowsky veröffentlicht in: wie Anm. 4, S. 96-98, hier S. 98. 66. Rave, wie Anm.64,S. 160. Erfährt dortfort:„Es sollte und konnte mitHochdruck gearbeitet werden, denn ein mildes Wetter gestattete während des ganzen Winters die Fortsetzung der Steinmetzarbeiten zu den Säulen. Diese waren im Februar zu zwei Drittel Höhe aufgerichtet, im März ganz fertig. Im April wurde das Gebälk darübergelegt, auch waren die Mauern vorn, hinten und im Innern bis zur halben Fensterhöhe gediehen. Am 4. April hatte Schlaetzer mit den Werkmeistern einen förmlichen Vertrag geschlossen, worin sie sich verpflichteten, den Bau bis spätestens Anfang September zu vollenden." Es kommt darin nicht klar zum Ausdruck, wann Schlaetzer die Nachfolge in der Bauausführung übernahm, wenn man aber berücksichtigt, daß Moser im März starb, könnte der angegebene 4. April den Beginn der Fortsetzung markiert haben. 67. Letzte Erwähnung im Berliner Adreßkalender: 1836. 68. Riemann. Berlin/Stadtgestaltung/Neue Wache, in: Katalog wie Anm. 61, zum Thema Neue Wache/ Ausgeführter Entwurf, S. 79 (mit Abb. 5.5, S. 78) 69. Katalog der Akademie-Ausstellungen, wie Anm. 22, hier: 1793, S.51. 70. Wie Anm. 68, S. 79. 71. Ebd. 72. H. Büttner, Ausbildung, Lehrer, Vorbild, in: Katalog wie Anm. 56, S. 3-12, hier S. 5. - Becherers persönliche Daten sind zu finden bei Thieme/Becker, wie Anm. 10, 3. Bd., 1909, S. 133. 73. Vgl. Anm. 27.

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74. Frdl. Mitteilung von Prof. Dr. Walter Huder v. 20.9.1985. 75. Wilhelm und Georg Eberhard Ernst, Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin 1799-1899, Berlin 1899, S. 21. Frdl. Mitteilung aus dem Hochschularchiv der TU Berlin v. 13.2.1986, wo ein Ex. aufbewahrt wird. 76. Archiv wie Anm. 75, Festschrift S. 46. 77. Nach dem von Prof. Wefeld, Techn. Fachhochschule Berlin, angelegten Dozentenverzeichnis „taucht Johann Georg Moser als Prof. und Bauinspektor wie folgt auf: 1) Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften um 1795,2) Architektonische Lehranstalt bei der AdK (Leiter: Becherer) um 1798". Frdl. Mitteilung v. 17.2.1986. Er fährt dort fort: „Bei weiteren Lehrveranstaltungen keine Erwähnung... Die Verzeichnisse sind entstanden durch Abgleich mit dem Hochschularchiv der TU Berlin sowie durch Auswertung der Literatur." 78. Das Kollegium wird namentlich angegeben von H. Büttner in: wie Anm. 56, S. 6 79. Vgl. Anm. 23. 80. Taufbuch St. Marien/Berlin von 1771, S. 980, Ev. Zentralarchiv Berlin. 81. Die Angabe Hofsteinmetzmeister erscheint bei der Trauungsproklamation des jüngeren Sohnes im August 1802, Traubuch der Sophienkirche/Berlin, Ev. Zentralarchiv Berlin. 82. Dieser wird erwähnt in der Taufurkunde des jüngeren Bruders von J. C. F. Moser, Carl Wilhelm August, am 11.3.1773, St. Marien/Berlin, S. 1008, Taufkartei Alt-Berlin Nr. 180, Ev. Zentralarchiv Berlin mit Sehr. v. 11.11.1985. 83. Lt. Sehr, aus dem Zentralen Staatsarchiv Merseburg vom 18.9.1986. 84. Vgl. Anm. 61. 85. Spiker, wie Anm. 17, S.95. Die Verfasserin ist Frau Prof. Dr. Margarelhe Kühn. Berlin, für die hilfreiche Unterstützung bei der Suche nach den ang. Briefen und anderen Quellen zu besonderem Dank verpflichtet.

Abbildungsnachweis Abb. 1, 2, 3 und Titelbild fotografiert von Hans-Joachim Bartsch. Berlin, nach Originalen im Berlin Museum. Abb. 5 fotografiert von Karl H. Paulmann, Berlin, nach einem Original in der Kunstbibliothek mit Museum für Architektur, Modebild und Grafik-Design, Berlin-Charlottenburg. Anschrift der Verfasserin: Gisela Thietje, Dunantstraße 8, 2000 Wedel

Rechenschaftsbericht aus einer schweren Zeit: „Das Vereinslazarett Frohnau. 1914-1919." Von Christiane K n o p Während der unruhigen Novembertage von 1918 sind viele Dokumente und Schriftsätze zurückgehalten worden, weil die Zeit ihrem Bekanntwerden nicht günstig war. Einige tauchen jetzt wieder auf. Ihre Veröffentlichung erscheint heute wiederum unzeitgemäß, entweder weil die Wissenschaften darüber fortgeschritten sind oder weil die darin sich zeigende politische und soziale Haltung zwiespältig wirkt. Dies gilt auch für die oben genannte Archivalie aus den persönlichen Papieren einer Frohnauer Mitbürgerin. Wenn der Historiker sich dennoch zu ihrer Veröffentlichung entschließt, geschieht dies im Wissen um ihre Ambivalenz. Er nimmt das Risiko auf sich, mißverstanden zu werden, hält sich jedoch an die Forderung moderner 541

Geschichtsbetrachtung, vergangene Geschehnisse aus dem Blickwinkel der Betroffenen zu sehen, die - im eigentlichen Wortsinne - ihre Zeit erleiden. Die Betrachtung möchte friedenstiftend wirken. Es ist der Bericht über die Tätigkeit eines Lazaretts in nächster Nähe zu Berlin. - Die Rolle des Adels und des Großkapitals im wilhelminischen Kaiserreich ist umstritten. Man mißtraut dem, der viel zum Lobe des Adels sagt; doch es gibt Ausnahmen. Die Chronik des Vereinslazaretts Frohnau spiegelt das Bild einer ungewöhnlichen fürstlichen Initiative wider, die die schwersten Lasten des Ersten Weltkrieges mittragen half und eine menschenwürdige Nachkriegszeit vorzubereiten suchte. Die Frage der Mitschuld des reichsten Großindustriellen, des Fürsten von Donnersmarck aus der Herrschaft Neudeck in Oberschlesien', möge bei ihrer Betrachtung außer acht bleiben. Bei Kriegsausbruch war die Gartenstadt Frohnau erst vier Jahre alt. Ihr Gründer, der Fürst von Donnersmarck, hatte ihr durch die von ihm begünstigten Städteplaner ein reizvolles architektonisches Wahrzeichen gegeben: das Kasinogebäude am Bahnhof (1945 zerstört; es lag rechts unterhalb des Bahnhofsturms). Dies wandelte er in den ersten Augusttagen in ein Lazarett um. Wie er alle seine Mittel dafür einsetzte, es zu einer mustergültigen Anstalt zu machen, davon berichtet der Rechenschaftsbericht seiner Ärzte, Schwestern, Sozialhelfer und Seelsorger, der nur in wenigen Exemplaren an die Beteiligten ausgegeben worden sein muß als „Chronik des Vereinslazaretts Frohnau. 1914 bis 1919".2 Als dieses Vereinslazarett zum l.März 1919 aufgelöst wurde, hat sein Ärzteteam unter dem Chefarzt Dr. Berg einen Abschlußbericht verfaßt; möglicherweise war er für die KaiserinFriedrich-Stiftung, eine Gesellschaft für das ärztliche Fortbildungswesen, gedacht, denn in ihrem Rahmen sind auch andere wissenschaftliche Arbeiten derselben Autoren erschienen, darunter: Dr. Berg, Das Vereinslazarett Frohnau. Ein Beitrag zur Errichtung von Lazaretten. Empfehlung an den stellvertr. Korpsarzt des Gardekorps, Obergeneralarzt Dr. Körting, Leipzig 1916. Als sich die Beteiligten ein halbes Jahr nach Kriegsende an die Erarbeitung dieser Chronik machten, waren die physischen und psychischen Leiden der Kriegsverwundeten soweit überwunden, daß eine ruhige Betrachtungsweise möglich war, wie dies auch aus der abwägenden Sprache ablesbar ist: ihre Diktion berichtet ohne patriotisches Pathos, läßt aber die damals noch ungebrochene vaterländische Einstellung spüren. Dr. Berg beginnt: „Am 5. August 1914 stiftete seine Durchlaucht, der (1916) verewigte Fürst von Donnersmarck 3 , auf Anregung seines Leibarztes Dr. Berg, zur Pflege verwundeter und erkrankter Krieger, in der Gartenstadt Frohnau das Vereinslazarett Frohnau' mit einer Bettenzahl von mindestens 200 Betten mit der Maßgabe, daß er für die Einrichtung und Unterhaltung dieses Lazaretts die Kosten übernehmen und ohne Beihilfe der Militärverwaltung bis zwei Monate nach Friedensschluß tragen würde." Als besonders günstige Voraussetzung für ein Lazarett werden das gesunde Waldklima Frohnaus und die Anlage der Gartenstadt als Erholungsfläche hervorgehoben. Ferner habe sich das Kasinogebäude mit seinen Restaurationsräumen, Veranden und Terrassen, seinen Küchen- und Vorratsräumen, Toiletten und Nebengelassen als zweckmäßig erwiesen. - Dann wird geschildert, mit welcher erfinderischen Organisationsgabe der Gebäudekomplex für diese Zwecke umgestaltet wurde: so unter anderem durch „Umfunktionierung" Toilettenräume zu Röntgenzimmern und zu einem kleinen Operationsraum. Durch Herausnahme der Toilettensitze wurden Verbandstische improvisiert, aus der Kaffeeausgabe wurde der Sterilisationsraum; die Sommerterrasse wurde eingedeckt und zur Abteilung für physikalische Therapie ausgestaltet, der Rotweinkeller wurde ebenfalls Röntgenraum, die Kegelbahn nutzte man als 542

Die Kaiserin Auguste Viktoria besucht die Fürstin von Donnersmarck.

Trockenraum und Wäschelager. Später wurden auf dem Gartengelände Baracken für Quarantänelager angelegt; der Pferdestall mußte zur Aufbewahrung für Uniformen dienen, die sonstigen Stallungen für das Vieh der eigenen Hauswirtschaft. Am 20. Mobilmachungstag waren 100, am 30. Tag 115 Betten bereit. Es heißt weiter: „Das Lazarett wurde Dank der Munifizenz (Großzügigkeit) seines verewigten Stifters und dessen Erben a u s e i g e n e n M i t t e l n u n d o h n e B e i h i l f e d e r H e e r e s v e r w a l t u n g betrieben." Es gehörte zum Geschäftsbereich des Gardekorps und war dem Garnisonslazarett in der Scharnhorststraße (Bezirk Mitte) angegliedert. Der Fürst als Stifter ließ das gesamte Inventar, alles Instrumentarium und die medizinische Einrichtung anschaffen. Die Fürstin leitete das Ganze in großzügigem Stil. Sie konnte aufgrund ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung viele finanzielle Zuschüsse, damals „Liebesgaben" genannt, der Institution zuführen. Zu ihrem persönlichen Stil gehörte die Anweisung, daß jeder Mann bei seiner Entlassung mit neuer Wäsche und Kleidung, bei seinem Abgang ins Feld mit neuer Feldausrüstung und warmer Unterkleidung ausgestattet werden sollte. Sie ging täglich mehrmals durch jeden der Krankenräume und sorgte dafür, daß jeder Tisch jedes Patienten mit frischen Blumen geschmückt wurde, und das sollen z. B. 1916 täglich 250 Personen gewesen sein. Sie sorgte auch dafür, daß das Lazarett sich aus der eigenen Landwirtschaft ernähren konnte, was bei der angespannten Versorgungslage seit 1916 besonders wichtig wurde. Im Oktober 1914 waren allle Vorarbeiten abgeschlossen: das Lazarett hatte 325 Betten. Ihm wurden zur arbeitsmäßigen Erleichterung die Lazarette in Hermsdorf (St. Georg und Dominikusstift) angegliedert, derart, daß in Frohnau die chirurgischen Fälle behandelt wurden; St. Georg diente der medico-mechanischen Therapie, und im Dominikusstift wurden die543

jenigen chirurgischen Fälle aufgenommen, deren Weiterbehandlung sich länger hinzog. Es eignete sich wegen seines weiten Waldparkgeländes besonders gut dafür. Die Rekonvaleszenten haben den heute noch genutzten Park angelegt, woran ein Gedenkstein an seinem Eingang erinnert. Als einen weiteren Vorteil konnte Dr. Berg anführen, daß Frohnau Bahnanschluß hatte: Schwerverwundete konnten unmittelbar vom Lazarettzug übernommen werden. Im Herbst 1914 kamen die Transporte vor allem aus dem Osten; die Verwundeten waren nach z.T. wochenlanger Fahrt entsprechend erschöpft und oft verlaust und nur notdürftig versorgt. Sie empfanden die behutsame Aufnahme als Erlösung. Ab Oktober 1914 waren zum erstenmal Massenzugänge zu verzeichnen, die von der Westfront kamen. - Außer den Lazarettärzten wurden konsiliarisch Kapazitäten hinzugezogen, die in Berlin und darüber hinaus großen Ruf hatten: die Professoren Bier, Mühsam, Kraus, Klemperer, Oppenheim, Cassierer und Peltesohn. Die Seelsorge übten außer den beiden Ortsgeistlichen zwei Lazarettseelsorger beider Konfessionen. Zur Statistik: In den viereinhalb Jahren wurden 86 Offiziere und 3211 Unteroffiziere und Mannschaften stationär betreut. Als kriegsunbrauchbar wurden 8 % entlassen, die Sterberate betrug 1,3 %. Die Fürstin sorgte auch dafür, daß die Schwestern genügend Erholungsmöglichkeiten erhielten. Es wird berichtet, daß sie ihre Freizeit am Lehnitzsee bei Oranienburg verbringen konnten, ferner stand ihnen der Wald in der Frohnauer Umgebung zur Verfügung; im Winter gab es Konzert- und Theaterbesuche in Berlin. - Unter den namentlich aufgeführten Schwestern sind viele bürgerliche Namen, aber auch Angehörige der bekannten Adelsfamilien wie der Schwerin, Zedlitz, Below, Rechenberg und Waldersee, auch eine Prinzessin Carolath wird genannt. - Im Lauf der Kriegsjahre wurden männliche Pflegekräfte immer mehr aus den Reihen der kriegsuntauglich gewordenen Patienten ersetzt. Die zum Teil problematischen Überforderungen sind ablesbar aus dem Tätigkeitsbericht des Chirurgen Dr. Hayward. Er berichtet, daß für das Lazarett die wirkliche Erprobung mit dem schnellen Vormarsch der deutschen Truppen im Westen begann. Der Versuch, noch im August 1914 die Kriegsentscheidung durch die Einnahme von Paris zu erzwingen, forderte hohe Verluste; das Haus erlebte einen unerwartet starken Ansturm von Transporten. Aus einem als Genesungsheim gedachten Haus wurde eine chirurgische Klinik. Der kleine Operationsbereich wurde durch eine weitere Baracke im Kasinogarten erweitert. Die Schwerverletzten wurden z.T. noch so, wie sie aufgelesen worden waren, übergeben, nur mit dem ersten Verbandspäckchen versehen, fiebernd und eiternd. Zum erstenmal wurde der Chirurg konfrontiert mit den Folgen von Granatsplitterverletzungen aus den damals modernen schweren Artilleriegeschossen; die großen Wunden waren zerfetzt und infiziert. Die bisher letzten Erfahrungen hatte die Kriegschirurgie im Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 und im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 gemacht. Jetzt mußte Neuland betreten werden. Das Vereinslazarett bekannte sich zur „konservierenden Chirurgie", das hieß Glieder erhalten, soweit dies möglich war. Dennoch war seine Tätigkeit nicht mit der Friedenschirurgie zu vergleichen. Dr. Hayward berichtet, daß viele Verwundete hätten weitertransportiert werden sollen, doch blieben sie in Frohnau, weil ihre lebensbedrohliche Situation schleunige Versorgung erforderte. Die erste und lebenerhaltende Maßnahme war Ruhe. Oft ging das Fieber spontan zurück, und das bestätigte Dr. Havwards Maxime: nicht gleich operieren! Die fürsorgliche Atmosphäre des Hauses brachte die Patienten bald zu williger Geduld. Sie unterzogen sich früh den angesetzten Bewegungsübungen. - Das Vereinslazarett Frohnau hat besonders die offene Wundbehandlung entwickelt und dadurch gute Heilerfolge erzielt. An der Vielzahl der neuartigen Fälle begann sich auch die chirurgische Wissenschaft nach neuen Richtlinien selbst zu klären. 544

Zum Erhalten der Glieder und Organe gehörte als unterstützende Maßnahme die physikalische Therapie. Dr. Hayward verweist auf das Hand-in-Hand-Arbeiten der drei Lazarette, um den richtigen Zeitpunkt für eine erfolgversprechende Operation zu finden. Das galt in besonderem Maße für Kopfschüsse. In der Statistik liegt nach den Knochenoperationen an erster Stelle die Zahl der Schädeloperationen (149), es folgt die Zahl der Lungenoperationen mit 120, dann erst die der Bauchchirurgie. Er charakterisiert die Schädeloperationen als eine Aufgabe, die erst nach einer gewissen Beobachtungszeit vorgenommen werden sollte. Anfangs fielen nicht viele Schädelverletzungen an, weil man diese schon in den Frontlazaretten versucht hatte zu versorgen. Im Lauf der ersten Kriegsmonate erkannte man aber, daß Operationen am Schädel besser in der Heimat gelingen, und so kamen dann ganze Transporte nur wegen der Schädelverletzungen nach Frohnau als an den rechten Ort. - Zu den schönsten Erfolgen zählten, sobald Sprachlähmungen behoben oder die Sehkraft zurückgegeben werden konnten. Lange war man bei Wundfisteln etwas hilflos, bis man auch hier lernte, durch Exzisionen zu heilen. - Als ebenfalls schwierig erwiesen sich die Verletzungen des Schultergürtels; doch erlebte man auch hier Spontanheilungen. Dr. Hayward ließ die Rekonvaleszenten ihre eigenen Röntgenaufnahmen mitbeobachten und demonstrierte, wie der Heilungsprozeß vor sich ging. Gelähmte Arme wurden wieder bewegungsfähig. Nach Lungenschüssen war mit einer langen Genesungszeit zu rechnen, in vielen Fällen wurden auch hier völlige Heilungen erzielt. Nach Dr. Hayward stellten Wirbelverletzungen, sobald das Rückenmark mitbetroffen war, das traurigste Bild aller Kriegsverletzungen dar. „Der Zustand der Kranken, die bei vollkommen klarem Bewußtsein an der unteren Körperhälfte gelähmt sind, ist ganz besonders bejammernswert. Wo die eingehende neurologische Untersuchung einen chirurgischen Eingriff als aussichtslos erscheinen ließ, wurde von der kausalen Therapie Abstand genommen, und bald trat Morphium in seine Rechte, um die Kranken wenigstens über die Qual der letzten Tage und Stunden hinwegzubringen." Aus der ärztlichen Tätigkeit des Lazaretts sind einige zukunftweisende wissenschaftliche Veröffentlichungen hervorgegangen, so die des Professors Dr. Adam in der Ophthalmologischen Gesellschaft und in der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung, die er herausgab; desgleichen hat darin Dr. Berg über seine neuen Operationen am Schädel berichtet; Dr. Hayward berichtete über Erfrierungen. Die medico-mechanische Behandlung entwickelte aus primitiven Anfängen eine Systematik. Man begann mit einem alten Fahrrad und einer alten Nähmaschine zur Behandlung versteifter Fußgelenke, einem Rad an der Wand zur Beweglichmachung der Handgelenke. Doch gerade die physikalische Therapie wuchs sich aus zu einem Forum für ärztliche Fortbildung; ihre Demonstration erfolgte bei den sogenannten großen Visiten. Der Ophthalmologe Prof. Dr. Adam berichtet über 483 Augenoperationen, femer von der Behandlung von Augenverletzungen bei Hirnverwundeten. Er war durch diese Erfahrungen bekannt geworden, deshalb sind viele Augenverletzte speziell nach Frohnau geleitet worden. Sobald die ersten Erfolge erzielt wurden, sorgte der Fürst von Donnersmarck für eine moderne Ausstattung der Abteilung. Die letzten Erfahrungen hatte man auch hierin im RussischJapanischen Krieg 1904 gemacht. In der Zwischenzeit bis 1916 war der Anteil der Augenverletzungen am Gesamtbestand der Verwundeten von 0,86 % auf 2,5 % gestiegen; 1919 stand die Zahl noch nicht fest, aber Prof. Adam schätzte sie 22 %! - An der Front hatte man vielfach das verletzte Auge entfernt, um das gesunde zu retten; wahrscheinlich war das nicht immer erforderlich. In Frohnau blieb man möglichst konservativ. Prof. Adam erachtete die Erblindung nicht als das schwerste Schicksal. „Im allgemeinen kann 545

man sagen, daß die Erblindeten, so sehr ihr Zustand zum Mitleid herausfordert, nicht die Unglücklichsten sind. Gelingt es uns, sie über die erste schwere Zeit mit ein wenig Hoffnung hinwegzubringen, und sie in dieser Zeit in die Fertigkeit des Lesens und Schreibens einzuführen, ihre Energie und ihr Lernenwollen anzufachen, so bietet die tägliche Aufgabe, etwas zu lernen oder erreichen zu müssen, ihnen Abwechslung genug, die sie allmählich ihren Verlust weniger schwer empfinden und schließlich ganz vergessen läßt." Das Entsetzliche des Krieges wird schlagartig deutlich, wo Prof. Adam die Wirkung von Infanteriegeschossen auf das innere Auge schildert. Das Trauma der Fronterlebnisse wird erkennbar an einem Fall von Simulation. Ein Verwundeter hatte sich jedesmal, sobald er an die Front gehen sollte, mit einem Röhrchen voll ätzendem Kalk selbst schwere Augenentzündungen beigebracht. Als Internist war Sanitätsrat Dr. Weydemann tätig, den der Fürst 1911 als Arzt für Frohnau dort angesiedelt hatte. Seine Familie war mit der des Fürsten lange befreundet, und Dr. Weydemann übte seine Praxis noch bis in die Nachkriegsjahre von 1945 aus. Er berichtet in der Chronik vor allem von der sogenannten Kriegsnephritis unter den Verwundeten, den Nierenerkrankungen als häufiger Kriegsfolge. Die Seelsorge hat eine gleich große Rolle gespielt wie die somatische Medizin. Außer den beiden Militärgeistlichen haben die Ortspfarrer von Frohnau im Lazarett diese Aufgabe geleistet. Der berichtende evangelische Pfarrer Freier war ein Jahr zuvor als junger Hilfsprediger in diese Stelle gekommen; er hat sich dabei, wie ehemalige Pfadfinder berichten, bis zur Selbstaufopferung eingesetzt und beim Ausladen von Verwundeten stunden- und tagelang geholfen. Diese Züge hatten meist etwa hundert Waggons und standen 300 Meter weit über das Bahnhofsgelände hinaus. Von Pfarrer Freier weiß man, daß sein späteres schweres psychisches und physisches Leiden, das ihn früh sterben ließ, hier seinen Anfang genommen hat. - Sein katholischer Amtsbruder ist der Erzpriester Kaiser aus Hermsdorf gewesen. Auch hier paßte man sich im Lauf der Zeit den ungewöhnlichen Gegebenheiten an und entwickelte neue Formen seelsorgerlichen Verhaltens. Als Hermann Freier fand, daß Gottesdienste im Tagesraum des Kasinos nicht ausreichten, hielt er zusätzliche Andachten auf den Stationen ab, dann ging er zu Einzelgesprächen nach Art ärztlicher Visiten über. Er kam damit den Versehrten behutsam näher. Zuerst gab das Lazarett eine schriftliche Mitteilung von der Einlieferung und Art und Schwere der Verwundeten an den Heimatgeistlichen ab, der seinerseits Verbindung mit den Angehörigen aufnehmen sollte. So knüpfte sich das Netz der Beziehungen zwangloser. „Dem Abgeschnittenen tat sich die Welt der Heimat und ihres Alltags auf, und die Lazarettgeistlichen beobachteten gerade bei den Verbitterten die lösende Wirkung. .. Heimathungrig waren alle Brüder." Ferner beschreibt er: „Sie kamen nach langer qualvoller Fahrt. War wieder einmal ein voller Transportzug angekommen und war in langer harter Arbeit die blutige Last im Lazarett geborgen, ergaben sich für den, der beobachtend von Bett zu Bett ging, oft ergreifende Eindrücke. Nach langer Kampfzeit und bittersten Schmerzen wieder einmal in einem Bett ruhen zu dürfen, in sauberen Kissen und in blumengeschmückten Räumen zu ruhen, das alles ließ so deutlich die Freude auf den schmerzgetrübten Gesichtern erstrahlen, daß alles leichter ertragen wurde. Sie wußten sich wieder in der Heimat." - Pfarrer Freier berichtet weiter, daß die Erschöpften fühlten, es werde ihnen gleichsam Lebensdank abgestattet. - Die Seelsorger fühlten sich in ihrer Aufgabe bestärkt durch die selbstverständlich geübte Hingabe der Fürstin Katharina („Rina") von Donnersmarck, durch ihre Glaubensfestigkeit und die tröstende Kraft, mit der sie auch Ärzte und Pfleger ermutigte. „Das blieb das Allergrößte, was im Vereinslazarett Frohnau gesucht und verwirklicht wurde: es wurde den aus der Bahn Geworfenen Heimat." 546

Die Fürstin von Donnersmarck mit den Ärzten des Vereinslazaretts.

Die Sterberate konnte gering gehalten werden; die Verstorbenen fanden eine würdige Ruhestätte auf dem Frohnauer Waldfriedhof unter märkischen Kiefern, „so still wie weniges in dieser sturmreichen Welt". Höhepunkte der menschlichen Zuwendung seien die Weihnachtsfeiern gewesen, berichtet die Chronik. Sie sollen besonders festlich gewesen sein dadurch, daß die Fürstin sie persönlich in allen Einzelheiten gestaltete. Sie habe alles so angeordnet, daß der Sinn des Festes hindurchschien durch alles Leid. Sie habe danach gestrebt, die Verwundeten wieder an den Menschen glauben zu lehren. Erstaunlich klingt, was im Rahmen dieses Rechenschaftsberichtes die Fürsorgerin von den Wiedereingliederungsmaßnahmen erzählt. Sie ist erst im zweiten Kriegsjahr tätig geworden, zuvor hatte das fürstliche Paar diese Aufgabe zunächst selber übernommen. Auch hier war der Fürst der alles führende Geist und Geldgeber. Er schöpfte seine Möglichkeiten aus, die er durch seine Managerposition in Industrie und Wirtschaft hatte. Der heutige Leser staunt über das Ausmaß an sorgfältiger Vorarbeit und die Vielfalt seiner Mittel. Er muß die Kunst der Menschenführung in ungewöhnlichem Maße besessen haben; er konzentrierte sich selbst auf das Schwierigste, sobald die Möglichkeiten seiner Mitarbeiter nicht ausreichten. - Die Fürsorgerin berichtet: Bald nach der ersten Untersuchung wurde das Ausmaß der Behinderung festgestellt und in Listen eingetragen, die alle 14 Tage dem Fürsten vorgelegt wurden. Meistens kam er wenige Tage nach Ankunft eines Transports selbst, verschaffte sich einen Überblick und veranlaßte das Dringendste sofort. 547

Sein vordringlichstes Bestreben zielte auf Ansiedlung der Rehabilitierten, sofern sie in ihren alten Berufen nicht wieder unterkommen konnten; vor allem Blinde und Amputierte suchte er planmäßig dazu tauglich zu machen; teilweise beschäftigte er sie bereits als Vorübung auf dem Wirtschaftshof des Lazaretts. Er zog die Angehörigen dazu heran, schaltete berufsfördernde Verbände und Schulen ein, vermittelte günstige Hypotheken, beriet die Ansiedler beim Ankauf von Pferden; er ließ landwirtschaftliche Zeitschriften kommen und verteilte sie unter die Anwärter. Dabei setzte er seine eigenen Geldmittel bedacht ein. Ehe er sie austeilte, ließ er die Versehrten über ihre gesetzlichen Rentenansprüche und Abfindungen aufklären; er brachte sie dahin, ihre Angelegenheiten selbst bei den Behörden zu führen, und sprang mit seinen Kostenbeihilfen nur so lange bei, bis die gesetzliche Regelung durchgeführt war. Er bediente sich aller Möglichkeiten des Berufsbildungswesens seiner Zeit, ließ die Erblindeten in der Brailleschrift ausbilden und ermöglichte die Beschäftigung Schwerbehinderter in kaufmännischen Betrieben, bei Versicherungen und Behörden. Einige Lazarettpatienten wurden in den Elektrowerken an der Oberspree und bei Bergmann in Rosenthal beschäftigt. Er richtete einen Unterstützungsfonds für die Hinterbliebenen der Verstorbenen ein. Er hat auch die damals noch junge Frauenbildung genutzt, um die Frauen für ihre hilfebedürftigen Männer tüchtig zu machen. - Es ist dasselbe Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe, das dem Entwurf einer Militärkuranstalt zugrunde liegt.4 Den Mitteilungen einer Kriegsblinden-Zeitschrift entnimmt Vfn. folgende Gesichtspunkte für eine gedankliche Exkursion: Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung hatte bis zum Ersten Weltkrieg noch keine tiefgreifenden Auswirkungen gehabt. Noch immer galt das Annehmen staatlicher Sozialhilfen bei einer Notlage, gleichgültig ob verschuldet oder unverschuldet, als unehrenhaft. Für Behinderung oder Unfallverletzungen waren Stiftungen und Gelder aus privater Wohltätigkeit zuständig - nach dem alten Prinzip der sittlichen Pflicht des Adligen und Vermögenden zu wohltätiger Hilfe. Erst mit der Entwertung aller Vermögen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches änderte sich die geistige Einstellung zum Geben und Nehmen; die soziale Revolution begann mit der Inflation. - Die Kriegsteilnehmer von 1914 bis 1918 waren bei ihrem Einrücken ins Feld noch uninformiert darüber, welche materiellen Entschädigungen sie bei einer Verstümmelung erwartete; viele wiesen ein solches „Entgelt" als ehrenrührig zurück. - Kriegsblinde erhielten eine staatliche Rente von 114 Reichsmark. Zuvor war ihre großzügige Versorgung während der Lazarettzeit durch Spenden aufgebracht worden, und auch nach ihrer Entlassung traten private Stiftungen aus Kriegerverbänden für sie ein. Den radikalen Einbruch brachte die Geldentwertung; sie zehrte die Schicht der vermögenden Spender auf, und an ihre Stelle trat der als unpersönlich empfundene Staat. - Dieser Tatbestand ist zu bedenken, wenn man liest, wie sehr das Haus Donnersmarck (auch die Erben des Fürsten) für den Fortbestand der Stiftung sorgten, und wenn man liest, wie die Fürstin „Rina" sich nach 1918 um die privaten Schicksale ehemaliger Lazarettpatienten kümmerte.5 Am Ende sagt die Fürsorgerin: „Leider erfuhr unsere Arbeit in den letzten Monaten infolge des Umschwungs der politischen Verhältnisse eine jähe Stockung. Möge es allen gelingen, unseren Kriegsbeschädigten die Sorgen um ihre zukünftige Existenz zu erleichtern." - Die Verfasser der Chronik konnten zu diesem Zeitpunkt die Hoffnungslosigkeit beim demobilisierten Heer und die bald einsetzende Radikalisierung bei den enttäuschten Massen noch nicht ermessen. Schon für die Zeitgenossen muß das Lazarett einen besonderen Ruf gehabt haben, so daß nicht nur Dr. Berg in medizinischen Fachzeitschriften seine Frohnauer Tätigkeit als eine grundlegende Erfahrung beschrieb, sondern man empfing auch sogenannte „Hohe Besuche", die wahrscheinlich über die bloße patriotische Pflichterfüllung jener Zeit hinausgingen. Die Oberschwester berichtet zum Schluß davon. Für das noch unangefochtene Nationalgefühl war es 548

eine besondere Freude, daß die Kaiserin Auguste Viktoria gerade zur ersten Kriegsweihnacht 1914 das Lazarett in Frohnau besuchte. Man hat ihr immer eine natürliche gütige Art und schlichte Herzlichkeit nachgesagt, und auch durch die Schilderung der Oberschwester wird dieser Eindruck bestätigt. Die hohe gesellschaftliche Stellung der Fürstin brachte es mit sich, daß auch andere hohe Gäste in dem vorbildlich geführten Haus begrüßt werden konnten, so der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin mit seiner Tochter, die Prinzessin August Wilhelm und zuletzt 1916 die Kronprinzessin Cäcilie. Als gelegentlicher Gast wird der Generalarzt des Feldsanitätsdepartements, Prof. Dr. von Schjerning, erwähnt, der sich seit 1916 tatkräftig für das Projekt einer Militärkuranstalt in Frohnau einsetzte.6

Anmerkungen 1. Der Fürst von Donnersmarck, Besitzer großer Erz- und Kohlevorkommen und Hochöfen, Papier- und chemischer Industrie, wurde 1848 Herr eines Industrieimperiums und 1871 neben Bleichröder „TopManager" Bismarcks, den er über die Höhe der Kriegsentschädigung beriet, die Frankreich aufbringen konnte. 2. Befindlich im Privatbesitz. 3. Das ist Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck. 4. Christiane Knop: „Die Militärkuranstalt Frohnau. Eine Akte aus dem Wilhelminischen Kaiserreich" in Mitt. d. Vereins f. d. Gesch. Berlins 79. Jg.. Heft 2, April 1983, S.46 bis 54. 5. B. und R. Hildebrandt / Chr. Knop: „Gartenstadt Frohnau", Berlin 1985, S. 118-121. 6. Knop, Militärkuranstalt, ebendort. Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28

Aus dem Mitgliederkreis Walther G. Oschilewski f Walther G. Oschilewski, unser jahrzehntelanger Freund, unser Vorstandsmitglied und Herausgeber des Jahrbuchs „Der Bär von Berlin", ist am 1. Mai 1987 im 83. Lebensjahr nach langem, schwerem Leiden verstorben. Für seine Verdienste um die Stadt hatte der Senat den Mann der Feder mit der Ernst-ReuterPlakette ausgezeichnet und ihm wenige Jahre später auch die Würde eines Professors e. h. verliehen. Der Verein für die Geschichte Berlins dankte W. G. O. mit der Fidicin-Medaille für seinen nimmermüden Einsatz. Er war ein Arbeiterkind aus Berlin NO und hatte das Schriftsetzerhandwerk erlernt, das ihn in so innigen Kontakt mit dem gedruckten Wort brachte. Er schrieb sich als Gasthörer an den Universitäten Jena und Berlin ein und nahm an Kursen der - alten - Deutschen Hochschule für Politik der zwanziger Jahre teil. Aber im wesentlichen entwickelte er sich zum Autodidakten. W. G. O., so das vielbenutzte und weitbekannte Kürzel, sprach einmal von seiner „tiefeingewurzelten Neigung, zu tun und zu lassen, was ihm Spaß macht". Bürokratischen Zwängen hat er sich nie einordnen wollen, um ein „freier" Mann sein zu können ein Außenseiter, wie er von sich bekannte. Der sicheren Wegführung eines festen Berufes, gerade in den Jahren des Aufbaus einer Existenz, entratend, hat er sich auf sich selbst gestellt und ist mit Selbstdisziplin, Beharrlichkeit, Fleiß und Wissen ein erfolgreicher, angesehener Schriftsteller zur Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte im weitesten Sinne geworden. Zeitlebens hat er sich darum bemüht, durch Tun und Wirken im Sinne Goethes „ein Mensch zu werden". Menschenleben. Lebensführungen haben ihn denn auch immer wieder zur Darstellung gereizt, eine Vielzahl guter Biographien entstammt seiner Feder, vornehmlich auch über Männer, die handelnd und gestaltend in der politisch-sozialen Arena standen. 549

W. G. O. bekannte sich von früher Jugend an zur Idee sozialistischer Lebens- und Gesellschaftsgestaltung. Aber abgesehen von wenigen Jahren der Mitgliedschaft zur sozialdemokratischen Fraktion im Berliner Stadtparlament, hielt sich seine parteipolitische Aktivität in Grenzen, und sein politisches Engagement bestand im Einsatz für Recht, Würde und Erneuerung des Menschen, die ihm ein ethischer, humanitärer Sozialismus verhieß. Er wurde der Chronist der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer politischen Organisation, der Sozialdemokratischen Partei. Er schrieb über den „sozialen Geist des alten Handwerks", über die Konsumgenossenschaftsbewegung, über den sozialen Fortschritt schlechthin. Ein gemeinsamer Nenner ist den Arbeiten eigen, und geschichtliche Zusammenhänge werden verdeutlicht. Die Erinnerung an das Bildungsstreben innerhalb der frühen deutschen Arbeiterbewegung wird wachgerufen, in deren Geist W. G. O. lernte und lehrte. Nicht zuletzt wandte er sich an die jungen Generationen, denen er ein „altes" geistiges Fundament - soziales Denken als Aufgabe und Verpflichtung - wieder aufs neue geben wollte. Ein umfangreicher Teil des CEuvres von W. G. O. beschäftigt sich mit Vergangenheit und Gegenwart seiner vielgeliebten Heimatstadt Berlin, deren politische Bühne und Kulturszenerie von ganz unten ausgeleuchtet wird, vom kleinen Volk her bis hin zu den Beziehungen der Berühmten aus Politik, Literatur und bildender Kunst zum Geist und Pulsschlag dieser mobilen Stadt. Oschilewski wurde der Historiograph der Berliner politischen Linken und - auf dem kulturellen Sektor ihr nahestehend - der Volksbühnenbewegung, die Mittel und Wege zu neuen Formen der Eingliederung der Bühnenkunst in die Gemeinschaft des arbeitenden Volkes suchte und ermöglichte. Als freier Schriftsteller und Journalist fand W. G. O. nach dem Zweiten Weltkrieg den Zugang in ein Verlagshaus, das ihm für lange Jahre festen Boden unter den Füßen geben sollte. Er brachte seinen unermüdlichen Fleiß und sein großes Wissen ein und wurde Berlins wohl herausragendster und produktivster Fachmann in den Bereichen Druck, Schrift, Buch, Verlag, Zeitung. „Ich habe mich immer bemüht, sehr genau und präzise zu sein, ohne die lebendige Diktion für falsch zu halten." In dieser Selbstbeurteilung verbindet sich das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Gründlichkeit mit dem Streben des Journalisten aus Leidenschaft nach wirkungsvollem, gediegenem und brillantem Ausdruck. Eine 1979 in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn) erschienene OschilewskiBibliographie zählt 144 Bücher, Schriften und Herausgaben auf - ein Lebenswerk von erstaunlichem Umfang, das W. G. O. noch weiter ausbauen wollte, hätten es ihm nicht Krankheit und Leiden in den letzten Jahren verwehrt. Der Verein für die Geschichte Berlins wird ihm immer sehr dankbar bleiben. Gerhard Kutzsch

Mitgliederversammlung Die ordentliche Mitgliederversammlung wickelte am 4. Mai 1987 im Bürgersaal des Rathauses Charlottenburg unter der zügigen Leitung des Vorsitzenden, Senator und Bürgermeister von Berlin a. D. H. Oxfort, die Regularien ab. Der Tätigkeitsbericht wie auch der Kassenbericht und der Voranschlag 1987 standen den Teilnehmern in vervielfältigter Form zur Verfügung. Dem Kassenbericht (Frau Ruth Koepke) und dem Bibliotheksbericht (Hans Müller) folgten die Berichte der Kassenprüfer und der Bibliotheksprüfer, vorgetragen von Karl-Heinz Kretschmer und Frau Dr. Edna Crantz. Es ergaben sich keinerlei Beanstandungen. In der Aussprache führte der Vorsitzende aus, daß unter Verzicht auf öffentliche Mittel, die die Unabhängigkeit des Vereins beeinträchtigen könnten, Spenden eingeworben werden sollen. Für eine hochherzige Spende erklärte er öffentlich seinen Dank. Zur 750-Jahr-Feier, der eine Festveranstaltung am 9. Mai 1987 im Plenarsaal des Rathauses Schöneberg mit einem Empfang des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen galt, wird eine Grüne Schrift herausgegeben. 1988 ist die Edition einer weiteren derartigen Schrift geplant. Unverändert sucht der Vorstand neue Räume für die Bibliothek und auch für die Geschäftsstelle. Hier ergibt sich für den Verein ein großes finanzielles Problem. Hans Schiller, langjähriger Betreuer der Bibliothek, nahm zu einem Aufsatz Stellung, der im Heft 1/1987 der „Mitteilungen" erschienen ist. Eine Reihe von Mitgliedern stimmte ihm zu, die Redaktion erläuterte ihren Standpunkt. Der Vorsitzende Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort bezeichnete die Kritik als berechtigt. Aus dem Erscheinen dieses Aufsatzes werden keine Konsequenzen gezogen außer denen, künftig bei derartigen Themen vorsichtiger zu sein. Das Vertrauen der Mitglieder in den Vorstand, dem auch Günter Wollschlaeger und Frau Dr. Christiane Knop als Redakteure der „Mitteilungen" angehören, geht auch aus der Tatsache hervor, daß bei der Wahl

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zum geschäftsführenden Vorstand in Einzelabstimmung und zu den Beisitzern in einem Wahlgang keine Gegenstimmen abgegeben wurden und die Enthaltungen von den Betroffenen selbst kamen. Eine Änderung gab es nur bei den Beisitzern, da Professor Dr. Martin Sperlich mit Rücksicht auf eine Vielzahl von Verpflichtungen von einer Kandidatur Abstand genommen hatte. An seiner Stelle nominierte der Vorstand Stadtrat a. D. Roland Schröter. Dr. J. Wetzel wechselte in den geschäftsführenden Vorstand über. Der Vorstand setzt sich wie folgt zusammen: Vorsitzender: Rechtsanwalt und Notar Hermann Oxfort 1. stellvertretender Vorsitzender: Hans-Werner Klünner 2. stellvertretender Vorsitzender: Günter Wollschlaeger Schriftführer: Dr. Hans Günter Schultze-Berndt stellvertretender Schriftführer: Dr. Jürgen Wetzel Schatzmeisterin: Ruth Koepke stellvertretender Schatzmeisterin: Leonore Franz Beisitzer: Professor Dr. Helmut Engel, Irmtraut Köhler, Dr. Christiane Knop, Dr. Gerhard Kutzsch und Stadtrat a. D. Roland Schröter Auch die Wiederwahl der bewährten Mitglieder Degenhardt und Kretschmer zu Kassenprüfern sowie von Frau Dr. Crantz und M. Mende erfolgte einmütig. Die Schatzmeisterin begründete den Vorschlag, den Jahresbeitrag mit Wirkung von 1988 von 48 DM auf 60 DM zu erhöhen. Diesem Antrag wurde bei einer Gegenstimme stattgegeben. In der weiteren Aussprache rief der Vorsitzende die Mitglieder auf, Besprechungen von Büchern für die „Mitteilungen" zu schreiben und sich bei G. Wollschlaeger zu melden. E. Alberts legte ausführlich dar, weswegen der Münzfries am jetzigen Standort gefährdet ist und abgenommen und eingelagert werden sollte. Joachim Teile berichtete, daß der Sinflutbrunnen am Perelsplatz langsam verkommt. Die Mitglieder unterstützten die Forderung nach Erhaltung des Brunnens mit ihrer Unterschrift. Frau Dr. Sibylle Einholz hatte den Wunsch vorgetragen, die Geschichte des Vereins während der NS-Zeit solle erforscht werden. Es ergeht die Bitte an sie, sich dieser Frage anhand der Veröffentlichungen als des einzig vorhandenen Materials anzunehmen. Oswald Hensler machte sich zum Sprecher aller Mitglieder, als er den Vortragenden für die Mühen der Vorbereitung einschließlich der Lichtbilder und für das Referat selbst dankte. H. G. Schultze-Berndt

Studienfahrt nach Trier vom 11. bis 14. September 1987 Im Heft 2/1987, Seite 517, der „Mitteilungen" war das vorläufige Programm der Exkursion nach Trier bereits so ausführlich wiedergegeben worden, daß hier nur kleine Ergänzungen mitzuteilen sind. Inzwischen hat sich eine gut gemischte und hoffentlich auch freundlich gestimmte Omnibusmannschaft für die Studienfahrt angemeldet. Alle diese Damen und Herren erhalten nun unaufgefordert das Gesamtprogramm zusammen mit einem Formular für die endgültige Teilnahme. Alle anderen Interessenten können das Programm beim Schriftführer anfordern (Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13,1000 Berlin 65, Telefon 45 09-2 91). Die in der Vorankündigung genannten Bedingungen bleiben mit der einen Änderung aufrechterhalten, daß sich wegen nachträglich erst bekanntgewordener Eintrittsgelder das Teilnehmerhonorar auf 115 DM beläuft. Meldeschluß ist der 28. Juli 1987. Ergänzungen zum Programm: Freitag, 11. September 1987 13.00 Uhr: Mittagessen im Oelder Brauhaus, Oelde in Westfalen, Möglichkeiten zum Besuch der Oelder Privat-Brauerei Pott-Feldmann Sonnabend, 12. September 1987 13.00 Uhr: Gemeinsames Mittagessen auf der Löwenbrauerei Trier Sonntag, 13. September 1987 12.00 Uhr: Gemeinsames Mittagessen in der „Burgschänke" auf Burg Rittersdorf 13.30 Uhr: Geologische Exkursion in die Vulkan-Eifel und zu den Eifelmaaren (Kalkmulden, Vulkanologie und Hydrogeologie) Führung: Diplom-Geologe Karl-Heinz Koppen SchB.

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Nachrichten Zur Situation des Sintflutbrunnes von Paul Aichele (1859 bis etwa 1920) auf dem Perelsplatz in Friedenau Kleine Geschichte des Brunnens: Der um 1905/06 von Paul Aichele geschaffene Sintflutbrunnen (ca. 5 m hoch, Becken ca. 7,2 m Durchmesser, Material: franz. Kalkstein) wurde 1908 auf der „Großen Berliner Kunstausstellung" erstmalig ausgestellt, dort von Kommerzienrat Georg Haberland von der Berlinischen Bodengesellschaft erworben und 1909 als Geschenk an die Gemeinde Friedenau auf dem ehemaligen Hamburger Platz auf dem Südwestkorso/Stubenrauchstraße vor dem Friedhof als Blickfang aufgestellt und eingeweiht. 1931 wurde der Brunnen, als Verkehrshindernis deklariert, auf den damaligen Maybach-, heute Perelsplatz, ins sog. „Birkenwäldchen" versetzt. Bis Ende der 60er Jahre war er hier in Betrieb, der aber aus Kostengrunden eingestellt wurde. Etwa 1979 wurde der männlichen Figur der Kopf abgeschlagen, der seither in einer Obstkiste in einem Schuppen des Gartenbauamtes Schöneberg lagert. Im März 1987 wurde die Rosenbepflanzung um das Brunnenbecken herum entfernt. Berlin wird 750 Jahre alt - und wird renoviert, restauriert und herausgeputzt: für viele Millionen DM. Es erfolgen neben zahllosen Ausstellungen und Bezirkswochen über Geschichte, Kunst und Kultur zahlreiche Neuaufstellungen von Kunstobjekten und auch Brunnenanlagen: - der Kurfürstendamm wird „Skulpturenboulevard auf Zeit" - für 1,5 Millionen DM, - der Henriettenplatz (Kurfürstendamm) erhält „Betonpilze mit Brunnen" - für 1,1 Millionen DM, - der Platz vor dem „Elefantentor" wird umgestaltet, erhält einen Brunnen für insgesamt 4 Millionen DM, - das Berlin Museum erhält eine „Barock-Garten-Baustelle" mit Wasserlauf- für bisher 3 Millionen DM, weitere 3 Millionen DM sind nötig, um das Projekt fertigzustellen, - usw. usw. Dies sind nur einige Beispiele, die Berlins Engagement in Sachen Kunst bezeugen. Der Sintflutbrunnen aber wird 80 Jahre alt - und verfällt. Wann endlich werden das Gartenbauamt Schöneberg, zuständig für die Pflege und Erhaltung der Gesamtanlage, und die Denkmalpfleger wirklich aufmerksam auf den schlechten Zustand dieses Brunnens, und wann endlich wird man sich da oder dort mit diesem Problem ernsthaft auseinandersetzen? Bisher wurden interessierte und engagierte Brunnenfreunde nur vertröstet und offenbar nicht ernst genommen: „Kein Geld - derzeit nicht geplant - derzeit nicht möglich - nicht zuständig - haben Ihr Anliegen mit der Bitte um Prüfung und Stellungnahme ... weitergeleitet" usw. Dies sind seit Jahren die gleichen Antworten auf Anfragen bezüglich einer Restaurierung des Brunnens. Es ist nicht Sinn und Zweck eines der letzten Monumentalbrunnens Berlins aus dem frühen 20. Jahrhundert, geschaffen von einem Bildhauer, der einer der letzten Vertreter der „Berliner Bildhauerschule" war, als Klettergerüst eines dahinter liegenden Kinderspielplatzes und als Objekt für Farbschmierereien mißbraucht zu werden! Einst zierte der Brunnen sogar Post- und Grußkarten und war Werbe- und Aushängeschild des Bezirks; nun aber, ohne Kopf der männlichen Figur und besonders ohne Wasser, verkommt er zu einem weiteren Kunst-Schandfleck Schönebergs - und damit Berlins! Das öffentliche Interesse an der Erhaltung der Brunnenanlage ist zwar groß, wie der Erfolg einer derzeit laufenden Unterschriftensammlung für die Restaurierung zeigt, ein Interesse bei den zuständigen Behörden ist dagegen nicht erkennbar; nicht einmal der Landeskonservator hält sich hierfür zuständig. Entsprechende Anlagen in anderen Bezirken, wie z. B. der Wrangelbrunnen in der Grimmstraße in Kreuzberg (1877), der Märchenbrunnen im Von-der-Schulenburg-Park in Neukölln (1917) oder der Storchenbrunnen auf dem Adotf-Scheidt-Platz in Tempelhof (1931), wurden oder werden restauriert - und damit in ihrem Wert für alle erhalten. Wie lange aber sollen Friedenaus Bürger, und nicht nur diese, noch auf die Wiederherstellung dieser so wertvollen Brunnenanlage und gleichzeitigen Naherholungsstätte warten? Oder sollte gerade im Jahre 1987 die These Gültigkeit behalten, daß „Gut ist, was verrottet" (R Bloch)? Joachim Teile * Berichtigung zum Aufsatz von Herrn Karl-Heinz Bannasch „Die jüdische Gemeinde in Spandau" in Heft 2/April 1987: Zu Seite 494 und dem zweiten Abschnitt wäre anzumerken, daß der Augenazt Dr. Hermann Kantorowicz nicht zu der Familie von M. K. Sternberg gehörte. Dieser historische Fehler ist aus satztechnischen Gründen entstanden und nicht dem Autor anzulasten. Die Redaktion 552

Buchbesprechungen Das Goldene Buch von Berlin. Aus aller Welt in Berlin zu Gast. Einhundert Seiten, ausgewählt aus fünf Bänden des Goldenen Buches von Berlin aus den Jahren 1953-1987. Faksimile-Druck. Herausgegeben von Wolfgang Miethke und Bernd Thiel. Wedding-Druck Tißler + Lange, Berlin 1987, 59 DM. Ein Goldenes Buch (in Berlin hat auch die östliche Stadthälfte ein derartiges „Gästebuch") leitet seinen Namen vom Goldenen Buch der Republik Venedig her, in dem die 600 Familien verzeichnet waren, die dem Großen Rat der Serenissima angehören durften. Das Goldene Buch der Venezianer wurde 1797 unter dem Freiheitsbaum auf dem Markusplatz verbrannt, das Goldene Buch von Berlin seit der Kaiserzeit ist 1945 bei den Kämpfen verlorengegangen, einige lose Blätter werden im Rathaus Schöneberg aufbewahrt. Seit 1948 konnten fünf Bände des neuen Goldenen Buches mit Unterschriften gefüllt werden. Was die hundert Namen, die für diesen Nachdruck seit den 50er Jahren ausgewählt wurden, auszeichnet (zumeist Politiker, ausnahmsweise auch Künstler oder Wissenschaftler), sind nicht nur die charakteristischen Schriftzüge und teilweise auch Anmerkungen bei der Eintragung, sondern auch die kalligraphische Gestaltung der Seiten, die seit 34 Jahren von Wolfgang Miethke vorgenommen wird. Vom Preis des Buches werden 5 DM für die Deutsche Krebsgesellschaft, Landesverband Berlin e.V., als Spende abgeführt. Staatssekretär Leopold Bill von Bredow, Protokollchef des Landes Berlin, hat dem Buch ein Geleitwort vorangestellt, in dem er gerade im Jahr des 750jährigen Jubiläums Berlins auf die Eignung dieses schönen Buches zu Geschenkzwecken hinweist. Mit einer gewissen Rührung oder gar mit Scheu liest man die Autographen der Persönlichkeiten, die ihre Berufung zum Politiker mit dem Tod besiegelten: Indira Gandhi (Indien) und Sylvanus Olympio (Togo) ebenso wie die Amerikaner John F. Kennedy und Martin Luther King. Sich selbst oder anderen kann man mit diesem Faksimile-Band wahrlich eine Freude bereiten. H. G. Schultze-Bemdt Dr. Walter Schneider: Der städtische Berliner öffentliche Nahverkehr. Verlag: Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Eigenbetrieb von Berlin. 12 Bände, 3500 Seiten, Typoscript, gebunden, 300 DM. Durch freundliches Entgegenkommen der BVG ist die Bibliothek des Vereins für die Geschichte Berlins kürzlich in den Besitz des Jahrhundertwerks der Berliner Nahverkehrsgeschichte gekommen, die Dr. Walter Schneider, erster Direktor der Berliner Verkehrsbetriebe, nach langen Jahrzehnten seines Berufslebens bei der BVG als Dokumentation zusammengestellt hat. Das Werk umfaßt mit seinen zwölf Bänden auf 3500 Seiten (!) den gesamten Ablauf der Entwicklung des Berliner Nahverkehrs von Beginn an bis in unsere Tage. Autor Schneider war daran gelegen, nicht nur technische und statistische Fakten aneinanderzureihen, sondern auch die Sphäre zu schildern, in der sich die wechselvolle Entwicklung im Laufe von 120 Jahren im Berliner Raum vollzogen hat. Er bezeichnet seine Reportage als „Roman des Berliner Nahverkehrs". Schon in der Einleitung erläutert er den Wandel von der „Gehstadt" zur „Fahrstadt" zu einer Zeit, als es noch keinen Berufsverkehr gab, die Geburtsstunde eines allgemeinen Verkehrsbedürfnisses jedoch schon nahte. Die erste Kapitelfolge befaßt sich mit den Vorläufern des Stadtverkehrs, der Einführung von Sänften zur Zeit des Großen Kurfürsten, dem Auftauchen der ersten Fiaker und Pferdedroschken, der Torwagen und dem Entstehen und Vergehen der ersten Pferdeomnibusbetriebe. Es ist ein offensichtliches Verdienst des Autors, es in seinem Mammutwerk nicht - wie in ähnlichen Veröffentlichungen üblich - bei einigen oberflächlichen Kommentaren belassen zu haben, sondern bis ins kleinste Detail zu gehen und so auch dem ernsthaft interessierten Leser die Möglichkeit zu eingehender Erforschung des gesamten Berliner Verkehrsbereiches in allen seinen Sparten zu bieten. So begegnet der Leser immer wieder detaillierten Angaben über Linienführung, Fahrpläne und Fahrpreisgestaltung der einzelnen Unternehmen, womöglich mit Angabe von Tagesdaten. Genaue Angaben über Polizeiverordnungen und Dienstvorschriften für die Unternehmer ergänzen das zeitgenössische Bild der einzelnen Entwicklungsphasen. Bedauerlicherweise verzichtet Schneider aber auf jegliche Quellenangaben, so daß der Leser nicht erfährt, aus welchem Grund er die Eröffnung der ersten Pferdeomnibusbetriebe der „Concessionierten Berliner Omnibuscompagnie" auf den Monat Dezember 1846 vorverlegt (Bd. 1, S. 104), zu er es jedoch laut eindeutiger Angabe der „Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung" Nr. 305 vom 30. Dezember 1846 erst am 1. Januar 1847 mit der Eröffnung der ersten Linie „Alexander Platz - Odeum, Tiergarten" gekommen ist. Unvermeidlich sind wohl auch gelegentliche Irrtümer, die den Autoren von Werken dieser außergewöhnlichen Dimension unterlaufen. So halte ich die Angabe für unrichtig, die Zeltenlinie der Berlin-Charlottenburger Pferdeeisenbahn habe zwischen 1872 und 1875 bestanden (Bd. 2, S. 230). Sie wurde laut Zeitschrift

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des Kgl. Preußischen Statistischen Büros, Jg. 39, 1894, am 15. April 1866 eröffnet und den Sommer hindurch betrieben. Das Datum ihrer Stillegung ist nicht mehr feststellbar. Erstaunlicherweise bezieht sich Schneider auch beim detaillierten Eingehen auf die Neuerung in der Bezeichnung der Straßenbahnlinien nicht auf authentische Angaben der „Großen Berliner", sondern auf Karl Baedeckers Reisehandbuch von 1902, zu deren Einführung in der Praxis es jedoch zum großen Teil gar nicht gekommen ist, da man von der Verwendung dreistelliger Liniennummern wegen ihrer schlechten Lesbarkeit Abstand genommen und die Verwendung von Buchstaben und römischen Ziffern vorgezogen hat (Bd. 3, S. 92), was Schneider unerwähnt läßt. Als unrichtig ist auch die Angabe zu bezeichnen, daß die Hebel zur Betätigung der Sandstreuvorrichtung „erst zu Anfang der zwanziger Jahre auf die rechte Seite des Fahrschaltertisches der Straßenbahntriebwagen verlegt" worden sind (Bd. 3, S. 181), was meiner persönlichen Erinnerung nach bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen ist. An anderen Stellen des Werkes stößt der Leser auf offensichtliche Übertragungsfehler bei der Abschrift vom Manuskript durch fachlich nicht versierte Hilfskräfte. Es wird im folgenden über Pferdepflege, Fütterung, Futterkosten und Erfahrung mit „schweren Belgiern" und „harth figen Dänen" berichtet und die Frage diskutiert, ob sich „Kurkosten für pflastermüde Pferde" oder der Gang zum Roßschlächter empfehlen würde. Nach Beschreibung des Dampfbetriebes auf der Stadt- und Ringbahn und der Rolle, die ihr als preisgünstigem Massenverkehrsmittel zufiel, entrollt Schneider das Straßenbahnzeitalter, das in Berlin-West nahezu hundert Jahre währte (1865-1967). Diesem Thema widmet er ganz besondere Aufmerksamkeit, da die Straßenbahn lange Jahrzehnte hindurch als Hauptverkehrsmittel aus dem Berliner Straßenbild nicht wegzudenken gewesen war. Die ruhigen Zeiten des Pferdebetriebes (1865-1896) laufen noch einmal vor dem Auge des Lesers ab, die zahlreichen Probleme der Elektrifizierung (1896-1902) gewinnen neue Aktualität, und die dann folgenden Jahre des Siegeslaufs der elektrischen Straßenbahn bis hin zu ihrem schwarzen Sonntag, dem 9. September 1923, lassen vor dem Auge des Lesers ein einzigartiges Panorama der Berliner Nahverkehrsentwicklung erstehen, in dem - so möchte mir scheinen - kein noch so winziges Detail unerwähnt geblieben ist, sei es im technischen, statistischen, kommerziellen oder rechtlichen Bereich der einzelnen Unternehmen. Auf die Probleme, die die BVG während des Zweiten Weltkrieges, der Spaltung der Stadt und den Jahren des Wiederaufbaus (1939-1953) zu bewältigen hatte, wurde genauso eingegangen, wie auf die Planungen der neuen Verkehrspolitik und die Hinwendung zum Ausbau des Autobusbetriebes und der Hoch- und Untergrundbahn, sowie die endgültige Stillegung der Straßenbahn in Berlin-West im Jahre 1967. Dem Autor ist es gelungen, die Thematik vom ersten bis zum letzten dickleibigen Band über immerhin 3500 Seiten hinweg stets lebendig zu schildern und beim Leser, auch wenn er sich nicht speziell der Verkehrsforschung verschrieben hat, kein Gefühl der Strapazierung aufkommen zu lassen, da die Lektüre für Berlinfreunde und an der Stadtgeschichte Interessierte gleichermaßen aufschlußreich ist. Wer dazu bereit ist, für das Mammutwerk der Verkehrsgeschichte runde 300 DM „ans Bein zu binden", dem sei der Gang zum Archiv der BVG in der Grunewaldstraße 1 anzuraten, das das Schneidersche Werk im Selbstverlag vertreibt. Die Bände sind dort auch einzeln zum Preis von 25 DM pro Band erhältlich. Hans Schiller

40 Jahre RIAS Berlin, 7. Februar 1986. Chronik, Daten, Ereignisse, Publikationen, Schallplatten, Dokumentationen, Bemerkenswertes, Am Rande notiert. Herausgegeben von RIAS Berlin - Februar 1986. Verantwortlich: Programmdirektor und Stellvertreter des Intendanten Prof. Herbert Kundler. Redaktion und Koordination: Michael Maass, Matthias Cramer. Text, Tips und Mitarbeit von rund 60 RIAS-Kollegen. Druck und Herstellung RIAS Berlin: Dietrich Dannenberg, Manfred Lindemayer, Wolfgang Wendland, Axel Senge. Diese maschinenschriftliche Ausarbeitung von 135 Seiten des Formats DIN A4 kann allenfalls als eine Kürzestchronik bezeichnet werden. Die Geschichte des RIAS bleibt noch zu schreiben. Die einzelnen Abschnitte sind nicht gezeichnet und stammen wohl aus den Abteilungen selbst. Da bleibt es nicht aus, daß die verschiedenen Betrachtungen unterschiedlich gewichtet sind. Einige Schlaglichter sollen auf den Inhalt geworfen werden. Die Literatursendungen des RIAS müßten 450 Bände zu je 400 Seiten füllen, würde man sie gedruckt vorlegen. Umgekehrt ist die 40jährige RIAS-Musikgeschichte im Bereich E-Musik (Orchestermusik und Kammermusik), in Magnettonschrift verschlüsselt, auf nahezu 25 000 Bändern dokumentiert. Aus dem Bereich „Unterhaltung" sind die 148 Sendungen „Günter Neumann und seine Insulaner" ebenso zu nennen wie die klassische Reihe „Es geschah in Berlin" von Wemer Brink. Schon im Juli 1985 wurde die tausendste Folge des „Klingenden Sonntagsrätsels" unseres unvergessenen Hans Rosenthal ausgestrahlt. Von diesem stammt übrigens auch die Sendereihe 554

„Kutte kennt sich aus" des nicht minder gegenwärtigen langjährigen Vorstandsmitglieds unseres Vereins Kurt Pomplun. In der Reihe „Im Verein vereint" ist auch der Verein für die Geschichte Berlins als einer der ersten vorgestellt worden. Die eigentliche Historie wird u. a. im Kapitel „Verwaltung" behandelt. Man erfährt, daß der älteste heute noch dienstbereite deutsche Rundfunksender für RIAS Berlin in Britz arbeitet. Seinen Namen „Lili-Marleen-Sender" verdankt er der Tatsache, daß er einst zum Soldatensender Belgrad gehörte und Laie Andersens „Lili Marken" ausstrahlte. Es ist verständlich, daß es bei den Publikationen Engpässe gibt, weil RIAS Berlin bekanntlich weder am Gebührenaufkommen der ARD beteiligt ist noch mit Werbesendungen aufwartet. Trotzdem vermitteln der „RIAS-Expreß" und das „RIAS-Quartal" hinreichend Informationen für die Hörer, die 435 246 Zuschriften 1985 an den RIASrichteten,von denen 23 493 aus Ost-Berlin und der DDR stammten. Mehr als 23000 Zuschriften betrafen die Rätselsendung „Funk-Spuren", die Dietrich Auerbach über alle 94 Folgen betreute. Auch über die Finanzierung vermittelt dieser Bericht Aufschlüsse. So wurden 1984 RIAS Berlin 70,334 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wie ein roter Faden ziehen sich Hinweise auf bevorstehende Umstellungen durch den Text, womit das neue Programmschema gemeint ist, das inzwischen verwirklicht wurde. Der Hörer, der an „seine" Sendungen gewohnt war und diese doch offensichtlich schätzte, fragt nach den Beweggründen für derartige radikale Schnitte. Ob wohl die Firma Beiersdorf oder Grete Schickedanz auf den Gedanken kämen, sich von den gut eingeführten Markennamen Nivea oder Tempo (für Papiertaschentücher) zu trennen? Unsere Rundfunksender können es, und die Tatsache, daß der SFB seine Programme noch stärker durcheinandergewirbelt hat, mag für den RIAS, nicht aber für den Hörer (vor allem aber für denjenigen, der im anderen Landesteil keine Rundfunktzeitschriften nachschlagen kann) ein magerer Trost sein. H. G. Schultze-Bemdt

Das Brandenburgische Koch-Buch, Oder: Die wohl-unterwiesene Köchinn, Das ist: Unterricht / wie man allerley wohlschmeckende Speisen aufs füglichste zubereiten / schmackhaffte Suppen / Potagen / Pasteten / Tarten und allerhand Gebackenes machen / nach der jetzt üblichen Art auftragen und galant anbringen / auch Fleisch / Fische / Garten-Früchte und andere Sachen etc. wohl einmachen, dürren oder verwahren solle. Samt vielen bisher wenig bekandten Kunst-Griffen / so in der Koch-Kunst ihren sonderbaren Nutzen haben / Mit vielen dazu gehörigen Kupffern gezieret, Und aufs neue gedruckt. Berlin und Potsdam / Bey Johann Andreas Rüdigern / Anno 1732. - Im Auftrag von Rodolphe W. Scheiben stark gekürzte Fassung, bei der Buchdruckerei Karl Flagel und Sohn in Berlin auf gerippt Bütten/Werkdruck in 2000 Exemplaren gedruckt und von der Buchdruckerei Kurt Grunow in Berlin gebunden. Das Kochbuch aus Berlin. Gesammelt, aufgeschrieben und ausprobiert von Fritz Becker, verlegt von Wolfgang Hölker. Verlagsteam Wolfgang Hölker, D-4401 Westbevern, Haus Langen. 143 Seiten, 24,80 DM. Sybille Schall: Bier is ooch Stulle. Eine Kulturgeschichte der Eß- und Trinkgewohnheiten der Berliner mit Rezepten. Berlin Taschenbuch Band 4. Stapp Verlag 1985,144 Seiten mit 20 Abbildungen. Kartoniert 14,80 DM. Luise Lemke: Det schmeckt nach mehr. Küche, Kochtopp und Jemüt. Illustriert von Cleo-Petra Kurze, arani Verlag GmbH. Berlin 1986. 128 Seiten, Gebunden 15,80 DM. Felix Henseleit/Walter Bickel: Berliner Küche gestern und heute mit 57 Rezepten. Berlinische Reminiszenzen 35. Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung Berlin. 90 Seiten, 14,80 DM.

* Das für diese Faksimileausgabe verwendete Original des Brandenburgischen Koch-Buchs stammt aus dem Berlin-Museum; es ist die sechste Auflage, die 1732 bei Johann Andreas Rüdigern in Potsdam und Berlin gedruckt wurde. Die erste Auflage entstand 1692. Von den vorangegangenen fünf Auflagen wurden rd. 8000 Exemplare verkauft. Von der gleichen, zunächst anonymen Verfasserin wurde von der dritten Auflage 1702 an ein zweiter Titel beigefügt: „Die wohlunterwiesene Köchin". Erst 1706erfährt man in der vierten Auflage, daß Maria Sophia Schellhammer die Verfasserin und überhaupt die zweite Frau ist, von der ein Kochbuch in deutscher Sprache gedruckt wurde. Maria Sophia war die Tochter des Helmstedter Mediziners und Juristen Hermann Coming (1606 bis 1681). Sie heiratete den Mediziner Professor Christoph Schellhammer. - Johann Andreas Rüdiger, ein bekannter Drucker und Verleger, erhielt von

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Friedrich Wilhelm I. das Privileg für den Druck einer Zeitung, deren erste Ausgabe am 25. Februar 1721 unter der Nr. 24 als „Berlinische privilegierte Zeitung" erschien. Als sie später an Christian Voss überging, erhielt sie den zusätzlichen Titel „Vossische Zeitung". Insgesamt umfassen beide Werke 910 Seiten und Tafeln, von denen der Herausgeber nur rd. 100 wiedergibt, die wesentlichen beiden Vorreden aber vollständig. Die Gestaltung der Menüs und das Anrichten der Speisen werden von der Autorin sorgfältig beschrieben. Die Vielzahl der Rohstoffe auch aus Übersee und die Vielfalt der Gewürze verblüffen in einem Buch, das auch in der Teilausgabe einen Eindruck von Kochsitten und Servicebräuchen des 17. Jahrhunderts in Berlin vermittelt. Dieses Brandenburgische Koch-Buch wird auch in dem vergnüglichen Werk des Küchenchefs Fritz Becker erwähnt, das sich in seiner künstlichen Alterung und mit seinen faksimilierten Notizen wie ein Gebrauchsbuch gibt, dem man die Spuren fleißiger Benutzung in der Küche ansieht. Bei Teltower Rübchen verzeichnet eine Feder am Rand: „ganz gut", doch sei dem Rezensenten die Frage erlaubt, wo es denn heute Teltower Rübchen gibt. Lorbeerblätter zwischen die Seiten verstreut vermitteln gleichfalls den Eindruck fleißiger Benutzung und weniger stillen Heldentums in der Küche. Die einleitenden Kapitel bringen viel Historie. Man erfährt beispielsweise, daß Wilhelm von Humboldt 1797 Goethe zwei Fäßchen Kaviar nach Weimar schickte und daß im selben Jahr Professor J. S. Halle ein Rezept verrät, wie man Limonadenpulver mit einem vollkommenen Limonadengeschmack herstellen kann. In den 20er Jahren (um beim Kaviar zu bleiben) verbrauchte das Weinrestaurant Kempinski, Friedrich-, Ecke Leipziger Straße, täglich zwei Zentner Kaviar, drei Zentner Hummer, 30 000 Krebse und 20 000 Austern, wenn auch nur 18 000 Brötchen. Wer sich für Getränke interessiert, findet von Ambrosiatrank bis Waldmeisterbowle auch unbekannte flüssige Genußmittel. Sybille Schall, die sich ja auch auf anderen literarischen Gebieten wacker geschlagen hat, setzt sich in ihrem Buch „Bier is ooch Stulle" kenntnisreich und vergnüglich mit der Berliner Küche auseinander. Sie hat ihren umfangreichen Zettelkasten umgestülpt und daraus eine so lesbare wie lesenswerte Abhandlung über Berlin, seine Küche und seine Getränke (siehe Titel!) gestaltet, selbst wenn ihr dabei der Anachronismus unterlaufen ist, daß sie Fidicin 1842 seine Berlinische Chronik im Auftrag des Vereins für die Geschichte Berlins schreiben ließ, der doch erst 1865 gegründet worden ist. Nach dem großen Brand des Jahres 1380 stellte Markgraf Johann von Brandenburg dem Hofapotheker Johannes Tempelhoff das Privileg des Ratsapothekers aus. Daß er von den Nonnen des Spandauer Klosters einen Kräuterlikör nach dem Rezept eines Ettaler Mönches übernommen hat, ist ihm zu glauben; daß er aber für den Kurfürsten den bis heute bekannten „Sauern mit Persiko" gemixt haben soll, nimmt einem die Wissenschaft sicher nicht ab. Dem Berliner Bier läßt die Autorin Gerechtigkeit widerfahren, und auch der traurige Weg des Berliner Weines, der durch Panschen genießbar gemacht werden konnte, wenn er nicht doch schließlich noch zu Mostrich verarbeitet wurde, ist in einem Kapitel nachzulesen. Am Schluß fuhrt die Autorin ihre Leser ins „Jrüne", beispielsweise auf den Spandauer Berg zu Bock und Zibbe, und zitiert einen Ausflügler: „Juta Mond, wenn ick Dir seh' machste mir jroße Plage, Du bist im Jahr nur zwölfmal voll, und ick bin's alle Tage" Luise Lemke präsentiert eine Fülle von Kochrezepten, gemischt mit Witzen, Berliner Versen, Küchenliedern und Histörchen, etwa der folgenden Art: Ein Vater macht mit seinem Jungen einen Ausflug. Sie kehren in eine Gastwirtschaft ein, in der sich der Vater eine Bockwurst bestellt. Fragt der Junge: „Vata, ißte etwa die Wurscht alleene?" Der Vater nach kurzem Nachdenken: „Haste eijentlich recht, ich werd ma'n Kartoffelsalat dazu bestellen." Das dazu gehörige Rezept: Bockwurst mit Kartoffelsalat. Feinschmeckern seien aber eher Berliner Bierhähnchen (S. 39) oder Aal in Weißbiersoße (S. 51) empfohlen. Die Getränke einschließlich der Rezepte und einer „Berliner Weinkarte" findet man weiter hinten in diesem vergnüglichen Buch. „Aus dem Kochherd zieht die Menschheit ihre Kraft!" - So zitiert Felix Henseleit ein Kochbuch aus dem Jahre 1890. Er hat im Band 35 der Berlinischen Reminiszenzen von Haude & Spener den gescheiten Textteil zu verantworten, Walter Bickel ist für die berlinischen Rezepte zuständig. Hoffentlich geht es den Nutznießern (den aktiven wie den tatsächlich genießenden) dieser Rezepte so wie jenem Berliner Ehemann, der allabendlich nach der Arbeit sein Mahl stumm hinunterschlingt und auf die angstvolle Frage seiner Frau, als diese sich einmal ein Herz faßt, ob es auch geschmeckt habe, die klassische Antwort gibt: „Wenn ick nischt sage, schmeckts!" H. G. Schultze-Berndt 556

Eingegangene Bücher

(Besprechung vorbehalten)

Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen: Das Haus Hohenzollern 1918-1945, 61 Seiten Dokumente in Faksimile. Albert Langen - Georg Müller Verlag GmbH, München/Wien 1985. Earl F. Ziemke: Die Schlacht um Berlin. Dokumentation 1968, deutsche Übersetzung 1982, Arthur Moewig Verlag Taschenbuch GmbH, Rastatt. Uwe Friesel: Das Ewige an Rom oder vergebliche Versuche in Berlin zu landen. Erzählungen. Taschenbuch, Postskriptum Verlag GmbH, Hannover 1985. Ursula Naumann: Charlotte von Kalb, eine Lebensgeschichte (1761-1843). J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1985. Dominik Bartmann: Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im deutschen Kaiserreich. Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin 1985. Pjotr A. Abrassimow: 300 Meter vom Brandenburger Tor. Erinnerungen eines Botschafters. Aus dem Russischen von Juri Sharow, deutsche Bearbeitung Harro Schweizer. Quadriga Verlag J. Severin, Berlin. Deutsche Oper Berlin, Generalintendant Prof. Götz Friedrich: Spielzeit 1981/82, Beiträge zum Musiktheater I. Ludwig Hüttl: Der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm v. Brandenburg. Heyne Biographien, Wilhelm Heyne Verlag, München, Taschenbuchausgabe 1984. Dipl.-Ing. Kurt Kurfiss, Architekt BDA. Ein Zehlendorfer Architekt. Mit 276 Abbildungen und Zeichnungen, z.T. in Farbe. Kurt Kurfiss Verlag, Berlin-Zehlendorf 1985. Schriftenreihe zur Internationalen Bauausstellung Berlin 1984. Modelle für eine Stadt, die Neubaugebiete, Dokumente, Projekte 1. Wolf Jobst Siedler Verlag GmbH, Berlin 1984. Berlin und seine Bauten. Teil X Band B, Anlagen und Bauten für den Verkehr (2) Fernverkehr. Ernst & Sohn, Verlag für Architektur und Technische Wissenschaften, Berlin 1984. Friedrich der Große, Herrscher zwischen Tradition und Fortschritt. Bertelsmann Lexikothek Verlag GmbH, Gütersloh 1985. Karl Otmar von Aretin: Friedrich der Große, Größe und Grenzen des Preußenkönigs, Bilder und Gegenbilder. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1985. Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in einem Arbeiterbezirk - Wedding - 1933-1945. Informationszentrum Berlin, Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße. Luther und die Reformation im Herzogtum Preußen, Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1983. Georg Holmsten: Die Berlin-Chronik, Daten, Personen, Dokumente. Drostes Städte-Chronik, Verlag Droste GmbH, Düsseldorf 1984. F. Klaschka / K. Rauhut, Herausgeber: 1000 Jahre Dermatologie in Berlin. Beiträge und Aufzeichnungen anläßlich der Festsitzung der Berliner Dermatologischen Gesellschaft am 12. und 13. Februar 1982 in Berlin. Grosse-Verlag, Berlin. Gerhard Holtz-Baumert: Die pucklige Verwandtschaft. Aus Kindheit und Jugend in Berlin 017 und Umgebung. Roman. Verlag Neues Leben, Berlin 1985; Lizenzausgabe f. d. Weltkreis Verlags GmbH, Dortmund 1986. Ernst Schumacher, Herausgeber Dr. Christa Neubert-Herwig: Berliner Kritiken, Band IV, 1979-1984. Henschel Verlag Kunst und Gesellschaft, DDR-Berlin 1986. Theodor Schieder: Friedrich der Große, ein Königtum der Widersprüche. Ex-Libris-Ausgabe. Ullstein Verlag, Berlin 1986. Michael S. Cullen und Wolfgang Volz, Herausgeber: Christo: Der Reichstag. Suhrkamp Taschenbuch 960, erste Auflage 1984. Bernd Schimmler: Recht ohne Gerechtigkeit. Zur Tätigkeit der Berliner Sonder-Gerichte im Nationalsozialismus. Wissenschaftlicher Autoren-Verlag GmbH, Berlin 1984. Aras Ören: Bitte nix Polizei. Kriminalroman. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff. ClaasenVerlag GmbH, Düsseldorf. Adolf Max Vogt: Karl Friedrich Schinkel. Blick in Griechenlands Blüte. Ein Hoffnungsbild für „SpreeAthen". Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, 1985. Margot Apostol: Berliner Herz. Berliner Töne, Heitere Gedichte. J. G. Bläschke Verlag, A-9143 St. Michael.

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Wie das Leben lernen ... Kurt Löwensteins Entwurf einer sozialistischen Erziehung, Beiträge und Dokumente, 1985. Satz und Gesamtherstellung Limone, Berlin. Reinhard Bolk: Das Krankenhaus Am Urban. Medizingeschichtliche Untersuchung eines Krankenhauses der Stadt Berlin 1887-1945. Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn, 1984.

Aus dem Vereinsleben Historische Berliner Friedhöfe und die Berliner Bildhauerschule Am 9. Februar 1987 griff der Verein mit seiner Veranstaltung ein Thema auf, das immer regeres Interesse erweckt. Es referierte Frau Dr. Sibylle Einholz über „Die historischen Berliner Friedhöfe und die Berliner Bildhauerschule". Die aus eingehender Kenntnis durch wissenschaftliche Mitarbeit bei Professor Dr. Bloch gewonnenen Ausführungen gewannen bei der zahlreich erschienenen Hörerschaft nicht nur deshalb Zustimmung, weil das Thema immer beliebter wird (durch zahlreiche neuere Publikationen), sondern auch weil ein langes geübtes Verdikt der Kunst des späten 19. Jahrhunderts, als „Historismus" verketzert, endlich revidiert wurde. Es machte betroffen zu hören, wie tiefgreifend die lange Vernachlässigung dieser Forschung und Sicherung schon gewirkt hat. Seit den ersten Inventarisierungsarbeiten von Professor Bloch und seinen Mitarbeitern (siehe seinen ersten Bericht in: „Berliner Forum" 1976, Heft 9) vor 15 Jahren kann man jetzt vom „Abenteuer der Wiederentdeckung der Berliner Bildhauerschule" sprechen. - Bisher war wenig bekannt, daß sich seit den Zeiten Friedrichs des Großen und dem von ihm geförderten Hofatelier (besetzt mit Bildhauern von akademischer Bildung) eine Berliner Bildhauerschule ausgebildet hatte, die führend in Preußen war und darüber hinaus Weltgeltung hatte. Verfolgt man ihre Entwicklungslinie von etwa 1780 bis in das zweite Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, beobachtet die Kunstgeschichte eine Entwicklungslinie von der individuellen, oft gefühlsbetonten Denkmalskunst des 19. Jahrhunderts zum Verfall in das unpersönliche, zuweilen nichtssagende Mahnmal nach dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. „Es gilt, die Entwicklung des Grabmals von 1800 bis 1920 auf das dahinterstehende Menschenbild zu befragen, auf Lebens- und Todeserfahrung der Generationen" (Bloch, a. a. O., S. 6). Die Tradition der Grabmalsplastik und -architektur geht auf Schlüter und seine Schüler zurück. Friedrichs des Großen Hofatelier beschäftigte vorzugsweise Niederländer und Franzosen, die in der Arbeit mit Marmor ausgebildet waren; die einheimischen Bildhauer arbeiteten nach einer Entwurfszeichnung in Gips oder Sandstein; das Material wurde ihnen sparsam zugeteilt. Aus dieser Zeit findet sich das Grabmal mit spätbarocken Urnen, Vasen und Putten. Nach 1786 bekamen die Künstler freiere Hand, und damit begann eine so reiche Entfaltung, daß etwa 1000 Künstlernamen aufgeführt werden könnten. Die denkmalsforschende und -konservierende Arbeit hat sich aber bisher vor allem auf die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor und an der Bergmannstraße beschränkt, nachdem zuvor der Matthäikirchhof aufgearbeitet worden war; zur Verdeutlichung zog die Referentin einige Beispiele vom Luisenstadtfriedhof und dem von Zwölfapostel heran. Allein in dieser Beschränkung sind 60 Namen aufzuführen. Anhand der gezeigten Bildbeispiele erkennt man in der Sepulkralkunst des 19. Jahrhunderts vier Phasen, die erste mit J. G. Glume beginnend, welche man idealistisch nennen kann, weil antike Todesvorstellungen in ihr Ausdruck finden (Beispiele: Grabmal Fleck von 1803 / Hallesches Tor und Moehsen / ebd.). Die zweite Phase beginnt mit Schadow und Rauch, neben ihnen Tieck und Thorvaldsen, der die Gestalt der Spes und des segnenden Christus in die Denkmalskunst einführte. Sie liegt zwischen 1820 und 1870 und zeigt den „bürgerlichen Grabmalstil, der Wert und Würde des Verstorbenen in den Mittelpunkt stellt" (Bloch, a. a. O., S. 9). Es folgt die dritte Phase, die der Rauchschüler, mit Drake (Grabmal Graefe) und Afinger und Encke (Grabmal Duncker / Hallesches Tor). Sein Schüler Hugo Hagen schuf 1865 den beliebten trauernden Grabengel, der sich auf vielen Friedhöfen der Zeit wiederfindet und in Verkaufskatalogen der Steinmetzfirmen auftaucht. Es ist die Gründerzeitgeneration, erkennbar an den mächtigen Wandgräbern mit Bildnismedaillons oder Büsten (Beispiel: Bethel Strausberg in Reinickendorf oder Grabmal Krause / Bergmannstraße). Mit Fritz Schaper (Ehepaar Koerner / Luisenstadtkirchhof) folgt die vierte Phase, die der Rauchenkel wie Siemering und Encke, Reinhold Begas, Eberlein, Uphues und Klinisch, auch Ignaz Taschner. Mit Klimsch (Grabmal Virchow von 1910 / Matthäikirchhof) und Taschner (Allegorie „Das Leid" / Hallesches Tor, ferner Grabmal Bennewitz von Loefen / Hallesches Tor oder das Einsiedelgrabmal von Schott / 558

Hallesches Tor) löst sich die Bildplastik von den neubarocken Formen und geht in den Jugendstil oder die klassizistische Sachlichkeit (Grabanlage Stresemann auf dem Luisenstadtkirchhof) über. - Es kann nicht die ganze Fülle der gezeigten Grabmäler genannt werden; wer sich auf den historischen Friedhöfen ein wenig auskennt, bekam hier ein geistiges Feld aufgezeigt, das seiner Erkenntnis weiterhilft. So reich, wie kein Museum sie repräsentieren kann, ist nicht nur das geistesgeschichtliche Zeugnis dieser Friedhofskunst, sondern auch sein kunsthistorisches. Wie reich wäre es erst, könnten die historischen Friedhöfe im Ostteil der Stadt in die Betrachtung einbezogen werden! Der Verein für die Geschichte Berlins erfüllt gern die Aufgabe, diesen Wandel in der Betrachtung nachzuzeichnen und ihn einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hingewiesen sie auch auf die Buchbesprechungen des Vereins über „Museum Friedhof und „Der Jüdische Friedhof in Weißensee" und „Der historische Friedhof" in den Mitteilungen Heft 4/1986 und 1/1987. Christiane Knop

Neue Mitglieder Eberhard Diepgen, Telefon 4 96 23 80 (Geschäftsstelle) Regierender Bürgermeister von Berlin Werner Heegewaldt, Student Rathaus Schöneberg Seelingstraße 41,1000 Berlin 19 1000 Berlin 62 (Hamecher) Telefon 3 22 87 87 (Geschäftsstelle) Irmgard Katein Andreas Koska, Student Langenburger Straße 29, 2059 Buchen Zimmermannstraße 17.1000 Berlin 41 (Than) Telefon (0 4155) 33 38 (Leichter) Otto Kowarschik, Architekt i. R. Claus-Jürgen Frank, Verleger Teltower Damm 150, 1000 Berlin 37 Dr.-Werner-Straße 5, 8038 Gröbenzell Telefon 81514 90 (Veranstaltung 9. Mai) Eva Maroldt Peter Wespermann, Univ.-Angest. Neheimer Straße 57,1000 Berlin 27 (Koepke) Xantener Straße 2,1000 Berlin 15 Willi Burger, Direktor der Telefon 8 83 37 48 (Geschäftsstelle) Sparkasse der Stadt Berlin West Mark White, Incomingbearbeiter Wilhelmsaue 15, 1000 Berlin 31 Arcostraße 10/12,1000 Berlin 10 Telefon 8 83 37 48 (Oxfort) Telefon 3 42 52 53 (Knop) Prof. Dr. Eckart Eisner, Statiker Siegfried Winke. Dipl.-Ing. Goß weinsteiner Gang 20 a, 1000 Berlin 22 Kamener Weg 38,1000 Berlin 27 Telefon 3 65 37 82 (Kutzsch) (Geschäftsstelle) Gisela Fechler, Lehrerin Klenzepfad 32, 1000 Berlin 51

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Veranstaltungen im III. Quartal 1987 1. Sonnabend, 11. Juli 1987,10.00 Uhr: Ortsteilbegehung Bezirk Mitte. Leitung: Herr HansWerner Klünner. Treffpunkt: U-Bhf. Friedrichstraße, Ecke Georgenstraße. Tagesvisum für Berlin erforderlich. (Nur für Mitglieder.) 2. Sonnabend, 25. Juli 1987, 10.00 Uhr: Ortsteilbegehung Südliche Friedrichstadt. Leitung: Herr Hans-Werner Klünner. Treffpunkt: U-Bhf. Kochstraße, Nordausgang. 3. Sonnabend, 22. August 1987, 10.00 Uhr: Ortsteilbegehung Neukölln, Böhmisches Dorf. Leitung: Herr Manfred Motel. Treffpunkt: Alte Schmiede auf dem Richardplatz. 4. Freitag, 11. September bis Montag, 14. September 1987: Studienfahrt nach Trier. Leitung: Herr Dr. Hans Günter Schultze-Berndt. 5. Sonnabend, 19. September 1987, 10.00 Uhr: Wanderung von Tegel nach Lübars. Leitung: Herr Joachim Hans Ueberlein. Treffpunkt: U-Bhf. Tegel, Ausgang Alt-Tegel.

Bibliothek: Otto-Suhr-Allee 96 (Rathaus), 1000 Berlin 10, Telefon 34 30-22 34. Geöffnet: mittwochs 16.00 bis 19.30 Uhr. Vorsitzender: Hermann Oxfort, Breite Straße 21,1000 Berlin 20, Telefon 3 332408. Geschäftsstelle: bis 30. April 1987 beim Schriftführer (siehe nachstehend), vom l.Mai 1987 an bei der Schatzmeisterin (siehe zwei Zeilen weiter). Schriftführer: Dr. H. G. Schultze-Berndt, Seestraße 13, 1000 Berlin 65, Telefon 4509-291. Schatzmeister: Frau Ruth Koepke, Temmeweg 38, 1000 Berlin 22, Telefon 365 7605. Konten des Vereins: Postgiroamt Berlin (BLZ 10010010), Kto.-Nr. 433 80-102,1000 Berlin 21; Berliner Bank AG (BLZ 10020000), Kto.-Nr. 03 81801200. Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich. Herausgeber: Verein für die Geschichte Berlins, gegr. 1865. Schriftleitung: Günter Wollschlaeger, Kufsteiner Straße 2,1000 Berlin 62; Dr. Christiane Knop, Rüdesheimer Straße 14,1000 Berlin 28. Beiträge sind an die Schriftleiter zu senden. Abonnementspreis ist durch den Mitgliedsbeitrag gedeckt. Bezugspreis für Nichtmitglieder: 16 DM jährlich. Herstellung: Westkreuz-Druckerei Berlin/Bonn, 1000 Berlin 49. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Schriftleitung.

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Tcdiabt. derCer:;ner Stadtbibliothek ^

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MITTEILUNGEN DES VEREINS FÜR DIE GESCHICHTE BERLINS G E G R Ü N D E T 1865 83. Jahrgang

Heft 4

Oktober 1987

Clara Oenicke (1818-1899), Porträt der Antoinette Alma Pohl geb. Dufresne, geb. 1815 in Berlin, Ölbild

Wilhelminisches Mäzenatentum am Beispiel des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin Von Erika Schachinger Der Verein der Berliner Künstlerinnen e.V. kann 1987 auf eine 120jährige Geschichte zurückblicken. Er wurde am 13. Januar 1867 unter dem Namen „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin" mit dem Ziel gegründet, talentierten Frauen eine künstlerische Ausbildung zu geben und sie in jeder Hinsicht zu unterstützen. Da den Frauen der Zugang zur Akademie (Hochschule) versperrt war und sie nur selten mit Männern ausstellen durften, selbst wenn sie sich privat ausbilden ließen, bedeutete für sie die Vereinsgründung als Interessenverband einen großen Fortschritt. Hier soll nicht ein Überblick über die Geschichte des Vereins gegeben werden, den man in dem Aufsatz von Uschi März1 nachlesen kann. Auch sollen nicht einzelne Künstlerinnen als Mitglieder des Vereins hervorgehoben werden, von denen Käthe Kollwitz für uns heute zweifellos die bedeutendste ist. Anhand von Unterlagen aus dem Zentralen Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg, soll hier lediglich das Wilhelminische Mäzenatentum mit Bezug auf den Verein dargelegt werden. Die Künstlerinnen Clara Oenicke, Rosa Petzel und Marie Remy sind als die eigentlichen Gründerinnen des Vereins anzusehen. Sie hatten sich bei akademischen Malern privat ausbilden lassen.2 Bei ihrer Vereinsgründung hatten sie von Anfang an die Unterstützung des bekannten Präsidenten Wilhelm Adolf Lette, der - seit langem in der Mädchen- und Frauenbildung engagiert - die Vereinssatzung entwarf. Außerdem standen ihnen zur Seite: die Maler Oskar Begas (ein Bruder des Bildhauers Reinhold Begas) sowie Julius Schrader, der an der Berliner Akademie lehrte; ferner der Schulrat Bormann und der Industrielle Werner Siemens, dessen Familie auch nach seinem Tode 1892 dem Verein weiter hilfreich beistand.3 Von Anfang an konnte der Verein auch mit der Unterstützung durch das Königshaus rechnen, für dessen Angehörige die Übernahme von Schirmherrschaften Ehrensache war. Hinzu kam, daß einige Mitglieder des Vorstandes des Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen ihre Kontakte zum Hof immer wieder geschickt zugunsten des Vereins zu nutzen verstanden. Die Königin-Witwe Elisabeth (gest. Ende 1873) wurde seine erste fürstliche Gönnerin.4 Bereits Ende 1867 wandte sich Auguste von Sandrart, „Genre-Malerin" und Vorsitzende der Ausstellungskommission des Vereins, an Wilhelm I. mit der Bitte, die Ausstellung mit einem Besuch „zu beehren" und „einige Ankäufe" zu „befehlen", weil dies „die Künstlerinnen zu immer würdigerem Streben ermuthigen" würde. Als Nichte des Generals von Sandrart („Euer Königliche Majestät haben meiner Familie stets so hohe Gnade gewährt.. "f konnte sie mit der Erfüllung dieser Bitte rechnen. In der Tat sollte sich der König und spätere Kaiser als großzügiger Förderer des Vereins erweisen. Neben Auguste von Sandrart, der späteren Gräfin Posadowski, war auch die langjährige erste Vorsitzende des Vereins eine Dame der Gesellschaft: Charlotte Duncker geb. Gutike (1819-1890), eine Arzttochter aus Halle/S., war die Gattin des Politikers und Historikers Max Duncker6, der 1867 die Leitung der preußischen Staatsarchive übernahm und 1873 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde. Den ersten Vorsitz im Verein übte sie mehr als zwanzig Jahre aus. Charlotte Duncker stand in einem freundschaftlichen Verhältnis zu der verwitweten Gräfin Maximiliane von Oriolla geb. von Arnim, die die Vereinswünsche dem Herrscher über ihre vertrauensvollen Kontakte zu C. von Wilmowski, dem Geheimen Kabinettsrat Seiner Majestät, nahezubringen wußte.7 Die Schwägerin dieser Gräfin, ebenfalls eine Gräfin, Luise von Oriolla, war Palastdame 562

Ihrer Majestät. Um sich von dieser abzuheben, vergaß sie bei Unterschriften nicht, ihren berühmten Geburtsnamen hinzuzufügen, wobei sie auch ihren verkürzten Vornamen benutzte, gleichsam als deutlichen Ausdruck ihres Willens: Gräfin Max von Oriolla geb. von Arnim (1818-1894). Das soziale Engagement ihrer Mutter Bettina von Arnim (gest. 1859) blieb auch für ihr Leben richtungweisend. Sicherlich ist es ihrer Verwendung zuzuschreiben, daß der König Ende 1869 dem Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin für seine Ausstellung die Atelierräume des früheren Corneliusschen Hauses am Königsplatz 1 (heute Platz der Republik), die seit dem Tode des damals berühmten Malers Peter von Cornelius 1867 der Akademie der Künste zur Verfügung standen, bereitstellen ließ. Hier wurden verkäufliche Originalarbeiten und Kopien von der Hand der Künstlerinnen des Vereins gezeigt; außerdem unverkäufliche Arbeiten der Schülerinnen der am 19. Oktober 1868 eröffneten Zeichenschule des Vereins sowie Gemälde und Zeichnungen aus dem Besitz der Ehrenmitglieder und der Kunstfreundinnen des Vereins, ebenfalls unverkäuflich.8 Der Herrscher besuchte diese Ausstellung in der Vorweihnachtszeit. Der Vereinsvorstand beeilte sich, ihm für seinen Besuch und seine „reichen Ankäufe" zu danken, wobei er nicht vergaß, sich auch nochmals für „die Gewährung des schönen Lokals", welche das Gelingen der Ausstellung „wesentlich gefördert" hatte, zu bedanken. Er vergaß auch nicht, den König um die „für uns so unschätzbare fernere Theilnahme zu bitten, die unsere oft rauhe Bahn so huldvoll und gnädiglich geebnet"9. Durch diesen Erfolg ermutigt, beschlossen die Künstlerinnen, die nächste große Ausstellung, die laut Satzung alle zwei Jahre stattfinden sollte, im Oktober und November 1871 in den Räumen der Königlichen Akademie der Künste, Unter den Linden 38, zu veranstalten, um die gleichrangige Qualität ihrer Arbeiten mit denen der männlichen Kollegen zum Ausdruck zu bringen. Mit Hilfe des Kastellans der Akademie wurden die geeigneten Räumlichkeiten dafür ausgespäht: zwei Säle mit dem dazugehörigen Korridor (hinter der Wagenerschen Galerie10), von der Universitätsstraße 7 aus zu erreichen und heizbar. Charlotte Duncker war sich dabei bewußt, „daß selbst die hohe Vergünstigung im königl. Schloß ausstellen zu dürfen, nicht so werthvoll u. förderlich für den Verein sein wird als die Bewilligung eines Lokals in der Akademie"11. Darum mußte sie nun mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kontakten kämpfen. Noch bevor die Ablehnung des entsprechenden Gesuchs aus der Hand der Gräfin von Oriolla geb. von Arnim durch den zuständigen Minister, Graf Eulenburg, erfolgte, hatte sich die Gräfin dem Geh. Kabinettsrat Seiner Majestät anvertraut.12 Wilmowski reagierte prompt aus Bad Ems, wohin er den Herrscher, der sich dort von den Strapazen des Deutsch-Französischen Krieges erholen wollte, begleitet hatte, und zwar mittels Telegramm an den Kanzleirat Manche am 15. Juli 1871: „Sache wegen Überlassung der Akademie Säle an Künstlerinnen Verein in Berlin ist anher zu senden."13 Angesichts der Fülle der Aufgaben in dem neu gegründeten Reich gelang es Wilmowski aber erst Anfang August, den Herrscher, nunmehr in Hamburg, auf diese Angelegenheit aufmerksam zu machen. Dem königlich-kaiserlichen Befehl, die Freistellung von Räumlichkeiten in der Akademie für den Verein in dem erbetenen Zeitraum zu ermöglichen, konnte sich nun Graf Eulenburg nicht länger widersetzen: Er ließ daraufhin sogar die von den Künstlerinnen ursprünglich erbetenen Räume für die Ausstellung, die der Kaiser dann auch besuchte, zur Verfügung stellen.14 Zwei Jahre später unterstützte Graf Eulenburg, als Minister des Innern - neben den Ministern der Justiz und der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten -, gegenüber dem Herrscher den Antrag des Vorstandes des Vereins, diesem die Rechte einer juristischen Person zu verleihen. Aus der ministeriellen Befürwortung des Antrages ist ersichtlich, daß die Lebensfähigkeit des Vereins dafür das ausschlaggebende Kriterium war. Dazu gehörte neben der 563

Bedeutung der Vereinsstatuten die stete Zunahme an Mitgliedern mit damals 74 Künstlerinnen und 327 Kunstfreundinnen sowie das Überwiegen der Einnahmen aus Mitgliederbeiträgen und Eintrittsgeldern gegenüber den Ausgaben. Gerade um seine Wirksamkeit für das Wohl hilfsbedürftiger Künstlerinnen zu erweitern und das Bestehen der „Zeichnenschule", die 1872 von 150 Schülerinnen besucht worden war, zu sichern, mußte der Verein bestrebt sein, in den Besitz weiterer Mittel durch Schenkungen und Vermächtnisse „im Genuß der Rechte einer juristischen Person" zu gelangen. Es war daher naheliegend, daß Wilhelm I. diesen Antrag am 19. Februar 1873 bewilligte.15 Noch in demselben Jahr äußerte der Vereinsvorstand den Wunsch „auf Verleihung eines Grundstücks,... für Errichtung eines Schulgebäudes auf königl. Grund und Boden", einen Wunsch, den Wilmowski sofort zurückwies, dafür aber eine Geldunterstützung des Kaisers in Aussicht stellte.16 Die Einnahmen der Zeichenschule hatten damals „grade ausgereicht"17, die Honorare der Lehrer und die Beschaffung der Lehrmittel zu decken, während die übrigen Kosten, vor allem die Miete, aus den Beiträgen der Vereinsmitglieder bezahlt wurden. Obwohl das Kultusministerium (Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten) an der Ausbildung von Zeichenlehrerinnen interessiert war, erhielt die Schule für diese öffentliche Aufgabe zunächst nur einen Zuschuß des Ministeriums von 300 bis 500 Rtl. jährlich für die Miete. Um die Schule in ihrem Ansehen zu heben, „bevor sie in den sicheren Hafen der ministeriellen Obhut einläuft", wie Charlotte Dunckerim September 1873 dem Geh. Kabinettsrat von Wilmowski schrieb18, wurde sie vom Einzugsbereich des Askanischen Platzes vorübergehend an den Dönhoffplatz verlegt, und zwar ebenfalls zur Miete, sieben Zimmer, vier Treppen hoch, in dem neu erbauten Hause des Grafen Renard. Die von Wilmowski in Aussicht gestellte königlich-kaiserliche Unterstützung in der von Frau Duncker erbetenen Höhe von 500 Rtl. ermöglichte es, die nun höhere Miete aufzubringen. Mit ihrem neuen Standort wurde die Schule näher an das politische und kulturelle Zentrum der Stadt gerückt. Hier am Dönhoffplatz befand sich das Preußische Abgeordnetenhaus, hier lag in der unmittelbaren Nähe das „Concerthaus"; und hier in der Umgebung hatte der Verein Berliner Künstler, zu dem sich der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen in Konkurrenz verstand, seine ständige Kunstausstellung (Kommandantenstraße 78). So hatte sich Wilhelm I. „der That nach" als „unser gnädiger Protektor" erwiesen, „seitdem der Verein ins Leben getreten ist", wie Charlotte Duncker dankbar äußerte19, noch bevor die erste fürstliche Gönnerin des Vereins, die Königin-Witwe Elisabeth, Ende 1873 verschied. Die Damen des Vorstandes waren sich aber durchaus bewußt, daß die Gnade des Herrschers da ihre Grenzen hatte, wo sie sich unversöhnliche Feinde schaffen würden, wenn sie von dieser Gnade - allzu häufig - Gebrauch machten. Dies wurde ganz deutlich 1875, als der neue Direktor der Akademie, Anton von Werner, dem Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen Räume in der Königlichen Akademie und im Cornelius-Haus verweigerte. Auch Rosa Falk („Frau Minister Falk"), seit etwa 1873 neben der Gräfin Max von Oriolla im erweiterten Vorstand des Vereins, konnte daran nichts ändern.20 Diese verzichtete bewußt darauf, sich an den Kaiser zu wenden, um Werner nicht „für immer zu verärgern", er würde „uns vollkommen feind werden", da er „ohnedem den Künstlerinnen nicht günstig ist", wie die Gräfin am 24. August 1875 Wilmowski schrieb.21 In einem zweiten Brief an ihn wurde sie noch deutlicher: „Er hat glaub ich eine gründliche Verachtung von Frauenleistung u. wird sie niemals unterstützen .. ,"22 Als Grund für seine Absage hatte Anton von Werner gegenüber Clara Oenicke einer der Gründerinnen des Vereins - erklärt, „er wolle die allerhöchste Genehmigung zum Bau eines Ausstellungsgebäudes dadurch erzwingen, daß er das Zustandekommen jeder Ausstellung in den bisherigen Lokalen verhindere"23. Seine Haltung ist im Zusammenhang mit den 564

Abb. 1: Clara Oenicke, Ölbild, vermutlich Susanne Pohl, geb. 1842 in Berlin, darstellend

beschränkten Ausstellungsmöglichkeiten im damaligen Berlin zu sehen. Tatsächlich setzte er auf diese Weise den Bau des provisorischen Kunstausstellungsgebäudes durch, das 1876 - an der Nordspitze der Museumsinsel24 neben dem von Schinkel erbauten Packhof - nach Plänen von August Orth errichtet wurde. Während die Gräfin Max von Oriolla geb. von Arnim noch mit Wilmowski vertraulich überlegte, ob dem Verein für seine Ausstellung frisch renovierte Fremdenzimmer im königlichen Schloß oder Räume im Marstall zur Verfügung gestellt werden könnten25 - beides lehnte Graf Pückler, der das Kgl. Hof-Marschall-Amt unter sich hatte, ab26 -, schritten andere Damen des Vorstandes zur Tat und mieteten zu dem Zweck schöne, aber teure Räume in der Leipziger Straße 136, I.Stock. Wegen der hohen Kosten für die zwei Monate dauernde Ausstellung (Miete nebst Einrichtung 1000 Taler) wurde die Gräfin erneut bei Wilmowski vorstellig.27 Dieser teilte ihr in vertraulicher Weise mit, daß Seine Majestät an vermehrte Bilderkäufe denke, um dem Verein - mittelbar - zu helfen, aber nicht an einen Mietzuschuß, 565

um nicht den Anschein zu erwecken, daß der Verein „nicht ohne besondere, von Allerhöchster Stelle ausgehende pekuniäre Unterstützungen bestehen könnte"28. Man darf annehmen, daß es Wilmowski war, der dem Herrscher diese Gedanken nahegelegt hatte. Auf Einladung des Vorstandes besuchte der Kaiser Ende November29 die - seit dem 17. Oktober 1875 laufende Ausstellung. Er wurde dabei von der Gräfin von Oriolla geb. von Arnim geführt, die ihn auf die soziale Lage verschiedener Künstlerinnen aufmerksam machte und ihn zu entsprechenden Ankäufen anregte. Darunter befanden sich Arbeiten der sehr armen Malerinnen Laudin und Heinke; diese war seit Monaten gelähmt. Die Bilderkäufe des Kaisers, der zweimal durch die Ausstellung ging und sich auch die unverkäuflichen Zeichnungen der Schülerinnen ansah, übertrafen alle Erwartungen: 6723 Mark konnte der Verein schließlich an Einnahmen verbuchen (6615 Mark für Bilder, 108 Mark für 54 Lose ä 2 Mark), während die Hofverwaltung nur mit Ausgaben in Höhe von etwa 3000 Mark gerechnet hatte.30 Besonders froh war die Gräfin darüber, „daß der Kaiser fast nur gute Bilder erhält, die man mit Freude ansieht. Alle Künstlerinnen schwimmen ja natürlich in Wonne und Glückseligkeit über des Kaisers Gnade, sie weinten wirklich Freudenthränen als er fort war." So die Gräfin in ihrem Dankschreiben31 an Wilmowski am 26. November 1875. Es versteht sich von selbst, daß auch der Verein dem Kaiser für seinen Besuch und seine reichen Ankäufe dankte, unterzeichnet von dem gesamten Vorstand.32 Nach Abschluß der Ausstellung ergab sich, daß die Kosten für Miete und Transport der Bilder durch die Einnahmen aus dem Eintritt und dem Verkauf der Lose gedeckt waren.33 Trotz der freundlichen Aufnahme der Ausstellung in der Berliner Presse ist eine gewisse Häme nicht zu übersehen, wenn dem Leser die altbekannten Vorurteile von „den Grenzen weiblicher Begabung und Beschäftigung,... ohne den Männern die Palme streitig zu machen"34, begegnen. Hatten sich die Frauen in ihrem Ringen nach „künstlerischer Tüchtigkeit und echt weiblicher Erwerbsfähigkeit"35 schon sehr zurückgenommen, so waren gerade diese Aspekte, Begabung und Selbstverwirklichung, die zentralen Angriffsflächen für hämische Bemerkungen. Am 1. April 1878 konnte der Verein wieder eine Ausstellung in den Räumen der Akademie eröffnen, und zwar im „Uhrsaal mit dem angrenzenden Linden-Corridor". Bei „festgehaltenen bescheidenen Preisen" wurde angesichts der Wirtschaftskrise infolge des sog. Gründerkrachs insgesamt weniger verkauft als sonst.36 Um so wertvoller war der Besuch hoher Herrschaften, der das Ansehen des Vereins förderte, nicht zuletzt durch die Berichte in der Presse. Gleich zu Beginn wurde die Ausstellung von dem Kronprinzenpaar besucht, später von der Kaiserin, in Begleitung des Großherzogs von Baden und seiner Gemahlin, der Tochter des Kaiserpaares. Gegen Ausstellungsende erschien der Kaiser, „welcher nicht nur durch Ankäufe von sehr bedeutendem Umfang dem Verein Seine huldvolle Protection angedeihen ließ, sondern auch durch die eingehendste Theilnahme für die Leistungen der Künstlerinnen und der Schule den Verein mit freudigem Muth und inniger Dankbarkeit erfüllte"37. Nach dem gescheiterten Attentat auf den Kaiser am 11. Mai 1878 sandte ihm der Verein einen Gruß, um ihm „seine Freude und dankbare Ergebenheit zu erkennen zu geben", in Form eines Gedenkblattes, ausgeführt von den Damen Block und Endeil, die beide der Schule des Vereins ihre künstlerische Ausbildung verdankten.38 Weitere Schreiben, Glückwunschschreiben der verschiedensten Art, legen ein beredtes Zeugnis ab von der vertrauensvollen Haltung des Vereinsvorstandes zum Kaiserhof. Aufgrund ihrer zahlreichen Verdienste um die Künstlerinnen wurde die Gräfin von Oriolla geb. von Arnim 1878 in den engeren Vorstand des Vereins gewählt. Das Kapital der Darlehns- und Unterstützungskasse des Vereins betrug damals - mit vier ausstehenden Darlehen von zusammen 566

Abb. 2: Antonie Eichler, Porträt von Theodor Fontane, Ölbild, 1872, verschollen (vgl. Anmerkung 18)

525 Mark - insgesamt 4270 Mark; das bei Dr. Werner Siemens niedergelegte Kapitalvermögen des Vereins betrug um diese Zeit dank großzügiger Förderung bereits 17344 Mark.39 So konnten die drei Gründerinnen, Clara Oenicke, Rosa Petzel und Marie Remy, noch erleben, daß der Verein, für den sie im Rahmen des Gesamtvorstandes nach wie vor tätig blieben, der damaligen Wirtschaftskrise durchaus standhalten konnte und weiter gedieh, auch in sozialer Hinsicht. 1879 wurde eine „Pensionskasse" gegründet, mit dem Ziel, den Künstlerinnen eine Altersrente zu verschaffen, deren Auszahlung die Satzung vom 31. Oktober 1885 regelte.40 Die Pensionskasse ist - wie auch die Krankenhilfe des Vereins - im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung Bismarcks zu sehen, die damals entstand. Abschließend läßt sich sagen: Gewiß hatte Wilhelm I. als Mäzen das Vorbild seines Bruders und Vorgängers Friedrich Wilhelm IV. vor Augen. Auch wenn er dessen Kunstverstand nicht besaß, so wußte er doch in hohem Maße um die Aufgabe und Verpflichtung, in kultureller Hinsicht zu wirken, zumal wenn es sich um eine menschlich gute Sache handelte. Daß seine Gemahlin und seine Schwiegertochter malten, dürfte dabei - wenn überhaupt - nur eine geringe Rolle gespielt haben.41 Für den Verein war es vorteilhaft, daß das Verhalten des Königs und Kaisers gewissermaßen tonangebend in der Gesellschaft war. Das Beispiel Wilmowski zeigt aber auch das große Verständnis für Kunst und die Bereitschaft, sich für sie einzusetzen, innerhalb der hohen Beamtenschaft dieser Zeit. Ausgeprägten Kunstsinn und eine entsprechende Einsatzfreudigkeit besaßen auch viele Frauen, nicht nur die Männer, der führenden Familien im Land, und zwar unabhängig vom Beispiel des jeweiligen Herrschers. Auch dies 567

war vorteilhaft für den Verein. Die Gräfin von Oriolla geb. von Arnim verkörperte in diesem Sinne eine für ihn gerade in seinen Anfangsjahren unschätzbare Kunstfreundin. Mit dem Tode Wilhelms I., der noch auf dem Sterbebett Bilder des Vereins zum Ankauf in Augenschein zu nehmen befohlen hatte 42 , änderte sich das Verhältnis des Vereins zum Kaiserhaus fast schlagartig, da der Nachfolger auf dem Thron, Friedrich HL, schon drei Monate nach seinem Vater, am 15. Juni 1888, einem Krebsleiden erlag. Durch den raschen Wechsel von Funktionen und Ämtern am Hof und im Geheimen Zivilkabinett - Wilmowski wurde in den Ruhestand versetzt43 - war der Zugang zu dem jungen Kaiser außerordentlich erschwert. Hinzu kam, daß Wilhelm IL ein großer Anhänger der repräsentativen Kunst war, wie sie durch Anton von Werner vertreten wurde. Dies dürfte der wesentliche Grund gewesen sein, warum das Verhältnis des Vereins zum Kaiser bis zu distanzierter Höflichkeit abkühlte.44 Zwar ergingen an den Monarchen noch Einladungen zu den Vereinsausstellungen in der Akademie der Künste, aber Bilderkäufe sind nicht mehr belegt. Der Verein war unterdessen so erstarkt, daß er der kaiserlichen Fürsorge nicht mehr bedurfte. Dank großzügiger Spenden aus Kreisen der Gesellschaft wurde 1911 der Bau eines eigenen Hauses am Schöneberger Ufer (Nr. 38, heute Nr. 71) möglich. In dem Bericht des Vereins für 1915/1916 heißt es: „Wider Erwarten hat sich die finanzielle Lage des Vereins trotz der schwierigen Kriegsverhältnisse nicht verschlechtert. Die Mitgliederbeiträge, die Einnahmen der Schule und gütige Zuwendungen von Kunstfreundinnen haben es uns ermöglicht, allen Anforderungen gerecht zu werden und die künstlerischen Bestrebungen unserer Mitglieder auch in dieser schweren Zeit zu fördern."45 Dieser Jahresbericht weist mit seinem Verzeichnis der Ehrenmitglieder, Künstlerinnen und Kunstfreundinnen auf bedeutende Familien aus Politik und Militär, Wirtschaft und Kultur der Kaiserzeit hin. Hinter den Mäzeninnen, gelegentlich mehrere aus einer Familie, standen deren Ehemänner und Väter, oftmals in sehr hohen Positionen. Hier können nur ganz wenige dieser Familien genannt werden, die auf ihre Weise - zum Teil auch später, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus - Geschichte gemacht haben: Delbrück (u. a. Bertha Delbrück geb. Gropius), Hardenberg (Gräfin Hardenberg geb. Dilthey), Liebermann (u.a. „Frau Professor Max Liebermann"), Mendelssohn, Mosse, Mühsam, Rathenau, Siemens, Trott zu Solz usw. Die Frauen dieser und anderer, weniger oder gar nicht bekannter Familien halfen dem Verein auch durch die für ihn schwierige Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Als seine jüdischen Mitglieder, deren Mäzenatentum einer eigenen Untersuchung bedarf, in der Hitlerzeit verfolgt wurden, konnte sich der Verein nicht mehr halten. Sein Haus mußte verkauft werden; seine Satzung wurde 1936 von der Reichskulturkammer vorgeschrieben.46 Schließlich löste sich der Verein gegen Ende des Zweiten Weltkrieges auf (letzte Ausstellung 1942 in „Schloß Schönhausen", d. h. Niederschönhausen).47 Heute kann der 1951 neu gegründete Verein Berliner Künstlerinnen e.V. voller Stolz und Dankbarkeit auf die Vereins vorgängerin zurückblicken, auf die Leistungen der Künstlerinnen und auf das Mäzenatentum der Kunstfreundinnen.

Anmerkungen Für Hinweise danke ich Frau Dr. Eva Börsch-Supan sowie den Herren Hans-Werner Klünner und Michael Nungesser. Für die Förderung der Reisen in das Zentrale Staatsarchiv, Dienststelle Merseburg (ZStA Merseburg), danke ich der Stiftung Preußische Seehandlung. Rtl. = Reichstaler (Taler), 1 Taler - 3 Mark t 568

1 Uschi März, Der „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin", in: Inge Huber u. Karoline Müller (Hrsg.), Zur Physiologie der Bildenden Kunst. Künstlerinnen, Multiplikatorinnen, Kunsthistorikerinnen. Berlin 1985-1987, S. 644-646. 2 Für Clara Oenicke siehe Ulrich Thieme und Felix Becker: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler, Leipzig 1907ff., Bd.25, S.569; außerdem: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd.52, S. 704, und: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, Bd. 4, 1899, S.276; für Rosa Petzel siehe Thieme und Becker, a.a.O., Bd. 26, S.510; für Marie Remy siehe Thieme und Becker, a.a.O., Bd. 28, S. 153. 3 Der Arbeiterfreund, Zeitschrift des Centralvereins in Preußen für das Wohl der arbeitenden Klassen, Berlin 1866, S. 451 f. Diese Zeitschrift war das publizistische Organ von W. A. Lette. Bei der Gründung des Vereins gehörten 29 Frauen - davon war eine verheiratet - zur „Klasse der Künstlerinnen", bis auf 6 in Berlin wohnhaft; 62 Frauen - darunter 41 verheiratete - gehörten zur „Klasse der Kunstfreundinnen", bis auf 10 in Berlin wohnhaft. Unter den 16 „Vorstandsdamen" befanden sich 7 Künstlerinnen. Außerdem gehörten 6 männliche Ehrenmitglieder dem Verein an; es kann davon ausgegangen werden, daß die bei der Gründung des Vereins tätigen Herren dazu zählten. Laut § 1 der von W. A. Lette entworfenen Satzung bezweckte der Verein: „... die Beförderung der gemeinsamen Interessen, wie die wechselseitige Unterstützung im Leben und in der Kunst alleinstehender Künstlerinnen; dabei die Einrichtung der verschiedenen sowohl für deren eigne Fortbildung, als zugleich für die tüchtige Ausbildung von kunstbeflissenen Schülerinnen nöthigen Unterrichtsgelegenheiten, insbesondre im Zeichnen, in Anatomie und Perspektive, weiterhin, um der Vereinsamung der Künstlerinnen entgegenzuwirken, die Errichtung eines gemeinschaftlichen Heimatshauses, in welchem sie nach Bedürfniß und Wunsch gegen ein mäßiges Entgelt Wohnung, Beköstigung und Ateliers finden können." Alle Angaben, a.a.O., S.452. Auf die Gründung des Vereins weist die damalige Tagespresse nicht hin. Das erst 1911 - dank großzügiger Spenden - verwirklichte „Heimathaus" nahm vor allem die 1868 gegründete Schule des Vereins auf. Wohnungen, wie Lette erhofft hatte, konnten den zahlreichen Künstlerinnen des Vereins dort nicht angeboten werden. 4 Karin Brommenschenkel, Berliner Kunst- und Künstlervereine des 19. Jahrhunderts bis zum Weltkrieg, phil. Diss., Berlin 1942, S.91. 5 ZStA Merseburg, Königliches Geheimes Civil-Kabinett, Rep. 2.2.1. Nr. 19935, S.lf.: Brief vom 18. November 1867. 6 Auf die interessante Persönlichkeit Max Dunckers kann hier leider nicht eingegangen werden, vgl. Neue Deutsche Biographie, Bd.4, S. 195 f. und Allgem. Dt. Biographie, Bd. 48, S. 171 ff., wo es auf S. 198 über Charlotte Duncker geb. Gutike heißt: „Seine geistreiche Gattin, die ganz in seinem Denken und Trachten aufging - es sei keine Frau, sondern ein Wesen, sagte Mathy von ihr..." Karl Mathy war badischer Staatsminister, gest. 1868. 7 Als Geh. Kabinettsrat war Freiherr C. von Wilmowski Chef des „Geheimen Kabinettes für die Civil-Angelegenheiten" bis 1888, Büro und Dienstwohnung: Leipziger Straße 76. Vgl. Anm. 43. Zu Oriolla (Oriola) siehe Gothaisches Genealogisches Taschenbuch . . . , Abt. 2, Gotha 1875, S. 619; Gotha 1941, S. 349. 8 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 3 f. 9 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 5 f. 10 Die - schon früher öffentlich zugängliche - Gemäldesammlung des Kaufmannes J.H. Wagener umfaßte rund 250 Bilder, die der Sammler nach seinem Tod 1861 dem damaligen Prinzregenten, dem späteren König und Kaiser Wilhelm I., vermachte. Sie bildete den Grundstock der 1876 eröffneten Nationalgalerie laut Baedekers Berlin und Potsdam, Separat-Abdruck aus Baedekers Nord-Deutschland, Leipzig 1878 (Freiburg 1987), S.48. 11 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 11 ff. 12 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 7ff. 13 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 6. 14 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 14 f. 15 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 16 f. 16 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 18. 17 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 18, auch für das folgende. 18 ZStA Merseburg, a.a.O., S. 18, Rückseite, auch für das folgende. Infolge ihres Wachstums wechselte die Schule mehrfach ihren Standort. In den siebziger Jahren befand sie sich in der Anhaltstraße 14 unter der Leitung der Malerin Antonie Eichler. Das Haus 569

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gehörte übrigens der Familie Gropius. Anfang der achtziger Jahre zog die Schule mit ihrer Leiterin um in die Königgrätzer Straße 120 (heute: Stresemannstraße). In diesem Gebäude, das dem Staat gehörte, wurde damals auch das Victoria-Lyceum untergebracht, nachdem das KunstgewerbeMuseum 1881 von dort in seinen Neubau, heute nach seinem wichtigsten Architekten Martin-Gropius-Bau genannt, einziehen konnte. Einige Jahre später - in den neunziger Jahren - zog die Zeichenund Malschule des Vereins mit dem Victoria-Lyceum in die Potsdamer Straße 39, wo die Schule bis zu ihrem Einzug am 1. Juli 1911 in das neu erbaute Vereinshaus am Schöneberger Ufer 38 blieb. Hier läßt sich die Schule nur bis 1934 nachweisen; nach 1935 erscheint sie nicht mehr im Berliner Adreßbuch. Dies muß im Zusammenhang mit der Verfolgung ihrer jüdischen Mitglieder gesehen werden, auch wenn entsprechende Untersuchungen noch ausstehen. Für alle Angaben siehe die Berliner Adreßbücher dieser Jahre. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 19. Sie war die Gattin des Ministers Falk (Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten), mit dem Bismarck den sog. Kulturkampf gegen die katholische Kirche führte. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 19, S. 38 u. Rückseite. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 29ff. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 39; aus dem Brief der Gräfin von Oriolla geb. von Arnim an den Geh. Kabinettsrat von Wilmowski vom 10. September 1875 ab S. 37 ff. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 31 f., aus dem Brief der Charlotte Duncker an die Gräfin von Oriolla geb. von Arnim vom 21. August 1875. Dort befindet sich heute das Bode-Museum, das 1897-1904 als „Kaiser-Friedrich-Museum" nach Plänen von Ihne errichtet wurde. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 30, Rückseite; S. 38, Rückseite, u. S. 39. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 43 f., Pückler an Wilmowski vom 13. September 1875. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 41 f., Brief vom 17. September 1875. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 47. Vermutlich am 23. November 1875, ZStA Merseburg, a.a.O., S.48 ff., auch für das folgende. Laut Aktennotiz, ZStA Merseburg, a.a.O., S.48; Aufstellung der Einnahmen, S. 53. ZStA Merseburg, a.a.O., S.49ff., auch für das vorhergehende; Zitat S.50. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 52. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 54, Rückseite. Die Ausstellung, die ein zahlreiches Publikum angezogen hatte, war in drei Teile gegliedert: Der größte Teil bestand aus den verkäuflichen Werken der dem Verein angehörenden Künstlerinnen; außerdem wurden die für die Verlosung zur Verfügung gestellten Kunstgegenstände - Gemälde, Fotos und „kunstindustrielle Arbeiten" - gezeigt. In einer dritten Abteilung waren die Arbeiten der Schülerinnen der „zu immer größerer Blüthe" gelangenden Zeichenschule des Vereins zu sehen. ZStA Merseburg, a.a.O., S.47. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 46, Zeitungsausschnitt ohne Angabe der Zeitung und des Datums, aber auf diese Ausstellung bezogen. So Charlotte Duncker an den Kaiser im September 1873. Zwar bezieht sich ihre Äußerung auf die Schülerinnen der Zeichenschule des Vereins, doch kann man davon ausgehen, daß der Inhalt ihrer Äußerung auch das Selbstverständnis vieler Künstlerinnen im Rahmen ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs widerspiegelt. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 20. Aus dem Rechenschaftsbericht des Vereins für 1876/77, veröffentlicht mit den neuesten Angaben im Juni 1878; ZStA Merseburg, a.a.O., S. 56 f., auch für das folgende. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 57. Siehe Anmerkung 37. Siehe Anmerkung 37. K. Brommenschenkel, a.a.O., S.92. Gebhard Zernin, Kaiser Wilhelm als Freund der Künste, in : Die Kunst für Alle, Jg. 3, München 1888, S. 222. Die Kronprinzessin Victoria scheint den Verein nicht gefördert zu haben, auf keinen Fall in den Anfangsjahren. Erst 1866 hatte Max Duncker, der Gatte der 1. Vorsitzenden des am 13. Januar 1867 gegründeten Vereins, seine Stellung als politischer Berater des Kronprinzen wegen grundlegender Meinungsverschiedenheiten mit Bezug auf Bismarcks Politik verloren. Noch 1875 argwöhnte die Gräfin von Oriolla geb. von Arnim, daß das Kronprinzenpaar „dem Verein nicht günstig" gesonnen sei, da sie sich bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für die Ausstellung des Vereins nicht

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unterstützt sah; ZStA Merseburg, a.a.O., S. 38. Das Kronprinzenpaar unterstützte aber Anton von Werner, vgl. Dominik Bartmann, Anton von Werner, Berlin 1985, S. 29 u. a.; Ludwig Pallat, Richard Schöne, Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin, Berlin 1959, S.212f. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 63 u. Rückseite. Adress-Kalender für die Königl. Haupt- und Residenzstädte Berlin und Potsdam sowie für Charlottenburg auf das Jahr 1889, Berlin 1889, S. 123. Zu Wilmowski (Wilmowsky) siehe Gothaisches Genealogisches Taschenbuch . . . , Abt. 3, Gotha 1889, S.987; Gotha 1941, S.571. Carl von Wilmowski (1817-1893) war vermutlich der Großvater der Künstlerin Klara von Wilmowski, die 1916 im Mitgliederverzeichnis des Vereins aufgeführt wird. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 85. Dies schließt einzelne Aufträge an diese oder jene Künstlerin von Seiten anderer Persönlichkeiten des Hofes nicht aus. Ein Vorgang gegen Ende der Monarchie kann das distanzierte Verhältnis zum Kaiser am besten beleuchten: 1918 wurde anläßlich des 50jährigen Bestehens der Schule eine Jubiläumsfreistellenstiftung gegründet, für die 500 Mark aus der kaiserlichen Schatulle gespendet wurden. Mit dem Dankschreiben an den entsprechenden Hofbeamten verband die damalige Direktorin der Schule, Hildegard Lehnen, die Anfrage: „Sollten wir Seiner Majestät ein besonderes Dankschreiben zu übermitteln haben, so bitten wir um gütige Benachrichtigung." ZStA Merseburg, a.a.O., S. 95. Eine solche Anfrage wäre zu Lebzeiten Wilhelms I. undenkbar gewesen! ZStA Merseburg, a.a.O., S. 77; Namens-Verzeichnis ab S. 82, Rückseite, u. S. 83 ff. Kassenstand ab S.80, Rückseite, bis S.82: Nach der Abrechnung der Einnahmen und Ausgaben, die sich jeweils deckten, betrug 1916 der Vermögensstand - der Vereinskasse 24.200 Mark in Form von Wertpapieren; - der Pensionskasse 183.404,67 Mark, hauptsächlich in Wertpapieren; - der Darlehns- und Unterstützungskasse 99.850 Mark; ein Teil davon in Wertpapieren. Die Schule, für deren Besuch Schulgeld erhoben wurde, erhielt 1915/16 Zuschüsse vom Staat (5.000 Mark) und von der Stadt (2.000 Mark). Die Einnahmen durch Schulgelder betrugen in diesem Zeitraum 35.906,45 Mark. ZStA Merseburg, a.a.O., S. 82. K. Brommenschenkel, a.a.O., S. 93. Die von Uschi März, a.a.O., S. 646, aufgestellte Behauptung, die Schule des Vereins hätte bis 1945 bestanden, läßt sich nicht belegen. Der schmale Katalog, „75 Jahre Verein der Künstlerinnen zu Berlin", Berlin 1942, läßt keine Rückschlüsse zu, wer als Gast oder als Vereinsmitglied ausstellte. Der dezimierte Verein bzw. sein Vorstand war sich nicht zu schade, in dem Katalogvorwort zu behaupten: „Was in früheren Jahren private Initiative für uns gewesen ist, wurde uns heute in großzügigster Weise vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und der Reichshauptstadt Berlin zuteil." A.a.O., S. 3. Ist dies der Grund, warum das Archiv des Vereins, dessen Reste merkwürdigerweise erst in der Nachkriegszeit verschwanden, „verloren" ging?

Abbildungsnachweis Titelbild: Foto und Gemälde im Besitz der Familie Engelbrecht, Berlin. Die Familien Oenicke, Pohl und Engelbrecht sind miteinander verwandt. Zu 1: Foto, leicht beschnitten, und Gemälde im Besitz der Familie Engelbrecht, Berlin. Die beiden Gemälde zeigen Mutter und Tochter. Der Ehemann und Vater Joseph Pohl war ursprünglich Porzellan-Maler bei der Königlichen Porzellan-Manufaktur und machte sich dann selbständig. Seine Familie verkaufte das von ihm bemalte Porzellan zweiter Wahl am Dönhoffplatz, wo das Geschäft sehr gut ging. - Clara Oenicke ist eine Cousine der Antoinette Alma Pohl, zu deren Nachkommen heute die Familie Engelbrecht gehört. Zu 2: Abb. aus: H.-W. Klünner, Theodor Fontane im Bildnis, in: Festschrift der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg zu ihrem hundertjährigen Bestehen, Berlin 1984, S. 295, Nr. 8. Die Abb. zeigt das Titelblatt von: Theodor Fontane, Kriegsgefangen. Aus den Tagen der Okkupation, Berlin (1909). Anschrift der Verfasserin: Erika Schachinger, Reichsstraße 28 a, 1000 Berlin 19

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Aus der Geschichte des Berliner Nachtwachdienstes um 1800 Von Dr. Otto Uhlitz f Im Archiv des Vereins für die Geschichte Berlins befand sich bis Ende des letzten Krieges ein Dokument des Regiments Kronprinz von Preußen vom Jahre 1797 mit eigenhändiger Unterschrift des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des späteren Königs Friedrich Wilhelm III., welcher seit 1790 Oberst und Chef des Regiments war.1 Das Dokument hatte folgenden Wortlaut: „Demnach Joseph Möhring aus Pohlen gebürtig, von des Major von Jeetze Compagnie unter meinem unterhabenen Regiment als Soldat 24 Jahre gestanden, mißt 8 Zoll 1 Strich, selbiger aber nach erhaltenem Nachtwächter-Dienst von den Kriegsdiensten entlaßen worden; als wird ihm hiermit sein Abschied ertheilet. Gegeben Potsdam, den 4. September 1797 (Regiments-Siegel) Friedrich Wilhelm" In den Akten der Polizeidirektion, der das Nachtwächterwesen in Berlin damals unterstand, befindet sich eine ganze Reihe derartiger Abschiedsurkunden. Mir stand leider insoweit nur der die Jahre 1797 bis 1799 umfassende Band VIII der das Nachtwächterwesen betreffenden Akten der Polizeidirektion zur Verfügung.2 In dieser Akte befinden sich die Regimentsabschiede für folgende ehemalige Soldaten, die allgemeines Interesse verdienen, weil sich aus ihnen wichtige Hinweise über die Herkunft der Soldaten der preußischen Armee in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und über die Herkunft der um 1800 eingestellten Berliner Nachtwächter ergeben. Die Abschiedsbriefe werden hier nur inhaltlich abgedruckt. 7. Dezember 1797: Der invalide Tambour Dietrich Lenz, 60 Jahre alt, aus dem Dorfe Mildenberg [bei Zehdenick] im Canton. Erhält den Abschied von Generalmajor von Arnim, Chef eines Infanterie-Regiments. 30. Dezember 1797: Der invalide Musquetier Caspar Nürnberg, 45 Jahre alt, gebürtig aus Schlimphof im Würzburgischen, röm.-kath., 26 Jahre gedient. Erhält den Abschied von Generalmajor von Arnim, wie eben. 8. Dezember 1797: Andreas Wagener, aus Sachsen gebürtig, von des Hauptmanns von Reck Compagnie, 25 Jahre gedient. Erhält den Abschied von des Kronprinzen Regiment, nachdem er mit einem Nachtwächter-Dienst in Berlin versehen ist. 2. Dezember 1797: Der Invalide Friedrich Edler, 46 Jahre alt, aus Pasewalk in Pommern, 15 Jahre bei den Leibhusaren gedient. Erhält den Abschied von Generalleutnant von Göckingen. 11. April 1790: Johann Gottlieb Mende, 47 Jahre alt, aus Sachsen gebürtig, 18 Jahre gedient, in des Capitains Penne Compagnie. Erhält den Abschied von dem Chef seines Regiments (Unterschrift unleserlich). 5. Februar 1798: Der Kanonier im Kgl. Feld-Artillerie-Corps Michel Weeg aus Berlin, 11 Jahre gedient, in des Capitains Faber Compagnie. Erhält den Abschied von General Merckel, Inspekteur der sämtlichen Artillerie. 26. Februar 1798: Christoph Mönck, 45 Jahre alt, aus Milnitz in der Altmark gebürtig, 27 Jahre gedient, in des Hauptmanns von Dieskau Compagnie. Erhält den Abschied von Generalmajor von Götze, Chef eines Regiments zu Fuß.

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Gm Ratelwache einer holländischen Stadt. Kupferstich unbekannter Herkunft aus der Zeit um 1730; Sammlung des Verfassers. Vorn der „Röper" (Rufer), hinten der sogenannte „Sliker" (Schleicher), der im verborgenen auf alles Verdächtige zu lauschen hatte. 573

21. Juli 1798: Der Kanonier vom Kgl. Feld-Artillerie-Corps Johann Kühnmann aus Wanzleben im Halberstädtischen, 20 Jahre gedient, in des Capitains von Strampff Compagnie. Erhält den Abschied von Generalleutnant Merckel, Inspekteur der sämtlichen Artillerie. 24. August 1798: George Beck, 53 Jahre alt, gebürtig aus dem Flecken Löhmingen im Anspachischen, 29 Jahre als Grenadier gedient. Erhält den Abschied von Oberst Henning von Kamecke beim Infanterie-Regiment Generalfeldmarschall von Mollendorff. 26. September 1798: Friedrich Sengespiek vom Regiment Gensdarmes, 37 Jahre gedient, in des Oberstleutnants Grafen von Schwerin Compagnie. Erhält den Abschied vom Chef des Regiments Generalmajor der Kavallerie (Unterschrift unleserlich). 11. Januar 1797: Johann Michel, 50 Jahre alt, gebürtig aus dem Dorfe Rosbach im Anspachischen, 27 Jahre als Musquetier gedient. Erhält den Abschied von Oberst Henning von Kamecke beim Infanterie-Regiment Generalfeldmarschall von Mollendorff. 19. Oktober 1798: Der Kanonier im Kgl. Feld-Artillerie-Corps Heinrich Spieß aus Barby in Sachsen, 21 Jahre gedient, in des Majors Wernitz Compagnie. Erhält den Abschied von Generalleutnant Merkatz. 6. Juni 1799: Musquetier Lohrens Burchers, 47 Jahre alt, gebürtig aus Hamburg, 16 Jahre gedient. Erhält den Abschied von Generalmajor von Arnim, Chef eines Infanterie-Regiments. 6. Oktober 1799: Musquetier Johann Weyrich von der Invaliden-Compagnie des InfanterieRegiments von Mollendorff erhält den Abschied, weil er als Nachtwächter in Berlin versorgt werden soll. 24. März 1797: Musquetier Johann Doebell, 54 Jahre alt, geboren in der Ortschaft Leffin im Mecklenburgischen, 34 Jahre gedient. Erhält den Abschied von Generalmajor von Arnim, Chef eines Infanterie-Regiments. 19. August 1796: Der invalide Musquetier Gottfried Nagel, 60 Jahre alt, aus Bucko(w) im Canton, 39 Jahre gedient, in der Compagnie des Majors von Linden. Erhält den Abschied von Oberst von Larisch, Chef eines Infanterie-Regiments. 24. März 1797: Paul Adam, 53 Jahre alt, gebürtig aus der Stadt Ried in Böhmen, in des Majors von Rapin Compagnie. Erhält den Abschied von Oberst von Kamecke beim Infanterie-Regiment Generalfeldmarschall von Mollendorff. 15. April 1790: Der Kanonier im Preuß. Feld-Artillerie-Corps Gottfried Hennig, aus Augstein in Altpreußen, 10 Jahre gedient. Erhält den Abschied von Generalmajor von Dittmar, GeneralInspekteur der Artillerie. Vermerkt ist ferner: Am 14. Januar 1799 wurde der Nachtwächter Papenfuß in die Charite eingeliefert. Daß die Abschiedsurkunden nicht in der Reihenfolge der Ausstellungsdaten vermerkt bzw. abgelegt wurden, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß die Bewerbungen zu unterschiedlichen Zeiten eingereicht oder berücksichtigt wurden. Nähere Feststellungen konnten leider nicht getroffen werden. Ch. Otto Bouillon hat damals zusammen mit der vom Kronprinzen ausgestellten Abschiedsurkunde für Joseph Möhring auch einen ebenfalls im Archiv des Vereins für die Geschichte Berlins aufbewahrten Briefwechsel des Berliner Buchhändlers Friedrich Nicolai mit dem Polizei-Direktor über den nachlässigen Dienst der Nachtwächter Spieß (vgl. das oben abgedruckte Verzeichnis, 19. Oktober 1798) und Schilewsky vom Jahre 1800 abgedruckt. Nicolai verwies bei dieser Gelegenheit darauf, daß ihm schon 1791 „von bösen Leuten" seine Gartenmauer im Grünen Weg nach und nach abgedeckt worden sei. Auf seine an den damaligen Präsidenten gerichtete Beschwerden seien die Nachtwächter angewiesen worden, den Grünen 574

Weg bis zur Rosengasse durchzugehen. Seit dieser Zeit sei seine Mauer verschont geblieben. Nun fange der Unfug wieder an. Es ist kaum anzunehmen, daß Friedrich Nicolai das folgende Loblied auf die nächtliche Sicherheit auf Berlins Straßen (Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, I. Band, 3. Aufl., Berlin 1786, S.402) geschrieben hätte, wenn er schon damals die eben geschilderten persönlichen Erfahrungen gemacht hätte: „Die öffentliche Sicherheit ist so vollkommen, als man es in einer so großen und volkreichen Stadt kaum vermuthen sollte. Es gehen viele Jahre vorbey, ehe man von einem Straßenraube höret, und fast niemals bleibt der Thäter unentdeckt; von Diebesbanden höret man selten, von Morde auf den Straßen gar nicht, von gewaltsamen Einbrüchen und andern beträchtlichen Diebstählen vergleichungsweise gegen andere große Städte, nicht viel. Man kann auf den Straßen die ganze Nacht hindurch eben so sicher gehen, als bey Tage. Diese Sicherheit hat man theils der Aufmerksamkeit der Polizey auf das Betragen aller verdächtigen Personen zu danken; theils tragen die Patrullen, welche auf Befehl des Gouvernements die wachhabende Garnison die ganze Nacht thut, die Nachtwächter, und die in allen Straßen, vom September bis May, brennenden Laternen nicht wenig dazu bey." In der von mir durchgesehenen Akte bin ich ebenfalls auf eine interessante, das Berliner Nachtwächterwesen betreffende Beschwerdeschrift gestoßen, mit der ein Bürger H. Weber am 20. Oktober 1808 bittet, „dem nachfolgenden Vortrage einige Aufmerksamkeit zu widmen und, wenn irgend möglich, zu realisieren". Wörtlich heißt es: „Alle menschliche Einrichtungen bleiben der Verbesserung fähig; ein Zeitalter nach dem anderen führt sie der Vollkommenheit näher zu. Wenn die Behörde, welcher die Obhut über irgendeine Einrichtung in der bürgerlichen Gesellschaft anvertraut ist (wie es rühmlicher Weise hier mit dem Kollegium der Fall ist, zu welchem ich zu sprechen die Ehre habe) aus gebildeten Männern besteht: so läßt sich erwarten, daß jeder Fingerzeig auf irgendeine bedeutende Unvollkommenheit günstig bemerkt, und jedem gutgemeinten Vorschlage zur Abhelfung irgend eines Mangels gern Gehör gegeben werden wird. Mit einer großen Unvollkommenheit behaftet, und deshalb ein großes Übel ist die Art und Weise der nächtlichen Bewachung unserer Stadt. Der Zweck derselben ist die bestmögliche Sicherung des Schlafs und Abwendung jeder Störung von der nächtlichen Ruhe des größten Teils der Bewohner unserer Stadt (denn die spezielle Absicht: Einbruch und Diebstahl zu verhüten, ist in jenem allgemeinen Zwecke mit begriffen). Und gerade diese nächtliche Ruhe wird durch niemanden ärger gestört, als durch die Personen selbst, welche zu ihrer Sicherung angestellt sind; ich meine die Nachtwächter. Ja, wenn es darauf abgesehen wäre, eine ganze Stadt auf einmal aus dem tiefsten Schlafe aufzuschrecken, so bedürfte es nur einiger solcher Nachtwächter, wie jetzt hier in der Gertrautenstraße einer auf eine höchst unbillige Weise mit seiner ungeheuren Knarre sein nächtliches Wesen treibt. Ist es ja, wegen der eignen Kontrollierung ihrer Wachsamkeit und ihrer Anwesenheit überhaupt, notwendig, daß diese Wächter stündlich ein lautes Zeichen von sich geben: so sollte man doch darauf bedacht sein, daß dies so behutsam als möglich geschehe, damit nicht die erste und letzte Absicht: Sorgefiir ungestörte Ruhe der am Tage arbeitenden und sich ermüdenden Menschenklasse geradezu dadurch vereitelt würde. Liegt denn dem Schläfer daran, alle Stunde zu erfahren, was die Glocke geschla575

gen? Wozu braucht der Wächter dies also mit einer Stimme zu verkünden, die ganz dazu geeignet ist, am jüngsten Tage die Toten zu erwecken? Warum begleitet er dies unnütze Geschrei noch durch einen Lärm mit der Knarre, der nicht allein Manchem - z. B. schwangeren Frauen - der ohne es zu wissen, Abends sich in der Nähe solches Kerls befindet, wenn dieser plötzlich die ungeheure Knarre schwingt, einen tötlichen Schreck verursachen kann (wie dies gewiß ein jeder schon erfahren): sondern auch notwendig Jeden, der in den nach der Straße herausliegenden Vorder-Zimmern schläft, alle Stunden aus dem Schlafe weckt, und ihm das Bett zu einem wahren Marterlager macht? Würde der Zweck: die Nachtwächter zu kontrollieren, ob sie wachsam auf ihrem Posten sind, nicht dennoch erreicht werden, wenn man ihnen allen, ohne Unterschied, ein Hörn gäbe, das keinen allzu unangenehmen Ton hat, in das sie, nach der Anzahl der Glockenschläge alle Stunden blasen könnten? Wozu der ekelhafte Singsang, oder das fürchterliche Gebrüll? Mein Antrag wäre also fürs Erste hauptsächlich auf Abschaffung der barbarischen Knarre gerichtet, und ich hoffe, denselben mit so triftigen Gründen ausgestattet zu haben, daß ich mir schmeichele, bald die Früchte dieser Vorstellung genießen, und eines ungestörten nächtlichen Schlafs mich erfreuen zu können. Berlin, den 20sten Oktober 1808 H. Weber" Bei der in der Bittschrift angesprochenen Knarre handelt es sich um ein aus einem Zahnrad bestehendes Holzinstrument, dessen Achse als Stiel dient, und einer Holzzunge innerhalb eines frei um den Stiel drehbaren Rahmens. Beim Herumschwingen schlägt die Zunge gegen die Zähne des Rades. Dadurch entsteht der vom Bittsteller beschriebene, von ihm als „Lärm" bezeichnete Schall, der seiner Meinung nach geeignet sein soll, „an jüngsten Tagen die Toten zu erwecken". „Knarre" ist ein ausgesprochen Berliner Ausdruck für dieses Instrument. Woanders wird es meist „Schnarre" genannt und diente anstatt des Horns als ein Attribut der Nachtwächter.3 In anderen Gegenden, besonders an der Küste ebenso wie in den Niederlanden, verwendete man die Bezeichnung „Ratel". Die Nachtwachen wurden daher z. B. in Hamburg und in Amsterdam auch Ratelwachen genannt (vgl. die Abb., die eine holländische Ratelwache mit der Ratel = Schnarre = Knarre zeigt).4 Während kleinere Instrumente als Spielzeuge der Kinderwelt angehörten, wurden größere gelegentlich in das moderne Sinfonieorchester einbezogen, z. B. von R. Strauss für den „Till Eulenspiegel"5. In Berlin wurden „Knarren" nur von den privaten Nachtwächtern benutzt, von denen es insbesondere in der Innenstadt in der Zeit um 1800 etwa 23 gab. Unser Petent hatte Erfolg. Den Privatnachtwächtern wurde mit Verfügung vom 27. Oktober 1808 verboten, weiterhin den Stundenwechsel mit der „Knarre" bekanntzugeben. Der zuständige Referent der Polizeidirektion bezeichnete den durch die „Knarre" erzeugten Schall als „nervenerschütternd". Am 11. November 1808 bedankte sich H. Weber „ehrerbietigst" für die so schnelle Erledigung seines Anliegens: „... Wo alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft zur Herstellung und Erhaltung des Guten und Besseren sich gutmütig die Hände bieten, und gern einander auf dem Wege dahin entgegen kommen, da muß und wird das Gute gedeihen, und allgemeine Zufriedenheit das Ganze beglücken. ..." Die Privatwächter sollten nunmehr ebenso wie ihre in städtischen Diensten stehenden Kollegen Hörner erhalten. Die Unternehmer ließen darauf 23 Hörner anfertigen (woraus geschlossen 576

werden kann, daß es damals 23 private Nachtwächter gab). Die in öffentlichen Diensten stehenden Wächter waren jedoch dagegen. Sie glaubten, einen höheren Rang zu bekleiden, weil sie der Polizeidirektion und der Stadt geschworen hatten. Die Privatnachtwächter riefen daraufhin die Stunden überhaupt nicht mehr ab. Damit waren viele Bürger nicht einverstanden; es gingen Beschwerdebriefe ein. Die Polizeidirektion wies schließlich den Kriegsrat Treblin an, dafür zu sorgen, daß die Privatnachtwächter sich tiefklingende Pfeifen anschaffen und sich dieser Pfeifen beim Stundenwechsel zu bedienen hatten. Auch sollten die Nachtwächter künftig mitten in der Straße und nicht an den Häusern die Stunden abrufen. Die Pfeifen genügten einigen Beschwerdeführern nicht. Sie seien, so behauptete man, kaum hörbar, vor allem nicht in nach hinten herausgelegenen Schlafzimmern. Bei Kälte frören sie sogar zu. Wenn der Gebrauch der „Knarre" aus irgendeiner unbekannten wichtigen Ursache für immer untersagt sei, müsse ein anderes Zeichen bestimmt werden, „wodurch sich diese Leute hörbar machen könnten" .Eine Entscheidung über diese Beschwerden ist der Akte leider nicht zu entnehmen. Einiges kann jedoch einem im Jahre 1919 in unseren Mitteilungen abgedruckten Aufsatz von Wilhelm Oehlert über den Nachtwachdienst in Moabit entnommen werden.6 Vor der Eingemeindung Moabits nach Berlin im Jahre 1861 waren die beiden Moabiter Nachtwächter - der alten Sitte entsprechend - mit Hörnern ausgestattet. Nach der Eingemeindung, mit der das Moabiter Nachtwachwesen auf die Stadt Berlin und die Berliner Polizei überging, wurde das Hörn durch schwere hölzerne, aus Buchsbaum gedrehte Signalpfeifen ersetzt. Die Berliner öffentlichen Nachtwächter müssen schon 1834 mit Pfeifen ausgestattet gewesen sein, denn L. Freiherr von Zedlitz berichtet bereits 1834 davon. Lediglich der Ausbruch eines Feuers werde durch das Hörn angezeigt.7 Unter dem Polizeipräsidenten von Madai (1872 bis 1885) erhielten die Nachtwächter kleine Metallpfeifen. Die städtischen Nachtwächter in Berlin waren nach alledem bereits vor der Eingemeindung Moabits nach Berlin - ebenso wie 1808 die privaten Nachtwächter - zur Bekanntgabe des Stundenwechsels anstelle der Hörner mit Pfeifen ausgestattet. Am 1. Dezember 1895 wurde in ganz Berlin der Nachtwachdienst abgeschafft und von der Polizei übernommen. Da damit verschiedene Annehmlichkeiten für die Grundbesitzer (Mitführen der Hausschlüssel für sämtliche Häuser; Prüfung ob die Hauseingänge, Ladentüren, Fenster und ähnliches gehörig verschlossen sind) wegfielen, gründete der Grundbesitzer-Verein Nordwest ein eigenes Privatnachtwach-Institut für Moabit, das noch im Jahre 1914 mit 23 Wächtern und einem Wachtmeister tätig war. Die Privatwächter trugen mit Erlaubnis der Polizeibehörde eine Dienstkleidung, wie sie ähnlich auch die Straßenbahnschaffner trugen. Nur die Mützenstreifen waren weiß und nicht grün. Sie hatten die Aufschrift „Privatwächter des Grundbesitzer-Vereins Nordwest". Wie lange das Privatnachtwach-Institut Moabit existierte, ist nicht bekannt.

Anmerkungen 1 Vgl. hierzu Ch. Otto Bouillon, „Der Nachtwachdienst in Berlin und ein Briefwechsel Friedrich Nicolais 1791-1800", in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 1912, S.47. 2 Fr. Geheimes Staatsarchiv, Pr.Br.Rep. 30, Polizeidirektion, Titel 38, Nachtwachwesen Nr. 1, Vol. VIII, jetzt StA. Potsdam, Pr.Br.Rep. 30, Berlin, Polizeidirektion, Nachtwachwesen Nr. 341. 3 Curt Sachs, Handbuch der Musikinstrumente, Leipzig 1920, S. 59, 60. 4 Vorn der in Hamburg so genannte „Röper" (Rufer), hinten der „Sliker" (Schleicher), der im verborgenen auf alles Verdächtige zu lauschen hatte. Vgl. Roland Schoenfelder, Karl Kasper und Erwin Bindewald, Vom Werden der deutschen Polizei, 1937, S. 114f.

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5 Curt Sachs, Real-Lexikon der Musikinstrumente, Hildesheim 1962, S. 315 (unter Ratsche), 316. 6 W. Oehlert, Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Jg. 1919, S. 2, 8. 7 Vgl.: L. Freiherr von Zedlitz, Neuestes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam zum täglichen Gebrauch der Einheimischen und Fremden aller Stände, Berlin 1834, S. 516, 517.

Verdient um Berlin Vom Beitrag jüdischer Bürger / Ein repräsentativer Querschnitt Von Ernst G . Lowenthal Kürzlich wurde die 750-Jahr-Feier Berlins mit offiziellem Festakt in West-Berlin eröffnet. Dieser Vorgang gibt Gelegenheit, sich die Frage vorzulegen, welchen Beitrag jüdische Bürger in der Zeit von 1671, als die erste jüdische Gemeinde in Berlin entstand, bis vor 55 Jahren, als sich die Vernichtung jüdischer Existenz abzuzeichnen begann, zur Entwicklung und zum Wohl der Stadt beigetragen haben. Das Ausmaß dieser Mitwirkung darzustellen ist angesichts des Verlustes an Menschen, an Daten und Dokumenten so gut wie unmöglich. Aber allein die Tatsache, daß es noch 1925 unter rund vier Millionen Einwohnern Groß-Berlins 172 600 Juden gab, besagt etwas. In ihrer großen Mehrzahl lebten Juden in dem von den bevölkerungsreichen Stadtbezirken Prenzlauer Berg im Nordosten, Kreuzberg-Neukölln im Südosten, Schöneberg-Steglitz im Südwesten und Charlottenburg im Nordwesten geographisch abgesteckten Viereck. Meistens waren sie mittelständische, kaufmännische und gewerbliche Existenzen, Handwerker und Angehörige der freien Berufe, Angestellte und Beamte, im ganzen mehr abhängig als selbständig. Fleiß, Sparsamkeit und Ausdauer, Unternehmungsgeist und Flexibilität zeichneten viele von ihnen aus. Es ist immer leicht, aus einer Masse ein paar Koryphäen herauszuheben. Solche wenigen Größen (z. B. Einstein, Max Reinhardt) können aber nicht als stellvertretend für eine ganze Bevölkerungsgruppe angesehen werden. Eher geeignet dazu ist der im folgenden gebotene Querschnitt, der weniger bekannte, aber für die Berliner Judenheit repräsentativere Persönlichkeiten bringt. Dreierlei ist diesen verdienstvollen Menschen gemeinsam: Erstens sind sie sämtlich vor (mehr oder minder) 100 Jahren geboren, zweitens haben sie sowohl im öffentlichen Leben als auch, parallel dazu, im jüdischen Gemeindeleben eine Rolle gespielt, und drittens: keiner von ihnen hat je seine jüdische Identität in Abrede gestellt. (Die Reihenfolge richtet sich nach dem Alphabet).

Julius Bab Als 1970 der Verband der Deutschen Volksbühnenvereine in Berlin sein 50jähriges Bestehen feierte, war in der „Freien Volksbühne" ein Vortrag über „Theater in unserer Gesellschaft" zu hören. Wäre Julius Rab (1955 in New York gest.), der Chronist des Theaters, der Dramaturg und Kritiker noch am Leben gewesen, er hätte sicher zu den Prominenten, womöglich aktiven Teilnehmern der Tagung gezählt; denn er kam ursprünglich aus der Volksbühnenbewegung. 578

Man erinnert sich seiner Tätigkeit als Berater der „alten" Volksbühne im Norden Berlins und als Herausgeber ihrer „Dramaturgischen Blätter". Von seinen 70 Lebensjahren hat Bab 50 in Berlin verbracht. 1880 war er in der Alten Jakobstraße als Sohn eines Holzkaufmanns zur Welt gekommen. Er wuchs unter Arbeitern und Kleinbürgern auf, für deren Bildung er später segensreich tätig werden sollte. In Berlin ging er zur Schule; hier (und in Zürich) studierte er Literaturwissenschaften, Geschichte und Philosophie. Eigentlich hatte er Schauspieler werden wollen. Er versuchte sich auch als Dramatiker, aber schon als junger Mensch empfand er, daß seine Stärke in der pädagogischen Praxis am Theater und in der Theaterkritik liege. Bis 1933 schrieb er vor allem für die „Berliner Volkszeitung" (im Verlag Rudolf Mosse) und für die „Welt am Montag", aber auch für namhafte Blätter in der „Provinz". Julius Bab dozierte an der Humboldt-Hochschule in Berlin, er war ein begehrter, weil fundierter Vortragsredner vielerorts im deutschen Sprachgebiet, nicht zuletzt auch in Veranstaltungen jüdischer Organisationen. Als seine Mitarbeiter und Freunde 1938 von ihm Abschied nahmen, es war im Haus des von ihm 1933 mitgegründeten „Jüdischen Kulturbundes Berlin", fragte man sich, wie er, der an die deutsche Sprache gebundene und mit dem deutschen Kulturkreis verbundene Schriftsteller, sein Wissen und seine Fähigkeiten in der Emigration förderlich und nutzbringend werde verwenden können. Dennoch: In den USA gehörte er später auch zu den Mitarbeitern der New Yorker „Staats-Zeitung", doch bereits ab 1952 schrieb er wieder für eine deutsche Zeitung, nämlich für die „Zeit".

H a n s Goslar Vor etwa zwanzig Jahren erinnerte eine Bio-/Bibliographie über den „preußischen Pressechef 1919-1932" an Hans Goslar, den 1889 in Hannover geborenen und Anfang 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen elend zugrunde gegangenen Journalisten. Enger Mitarbeiter des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun, von den Nationalsozialisten bestgehaßt, war er 1933 nach Holland geflüchtet. Schon früh stand er unter dem Einfluß eines der aktivsten Zionisten, Professor Heinrich Loewe (1951 in Haifa gest.). Nach dem Ersten Weltkrieg, den er an der Ostfront erlebte, schloß er sich der Misrachi-Bewegung an und vertrat diese von 1928 bis 1933 in der Repräsentantenversammlung der Berliner jüdischen Gemeinde. Jene Bio-/Bibliographie charakterisiert auch die in Buch- und Aufsatzform erschienenen Veröffentlichungen, beginnend mit seiner Schrift „Jüdische Weltherrschaft! Phantasiegebilde oder Wirklichkeit?" (1919) und abschließend mit dem 1933 erschienenen politischen Essay „Ausweg oder Irrweg" (Wie Deutschland in Zukunft regiert werden soll)". Seine ersten Artikel findet man in den Fachorganen der Journalisten und Verleger. Gemeinsam mit seinem Kollegen im preußischen Innenministerium, Dr. Hans Hirschfeld (1894-1971), verfaßte er eine Art republikanischer Staatsbürgerkunde unter dem Titel „Politik und Parlament". Begonnen hatte Goslar als Wirtschaftsjournalist. Schon früh kam er in die Pressestelle des preußischen Staatsministeriums, die er aufbauen half. 1926 wurde er Ministerialrat. Gleichzeitig mit Otto Braun trat er im Juni 1932 einen „Urlaub" an - beide hatten dem Staatsstreich von Papen weichen müssen. Zweifellos der Sozialdemokratie zuzurechnen, war Goslar insofern eine Ausnahmeerscheinung, als er nicht wie die meisten sozialdemokratischen Politiker jüdischer Herkunft die Übernahme jüdischer Funktionen ablehnte. Auch als führender Repräsen579

tant der zionistischen Bewegung empfand er keinen Widerspruch darin, daß er ein maßgebendes Amt im deutschen öffentlichen Leben bekleidete.

Heinrich Grünfeld Zu den letzten jüdischen Wirtschaftsführern in Deutschland gehörte Heinrich Grünfeld, der am 10. April 1865 in Landeshut/Schlesien geboren war. Er war der älteste Mitinhaber der nach 76jährigem Bestehen 1938 „arisierten" - Landeshuter Leinen- und Gebildweberei F. V. Grünfeld (Landeshut/Berlin/Köln), eines Musterbetriebes des deutschen Einzelhandels. Bis Ende 1932 war er der Vorsitzende der von ihm mitbegründeten Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels. Daneben hat er sich in Fachverbänden, als Leiter der Gruppe Handel im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, im Verwaltungsrat der Deutschen Reichspost, in der Berliner Industrie- und Handelskammer und in der Internationalen Handelskammer in vorderer Reihe betätigt. Er war immer der aktive Kaufmann, der am frühen Morgen im Laden und im Kontor anzutreffen war, ehe er an die Arbeit im Interesse seiner Berufsgenossen herangehen konnte. Als er starb, am 25. Juli 1936, hielt sein Sohn Dr. Fritz V. Grünfeld (gest. 1985 in Israel) vor mehreren hundert Mitarbeitern der Firma im Lichthof des Grünfeld-Hauses in der Leipziger Straße die Gedenkrede. Diese Laudatio war insofern ein Wagnis, als in jener Zeit selbst solche Veranstaltungen staatspolizeilich überwacht werden konnten. Er umriß das Wesen, den Werdegang und das „standing" dieses deutschen Juden, der ein „königlicher Kaufmann" war.

Wilhelm Kleemann Seinen hundertsten Geburtstag zu erleben, der auf den 17. Dezember 1969 gefallen wäre, war Wilhelm Kleemann nicht mehr vergönnt; denn am 10. März des gleichen Jahres wurde er in New York in die Ewigkeit abberufen. Lange Zeit liberales Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, war er in den Jahren 1930-1933 deren ehrenamtlicher Vorsitzender, unmittelbar vordem unvergessenen Heinrich Stahl, der 1942 in Theresienstadt umkam. In den zwanziger Jahren war Kleemann der Präsident der damals ins Leben gerufenen DeutschlandSektion von ORT. Seit 1921 gehörte er zum Hauptvorstand des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Dieser Mann nahm eine geachtete Position im deutschen Bankgewerbe ein. 1888 fand er eine Anstellung bei der Deutschen Genossenschaftsbank in Berlin, deren Direktor er später war. Als dieses Unternehmen 1904 von der Dresdner Bank übernommen wurde, ergab es sich fast von selbst, daß Kleemann zum Leiter ihrer dann errichteten Genossenschaftsabteilung bestimmt wurde. In seinen (unveröffentlichten) Erinnerungen äußert sich der jüdische Handwerkerführer Louis Wolff (1876-1958) höchst anerkennend über Kleemanns bereitwilligaktive Mitwirkung an der Schaffung des Jüdischen Kreditvereins für Handel und Gewerbe e.G.m.b.H.", der 1924 auf Genossenschaftsbasis in Berlin entstandenen Jüdischen Darlehnskasse. In Anerkennung seiner Verdienste um die Förderung des Genossenschaftswesens wurde Kleemann 1929 von der Universität Halle/Saale mit dem Ehrendoktor der Wirtschaftlichen Staatswissenschaften ausgezeichnet. Das letzte Drittel seines Lebens hat Kleemann in der Emigration in Amerika verbracht. Bis ins sehr hohe Alter hat er am jüdischen Geschehen, insbesondere an der Tätigkeit der Gesellschaft 580

ORT zur Förderung des Handwerks und der Landwirtschaft unter den Juden, Interesse gezeigt; er war Ehrenpräsident der 1941 gegründeten Vereinigung der amerikanischen Freunde von ORT.

Paul Nathan Zu den frühen Mitarbeitern der von Friedrich Naumann (1860-1919) gegründeten hochstehenden Zeitschrift „Die Hilfe" gehörten auch zwei fortschrittliche jüdische Politiker in Berlin, Hugo Preuß (1860-1925), der Schöpfer der Weimarer Verfassung, und Paul Nathan (1857 bis 1927), der allgemeine politische und jüdische soziale Interessen in sich vereinigte. Ursprünglich in der Fortschrittlichen Volkspartei aktiv, ging er 1918 zur Deutschen Demokratischen Partei über und schloß sich 1921 der Sozialdemokratie an. Von 1899 bis 1919 Berliner Stadtverordneter, bezeugte er besondere Aufmerksamkeit für Fragen des Schulwesens, der Wohnungsfürsorge und der Kunst. Paul Nathan hatte Sprachen und Archäologie studiert und entschied sich früh für den journalistischen Beruf. Umfassende Bildung, verbunden mit einem offenen Blick für das Leben, war die Basis für seine Mitgestaltungsfähigkeit einer so anspruchsvollen Zeitschrift wie der von dem liberalen Abgeordneten Theodor Barth herausgegebenen „Nation". Als die uralte Blutbeschuldigung, das Märchen vom sogenannten Ritualmord, in den Prozessen von Tisza-Eszlar (1882), Xanten (1891) und Kiew (1911) wiederauflebte, regte sich in Paul Nathan der Sinn für Gerechtigkeit und Wahrheit. An dem Prozeß in dem ungarischen Städtchen nahm er persönlich teil, er erlebte auch den Klever Prozeß um die berüchtigten Xantener Verdächtigungen und legte Eindrücke und Erlebnisse in der „Nation" nieder. Für ihn war Abwehr des Antisemitismus niemals nur Verteidigung der Juden, sondern stets ein Kampf für Recht und Kultur. Als die judenfeindliche Agitation in den Anfängen unseres Jahrhunderts zunahm, sprach Nathan manches entscheidende Wort im Hauptvorstand des Central-Vereins. 1911 gehörte er zu den Mitgründern des „Hilfsvereins der deutschen Juden", der in seinen frühen Jahren in erster Reihe Hilfe für Juden in Osteuropa leistete. Paul Nathan verhandelte persönlich mit zaristischen Regierungsstellen, kehrte aber ziemlich enttäuscht zurück. 1907 führte ihn sein Weg auch in das von judenfeindlichen Unruhen heimgesuchte Rumänien. Angeregt durch seine Hilfsvereinsarbeit, besuchte er ab 1907 wiederholt Palästina, vor allem auch im Interesse an der Schaffung des Technions in Haifa. Dr. Nathan war ein unabhängiger, mutiger und zur Durchführung hilfebringender neuer Pläne immer bereiter, nobler Mann, den man respektierte.

Erich Seligmann „Man sagt dem Juden gern nach, daß er um seine Gesundheit besonders besorgt sei, daß er den Arzt häufig in Anspruch nähme und daß er noch die letzten Gelder zur Wiederherstellung aus Krankheit flüssig mache." Solche Vorausschau habe zu allen Zeiten bei den Juden nicht nur der eigenen Person gegolten, sondern sei auch der Allgemeinheit, vor allem den wirtschaftlich Schwachen zugute gekommen. So äußerte sich ein Spezialist für Hygiene und Bakteriologie 1935 in einem Aufsatz über „Wesen und Aufgaben jüdischer Gesundheitsfürsorge". Der Autor des Artikels war Professor Dr. Erich Seligmann; der Aufsatz befaßte sich mit der Einrichtung 581

von jüdischen „Bezirks-Gesundheitsfürsorgestellen". Berlin, wo Seligmann 1880 zur Welt kam, war das Forschungszentrum dieses gelehrten Praktikers. Nach dreijähriger Tätigkeit am Robert-Koch-Institut für Infektionskrankheiten stand er lange Jahre im Dienst der Stadt Berlin, von 1907 bis 1918 im Zentralgesundheitsamt und später, bis zu seiner Ausschaltung im Jahre 1933, als der Direktor des Bakteriologisch-Hygienischen Instituts. Daneben wirkte er als Dozent an der Akademie für Soziale Hygiene. Die Berliner jüdische Gemeinde tat einen guten Griff, als sie kurz nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst Seligmann an die Spitze ihrer Gesundheitsverwaltung berief, ein Amt, das sich in den folgenden Jahren erheblich ausweitete - bis zum Krankenfürsorgedienst und der Tuberkulosefürsorge. Professor Seligmann spielte in den jahrelangen, oft verzweifelten Bemühungen der jüdischen Ärzte in Deutschland und Berlin um die Erhaltung ihrer Stellungen und Existenzen eine wesentliche Rolle. In diesem Zusammenhang war er ehrenamtlicher Referent der Reichsvertretung der deutschen Juden für die Fortbildung jüdischer Ärzte in kritischer Zeit. Noch kurz vor Toresschluß konnte sich Seligmann nach Amerika retten. In der bakteriologischen Abteilung des Beth-Israel-Hospitals in New York fand er ein ihm adäquates Wirkungsfeld. Am 1. Januar 1954 ist er dort verstorben.

Siddy Wronsky Im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin-Dahlem, das sich hauptsächlich mit der Sammlung und Auswertung sozialpolitischer Literatur befaßt, wird das Andenken an Siddy Wronsky, die 1947 im Alter von 64 Jahren in Jerusalem starb, in Ehren gehalten. Diese Sozialpolitikerin und -pädagogin war es, die in der Zeit der Weimarer Republik Grundlegendes für das Institut geleistet hat. Sie war Leiterin der Berliner Zentrale für zentrale Fürsorge, die Geschäftsführerin des Archivs für Wohlfahrtspflege und die Herausgeberin der „Deutschen Zeitschrift für Wohlfahrtspflege". Seit 1922 gehörte sie dem Hauptausschuß des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge an. Nicht zuletzt dozierte sie an der Wohlfahrtsschule von Dr. Alice Salomon (1872-1948). Gleichzeitig stand Frau Wronsky den in Berlin konzentrierten Spitzenstellen der jüdischen Sozialarbeit nahe, so der 1917 gegründeten Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und der mit dieser verbundenen Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge. Sie arbeitete auch im Helferkreis des Jüdischen Volksheims mit, das in den Jahren 1916 bis 1928 im sogenannten Scheunenviertel existierte, einer vor allem von bedürftigen Ostjuden bewohnten Gegend im Berliner Norden. Überall hat Siddy Wronsky originelle Ideen entwickelt und mit ihren pädagogischen und organisatorischen Gaben anregend gewirkt. Damit hat sie, in Berlin wie später in Jerusalem, gleichsam „Schulen" geschaffen, aus denen manche verantwortungsbewußte Sozialarbeiter hervorgegangen sind. Von Henrietta Szold (1860-1945), der Leiterin der Kinder- und Jugendaliyah, war sie schon im ersten oder zweiten Jahr der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland nach Palästina berufen worden, um dort beim Auf- und Ausbau des Kinderrettungswerks zu helfen.

Anschrift des Verfassers: Prof. e. h. Dr. Ernst G. Lowenthal, Kaunstraße 33,1000 Berlin 37 582

Aus dem Mitgliederkreis

Dank für treue Mitgliedschaft An dieser Stelle sollten die Namen derjenigen Mitglieder aufgeführt werden, die mindestens ein Vierteljahrhundert lang oder gar 35 Jahre und länger dem Verein angehören. Bei der Durchsicht der Kartei ergab sich dann aber, daß gerade bei den älteren Mitgliedern, die dem Verein schon vor Kriegsende beigetreten waren oder später im Verein von 1949 die Mitgliedschaft erworben hatten, das Datum des Beitritts nicht vorliegt. Ehe nun treue Mitglieder nur aus diesem Grunde namentlich nicht erwähnt werden können, soll auf das Hervorheben einzelner Namen verzichtet und allen Mitgliedern herzlich dafür gedankt werden, daß sie schon eine Generation und länger dem Verein Interesse widmen und Aufmerksamkeit zuwenden. Vielleicht darf aber die Bitte an diese Damen und Herren gerichtet werden, ihr Eintrittsdatum unserer Geschäftsstelle (Frau Koepke, Temmeweg 38,1000 Berlin 22, Telefon 3 65 76 05) zur Kenntnis zu bringen. SchB.

Fidicin-Medaille für Hans Schiller Am 8. Juli 1987 wurde unserem langjährigen Bibliothekar und treuen Mitglied Hans Schüler die ihm vom Vorstand verliehene „Fidicin-Medaille für Förderung der Vereinszwecke" in Silber überreicht. Diese hohe Auszeichnung wurde 1872 gestiftet und 1972 erneuert. Rechtsanwalt H. Oxfort würdigte als Vorsitzender Lebensweg und Wirken Hans Schillers und verlas das folgende Verleihungsdokument: Der Verein für die Geschichte Berlins, gegründet 1865, verleiht Herrn Hans Schiller, geboren am 8. Januar 1905, die Fidicin-Medaille. Er dankt ihm damit für sein jahrelanges aufopferungsvolles und umsichtiges Wirken in der Bibliothek und würdigt seine Treue und Anhänglichkeit. „Was du erforschet, hast du miterlebt". Berlin, 8. Juli 1987. H. Oxfort, Senator und Bürgermeister von Berlin a. D., Vorsitzender. Dr. H. G. Schultze-Berndt, Schriftführer. Bei dieser kleinen Zeremonie waren die Mitstreiter aus der Bibliothek, die Damen Hentschel und Köhler sowie die Herren Grave, Mücke, Doge und Giray, Archivar Siewert und aus dem Vorstand Dr. SchultzeBemdt und Dr. Wetzel zugegen. SchB.

Dr. jur. Otto Uhlitz verstorben Am 19. Juni 1987 starb unser langjähriges Mitglied, Rechtsanwalt und Staatssekretär a. D. Dr. Otto Uhlitz. Eine lange, schwere und tapfer getragene Krankheit verwehrte ihm seit längerem den Dienst in hohen und höchsten Verwaltungsstellen des Landes Berlin. Er legte aber nicht die Hände in den Schoß. Seinen Wunsch, zu wirken, weiter zu schaffen und sich mit dem Leben in Vergangenheit und Gegenwart zu beschäftigen, erfüllte er sich mit einer Vielzahl gewichtiger Arbeiten aus dem Rechtsbereich sowie der Heimat- und Familienkunde, und eben diese bedeuteten ihm mehr als bloße Sujets eines schönen Hobbys. Er suchte und fand manchen unbearbeiteten Stoff und studierte gründlich die für „Wesüer" nicht immer leicht zugänglichen Akten in den Archiven in Merseburg, Potsdam und Ost-Berlin. Verwaltungsgeschichtlichen Fragen, Kunstdenkmälern in Berlin, märkischen Dörfern und ihrer Bevölkerung widmete er vorzüglich seine Interessen. Eine Reihe seiner Forschungsergebnisse veröffentlichte Otto Uhlitz im „Bär von Berlin"; eine Gesamtbibliographie seiner Arbeiten wird unser Jahrbuch 1988 enthalten. Nur wenige unserer Vortragsabende haben Otto Uhlitz und seine Gattin versäumt. Diskussionen, in die er eingriff, gewannen an Richtung und Farbe. Wünschen oder Bitten stets zugänglich, vermochte er uns auch mit vielen guten Ratschlägen zu dienen. Otto Uhlitz wußte seit langem um einen möglichen schnellen Zugriff des Todes. Er kämpfte einen mutigen Kampf, wollte sich seiner Familie und seiner Arbeit erhalten. Er verlor. Wir trauern sehr um diesen hochgeschätzten, liebenswürdigen Mann, der noch immer auf der Höhe des Lebens stehend uns so bald verlassen mußte. Gerhard Kutzsch 583

Nachrichten Alle vier Reliefplatten der Siegessäule aufgefunden In den „Mitteilungen" 80, Heft 3, Seite 223/224 (Juli 1984), wurde unter der Überschrift „Zur Rückführung der Reliefplatten der Siegessäule - ist die vierte Platte unauffindbar?" von der Rückgabe der beiden in Paris eingelagerten 12 m langen Bronzereliefs am 4. Februar 1984 berichtet. War deren Rückführung dem damaligen Pariser Bürgermeister und jetzigen Ministerpräsidenten Jacques Chirac und dem Verteidigungsminister Charles Hernu zu verdanken, so bescherten die 750-Jahr-Feier Berlins und der Besuch des französischen Staatspräsidenten Frangois Mitterand der Stadt nunmehr auch die Rückführung der jahrzehntelang unauffindbaren letzten dieser Bronzetafeln. Dieses Relief „Auszug der Truppen/Sturm der Düppeler Schanzen" war im Keller des Palais Chaillot eingelagert. Wie dieses Relief von Calandrelli in Paris im einzelnen aufgefunden wurde, konnte noch nicht aufgeklärt werden, von der Deutschen Botschaft in Paris wird ein Bericht erwartet. Mehr als 30 Jahre hatte unser Mitglied Otto Kanold aus Berlin-Zehlendorf unbeirrt und zäh nach den Bronzetafeln gefahndet. Ob sie sonst je an ihren angestammten Standort zurückgekehrt wären, darf wenigstens in Frage gestellt werden. Deswegen sei O. Kanold auch von dieser Stelle für seine langjährigen Recherchen und für sein Beharrungsvermögen herzlich gedankt. SchB.

Buchbesprechungen Adriaan von Müller: „Mit dem Spaten in die Berliner Vergangenheit. Eine archäologische Reise" in „Berlinische Reminiszenzen" Nr. 54, Berlin 1981, bei Haude & Spener, 142 Seiten, viele Abbildungen und Skizzen und ein Literaturverzeichnis. Auf der Suche nach dem Bleibenden unter der Berlinliteratur zur 750-Jahr-Feier fragt man, ob zu den echten Fragen förderliche Ansätze zu weiteren Erörterungen geschaffen worden sind. Offen ist ja noch immer das tatsächliche Alter Berlins, da früheste schriftliche Quellen fehlen. Da kann eine „archäologische Reise", obschon jetzt 8 Jahre alt, sichereren Aufschluß über die frühe Zeit der Ostbesiedlung zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert bringen. Hier bringt Vf. einen knappen Gesamtaufriß. - Wir erfahren eine Übersicht über alle Grabungsstätten im Berliner Raum während des letzten Jahrzehnts. Von den Germanen der römischen Kaiserzeit, das Vakuum im ostelbischen Raum bis ins 4. Jahrhundert, die Völkerwanderungszeit bis zum ersten Auftauchen der Slawen um 650 treten die Vorgänge ins hellere Licht. Die Bestattungsriten geben Auskunft über die Verschiebung der Stammesgrenzen von Ost- und Westgermanen an Oder und Elbe. Soweit die Historiker noch immer die Frage nach dem Zusammenleben von Slawen und Deutschen beschäftigt, gibt Vf. die modernen Erkenntnisse, wie man sie aus den übereinandergeschichteten BurgwallStadtanlagen in Spandau ablesen kann. Vom 7. bis 10. Jahrhundert lassen sich Burg und spätere frühstädtische Ansiedlung erkennen, ein Warenumschlagsplatz ist entstanden, an dem sich der Handelsweg von Magdeburg und Brandenburg in den Ostraum kontrollieren ließ. Schließlich erbaute man darüber die frühchristliche, askanische Burg um 1200, eine planmäßige Neugründung, deren Bedeutung bis 1350 wuchs, dann aber plötzlich abnahm. Wahrscheinlich gehörte sie als Glied in die Kette von Stadtgründungen des ausgehenden 12. Jahrhunderts. Diese Annahme zu verifizieren, erforschten die Ausgräber die gleichzeitig entstandenen dörflichen Siedlungen des Umfeldes (Machnower Krummes Fenn, Krumme Lanke und Düppel). Ihre Funde gaben Aufschlüsse über Siedlungs- und Wirtschaftsweise dieser Epoche und damit über die Voraussetzungen zur Entstehung von Städten: Nach 1220 läßt sich durch fortschrittliche Werkzeuge intensivere Bodenbearbeitung beobachten und damit das Angewiesensein auf Handwerker und Kaufleute. Nach solchen Kriterien kann man die Grabungen und Funde in Colin und Berlin (Nikolai- und Petrikirche) analog einordnen. Auch für Berlin sind erste deutsche Siedler mindestens um 1200, wenn nicht früher, anzusetzen, und auch hier wird der Kern durch eine askanische Schutzburg (das „ Hohe Haus" am Steinweg) erweitert und gefördert. Eine hypothetische Annahme ist der Grund für diese Gleichartigkeit in der Entwicklung: Im Berliner Raum stießen Askanier und Wettiner in den Macht584

kämpfen um 1200 aufeinander. Der Zankapfel war Berlin und das untere Spreetal, das - sonst ungeschützt - den Wettinern leicht zugänglich war. Also setzten die Askanier den Templerorden zum weiteren inneren Ausbau ihrer Dörfer und Städte ein und verlegten den Handelsweg vom südlichen auf das nördliche Spreeufer. Berlin übernahm damit 1240 die einst Spandau zugedachte Rolle, wurde Handelsmittel- und Kontrollpunkt. So scheint die Archäologie dem Historiker Licht in die dunkle Zeit seit dem Slawenaufstand von 983 geworfen zu haben. Doch die Spatenwissenschaft ist stets im Fluß; es bleibt abzuwarten, wieweit die Erkenntnisse als gesichert gelten können. Die Darstellungsweise ist leicht zugänglich, wovon die griffigen Kapitelüberschriften zeugen. Christiane Knop

Marion Yorck von Wartenburg: „Die Stärke der Stille. Erzählung eines Lebens aus dem deutschen Widerstand." Aufgeschrieben von Claudia Schmölders. 156 Seiten, mit 14 Fotos auf 8 Kunstdrucktafeln, Eugen Diederichs Verlag Köln 1984. Der so formulierte Titel weist auf eine anders gerichtete Erzählabsicht hin, als sie der wissenschaftlichen Widerstandsliteratur innewohnt. Zum 41. Jahrestag des Attentats auf Hitler war 1985 in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz das historisch-politische Problem tiefer erfaßt worden, basierend auf neuesten Quellenforschungen von Professor Ger van Roon/Amsterdam. Dazu hatten vor allem die überlebenden Frauen der führenden Widerständler des Kreisauer Kreises bisher unveröffentlichtes Material, darunter auch persönliche Zeugnisse, beigesteuert. Mit der oben genannten Darstellung tritt eine Frau ans Licht, die für viele erst als Präsidentin des Landgerichts Berlin in den 60er und 70er Jahren eine Rolle spielte. Sie bekennt, wie sie dazu befähigt worden ist durch die innere Bewältigung vom Opfer ihres Gatten Peter Graf Yorck von Wartenburg und seinen Tod. „Die Stärke der Stille" ist das Kernwort; die Erzählerin umschreibt damit das Auf-sich-selbst-Geworfensein in eigener Gefangenschaft und vor drohendem Tod. In dieser Stille hat sie die Tiefe ihrer Glaubenskraft ausgelotet. Sie verhalf ihr zum Weiterleben und wurde, da die Gnade des Schicksals es so gewollt hat, in schwieriger Zeit des Nachkrieges, als die tiefe Versehrtheit des geistigen Lebens sich erst wirklich zeigte, zur Festigkeit, ein öffentliches Amt als Richterin zu bekleiden. Die Stärke der Stille kam aus völligem Schweigen des Alleingelassenseins in der Zelle, aus dem Abgeschnittensein von allen Angehörigen und zugleich aus festester innerer Verbindung mit dem unter Todesanklage stehenden Gatten. Aus zeitlichem Abstand bekennt sie, wie ihr die Kraft der Überwindung im Traum geschenkt worden sei; träumend erfuhr sie das Entrücktwerden des „Verschwörers" Yorck von Wartenburg aus der irdischen Unzulänglichkeit. Wir begegnen vielen liebenswerten Gestalten des Widerstandes; vor allem dem Gefängnispfarrer Poelchau stattet sie Lebensdank ab. Wenn die Erzählerin von ihrer Studienzeit und ihrem Dasein als schlesische Gutsfrau berichtet, wird inmitten der Unheilsepoche des Dritten Reiches eine seltsam heile Welt gegenwärtig. Dieser schlichten Erlebnisweise hat die Chronistin Schmölders ihren Erzählton angepaßt, von dem man schwer glaubt, daß die differenzierte Richterin von Wartenburg ihn gebrauche. Aber eine nachgestellte editorische Notiz versichert, sie habe die Textentwürfe so gebilligt; so haben wir zu respektieren, daß sie dies als die Sprache ihres Lebens ansieht. Die Nachgeborenen haben es schwer zu glauben, wie aus dem anfänglich so unpolitischen, fast unberührten Leben sich dezidierter Widerstand entwickelt hat. Er erscheint hier wie ein unabweisbarer Zugriff des Schicksals. Das Sichstellen hat die Betroffene in die „Stärke der Stille" geführt, so daß sie die lebenskritischen Nachkriegsjahre aus gleicher Gelassenheit meisterte. Sie skizziert ihre Laufbahn (als „strenge Richterin") bis zur Vorsitzenden der Großen Jugendstrafkammer in Moabit von ihrer schlichten Grundhaltung als Frau her. „Die zwei Jahrzehnte meiner Tätigkeit als Strafrichterin haben mir geholfen, menschliche Fehler und Irrtümer zu verstehen und ihnen gerecht zu werden. Ich war stets bemüht, meine Tätigkeit nicht zur Routine werden zu lassen und das Richteramt ohne Überheblichkeit auszuüben" (S. 126), und „Im übrigen werde ich gem alt und finde das Leben als alter Mensch eigentlich einfacher als als junger Mensch, weil man wie im Theater im ersten oder zweiten Rang sitzt" (S. 128). Dem Lebensbericht sind sehr persönliche letzte Briefe des Gatten angefügt. Die Verfasserin hat sich zu ihrer Veröffentlichung entschlossen, weil darin die Wurzeln für die Kreise des Zeitgeistes um 1943 bloßgelegt werden. Als Zeugnisse evangelischen Glaubens sind sie zeitlos gültig; denn in ihnen wird nach der Ordnung des Schöpfers gefragt. „Mein Tod, er wird hoffentlich angenommen als Sühne aller meiner 585

Sünden und als Sühneopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen. Die Gottesferne unserer Zukunft möge auch zu einem Quentchen durch ihn verringert werden" (S. 142). Die historische Kommentierung entpricht, wie die editorische Notiz auch angibt, in wesentlichen Zügen der „Neuordnung im Widerstand" von Ger van Roon, dessen Forschung auch die Ausstellung über den Kreisauer Kreis in der Staatsbibliothek bestimmt hatte - siehe auch Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins vom Januar 1985. Christiane Knop

Lis Blauenfeldt: Den danske meninbed i Berlin - ca. 1905-1.12.1943 (Die Dänische Gemeinde in Berlin von 1905 bis zum 1. Dezember 1943). Herausgegeben von der Dänischen Gemeinde zu Berlin, Berlin 1985, gedrucktes Manuskript in dänischer Sprache, 105 Seiten. Mit dieser Arbeit liegt erstmals eine gründliche Studie zur Geschichte des dänischen kirchlichen Lebens in Berlin in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vor. Aufgrund umfangreicher Archivstudien wird hier ein äußerst detailliertes Bild der Anfänge der dänischen Gemeinde gezeichnet. Aus dem „Rigsarkiv" in Kopenhagen wurden die kirchliche Angelegenheiten betreffenden Akten der dänischen Gesandtschaft von 1916 bis 1931 und die Bestände des Archivs der „Dansk Kirke i udlandet" (= DKU = Dänische Kirche im Ausland) von 1919 bis 1937 herangezogen. Außerdem hat die Autorin, die von 1931 bis 1943 dänische Pfarrfrau in Berlin war, diverse ungedruckte Briefe und Berichte herangezogen und ausgewertet. So kann die Autorin eine große Fülle an Einzelheiten über die Entstehung und den Alltag dieser Kirchengemeinde bieten. Da diese dänischsprachige Arbeit nur einem geringen Leserkreis in Berlin zugänglich sein dürfte, sollen einige Grundlinien der Gemeindeentwicklung, so wie sie Lis Blauenfeldt darstellt, hier skizziert werden. Die rechtliche Gründung der Dänischen Gemeinde zu Berlin erfolgte vor nunmehr 75 Jahren am 8. Dezember 1912. Der Gemeindegründung gingen jedoch umfangreiche Entwicklungen voraus, die letztlich auch zur Entstehung der „Dänischen Kirche im Ausland" als Organisation führten, denn die Berliner Gemeinde war die erste dänische Auslandsgemeinde. In den Jahrzehnten um 1900 kamen aufgrund der günstigen wirtschaftlichen Entwicklungen viele dänische Handwerker nach Deutschland und insbesondere nach Berlin. So wurde hier schon 1880 der dänische Handwerkerverein „Freja" gegründet. Seit 1889 hatte dann der „Christliche Verein junger Männer" (CVJM) in der Wilhelmstraße 34 eine skandinavische Abteilung mit wechselweise einem dänischen, schwedischen oder norwegischen Sekretär. Die dort entstandene intensive Jugendarbeit wurde nach 1910 in Zusammenarbeit mit einer privaten dänischen Vereinigung für kirchliche Auslandsarbeit, der Organisation „Derude" (Draußen) betrieben. „Derude" war - noch unter anderem Namen - von in Berlin ansässigen Dänen gegründet worden. Diese Gruppe ging dann im Jahre 1936 in der DKU auf. Alle drei genannten Gruppen bilden die Grundlage der dänischen Kirchengemeinde in Berlin. Unter den Berliner Dänen wurde der Wunsch nach einem evangelischen Kirchenleben in den Traditionen der Dänischen Volkskirche im Lauf der Zeit immer stärker, zumal es schon seit 1902 in Berlin einen schwedischen und seit 1905 einen norwegischen Pfarrer gab. Da die dänische Kolonie jedoch größer als die der anderen skandinavischen Volksgruppen war, gelang es nach langen Verhandlungen, das Kirchenministerium in Kopenhagen im September 1911 zur Bewilligung des Gehalts für einen anzustellenden Pfarrer zu bewegen. Ende 1911 wurde dann Pfarrer Bent Lindhardt (1911-1922 in Berlin) in die Pfarrstelle berufen. Am 25. Februar 1912 fand dererste dänische Gottesdienst statt. Im Lauf des Jahres wurde dann die Gemeinde organisiert und offiziell am 8. Dezember 1912 als „Hans Tausens danske menighed" (Dänische Gemeinde Hans Tausen) konstituiert. Die erste Pfarrwohnung befand sich in Berlin-Halensee in der damaligen Seesener Straße 20. Dort hatte Pfarrer Lindhardt u. a. Besuch von dem bekannten dänischen Widerstandskämpfer und Pfarrer Kaj Munk (1898-1944), der dann diesen Aufenthalt in einer Erzählung beschrieb. In der Neuenburger Straße 3 - in der Nähe des Halleschen Tores - konnte die dänische Gemeinde regelmäßig ihre Gottesdienste in einem Gemeindesaal der böhmischen lutherischen Gemeinde abhalten. Dieser sehr einfache Raum, ein ehemaliger Pferdestall, ließ ziemlich bald den Wunsch nach einer eigenen Kirche entstehen. Nach wiederum langwierigen Verhandlungen konnte ein Grundstück in der Stresemannstraße 46 c am Anhalter Bahnhof erworben werden. Der damalige Pfarrer Paul Hedegaard (1922-1930 in Berlin) konnte trotz eines „durchaus schleppenden Ganges" der Angelegenheit um die Jahreswende 1927/1928 mit den Bauvorbereitungen beginnen. Bis zum November 1928 war dann der größte Teil des ehemaligen Wohnhauses schon zu einem Gemeindezentrum umgebaut. Teile der Inneneinrichtung des Kirchenraumes wurden von dem sich in Berlin aufhaltenden dänischen Architekten Borge Nielsen entworfen. Die drei Altarbilder zum Gleichnis vom „Verlorenen Sohn" stehen 586

- passend für eine Auslandsgemeinde - unter dem Motiv aus Lukas 15,13: „... und er zog fort in ein fremdes Land." Sie wurden von der Dänin Marie Thymann gemalt. Die Bilder befinden sich heute in der in den sechziger Jahren errichteten neuen Christianskirche in der Brienner Straße in Berlin-Wilmersdorf. Die Kirche in der Stresemannstraße (bis 1930 Königgrätzer Straße, bis 1935 Stresemannstraße, dann bis 1945 Saarlandstraße, seitdem wieder Stresemannstraße) hatte zwar die Luftangriffe überlebt, wurde jedoch nach 1961 aus Gründen der Stadtplanung abgerissen. Zur Zeit des Baus der ersten Christianskirche hielten sich in Berlin etwa 1700 Dänen auf. Davon waren 247 eingetragene Mitglieder der Gemeinde. Im Kreis der Mitglieder gab es, da die bisherige Benennung der Gemeinde nach dem dänischen Reformator Hans Tausen als „nicht besonders naheliegend" empfunden wurde, eine interessante Suche nach einem passenden Namen: Es wurde schließlich beschlossen, die Gemeinde nach dem damaligen dänischen König Christian X. (1870-1947) zu benennen! Daher heißt die Kirche bis heute „Christianskirken". Am 2. Dezember 1928 konnte die 120 Sitzplätze fassende Kirche dann zusammen mit einer Pfarrwohnung eingeweiht werden. Danach entwickelte sich das Gemeindeleben schnell weiter. Neben Gottesdiensten, Sprach- und Konfirmandenunterricht sowie Gesprächskreisen jeglicher Art entfaltete sich bald eine für eine Ausländerkolonie typische soziale und diakonische Arbeit. In der Amtszeit des dritten dänischen Pfarrers Helge Blauenfeldt (1931-1943 in Berlin) wurde diese Arbeit so intensiviert, daß eine dänische Diakonisse angestellt werden mußte. Ernsthafte Probleme für die Gemeinde, die sich ja durch ihre Lage im Stadtzentrum dicht am jeweiligen politischen Geschehen befand, brachten die Jahre 1933 bzw. 1939 und insbesondere die Zeit nach dem deutschen Überfall auf Dänemark am 9. April 1940. Während viele der bis dahin in Berlin ansässigen Dänen in ihr Heimatland zurückreisten, kamen etwa Zehntausend dänische Bürger in die damalige Reichshauptstadt. Aufkommende Kontrolle, zunehmende Feindschaften und die Überwachung durch verschiedene deutsche Stellen und der Bombenkrieg gingen auch an der dänischen Kolonie nicht vorbei. Bald wurde auch die kirchenpolitische Situation schwierig. Man saß in einer Sonderrolle zwischen allen Stühlen, da nun auch die zuständigen dänischen Behörden sehr vorsichtig geworden waren. Beispielsweise versuchte die Gesandtschaft dem dänischen Pfarrer die offizielle Teilnahme an der Synode der „Bekennenden Kirche" in Dahlem am 19. Oktober 1934 zu verbieten. Als Privatmann nahm der Pfarrer dann jedoch teil. Ein anderes Mal, im März 1939riefdie Gesandtschaft das Gemeindeblatt wegen „eines staatsfeindlichen Artikels" des oben schon genannten Kaj Munk zurück. Andererseits konnte die dänische Gemeinde etwa dreißig deutschen Pfarrern aus der „Bekennenden Kirche" Erholungsaufenthalte in dänischen Pfarrhäusern vermitteln. Auch verschiedene Treffen des Bruderrats der Bekennenden Kirche fanden in den Räumen der Christianskirche statt. In einigen anderen Fällen wurde mit sehr viel Umsicht versucht, dänischen und deutschen Juden zu helfen. Wegen der schwierigen Situation kam im Sommer 1941 Axel Jeppesen als Assistenzpfarrer nach Berlin. Nach dem Weggang von Pfarrer Blauenfeldt im Dezember 1943 war er dann der alleinige dänische Pfarrer in Berlin. Nach der Internierung in Moskau und einem Zwischenaufenthalt in Dänemark blieb Jeppesen dann bis in die fünfziger Jahre in Berlin. Da der Bericht der Autorin mit ihrem Weggang aus Berlin im Jahre 1943 endet, bleibt die Darstellung der weiteren Entwicklung der dänischen Gemeinde den Festschriften zum 75jährigen Gemeindejubiläum in diesem Jahr vorbehalten. Die von Lis Blauenfeldt mit sehr viel innerer Anteilnahme und Sachkenntnis verfaßte Arbeit sollte als Quelle für eine noch zu schreibende Geschichte aller Berliner Auslandsgemeinden unbedingt herangezogen werden. Eine überarbeitete deutschsprachige Ausgabe der vorliegenden Arbeit wäre dabei sicherlich hilfreich. Daß dieses weitgehend übersehene Thema hier bearbeitet worden ist, sollte unsere Beachtung finden. Jörg Ulrich Kunzendorf

Ernst G. Lowenthal: Die historische Lücke - Betrachtungen zur neueren deutsch-jüdischen Historiographie. Mohr, Tübingen 1987, 48 Seiten, 18 DM. Im Juni 1986 wurde Ernst G. Lowenthal, der sich als Publizist, Historiker und Vorstandsmitglied des Leo-Baeck-Instituts große Verdienste um die Erforschung der neueren deutsch-jüdischen Geschichte und der Leistungen jüdischer Kultur erworben hat, mit der Verleihung des Dr.-Leopold-Lucas-Preises geehrt. Anläßlich der Entgegennahme des Preises in Tübingen hielt er einen bemerkenswerten Vortrag, der jetzt in überarbeiteter und erweiterter Fassung gedruckt vorliegt. Lowenthal wehrt sich darin gegen die Tendenzen in der Forschung, die deutsch-jüdischen Beziehungen auf die Jahre der Verfolgung zu verengen, und weist vor allem auf den Höhepunkt der emanzipatorischen Entwicklung, dem Halbjahrhundert von 1880 587

bis 1930, hin, in dem die Juden in Deutschland von Objekten zu Subjekten der Geschichte wurden. In den Jahrzehnten vor 1933 waren die Juden in fast allen Bereichen des kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens als aktiv Mitwirkende zu finden. Heute kennt man allenfalls noch Namen einiger jüdischer Kulturträger aus Wissenschaft und Kunst, aber den „Normaljuden", der jahrzehntelang in der Nachbarschaft wohnte und als Stadtverordneter, Rechtsanwalt, Arzt, Lehrer oder Handwerker tätig war, den hat man vergessen oder verdrängt. In den jetzt immer häufiger auftauchenden Orts- und Gemeindegeschichten wird das Vorkommen der Juden entweder ganz außer acht gelassen oder meist werden nur die Vorgänge hervorgehoben, die mit der „Endlösung" zusammenhängen. Daß dabei besonders der Abschnitt von 1880 bis 1930 vernachlässigt wird, darin sieht Lowenthal eine historische Lücke. Diese Lücke muß ausgefüllt werden, soll nicht die Gefahr entstehen, die deutschen Juden in der öffentlichen Meinung gleichsam ein zweites Mal „auszubürgern" und damit aus der Erinnerung auszulöschen. In diesem Zusammenhang beklagt Lowenthal, daß es für viele Großstädte trotz einst blühender jüdischer Gemeinden noch kaum wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Werke über die neuere Geschichte ihrer jüdischen Bürger gibt, so für Berlin, Hamburg, Köln, München und Düsseldorf. Von dieser Kritik nimmt er Frankfurt am Main und das Land Baden-Württemberg aus, die gerade für den fraglichen Zeitraum hervorragende Publikationen vorgelegt haben. Dieser beklagenswerte Forschungsstand hat vor allem bei der jüngeren Generation die Vorstellung genährt, als ob das Zusammenleben von Juden und NichtJuden in Deutschland auch vor dem Nationalsozialismus ausschließlich von Haß und Verfolgung geprägt war, daß gleichsam die „Endlösung" die logische vorhersehbare Folge dieser Entwicklung gewesen sei und den Jahrzehnten der Gleichberechtigungsillusion zwölf Jahre der Realität des Dritten Reiches gegenübergestanden hätten. Lowenthal macht dabei auf den Widerspruch aufmerksam, daß im gleichen Atemzug die historische Einmaligkeit des Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Geschichte betont wird. Der Verfasser ist sich zwar der Problematik bewußt, als Chronist und als Betroffener zu diesem Thema Stellung zu beziehen, sieht darin aber auch eine Legitimation, die häufig durch Vorurteile bestimmte Geschichtsschreibung der deutsch-jüdischen Beziehungen zu korrigieren. Trotz des unfaßbaren Geschehens in Auschwitz, das stellvertretend für den gesamten Holocaust steht, darf die Geschichtsschreibung die Jahrzehnte, die diesem Ereignis vorausgingen, nicht vernachlässigen oder sie ausschließlich unter diesem Aspekt sehen. Damit, so warnt Lowenthal, werde einer objektiven Geschichtsbetrachtung der Weg versperrt. Im zweiten Teil seiner Schrift gibt Lowenthal ausführliche Hinweise, welche Quellen bei der Darstellung des jüdischen Lebens in Deutschland herangezogen werden sollten, um das Bild der jüdischen Gemeinschaften in deutschen Städten und Regionen zu rekonstruieren und die bisher vernachlässigten Zeitabschnitte zu erschließen. Durch einen ausführlichen Anmerkungsapparat mit wichtigen Literaturangaben werden diese Hinweise ergänzt. Am Ende des Bandes sind ferner die Laudatio, Informationen über den Lucas-Preis und eine Liste der bisherigen Preisträger abgedruckt. Es gelte, so hebt Lowenthal in seinem Vortrag hervor, aus der Geschichte zu lernen. „Vergangenheit verjährt nicht. Sie wirkt in die Gegenwart und Zukunft." Jürgen Wetzel

Friedrich Nicolai. 1773-1811. Essays zum 250. Geburtstag. Hrsg. von Bernhard Fabian, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1983, 304 Seiten, 12 Abbildungen. Die Nicolaische Verlagsbuchhandlung setzt ihrem „Ahnherrn" das längst überfällige Denkmal und rückt die von der Romantik als einen platten Spießer verketzerte Gestalt ins rechte Licht, in dem ein umfassender Gelehrter, Unternehmer, Staatsbürger, politischer Meinungsmacher und Anreger berlinischen Geisteslebens sichtbar wird. - Es ist ein Sammelband von Aufsätzen, die ihn aus verblüffend neuen Aspekten beleuchten; der Herausgeber Fabian summiert: „Nicolai war Autor und Verleger, Kaufmann und Literat in einer Kombination, wie es ihn kaum ein zweites Mal in seiner Epoche und vielleicht auch in der deutschen Literaturgeschichte nicht gegeben hat. Er war der echte Berliner und zugleich jemand, dessen Blick weit über Deutschland hinausging" (S. 8). Er nennt ihn ein „Vermächtnis, an dem wir uns zu bewähren haben". Der Leser nimmt solche Herausforderung gern an, nachdem er die Nicolai-Gestalt in dieser Bedeutsamkeit gesehen hat. Der Herausgeber betont, daß mit dieser Aufhellung keine Ehrenrettung beabsichtigt sei. Es ist aber doch eine geworden. Und warum sollte der Mendelssohn- und Lessing-Freund nicht gerade im Jahr des Stadtjubiläums aufgewertet ins Bewußtsein gerufen werden, zumal sein späteres Wohnhaus in der Brüderstraße als einer der wenigen Bürgerbauten aus friderizianischer Zeit in Ost-Berlin erhalten geblie588

ben ist und beim Besuch des wiederaufgebauten Nikolaiviertels vermutlich von vielen aufgesucht werden wird? Schon die Standpunkte der Betrachtung - der frühe Buchhändlerlehrling in Frankfurt an der Oder - der preußische Verleger - der Gelehrte innerhalb der Berliner Gesellschaft - der Historiker - der Reiseberichterstatter - der England-Anreger - der Literatur- und Kunstkritiker - sind so ausgewählt, daß sie facettenartig einen Mann umspiegeln, der die Weichen für moderne Geistes- und Sozialgeschichte gestellt hat und zum erstenmal die Wirkung eines publizistischen Mediums abtastete. Sie verweisen auf die geistige Affinität unserer Zeit zur Aufklärung und zur Aufarbeitung des Preußischen vom Soziologischen her. Von ihren verschiedenen Fachgebieten her kommen die Autoren zu Aussagen, die sich gegenseitig bestätigen. In der Schilderung von Eva J. Engel tritt ein junger Mann vor den Leser, dessen unvorstellbarer Fleiß und unersättlicher Bildungsdrang in Erstaunen versetzt, und dies zu einer Zeit der ersten Realschulen in Preußen mit ihrem naturwissenschaftlichen Denken more geometrico. Ohne Hinweise geleitet, verschlingt ein junger Mann immensen Lesestoff, ringt sich selbst zu kritischem Urteil durch und bildet sich die entsprechende Begrifflichkeit und gelehrte Methode selbst. Mit der seit 1756 fortgeführten „Bibliothek der schönen Wissenschaften" führte er die väterliche Buchhandlung schnell zu einem umfangreichen verlegerischen Unternehmen. Seine mit Lessing gewechselten Literaturbriefe („Briefe, die Neueste Litteratur betreffend") wirkten geschmackbildend und bildeten die Instrumente für die spätere Germanistik und Theaterwissenschaft heraus durch Rezensionen, Aufsätze, Wörterbücher, Biographien, Übersetzungen und Bibliographien. Es heißt, er habe sich zwischen 1753 und 1759 so viel Wissen angeeignet, daß er antreten konnte, „die deutschen Dichter, das deutsche Publikum aus ihrem Dornröschenschlaf aufzurütteln". Es folgt eine eingehende Werkbeschreibung seiner Jugendschriften. Paul Raabe, der ihn als „preußischen Verleger der Aufklärung" zeichnet, konstatiert: „Er war eine faszinierende und vielseitige Verlegerpersönlichkeit in seiner Zeit, eine anerkannte, zuverlässige Autorität in seinem Stand, ein bewunderter, erfolgreicher und zugleich bescheidener, von hohen sittlichen Idealen getragener Buchhändler, der seine Tatkraft und seine Ideen ganz in den Dienst einer Verbesserung der sozialen, geistigen und menschlichen Verhältnisse stellte" (S. 59). Allzu sehr ist er durch die „Xenien" und die Spottlust der Weimarer Klassik in Verruf geraten; dagegen sind die Inhalte seiner verlegerischen Unternehmungen viel zu wenig bekannt. Seine kritische Vierteljahresschrift „Allgemeine deutsche Bibliothek" (ADB) zielte auf Übersicht über eine nationale deutsche Literatur; so charakterisierte er die Spätaufklärung in 80 000 Buchtiteln. Sie zeichnen sich durch eine umfassende Berichterstattung über alle Wissensgebiete aus: Theologie und Philosophie, Pädagogik und Philologie, Jurisprudenz und Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie, Literatur und Künste. Abgesehen von der Führungskraft, kompetente Mitarbeiter zu gewinnen und doch die Fäden in der Hand zu halten, ist ein solcher Nicolai ein Politikum. Er hat über das Ende des alten Reiches hinaus auf ein Zusammenwachsen der preußischen Provinzen gewirkt und eine Bewußtseinsveränderung herbeigeführt, auf die das Zeitalter der Erhebung aufbauen konnte. Ganz im Sinne der Steinschen Staatsidee hat er bestimmte „landesverbundenpreußische" Fachgebiete favorisiert wie Staatswissenschaften und Staatsrecht, Technologie (auch die des Bergbaus), populär gefaßte Vernunfttheologie und Pädagogik. In diesen Fächern ist die spätere reformierte höhere Beamtenschaft der Hardenbergzeit ausgebildet worden. Die praxisorientierte Ausrichtung des Aufklärungsverlags spiegelt sich in den Anteilen der Mathematik und Naturwissenschaften, der Medizin (53 Bände) und Ökonomie (57 Bände) und der geographisch-statistischen Literatur und der 47 Bände Reisebeschreibungen wider. Persönliche Freundschaften verbanden ihn mit hohen Regierungsbeamten der preußischen Provinzen (u. a. der Bergwerksdepartements), Apothekern in den deutschen Ländern, Bibliothekaren (Wolfenbüttel!) und Gelehrten der Universitäten Helmstedt und Göttingen. Es ist ebenfalls interessant zu erfahren, daß er aufgrund besonderer Aufträge der Zarin Katharina zum Vorläufer vergleichender Sprachwissenschaft wurde. Er selbst zeichnete sich durch seine profunde Stadtbeschreibung von Berlin und Colin, die mit Einschränkungen noch heute als Standardwerk gilt, als preußischer Autor aus. Als preußischer Verleger förderte er auch das Programm der Vernunftreligion, die die preußische Toleranz begründete und zu der sich teilweise auch einige Berliner Hoftheologen (wie Spalding) bekannten. Hierzu rechnet auch das Aufblühen pädagogischer Literatur, der Bildungsromane und der damals typischen und fortschrittlichen militärärztlichen Medizin in Berlin. Am Anfang und Ende seiner Verlegertätigkeit steht die Philosophie von Moses Mendelssohn bis zu Kant. Unangefochten hat er darin den Wahrheitsdrang behauptet. Rudolf Vierhaus zeigt Nicolai als geachteten Mann innerhalb der Berliner bürgerlichen Gesellschaft. Er gehörte den beiden wichtigen geselligen Zirkeln des Montags-Clubs und der Mittwochsgesellschaft an, war zeitweilig auch Freimaurer in der Loge „Zu den drei Weltkugeln". Die Mittwochsgesellschaft wurde durch 589

ihn zum wichtigsten Organ der bürgerlichen Aufklärung und zu einem Diskussionsforum für das universitäre Establishment, in dem Steins Wirken mitgetragen wurde. Politisch hielt er am liberalen Staat fest. Er hat das Wachsen Berlins zur stattlichen Friedrichstadt miterlebt und vertrat selbst ihren besten Teil mit den bürgerlichen Tugenden der Gediegenheit, des praktischen Sinnes und Fleißes. Sein Zeitalter, den eigenen Aufstieg und das Erwachen des Berliner Bürgertums hielt er für den Ausfluß der Persönlichkeit Friedrichs des Großen und nannte sich selbst in diesem Sinne einen Patrioten. - Seltsam ist, daß er zuletzt doch ein vereinsamter Mann blieb; da er sein Freimaurertum ablegte und dem Berliner Salon fernblieb, hat ihn die Romantik überholt. Viel Neues bietet die Untersuchung von Horst Möller über den Historiker Nicolai. Danach müssen wir unsere Ansicht von der ahistorischen Aufklärung revidieren: Nicolai hat Herders Entwicklungsphilosophie vorweggenommen. Aussagen wie solche: Hierin zeige sich die Kehrseite in seiner Geschichtsschreibung: in der Schwerpunktsverlagerung von der Fürsten- und Kriegsgeschichte zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, „nicht mehr der Landesherr war nun Gegenstand der Geschichtsschreibung, sondern die Untertanen traten in die Geschichte ein" und „Es fehlt kaum ein Bereich staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik" bilden das Essentielle der Untersuchung. - Um es vorwegzunehmen: die Historiographie des Historismus wird hier vorbereitet - nach einer kritischen Methode, die Nicolai selbst aus dem Nichts entwickelte. - Inhalte seiner Forschungen: Historische Landeskunde Berlins und Preußens, Erforschung der Templer- und Johanniterorden und damit Fragen der Kirchengeschichte und ihres Verhältnisses zum Staat, kultur- und sprachgeschichtliche Recherchen. Am prägnantesten erscheint er in seiner Berlinbeschreibung aufgrund seiner Archivstudien, vor allem der wirtschaftlichen Daten. Von dieser kritischen Betrachtung tastete er sich schrittweise zu einer neuen historiographischen Methode vor, führte Quellenkunde und -betrachtung ein, postulierte Unabhängigkeit von jeder Ideologie und suchte ein Verstehen aus der Komplexität vieler Verhältnisse innerhalb seiner Epoche abzuleiten und benutzte den Begriff des Zeitgeistes, wie ihn Herder in die Geistesgeschichte einführte. So suchte er nach dem individuellen Gesicht jeder Epoche und kam damit Rankes Prinzip der Objektivität sehr nahe. Indem er durch Reflexion die eigene Position klärte, gelangte er auch zu umfassender Geschichtsbetrachtung, die Geschichtsphilosophie implizierte. Darin setzte er sich der Kantschen Entwicklungstheorie entgegen, wonach Geschichte Säkularisierung der Vernunft nach göttlichem Heilsplan sei. Dies verneint Nicolai und besteht auf einer Geschichte, die von der Natur des Menschen bestimmt ist. Dies brachte ihn zu kritischer Einschätzung der Französischen Revolution, ja Negierung der Revolution überhaupt; der aufgeklärte Mensch gelangt zu der ihm zugewiesenen Position auch ohne Sprünge. Am interessantesten lesen sich Bernhard Fabians Ausführungen über Nicolais Adaptation des Englischen. Es paßt in dies neu entworfene Nicolai-Bild, daß er auch der England-Anreger der Deutschen war, daß er das England der naturwissenschaftlichen und staatstheoretischen Neuentdeckungen im Vorfeld der industriellen Revolution ins Blickfeld rückte. Er erkannte ein England, das die Menschlichkeit neu erobert hat; für das abseitige Preußen kam „aus England die Zukunft". Preußen aber hielt seinen Blick noch auf Frankreich fixiert. Wer das germanistische Schulbeispiel der Lessingschen Literaturbriefe vor Augen hat, das für die Deutschen Shakespeare als den großen Dramatiker entdeckte, lernt hier diesen Vorgang in seiner tiefgreifenden Komplexität verstehen. Das Aneignen der englischen Geisteswelt war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch schwierig, weil die Kenntnis der englischen gedruckten Bücher noch kaum verbreitet war. Nicolai, der Englisch selbst ohne fremde Hilfe gelernt hatte, hielt Shakespeare sogar für unübersetzbar und publizierte deshalb 1762 Popes gesammelte Werke in einer Taschenbuchausgabe. Doch er hatte die Anglophilie der Deutschen noch überschätzt und blieb darauf sitzen. So griff er auf englische naturwissenschaftliche Werke zurück. Er behielt den langen Atem, bis der Absatz in den 80er Jahren plötzlich stieg und mit ihm das Bedürfnis nach der medizinischen Fachliteratur Englands. Nicolai befriedigte es in der ADB, seinem großen Wurf. „Die ADB ist ein eminent soziologisches und politisches Phänomen. Sie etablierte Berlin geistig als Zentralpunkt auf der Landkarte Deutschlands" (S. 190). Weniger ergiebig sind die Kapitel von Wolfgang Martens über Nicolai als „Bürger auf Reisen" und Helmut Börsch-Supan über „Nicolais Umgang mit der Kunst"; auf beiden Gebieten zeigt sich Nicolai als Wahrheitssucher in den Grenzen der Aufklärung. Der Reisende, der nicht mehr wie früher eine Kavalierstour unternimmt, ist platt-nützlich eingestellt, ihn treibt sehr sichtbar der Belehrungseifer als Bürger, der der Adelskultur abhold ist. Fürs höfische Rokoko hat er kein inneres Organ. Daß seine Gestalt auch den modernen Kunsthistoriker unbefriedigt läßt, ist begründet im Fehlen kunstkritischer Begriffe und in der Unmöglichkeit des Bürgers Nicolai, die königlichen Sammlungen in den preußischen Schlössern aus der Anschauung zu kennen. Sein unbestreitbar großes Verdienst liegt in

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der Archivierung und Deskription der Gemälde und Skulpturen von der Zeit des Großen Kurfürsten bis auf die damalige Gegenwart und im frischen Blick für die niederländische Porträtkunst. So bedarf es nicht des Hinweises, daß auch unsere Zeit bis noch vor kurzem vieles Vergangene leichtfertig als unwertig abgetan und eine ganze Geschichtslandschaft fast unkenntlich gemacht hat, so daß es neu geübter Geschichtsmethode bedarf, es wieder nachzuzeichnen. Als ein Analogon wirkt diese Neuentdeckung Nicolais; sie ist eindringlich und lesenswert. Das Bild bleibt aber unfertig, wiese man nicht im Schlußkapitel auf die Grenzen der bürgerlichen Aufklärung hin. Die Verklammerung aller Untersuchungen erfolgt a posteriori in der Frage von Wilhelm Schmidt-Biggemann, warum dieser umsichtige Gelehrte so bald überalterte („Vom Altern der Wahrheit"). Wie konnte es geschehen, daß der damals avantgardistische Mendelssohn-Freund, der erfinderische Methodiker schon seit etwa 1770 zu „verknöchern" begann? Oder: Warum richtete sich so redliche aufklärerische Kritik gegen den Aufklärer selbst? Zwei höchst bemerkenswerte Phänomene werden hier genannt. Das eine verweist auf Nicolais philosophische Position des Ekklektizismus, was besagt, er habe sich dem Kunstwerk genähert mit „Witz und Geschmack", d. h. nach damaligem Wortgebrauch mit dem geschulten subjektiven Verstand, der das Kunstwerk jenseits aller erlernbaren Regeln zu erfassen sucht. Das zweite Phänomen ist tief politisch begründet. Das bürgerliche Kunstwerk der Aufklärung diente indirekt dem Staat, insofern dieser als Garant des menschlichen Glücks interpretiert wird. Dies bedeutet eine Moralisierung des Staates und zugleich eine Festschreibung seines sittlichen Zwecks. Ein solches Staatsbild erwies sich schließlich als unflexibel. In dem Maße, in dem sich das Selbstverständnis des Menschen im Sinne des Idealismus wandelte (zur Selbstgesetzlichkeit des Individuums), zerstörte es das festgeschriebene aufklärerische Staatsbild. Damit sind tiefgreifende Grenzen aufgezeigt, die uns heute nach neuer Berechtigung des Publizistischen fragen lassen. So hat sich die Nicolaische Verlagsbuchhandlung der Herausforderung gestellt. - Die beigegebenen Abbildungen Nicolais (u. a. von Anton Graff) zeigen einen liebenswerten Familienvater und redlichen Freund. Alle Untersuchungen haben einen ausführlichen Anmerkungsapparat, der die neueste Forschung berücksichtigt bzw. aufzeigt, wo noch Neuland zu erforschen ist. - Die Untersuchungen werden ferner abgerundet durch eine Bibliographie von Nicolais Werken, aufgestellt von Marie-Luise Spieckermann. Christiane Knop

Neue Mitglieder Heinrich Gunkel Straßburger Straße 39 b, 1000 Berlin 20 Telefon 3 32 57 29 (Presseinformation) Meinhard Jacobs, Lehrer Humboldtstraße 10,1000 Berlin 33 Telefon 8 92 34 97 (Geschäftsstelle) Hans-Ulrich Kamke, MdA Varziner Straße 13/14 1000 Berlin 41 (Presseinformation) Joachim Laßwitz Zerndorfer Weg 58,1000 Berlin 28 Telefon 4 011321 (Dr. Knop) Christa Lehmann, Vorklassenleiterin Dannenwalder Weg 90,1000 Berlin 26 Telefon 41517 75 (Faltblatt)

Franz Rothschild, Kaufmann Manfred-von-Richthofen-Straße 175, 1000 Berlin 42 Telefon 7 85 85 31 (Dr. Schultze-Bemdt) Detlev Schreiber, Lehrer Leibnizstraße 96,1000 Berlin 12 Telefon 312 36 49 (Presseinformation) Dr. Richard Schneider, Journalist Bayerische Straße 5,1000 Berlin 15 Telefon 8 818131 (Klünner) Ralf-Rene Weingärtner, Beamter Steifensandstraße 8,1000 Berlin 19 Telefon 3 22 6614 (Kretschmer)

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